Ausgabe 101, März 2012 - Sonnendeck
Ausgabe 101, März 2012 - Sonnendeck
Ausgabe 101, März 2012 - Sonnendeck
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
RECHTSRHEINISCHE<br />
DEKONSTRUKTION<br />
20 – lanDGanG<br />
Die Studenten der Kunstakademie<br />
Düsseldorf sind verwirrt. Fürchten<br />
sie die Apokalypse?<br />
„Ist das toll hier!“, murmelt der Düsseldorfer<br />
Knirps im Erdgeschoss der<br />
Kunstakademie und beäugt vorsichtig<br />
eine holzlattige Konstruktion<br />
von Peter Müller, während der Griff<br />
seiner Mutter angesichts der benachbarten<br />
Skulptur aus angespitzten<br />
Stahlrohren von Miri Kim deutlich<br />
energischer wird. Was er und seine<br />
kunstsinnige Erziehungsverpflichtete<br />
im Ausstellungsraum der Klasse Tony<br />
Cragg bereits ahnen, aber gnädig<br />
verdrängen: Bis sie beim traditionsreichen<br />
Rundgang alles gesehen haben<br />
werden, liegt eine Tour de Force über<br />
vier Etagen mit jeweils Dutzenden von<br />
Ateliers vor ihnen, an deren meterhohen<br />
Wänden und weiten Fluren sich<br />
tausende mehr oder weniger ausgegorene<br />
Machwerke der ansässigen<br />
Künstlerschaft bestaunen lassen,<br />
wenn, ja wenn, zwischen den schnell<br />
anschwellenden Menschenmassen<br />
noch ein Durchkommen ist.<br />
Ganz Düsseldorf scheint sich an<br />
diesem sonnig-kalten Samstag hier<br />
verabredet zu haben.<br />
Sandra Schlipköter<br />
Der schwarze Block der Security bewacht den Eingang<br />
mit Handzählern und flutet die Akademie<br />
schubweise mit einer Armada modisch gewandeten<br />
Kunstsinns, ausgerüstet mit leistungsfähigen<br />
Spiegelreflexkameras und bereit, alles auf die<br />
Speicherkarte zu bannen, was nicht schnell genug<br />
weglaufen kann. Dabei ist der Rundgang bestens<br />
im Internet dokumentiert. Es gibt sogar unter flurflaneur.blogspot.com<br />
einen Modeblog, der auf den<br />
Spuren des Sartorialists durch die Gänge streift,<br />
aber leider nur auf rheinländischen Wohlstandsmief<br />
trifft. Eine Fotodokumentation der<br />
hier häufig anzutreffenden Spezies<br />
der gemeinen studentischen<br />
Raumaufsicht, die sich stets betont<br />
desinteressiert gibt, sich gerne in<br />
der Nähe einer Wasserstelle oder<br />
eines wärmenden Heizkörpers aufhält<br />
und sich hinter Smartphones,<br />
Taschenbüchern oder Bergen von<br />
Rucksäcken zu verstecken sucht,<br />
hätte vom wissenschaftlichen<br />
Standpunkt mehr hergegeben. Wer<br />
aber keine hektischen Bewegungen<br />
macht und seine Frage nicht mit<br />
der Bemerkung „Das könnte ich<br />
auch“ beginnt, kommt mit dem<br />
künstlerischen Nachwuchs schnell<br />
ins Gespräch. So brandet Führung<br />
auf Führung gegen die Werke, aber<br />
anfassen ist auch hier nicht gerne gesehen, da denkt<br />
der gemeine Kunststudent ganz museal, auch wenn<br />
der Abstand zwischen seiner Kunst und der benachbarten<br />
Kunstsammlung über die Jahrzehnte stabil<br />
bleiben sollte.<br />
Und was ist mit Kunst? So viele Professoren von<br />
Weltruf haben sich in Düsseldorf versammelt:<br />
Tony Cragg, Katharina Fritsch, Thomas Ruff,<br />
Rosemarie Trockel, verdammt, da muss doch die<br />
Hütte brennen! Ganz tief hörte der Student über<br />
das vergangene Jahr in sich hinein und empfing<br />
alle Fotos: © Michael Reuter<br />
Kojima Satoschi<br />
Lea Kuhl<br />
Gedankensplitter seiner jugendlich-gutbürgerlichen<br />
Befindlichkeit, die er zu fragmentarischen<br />
Nichtwerken umformulierte. Botschaften werden<br />
vermieden, das ganze Haus steckt in einer FSK-<br />
Freigabe ab sechs Jahren fest. Hätten nicht gleichzeitig<br />
am Heinrich-Heine<br />
Platz ein paar Internetuser<br />
gegen das umstrittene<br />
ACTA-Abkommen protestiert,<br />
jeder Kunstfreund<br />
hätte nach dem Akademiebesuch<br />
geglaubt, die<br />
Welt läge im Koma. Und<br />
wer Humoriges sucht, geht<br />
nicht in die Eiskellerstraße,<br />
sondern schaut sich in der<br />
Straßenbahn die Plakate<br />
der AXE <strong>2012</strong> Final Edition<br />
Kampagne an.<br />
Was bleibt, sind der morbide<br />
Charme und die<br />
babylonische Vielfalt<br />
unkuratierter Materialmassen.<br />
Wohin der Blick auch irrt, der Trend geht<br />
zum Kleinteiligen, zum Gebastelten, alles scheint<br />
sich aufzulösen. Die Bilder bleiben Skizze, die<br />
Skulpturen lösen sich in einen Strudel aus Linien,<br />
Stangen und Blöcken auf, es wird dekonstruiert, was<br />
nie zusammengehörte. Der Kunstnachwuchs zeigt<br />
sich verwirrt. Vielleicht interpretiert er die gesellschaftlichen<br />
Verwerfungen als kleinbürgerliches<br />
Pillepalle? Vielleicht wird zeitgenössische Kunst zu<br />
stark nachgefragt? Selten war der Rundgang so sex-,<br />
zorn- und zahnlos wie in diesem Jahr. Michael Reuter<br />
lanDGanG – 21