04/2017
Fritz + Fränzi
Fritz + Fränzi
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
zehn Jahren gemeinsam mit<br />
der Hochschule für Soziale Arbeit<br />
und der Integrierten Psychiatrie<br />
Winterthur – Zürcher Unterland ipw<br />
gemacht haben. Ich persönlich halte<br />
diese Zahlen für eher konservativ. In<br />
Deutschland rechnet man mit gut<br />
«Jedes dritte Kind<br />
von Eltern mit<br />
psychischen<br />
Störungen erkrankt<br />
ebenfalls.»<br />
drei Millionen betroffenen Kindern<br />
und Jugendlichen. Auf die Schweiz<br />
heruntergerechnet wären das etwa<br />
300 000.<br />
Wie wirkt sich eine psychische<br />
Störung von Vater oder Mutter auf<br />
die Gesundheit der Kinder aus?<br />
Etwa ein Drittel erkrankt ebenfalls,<br />
ein Drittel hat immer wieder mal<br />
psychische Probleme und ein Drittel<br />
schafft es, gesund zu bleiben.<br />
Eine elterliche psychische Belastung<br />
ist also ein Risikofaktor, ebenfalls zu<br />
erkranken?<br />
Ja, bei den einen Erkrankungen mehr<br />
als bei anderen – und es lässt sich<br />
nicht voraussagen, ob ein Kind tatsächlich<br />
erkranken wird. Aber die<br />
Gefahr, an einer Depression zu erkranken,<br />
ist zum Beispiel bis zu sieben<br />
Mal höher, wenn man einen de <br />
pressiven Elternteil hat.<br />
Also können tiefgreifende oder chronische<br />
Stresserlebnisse der Eltern an die<br />
nächste Generation «vererbt» werden.<br />
Das ist möglich und liegt unter anderem<br />
an den sogenannten epigenetischen<br />
Einflüssen: Unsere Zellen verändern<br />
sich, wenn wir unter<br />
chronischem Stress stehen. Diese<br />
gespeicherten Informationen können<br />
auf zellulärer Ebene an nachfolgende<br />
Generationen weitergegeben<br />
werden.<br />
Ohne dass betroffene Eltern dagegen<br />
etwas tun können?<br />
Es gibt auch gesund erhaltende Faktoren.<br />
Wenn die Mutter trotz psychischer<br />
Erkrankung in der Lage ist, die<br />
Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen<br />
und altersangemessen auf es<br />
einzugehen, ist die Gefahr, dass es<br />
erkrankt, viel geringer, als wenn es<br />
vernachlässigt wird.<br />
Mit welchen Störungen sind Sie in<br />
ihrem Arbeitsalltag am häufigsten<br />
konfrontiert?<br />
Bei Müttern sind es depressive Störungen,<br />
bei Vätern Suchterkrankungen.<br />
Häufig sind es auch Ängste oder<br />
traumatische Belastungsstörungen,<br />
zum Beispiel nach einer Scheidung.<br />
Das ist für Kinder doppelt schwierig,<br />
da sie selbst auch unter der Trennung<br />
leiden.<br />
Kommt es oft vor, dass sich Kinder<br />
von psychisch erkrankten Eltern<br />
selbst bei Betreuungsstellen melden?<br />
Nein. Je nach Krankheit und Situation<br />
wächst ein Kind ja schon in so<br />
einer gewissermassen «ver-rückten»,<br />
also veränderten Umgebung auf und<br />
kennt gar nichts anderes. Es ist<br />
alters abhängig und schon eher die<br />
Ausnahme, dass ein Kind erkennt,<br />
dass der Vater oder die Mutter ein<br />
Problem hat.<br />
Trotzdem leidet ein solches Kind unter<br />
dem Verhalten des kranken Elternteils.<br />
Ja. Kinder schämen sich oder fühlen<br />
sich gar schuldig am Verhalten der<br />
Mutter oder des Vaters. So reden sie<br />
nicht darüber, dass es sie belastet,<br />
wenn zum Beispiel ihr Mami tagelang<br />
im Bett liegt. Psychische Krankheiten<br />
werden in unserer Gesellschaft<br />
tabuisiert, deshalb verbieten<br />
Eltern ihren Kindern auch oft, darüber<br />
zu sprechen.<br />
Auch weil man befürchtet, dass einem<br />
die Kinder weggenommen werden.<br />
Wenn ein Elternteil psychisch angeschlagen<br />
ist, wird ihm nicht automatisch<br />
das Kind weggenommen. Es<br />
gibt viele Unterstützungsmöglichkeiten<br />
zu Hause oder Einrichtungen,<br />
in denen Kinder nur für eine gewisse<br />
Zeit platziert werden. Hier in<br />
Winterthur haben Christine Gäumann<br />
und ich mit Partnerorganisationen<br />
unter dem Namen wikip solche<br />
Angebote initiiert: SOS-Kinderbetreuung,<br />
Patenfamilien oder<br />
Elterngruppen. Andernorts gibt es<br />
ähnliche Angebote. Bei einer Beratung<br />
schaut man gemeinsam, welche<br />
Unterstützung es braucht.<br />
Verstehen Kinder überhaupt, was mit<br />
Mama oder Papa los ist?<br />
Kleine Kinder empfinden das Verhalten<br />
oft als normal – sie haben ja<br />
keinen Vergleich. Spätestens wenn<br />
sie in den Kindergarten kommen,<br />
realisieren sie aber, dass es in anderen<br />
Familien anders läuft. Dann wird<br />
der Leidensdruck grösser. Man kann<br />
nicht, wie die anderen, Gspänli mit<br />
nach Hause nehmen. Weil der schizophrene<br />
Vater alle Fenster mit Brettern<br />
zugenagelt hat. Oder weil die<br />
Mutter eine Zwangsstörung hat und<br />
den fremden Dreck fürchtet.<br />
Es gibt aber noch einen anderen<br />
Elternteil.<br />
Oftmals handelt es sich bei betroffenen<br />
Müttern um Alleinerziehende.<br />
Wenn es einen präsenten anderen<br />
Elternteil gibt, der die Kinder unterstützt,<br />
kann dieser die Belastung<br />
kompensieren. Es kommt übrigens<br />
auch ab und zu vor, dass Kinder die<br />
Krankheit des Elternteils gar nicht<br />
als so extreme Belastung empfinden,<br />
sondern sie zu gewissen Zeiten sogar<br />
gut finden.<br />
«Kleine Kinder<br />
empfinden das<br />
Verhalten ihrer<br />
Eltern als normal –<br />
Vergleiche fehlen.»<br />
Wie bitte?<br />
Ein Kollege von mir hat ein Buch<br />
über seine Kindheit mit einem Vater<br />
mit bipolarer Störung geschrieben,<br />
bei der Stimmung und Verhalten<br />
unkontrollierbar zwischen manischen<br />
und depressiven Phasen hinund<br />
herschwanken. Er fand das als<br />
46