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05<br />

9 120001 135738<br />

DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />

#05 Jg. 6<br />

€ 4,90<br />

Mai 2017<br />

Ijar/Siwan 5777<br />

wina-magazin.at<br />

P.b.b. 11Z039078 W | Verlagspostamt 1010 Wien | ISSN 2307-5341<br />

Tut etwas! Beim March of the<br />

Living wurde ein besonderer Fokus<br />

auf die junge Generation gelegt I 6<br />

Die Met ohne sie ist<br />

nahezu undenkbar<br />

Der Salon der Sissy Strauss I 30<br />

Haltung zeigen Erwin<br />

Steinhauer über Familie, Beruf<br />

und seine Liebe zum Klezmer I 22<br />

DURCH DIE EINZIGARTIGKEIT VEREINT<br />

Gibt es junge jüdische Kunst aus Wien? Eine Ausstellung der Kuratorin ALINE REZENDE<br />

beim „Festival der jüdischen Kultur“ soll diese Frage mit einem klaren „Ja“ beantworten


www.wina-magazin.at<br />

Wir stellen ihre Welt<br />

Auf den Kopf<br />

wina Das jüdische Stadtmagazin


Editorial<br />

BU gegenTatesequ<br />

iatenem. Lo mollitat<br />

eum numquo moluptias<br />

exeres aceaquia ditae<br />

culpa qui volor<br />

Stellen sie sich vor, sie drehen in der Früh die Nachrichten<br />

auf und die Welt hat sich plötzlich um 180 Grad<br />

gedreht – ihre Welt hat sich mit einem Schlag völlig verändert.<br />

Von gestern auf heute sind sie nicht mehr Bürger<br />

der Europäischen Union, wird ihrer Universität die<br />

Existenzberechtigung entzogen, wird ihre<br />

persönliche Freiheit durch einen Terroranschlag<br />

beschnitten, oder sie leben plötzlich<br />

in einer Diktatur und in Angst vor Verhaftungswellen.<br />

Stellen Sie sich vor, sie gehen mit Träumen und Plänen<br />

ins Bett und wachen in einem Alptraum auf, die ab nun<br />

ihre Realität ist.<br />

Genauso hat sich die Lebenswirklichkeit hunderttausender<br />

junger Menschen in den letzten Jahren und Monaten<br />

in London, Budapest, Paris,<br />

Berlin oder Istanbul verändert.<br />

Doch wo bleibt die Aufmüpfigkeit,<br />

die transformierende Kraft, der Wille<br />

zur Verteidigung von Freiheit, Vielfalt<br />

und Demokratie jener Generation,<br />

deren Wertesysteme und Zukunftspläne<br />

derzeit von der "weisen"<br />

Elterngeneration, von der mittlerweile,<br />

nicht nur am Haupthaar, ergrauten<br />

politischen Elite zerstört und<br />

verunmöglicht wird? Welche politische<br />

Mittel und künstlerische Formen<br />

machen sie sich zu Nutzen in<br />

Zeiten von Facebook, Instagram und<br />

Snapchat um ihre Zukunft zu sichern<br />

und mitzugestalten?<br />

Wir haben in diesem Heft einige von ihnen versammelt.<br />

Wie die beiden rebellischen Jungs in der jüdischen<br />

Hochschülerschaft, die manchmal vielleicht zu kritisch,<br />

aber ganz sicher hochpolitisch und herzerwärmend sozial<br />

sind. Wie die jungen jüdischen Künstler, die im Rahmen<br />

einer Ausstellung beim Festival der jüdischen Kultur<br />

ihre Welten zeigen. Oder wie jene Jugendliche, die<br />

auf der March of the Living die Grauen der Vergangenheit<br />

erspürten um von dort den Auftrag mitzunehmen,<br />

etwas zu tun, denn die Zukunft – der Freiheit, des Friedens,<br />

der Menschenrechte – liegt in ihren Händen.<br />

Alles junge Menschen, die ethnisch, kulturell, religiös<br />

und politisch unterschiedlich sozialisiert sind und hier<br />

ihre Heimat gefunden haben. Und darin liegt auch ihre<br />

Stärke: in ihrer Buntheit, in ihrem respektvollen, interessierten<br />

und achtsamen Umgang mit der Vielfalt unserer<br />

Weltengemeinschaft. Und mit dieser Stärke werden<br />

ihre Träume, ihre Pläne für die Zukunft sicherlich wahr.<br />

Julia Kaldori<br />

„Aber wie sieht<br />

eine Brasilianerin<br />

aus? Eine<br />

Sambatänzerin?<br />

Ein Fußballspieler?<br />

Das sind<br />

Stereotypen. Jeder<br />

Mensch könnte<br />

Brasilianer sein.“<br />

Aline Rezende<br />

© Xxxxxxx<br />

wına-magazin.at<br />

1


S. 08<br />

Martina Steer betreibt Erinnerungsforschung<br />

an der Universität<br />

Wien – ihr Fachgebiet ist jüdische<br />

Geschichte der Neuzeit.<br />

INHALT<br />

„Antisemitismus<br />

ist nicht jüdische<br />

Geschichte –<br />

das ist eher die<br />

Geschichte<br />

der Antisemiten.“<br />

Martina Steer<br />

IMPRESSUM:<br />

Medieninhaber (Verlag):<br />

JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />

GmbH, Seitenstettengasse 4,<br />

1010 Wien<br />

Chefredaktion: Julia Kaldori,<br />

office@jmv-wien.at<br />

Redaktion/Sekretariat:<br />

Inge Heitzinger (T. 01/53104–271)<br />

Anzeigenannahme:<br />

Manuela Glamm (T. 01/53104–272)<br />

Redaktionelle Beratung:<br />

Matthias Flödl<br />

Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />

Mitarbeit: Sebestyén Fiumei<br />

Lektorat: Angela Heide<br />

Druck: AV+Astoria Druckzentrum<br />

GmbH, Wien<br />

POLITIK<br />

06 March of the Living<br />

Beim March of the Living 2017<br />

wurde ein besonderer Fokus auf<br />

die Geschichtsvermittlung an<br />

junge Generationen gelegt.<br />

08 „Blick auf starke jüdische Frauen“<br />

Martina Steer befasst sich mit jüdischer<br />

Geschichte der Neuzeit und<br />

betreibt Erinnerungsforschung an<br />

der Universität Wien.<br />

10 Ungarische Medienlandschaft<br />

Die Freunde Orbáns teilen sich den<br />

medialen Kuchen ungeniert auf.<br />

Widerstand gibt es nur vereinzelt –<br />

und dann meist auf Onlineportalen.<br />

12 Drucken in 3D<br />

Auch Apple-Chef Steve Jobs hat sich<br />

bei der Entwicklung des iPhones auf<br />

israelische 3D-Drucker verlassen.<br />

14 Eine Ansichtssache<br />

Digitale Landkarten bestimmen<br />

unsere Sicht auf die Welt. Wir sprechen<br />

mit Alex Gekker, Experte für<br />

neue Medien und digitale Kultur.<br />

S. 51<br />

Die Tik aus Patras.<br />

Thora-Rollen werden zum Schutz und als<br />

Ausdruck der Heiligung schön „angezogen“.<br />

GESELLSCHAFT<br />

19 Es war nicht immer einfach<br />

Das bewegte Leben einer starken<br />

Frau. Gerti Schächter erzählt zwischen<br />

Bridge und Fleischlaberln.<br />

20 MenTschen<br />

Der Strategie- und Kommunikationsberater<br />

Daniel Kapp war längstdienender<br />

Ministersprecher der österreichischen<br />

Bundesregierung.<br />

22 „Man muss Haltung zu zeigen“<br />

Über die jüdische Mischung in seiner<br />

Familie und seine Liebe zur Klezmer-<br />

Musik erzählt der beliebte Kabarettist<br />

und Schauspieler Erwin Steinhauer.<br />

26 Rebellische Studierende<br />

Eine junge jüdische politische Stimme<br />

habe in Wien bisher gefehlt, meinen<br />

die beiden neuen Leiter der Jüdischen<br />

Österreichischen HochschülerInnen.<br />

28 Ein Schatz im Ungeheuer<br />

Die architektonischen Schandflecken<br />

aus den Siebzigerjahren sind in Tel<br />

Aviv nicht zu übersehen.<br />

30 „Die Netrebko bei uns treffen“<br />

Opernliebhaberin Sissy Strauss hat ihren<br />

New Yorker Künstlersalon in ihre<br />

Geburtsstadt Wien verpflanzt.<br />

34 Süßes aus der Manufaktur<br />

In der Wiener Chocolaterie Fabienne<br />

bieten Vater Yoram Hess und sein<br />

Sohn Jonathan handgemachte belgische<br />

Pralinen an.<br />

36 Kauftempel und Gemüseplantage<br />

Mit Urban Farming wird auch in<br />

Israel bereits fleißig experimentiert,<br />

die Technologien sind vielfältig und<br />

überraschend einfach.<br />

2 wına | Mai 2017


KULTUR<br />

42 Einzigartig und verschieden<br />

Aline Rezende kuratiert eine Ausstellung<br />

mit jungen Wiener jüdischen Künstlern<br />

beim Festival der jüdischen Kultur.<br />

45 Dattelpalme und Dattelpalmer<br />

In seinem neuen Buch hat der große<br />

Erzähler Meir Shalev die Natur selbst<br />

zu seiner Heldin gemacht.<br />

46 Ein imaginärer Davidstern<br />

Im Zentrum Badens erinnert ein neues<br />

Mahnmal an die Opfer des Nationalsozialismus.<br />

48 Das Jerusalem des Nordens<br />

„Messieurs, mir scheint, wir sind in<br />

Jerusalem“, sagte Napoleon, als er<br />

einst Wilna betrat. Nun ist ein Porträt<br />

dieser Stadt erschienen.<br />

50 Die neue Odyssee<br />

Der britische Journalist Patrick Kingsley<br />

hat sich den Flüchtlingstrecks angeschlossen<br />

und nun ein Reportagebuch<br />

darüber vorgelegt.<br />

52 Jesus und „die Juden“<br />

Die schlüssigen Analysen der Passionsgeschichte<br />

des deutsch-israelischen Starjuristen<br />

Chaim Cohn wurden neu aufgelegt.<br />

„Hunderte<br />

Generationen<br />

von Juden<br />

sind für ein Verbrechen<br />

bestraft worden, das weder<br />

sie noch ihre Vorfahren<br />

begangen haben.“<br />

Chaim Cohn<br />

S. 52<br />

WINA ONLINE:<br />

wina-magazin.at<br />

facebook.com/winamagazin<br />

Coverfoto: Aline Rezende, © Anna Goldenberg<br />

WINASTANDARDS<br />

01 Editorial<br />

04 WINA_Wirtschaft & Politik<br />

Österreich, Israel, Europa<br />

05 WINA_Kommentar<br />

Doron Rabinovic über Zentren<br />

für Israel-Studien<br />

16 Nachrichten aus Tel Aviv<br />

Die Jugend misstraut Institutionen<br />

18 WINA_Gesellschaft<br />

Städte, Menschen, Leben<br />

25 WARUM WIEN<br />

Autorin Schulamit Meixner<br />

38 WINA_Feinspitz<br />

Kräutlein auf und in der Suppe<br />

39 Matok & Maror<br />

Vegetarisches Soulfood im Naches<br />

40 Generation unverhofft<br />

Daliah Dombrowski ist abenteuerlustig<br />

41 WINA_Kultur<br />

Musik, Ausstellungen, Film<br />

51 WINA_Werk-Städte<br />

Der Tik aus Patras<br />

54 Urban Legends<br />

Paul Divjak in der Riesenbubble<br />

55 WINA_KulturKalender<br />

Festival der jüdischen Kultur 2017<br />

56 Das letzte Mal<br />

Regisseurin Mirjam Unger<br />

„Man muss<br />

sich gegen den<br />

rechten Zeitgeist<br />

wehren,<br />

man muss<br />

Farbe bekennen<br />

und Zivilcourage<br />

haben.“<br />

Erwin Steinhauer<br />

S. 22<br />

Erwin Steinhauer: der<br />

beliebte Kabarettist und<br />

Schauspieler über die<br />

jüdische Mischung in<br />

seiner Familie, seinen<br />

Entdecker Gerhard<br />

Bronner und seine Liebe<br />

zur Klezmer-Musik.<br />

wına-magazin.at<br />

3


Null Toleranz für<br />

Antisemitismus<br />

Der Antisemitismusbericht 2016 wurde<br />

gemeinsam von IKG-Präsident Oskar Deutsch<br />

und BM Sebastian Kurz präsentiert<br />

Was es braucht, ist Bewusstsein in der<br />

Bevölkerung, dass Antisemitismus<br />

kein Kavaliersdelikt ist“, erklärte Bundesminister<br />

für Europa, Integration und Äußeres<br />

Sebastian Kurz bei der Präsentation<br />

des Antisemitismusberichts 2016, zusammengestellt<br />

vom Forum gegen Antisemitismus<br />

(FGA). Der Antisemitismusbericht<br />

wird seit dem Jahr 2000 jährlich vom FGA<br />

herausgegeben und dokumentiert sämtliche<br />

Fälle von Antisemitismus innerhalb eines<br />

Jahres in Österreich.<br />

Laut Bericht wurden 2016 insgesamt 477<br />

Fälle von Antisemitismus in Österreich vermeldet,<br />

das sind um 12 mehr als im Jahr<br />

2015, ein leichter Anstieg im Vergleich zum<br />

Vorjahr. Als eindeutiger Trend ist aber der Anstieg<br />

bei Hasspostings in sozialen Medien<br />

und bei tätlichen Angriffen zu beobachten.<br />

Über die Beweggründe der Vorfälle Aussagen<br />

zu treffen, ist schwierig, denn nur<br />

etwa 41 % davon lassen sich eindeutig bestimmten<br />

Ideologien zuordnen – davon<br />

sind 28 % rechts-, 9 % islamistisch- und<br />

4 % linksorientiert.<br />

„Wir brauchen mehr denn je klare Zeichen“,<br />

sagte BM Kurz und fordert gemeinsam mit<br />

Präsident Deutsch verstärkte Bemühungen<br />

im Bildungsbereich und bei der Integration,<br />

Bewusstseinsschaffung in der Bevölkerung<br />

und die Übernahme der Arbeitsdefinition<br />

von Antisemitismus der International Holocaust<br />

Remembrance Alliance durch das<br />

österreichische Parlament, um der Justiz<br />

eindeutige Grundlagen für die Verfolgung<br />

antisemitischer<br />

Antisemitismusbericht<br />

2016. Amber Weinber (FGA),<br />

Präsident Oskar Deutsch<br />

und BM Sebastian Kurz.<br />

© Tatic/BMEIA<br />

4 wına | Mai 2017<br />

Vorfälle zu geben.<br />

Dies wurde<br />

Ende April auf Initiative<br />

von Bundesminister<br />

Kurz<br />

im Ministerrat<br />

bereits beschlossen<br />

und wird nun<br />

im Parlament zur<br />

Prüfung vorgelegt.<br />

red.<br />

50<br />

POLITIK & WIRTSCHAFT<br />

Juden sollen derzeit noch im kriegszerrissenen<br />

Jemen leben. Es gibt<br />

keine genauen Angaben über ihren Verbleib,<br />

vermutet wird, dass sie auf einem<br />

Grundstück in der Nähe der US-<br />

Botschaft in Sanaa leben. Die letzte<br />

Gruppe jemenitischer Juden traf<br />

im Rahmen einer geheimen<br />

Operation im März 2016<br />

in Israel ein.<br />

WINAWISSENSCHAFT<br />

HOFFNUNG FÜR BRUST-<br />

KREBSPATIENTINNEN<br />

Die israelische Firma Dune Medical<br />

Devices hat ein Instrument<br />

entwickelt, das die Wahrscheinlichkeit<br />

für eine erneute Operation<br />

nach einer Brustkrebs-OP deutlich<br />

reduziert. Es handelt sich dabei<br />

um eine Art Pen, der einem Ultraschallsensor<br />

ähnlich sieht und<br />

Signale an das entnommene Ge<strong>web</strong>e<br />

sendet. Dieser wird bereits<br />

in den USA und Israel eingesetzt.<br />

Damit wird eine unmittelbare<br />

histologische Untersuchung des<br />

entnommenen Ge<strong>web</strong>es noch<br />

im Operationssaal ermöglicht. So<br />

soll sichergestellt werden, dass<br />

das den Tumor umgebende Ge<strong>web</strong>e<br />

frei von Tumorzellen ist. Bislang<br />

konnte diese Untersuchung<br />

nur zeitversetzt vorgenommen<br />

werden. Die Hochfrequenztechnologie,<br />

die der nun entwickelte<br />

Sensor verwendet, könne die<br />

elektrischen Eigenschaften der<br />

Zellen innerhalb von Sekunden<br />

erfassen, erklärt Gal Aharonovitz,<br />

CEO von Dune Medical Devices.<br />

In klinischen Studien sank damit<br />

die Zahl der Patientinnen, die erneut<br />

operiert werden mussten,<br />

um 51 %; Kliniken, die das Gerät<br />

bereits einsetzen, sprechen von<br />

80 % weniger Folge-OPs. red.<br />

Working Holiday<br />

Ab Mai können junge Erwachsene aus<br />

Österreich und Israel am bilateralen<br />

Working-Holiday-Programm partizipieren<br />

Die Working-Holiday-Programme sind<br />

bilaterale Übereinkommen, die jungen<br />

ÖsterreicherInnen im Alter von 18 bis<br />

30 einen Auslandsaufenthalt für ein halbes<br />

Jahr samt Arbeitserlaubnis ermöglichen.<br />

Mit insgesamt sechs solcher Abkommen,<br />

u. a. auch mit Neuseeland,<br />

Japan und Taiwan, befindet sich Österreich<br />

im europäischen Spitzenfeld, weitere<br />

Länder sollen folgen.<br />

Das Abkommen mit Israel wurde letztes<br />

Jahr bei einem Arbeitsbesuch in Jerusalem<br />

von PM Netanjahu und BM Kurz unterzeichnet<br />

und tritt ab Mai in Kraft. „Ich<br />

bin sehr glücklich, dass das Working-Holiday-Abkommen<br />

nun in Kraft tritt. Es bietet<br />

eine einzigartige Möglichkeit für die jungen<br />

Generationen unserer beiden Länder,<br />

einander kennenzulernen“, freut sich Botschafterin<br />

Talya Lador-Fresher über die erfolgreiche<br />

Zusammenarbeit. Denn das Programm<br />

basiert auf Gegenseitigkeit und gibt<br />

auch jungen Israelis die Möglichkeit, ein<br />

halbes Jahr bewilligungsfrei in Österreich<br />

zu arbeiten. red.<br />

Nähere Infos: bmeia.gv.at<br />

© Jemen:Joker / SZ-Photo / picturedesk.com; Working Holiday: Tatic/BMEIA


WINA KOMMENTAR<br />

Ein Gespür für<br />

Zwischentöne<br />

Weltweit existieren seit vielen Jahren Zentren für Israel-<br />

Studien, wichtige Forschungs- und Vermittlungseinrichtungen,<br />

in denen die langfristige intensive Auseinandersetzung mit der<br />

Kultur dieses Landes im Fokus steht. Doch in Österreich wartet<br />

man noch vergeblich auf ein Institut dieser Art.<br />

manchen Ländern gibt es sie bereits:<br />

Zentren für Israel-Studien. Es mag einen<br />

nicht verwundern, wenn sie in den Vereinigten<br />

Staaten von Amerika bereits seit<br />

RabinoviciIn Längerem existieren. In New York finden<br />

sich gar vier verschiedene Lehrstühle<br />

und Institutionen, die eigene Vorlesungen zu Israel<br />

anbieten. Aber selbst im Ramallah der palästinensischen<br />

Autonomiebehörde nimmt sich ein<br />

Palestinian Forum for Israeli Studies, MADAR,<br />

seit dem Jahr 2000 dieser Aufgabe an. In Kanada,<br />

dem Vereinigten Königreich, Russland, Australien<br />

und Deutschland widmen sich universitäre Institute<br />

dem Judenstaat, um ihn jenseits der Klischees<br />

wahrzunehmen. Nicht die Aktualität und nicht das<br />

Akute stehen dabei unbedingt im Vordergrund. Israel<br />

ist nicht nur der Konflikt darum.<br />

An der Münchner Universität wurde 2015 ein<br />

Zentrum für Israel-Studien eröffnet. Es beschäftigt<br />

sich mit den vielseitigen Gesellschaften des<br />

jungen Staates. Organisatorisch eingebettet ist es<br />

in der Abteilung für jüdische Geschichte und Kultur.<br />

In Wien agiert das Centre for Israel Studies,<br />

zu dessen Vorstand sich auch der Autor dieser Zeilen<br />

zählen darf, seit 2013 – wenn auch leider noch<br />

nicht universitär verankert.<br />

Warum jedoch nicht? Es gibt schließlich auch die<br />

Fachrichtung der Anglistik, der Amerikanistik und<br />

der Japanologie. Die eigene Annäherung an Israel<br />

ist zudem von besonderer Bedeutung. Dieses Land<br />

kann nicht im Rahmen einer allgemeinen Auseinandersetzung<br />

mit dem Nahen Osten ergründet<br />

werden, weil es in diesem Gebiet allzu oft bloß als<br />

Feind und als blinder Fleck behandelt wird. Israel<br />

wird zuweilen nur als künstliches Gebilde oder als<br />

Stützpunkt des westlichen Imperialismus betrachtet.<br />

Eine Erforschung dieser Gesellschaft zu unterstützen,<br />

bedeutet, die Existenz der israelischen Nation<br />

anzuerkennen.<br />

Von Doron<br />

Aber in Deutschland und in Österreich geht es<br />

um noch mehr: Israel ist der Staat, der auch von<br />

jenen und für jene Juden gegründet wurde, die der<br />

Vernichtung entrinnen konnten. Israel ist nicht<br />

in, doch aus Europa. Israelische und österreichische<br />

Vergangenheit sind miteinander unentwirrbar<br />

verbunden. Die Gegenwart beider Länder ist<br />

weiterhin miteinander verstrickt. Die Auseinandersetzung<br />

mit Israel nicht zu wagen, heißt letztlich,<br />

jener mit den historischen Kontinuitäten hierzulande<br />

auszuweichen.<br />

Hinzu kommt, dass die wissenschaftliche Perspektive<br />

sich den herkömmlichen dogmatischen<br />

Voreingenommenheiten verweigert. Bekanntlich<br />

gibt es eine Kampagne, die den Boykott israelischer<br />

Forscher, Künstler oder Autoren fordert. Zugleich<br />

Eine Erforschung dieser<br />

Gesellschaft zu unterstützen,<br />

bedeutet, die Existenz der israelischen<br />

Nation anzuerkennen.<br />

wollen andere – wiederum aus verschiedenen dogmatischen<br />

Gründen – manche israelischen Koryphäen<br />

gar nicht zu Wort kommen lassen, weil sie<br />

ihnen aus Wiener Sicht nicht israelisch scheinen.<br />

So sehen sich die sensibelsten Geister im Judenstaat<br />

immer wieder einer doppelt grobschlächtigen<br />

Ignoranz gegenüber.<br />

Umso wichtiger sind solche Zentren, in denen<br />

den Studien über israelische Kunst, Filme, Literatur,<br />

Soziologie oder Geschichte nachgegangen<br />

wird, denn sie schärfen das Gespür für die Zwischentöne,<br />

die einen auch den blutigen Konflikt<br />

um dieses Land besser begreifen lassen. <br />

wına-magazin.at<br />

5


MARCH OF THE LIVING<br />

TUT<br />

ETWAS!<br />

Beim diesjährigen March of the Living wurde<br />

ein besonderer Fokus auf Schüler und<br />

Bildung gelegt – Schulen und Universitäten<br />

die Geschichte des Holocaust und das<br />

Erinnern in aller Bestimmtheit vermitteln.<br />

Text: Margaretha Kopeinig<br />

In der Tempel-Synagoge, der ältesten<br />

von Krakau, war die Atmosphäre<br />

einen Tag nach dem March<br />

of the Living mehr als gelöst. Oberkantor<br />

Shmuel Barzilai sang jüdische Lieder<br />

von Frieden und Versöhnung, und es<br />

gelang ihm sowie zwei Musikern, die Jugendlichen<br />

aus Österreich wie bei einem<br />

Popkonzert mitzureisen. Der Tempel war<br />

übervoll, die Schülerinnen und Schüler<br />

sangen lautstark mit, klatschten begeistert<br />

in die Hände und tanzten leidenschaftlich.<br />

„Das ist das Schönste an unserer<br />

Reise nach Auschwitz und Birkenau“,<br />

freut sich Johanna, die 16-jährige Gymnasiastin<br />

aus Niederösterreich. Barzilai<br />

nimmt den Schülern die dunklen Emotionen<br />

und die Trauer, die sich nach dem<br />

Anblick der Baracken, der Gaskammern,<br />

der Krematorien in ihr Denken und Fühlen<br />

geschlichen hat. „Es ist für mich unfassbar,<br />

wie viel Böses Menschen anderen<br />

Menschen antun können“, sagt ein 17-jähriger<br />

Wiener.<br />

Österreichische Schüler waren in diesem<br />

Jahr beim March of the Living aus<br />

Anlass des internationalen Holocaust-Gedenktages<br />

besonders zahlreich vertreten.<br />

Mehr als 560 Jugendliche aus 13 Gymnasien<br />

reisten mit ihren Lehrern nach Polen,<br />

um am 24. April mit mehr als Zehntausend<br />

Menschen aus der ganzen Welt, darunter<br />

noch zahlreiche Überlebende und<br />

Zeitzeugen, an die von den Nazis ermordeten<br />

Juden zu erinnern.<br />

Dass in diesem Jahr der Fokus beim<br />

March of the Living auf Schüler und auf<br />

IKG-Präsident Oskar Deutsch<br />

und Unterrichtsministerin<br />

Sonja Hammerschmid trafen<br />

auch den israelischen Unterrichtsminister<br />

Naftali Bennett<br />

Bildung gelegt wurde, geht auf die Initiative<br />

des Präsidenten der Israelitischen<br />

Kultusgemeinde (IKG), Oskar Deutsch,<br />

zurück. Er führte die österreichische Delegation<br />

an, und gemeinsam mit Unterrichtsministerin<br />

Sonja Hammerschmid<br />

gelang es ihm, zwölf Bildungsminister aus<br />

EU-Staaten, den zuständigen Ressortchef<br />

aus Israel, Naftali Bennett, und hohe<br />

Vertreter verschiedener Institutionen, darunter<br />

die Generaldirektorin für Bildung<br />

und Kultur der EU-Kommission, Martine<br />

Reicherts, für den Plan zu gewinnen, das<br />

Wissen um den Völkermord an Juden und<br />

Angehörigen von Minderheiten im Unterricht<br />

zu vertiefen. „Das wichtigste Signal<br />

ist, dass wir gemeinsam hier sind, um<br />

Seite an Seite gegen das Vergessen und für<br />

ein friedliches Zusammenleben zu marschieren“,<br />

erklärten Hammerschmid und<br />

Deutsch unisono.<br />

Hammerschmid kündigte an, die Lehrerfortbildung<br />

in Hinblick auf den Holocaust<br />

zu intensivieren, entsprechende Unterrichtsmaterialien<br />

zu erarbeiten und eng<br />

mit der IKG zu kooperieren. „Es geht darum,<br />

in unseren Schulen und Universitäten<br />

die Geschichte des Holocaust und das<br />

Erinnern in aller Bestimmtheit zu vermitteln,<br />

damit die zukünftigen Generationen<br />

die Wurzeln des Nationalsozialismus verstehen,<br />

künftige Entwicklungen in unserer<br />

Gesellschaft genau beobachten und sich<br />

mutig Hass, Diskriminierung und Rassismus<br />

entgegenstellen“, betonte Hammerschmid.<br />

Für sie ist die Zunahme antisemitischer<br />

Vorfälle an Österreichs Schulen,<br />

wie das der Antisemitismusbericht 2016 beweist,<br />

„ein Alarmsignal. Wir sehen auf vie-<br />

© Jenny Mitbreit<br />

6 wına | Mai 2017


SCHÜLER IN AUSCHWITZ<br />

© Alik Keplicz / AP / picturedesk.com<br />

len Ebenen, dass Radikalisierung, Extremismus<br />

und Populismus zunehmen. Es<br />

gilt verstärkt auf diese Phänomene hinzuschauen.“<br />

Auch die Sorge, dass immer<br />

mehr Menschen in sozialen Netzwerken<br />

den Massenmord der Nazis an den europäischen<br />

Juden leugnen und den Holocaust<br />

bestreiten, nimmt sie ernst.<br />

Wie groß das Interesse an Österreich<br />

ist, zeigt auch die Frage des israelischen<br />

Bildungsministers Bennett, der seine<br />

Amtskollegin beim Besuch des jüdischen<br />

Friedhofs in Krakau neugierig fragte, ob<br />

„die Schoah im österreichischen Curriculum<br />

vorkommt“.<br />

Eines wurde beim March of the Living<br />

sehr klar: Die Position von Unterrichtsministerin<br />

Hammerschmid und die<br />

Initiative von IKG-Präsident Deutsch<br />

fanden enormen Anklang. „Das ist das<br />

neue Österreich, das wir schätzen und<br />

gerne haben“, erklärte spontan nach dem<br />

March of the Living der Vertreter der jüdischen<br />

Gemeinde von Madrid, David<br />

Hatchwell Altaras.<br />

An dem Gedenken an die Schoah<br />

wurde aber auch eines sehr bewusst: Die<br />

Zahl der Überlebenden und Zeitzeugen<br />

wird jährlich kleiner. In Israel gibt es nach<br />

Angaben des Finanzministeriums noch<br />

160.000 Überlebende, wie viele es weltweit<br />

sind, ist nicht bekannt. In Österreich<br />

Es ist nicht selbstverständlich,<br />

„in einer<br />

demokratischen,<br />

freien Gesellschaft<br />

zu leben. Wir müssen<br />

tagtäglich dafür<br />

kämpfen.“<br />

Sonja Hammerschmid,<br />

Unterrichtsministerin<br />

ist Marko Feingold, der Ende Mai seinen<br />

104. Geburtstag feiert, der älteste Holocaust-Überlebende.<br />

Und wie alle Jahre<br />

zuvor nahm er auch diesmal wieder am<br />

March of the Living teil. Hunderte österreichische<br />

Schüler saßen auf der Wiese<br />

und hörten ihm aufmerksam zu, als er mit<br />

kräftiger Stimme über sein Überleben in<br />

drei Konzentrationslagern berichtete –<br />

und eine Einschätzung der aktuellen politischen<br />

Lage gab. Sein Ton war warnend.<br />

Eine Gruppe junger kanadischer Juden, die<br />

vorbeikamen, blieben stehen und lauschten<br />

den Worten von Feingold: „Wow, das<br />

ist ein cooler Typ“, sagten gleich mehrere.<br />

Auch Viktor Klein aus Wien, beinahe<br />

90 Jahre alt, hat Auschwitz überlebt. Auch<br />

Schüler in Auschwitz<br />

und Birkenau.<br />

Zukünftige Generationen<br />

sollen die Wurzeln<br />

des Nationalsozialismus<br />

verstehen lernen<br />

und sich mutig Hass,<br />

Diskriminierung und<br />

Rassismus entgegenstellen.<br />

er nahm am Marsch teil.<br />

Seine große Angst derzeit<br />

ist „die Zunahme an Nationalismus“.<br />

Immer wieder wiesen<br />

die Überlebenden<br />

da-rauf hin, dass die Zeit<br />

bald kommen werde, in<br />

der es keine Überlebenden<br />

mehr gebe. „Wenn der Letzte von uns<br />

gegangen ist, können wir auf die jungen<br />

Leute zählen“, hofft Shmuel Rosenman,<br />

der Vorsitzende des March of the Living.<br />

Auch IKG-Präsident Oskar Deutsch<br />

weiß das: „Auschwitz zu erleben, ist eine<br />

starke emotionale Erfahrung für Juden und<br />

Nicht-Juden“, fasst er die Eindrücke zusammen.<br />

Ihm geht es darum, dass „Lehrer<br />

und Schüler diese Erfahrungen mit nach<br />

Hause tragen und verstehen, dass am Ende<br />

Menschlichkeit die Grausamkeit besiegt.<br />

Das ist heute die Botschaft von Auschwitz.“<br />

Er verbindet das aber auch mit einem<br />

Wunsch an die Jungen: „Tut etwas!“,<br />

lautet seine Aufforderung. „Die Zukunft<br />

liegt in euren Händen.“<br />

Essenziell findet die SPÖ-Politikerin<br />

Sonja Hammerschmid, dass Schüler und<br />

Lehrer begreifen, dass es nicht „selbstverständlich<br />

ist, in einer demokratischen,<br />

freien und offenen Gesellschaft zu leben.<br />

Wir müssen tagtäglich dafür kämpfen“,<br />

betont die Bildungsministerin. <br />

wına-magazin.at<br />

7


ERINNERUNGSFORSCHUNG<br />

„Ein klarer Blick auf<br />

starke jüdische<br />

Frauen“<br />

Die aus München zugewanderte Historikerin<br />

Martina Steer befasst sich mit jüdischer<br />

Geschichte der Neuzeit und betreibt Erinnerungsforschung<br />

an der Universität Wien.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

Wenn du nach Wien gehst,<br />

enterbe ich dich“, dekretierte<br />

die Großmutter in<br />

München ziemlich resolut.<br />

„Sie hat das auch strikt durchgezogen“,<br />

lacht Enkelin Martina Steer heute darüber.<br />

Aber etwas Verletzendes, Wehmütiges<br />

klingt da noch mit. Eine Schachtel<br />

mit Schmähbriefen hat die nicht weniger<br />

entschlossene Martina aus dem Nachlass<br />

der geliebten Oma dann doch an sich genommen.<br />

„Sie kam aus Budapest nach<br />

Oberbayern, wo sie den Großteil ihres Lebens<br />

verbrachte. Trotz der antisemitischen<br />

Briefe, die sie als Geschäftsfrau jahrelang<br />

gesammelt hatte, war sie überzeugt, dass es<br />

in Wien noch schlimmer sei“, erzählt die<br />

Historikerin, die seit 2010 jüdische Geschichte<br />

der Neuzeit an der Universität<br />

lehrt und Erinnerungsforschung betreibt.<br />

Der Diskurs mit der Großmutter fand<br />

im Jahre 2000 statt, als die in Landshut<br />

in Niederbayern geborene Wissenschafterin<br />

wegen ihres Doktorvaters nach Wien<br />

zog, um hier ihre Dissertation zu verfassen.<br />

„Vier Tage vor meinem Rigorosum ist<br />

sie gestorben“, erzählt die zweifache Mutter.<br />

Doch bevor sie in Wien mit ihrer Familie<br />

sesshaft wurde, arbeitete die Historikerin<br />

an ihrer vielfältigen akademischen<br />

Karriere, die sie in Kürze mit ihrer Habilitation<br />

krönen wird.<br />

Wie aber kam es zur Entscheidung für<br />

das Studienfach „Jüdische Geschichte der<br />

Neuzeit“? „Grundsätzlich studierte ich in<br />

München Geschichte, aber bereits während<br />

des ersten Semesters wurden verschiedene<br />

Referatsthemen zur jüdischen<br />

Geschichte Europas angeboten, und das<br />

hat mich interessiert“, erzählt Steer, die<br />

daraufhin die Geschichte der Juden in<br />

Landshut im Mittelalter erforschte. „Ein<br />

wenig Hebräisch konnte ich aus dem Religionsunterricht,<br />

und je mehr ich gelesen<br />

habe, umso mehr bin ich in das Thema hineingewachsen.“<br />

Bald darauf ging sie nach<br />

Berlin, anschließend ein Jahr nach Rotterdam,<br />

um dann an die Ludwig-Maximilians-Universität<br />

in München zurückzukehren.<br />

„Mit Professor Michael Brenner<br />

hatte ich einen sehr guten Betreuer für<br />

meine Masterarbeit über die jüdische Philosophin<br />

Margarete Susman (1872–1966),<br />

die sich auch mit Frauenemanzipation beschäftigt<br />

hatte.“ Durch Zufall stieß Steer<br />

auf einen Artikel über Susman, deren Leben<br />

und Schaffen sie gleichermaßen faszinierten.<br />

„Es kamen bei dieser Essayistin<br />

und Poetin so viele verschiedene intellektuelle<br />

Strömungen während der Weimarer<br />

Republik zusammen, dass ich sie unbedingt<br />

näher kennenlernen wollte.“ Doch<br />

die Historikerin begnügte sich nicht mit<br />

dem Porträt einer einzigen großen jüdischen<br />

Frau: Sie verfasste auch die Biografie<br />

von Bertha Badt-Strauss (1885–1970),<br />

einer überzeugten Zionistin und streng religiös<br />

lebenden deutschen Jüdin. Bertha<br />

Badt stammte aus einem Haus jüdischer<br />

Gelehrter und promovierte 1908 in Berlin<br />

als erste Frau an der philosophischen<br />

Fakultät. Nach dem Ersten Weltkrieg begann<br />

sie, über jüdische Themen zu schreiben,<br />

und wurde zu einer der produktivsten<br />

und bekanntesten Publizistinnen im Berlin<br />

der Zwischenkriegszeit. „Ich bin mit<br />

starken, dominanten Frauen aufgewach-<br />

sen, die die Geschicke ihrer Familie in<br />

weiten Teilen bestimmt haben“, schmunzelt<br />

Steer, „vielleicht rühren die Faszination<br />

und das Interesse daher.“<br />

Kein homogenes Kollektiv Bevor<br />

Martina Steer Lehraufträge und den Assistentinnenposten<br />

am Institut für Geschichte<br />

an der Universität Wien annahm,<br />

war sie u. a. an der Europäischen Universität<br />

in Florenz, am German Historical Institute<br />

in Washington sowie an der Universität<br />

Breslau und dem Simon Dubnow<br />

Institut in Leipzig tätig. „Neben meinen<br />

jüdischen Themen mache ich europäische<br />

und transnationale Geschichte. Wirklich<br />

aufregend und interessant sind – in Zeiten<br />

wie diesen – die Sommer- und Winterseminare<br />

in Lemberg und Kiew. Die habe<br />

ich mit einem ukrainischen Kollegen im<br />

Auftrag der Open Society Foundation für<br />

junge Kulturwissenschaftler aus ehemaligen<br />

Sowjetstaaten organisiert.“ Übersetzer<br />

benötigt die umtriebige Wissenschafterin<br />

nicht, denn sie spricht mehrere Sprachen,<br />

darunter Italienisch, Holländisch und natürlich<br />

Jiddisch und Hebräisch.<br />

„Das Projekt, das ich gerade abschließe,<br />

beschäftigt sich mit Moses-Mendelssohn-<br />

Jubiläen in Deutschland, Polen, Israel und<br />

den USA. Natürlich auch im Habsburgerreich,<br />

da habe ich wunderbare jiddische<br />

Texte aus Galizien und Predigten<br />

von Adolf Jellinek aus Wien gefunden“,<br />

erzählt die Bayerin, die als Jugendliche<br />

die Bücher von Christine Nöstlinger<br />

verschlungen hatte. Für die Forscherin<br />

stellt der 1729 in Dessau geborene Philosoph<br />

der Aufklärung und Wegbereiter<br />

der Has kala einen bedeutenden Referenzpunkt<br />

in der Vergangenheit dar, weil<br />

er eine starke identitätsstiftende Wir-<br />

8 wına | Mai 2017


JÜDISCHE GESCHICHTE<br />

© Reinhard Engel<br />

die getauften Nachfahren<br />

Mendelssohns überhaupt<br />

auszublenden. Etwas<br />

später wurde man<br />

offener, und Musikstücke<br />

von Felix Mendelssohn<br />

Bartholdy wurden<br />

auch in Synagogen gespielt“,<br />

berichtet Steer. In<br />

der bisherigen Forschung<br />

hat es eine ganz klare<br />

Ost-West-Trennung gegeben:<br />

In Westeuropa befürworteten die<br />

Juden die Emanzipationsbestrebungen<br />

Mendelssohns, ohne die Jüdischkeit zu<br />

verwässern, im Osten dagegen wurde er<br />

als Sinnbild der Assimilation, der Mischehe<br />

etc. dargestellt.<br />

„Was mich bei Fragen zur jüdischen<br />

Geschichte immer gestört hat, ist, dass<br />

viele dabei nur an die Themen Antisemitismus<br />

und Schoah denken. Natürlich spielt<br />

das eine wesentliche Rolle im jüdischen<br />

Bewusstsein und in der Historie, aber Ankung<br />

auf unterschiedliche<br />

Gruppierungen innerhalb<br />

der jüdischen Gemeinden<br />

ausübte. „Moses Mendelssohn<br />

ist sozusagen ein<br />

wichtiger Erinnerungsort.<br />

Das ist aber keine geografische<br />

Bezeichnung, sondern<br />

eine Metapher für<br />

ein Ereignis oder eine<br />

Person, die über Grenzen<br />

hinweg die Menschen im<br />

positiven oder negativen Sinn beschäftigt<br />

und beeinflusst hat.“ Da die Juden kein<br />

homogenes Kollektiv waren und sind, erinnern<br />

Liberale, Orthodoxe und Zionisten<br />

unterschiedlich, weil sie jeweils auch<br />

andere Ziele mit Mendelssohn verfolgten.<br />

Sowohl aus Büchern und Texten über den<br />

zeitlebens religionsgesetzestreuen Reformer<br />

als auch aus musikalischen Kompositionen<br />

und Feiern lässt sich ablesen, wie<br />

man mit Mendelssohn umgegangen ist.<br />

„Seine Befürworter versuchten zu Beginn,<br />

„Antisemitismus<br />

ist nicht<br />

jüdische Geschichte<br />

– das<br />

ist eher die<br />

Geschichte der<br />

Antisemiten.“<br />

Martina Steer<br />

tisemitismus ist nicht jüdische Geschichte<br />

– das ist eher die Geschichte der Antisemiten“,<br />

entrüstet sich die Historikerin. Es<br />

gebe auch ein modernes jüdisches Kollektivgedächtnis,<br />

das sich nicht zwangsläufig<br />

mit dem Holocaust oder anderen Traumata<br />

beschäftigt. Aber wo und wie findet<br />

heute ein junger jüdischer Mensch, der<br />

kein religiöses oder historisches Wissen<br />

hat, die positiven Erinnerungsorte? „Das<br />

kann Theodor Herzl sein, Gefillter Fisch<br />

oder die Stadt Prag. Israel ist ein gutes Beispiel,<br />

wie man Erinnerungsarbeit machen<br />

kann: Auch die militärische Stärke kann als<br />

Garant des Überlebens positiv besetzt sein<br />

– als Kontrapunkt dazu, dass Juden immer<br />

nur Opfer waren.“<br />

Martina Steer hatte kein Problem, sich<br />

in Wien schnell und gut einzuleben. In ihrer<br />

Lehrtätigkeit an der Universität Wien<br />

war sie weniger mit Antisemitismus konfrontiert<br />

als mit Unwissen und merkwürdigen<br />

Ressentiments. Sprüche wie „Ihr Juden<br />

könnt ja gut mit Geld umgehen“ hat<br />

sie schon serviert bekommen. „Schlimmer<br />

ist, dass Diskussionen oft in eine Israel-Kritik<br />

umschlagen, z. B. wenn von den<br />

‚bösen Besatzern‘ die Rede ist, die ‚von<br />

Amerika finanziert werden‘. Es geht so in<br />

Richtung Dämonisierung“, erzählt Steer.<br />

Das nächste Projekt der Historikerin<br />

wird sich mit der Geschichte der jüdischen<br />

Frauen in der Habsburger-Monarchie<br />

und insbesondere mit jenen in<br />

Galizien im Ersten Weltkrieg beschäftigen.<br />

„Wenn ich mir das Leben der jüdischen<br />

Frauen in Galizien anschaue, eröffnet<br />

das ganz andere Blickweisen auf das<br />

österreichische Judentum insgesamt: In<br />

Lemberg z. B. lebten zumeist bürgerliche<br />

Frauen, die sich intellektuell weiterbilden<br />

konnten. Aber der Großteil der Frauen<br />

lebte im Schtetl in ländlichen Gegenden.<br />

Sie konnten zwar auch schreiben und lesen,<br />

waren aber auf einen gänzlich religiösen<br />

Mikrokosmos eingeschränkt. Sie<br />

hatten die meiste Verantwortung für die<br />

Familie zu tragen.“ Womit Martina wieder<br />

bei starken Frauen angelangt sein wird<br />

– und sich der Kreis zur geliebten Großmutter<br />

erneut schließt. <br />

wına-magazin.at<br />

9


GELENKTE MEDIEN<br />

Medienlandschaft in Ungarn –<br />

neu aufgemischt<br />

Die Freunde Orbáns teilen sich den medialen Kuchen ungeniert auf. Widerstand<br />

gibt es nur vereinzelt – und dann meist auf Onlineportalen.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

Der Wille nach absolutem<br />

Machterhalt scheint in<br />

Viktor Orbáns Ungarn<br />

nicht nur kräfteraubend<br />

zu sein, er verdrängt offensichtlich<br />

auch nationale Eigenschaften.<br />

Und das trotz der viel strapazierten nationalistischen<br />

Töne: Der so typische sarkastische<br />

bis selbstironische ungarische<br />

Humor ist der politischen Führungsriege<br />

komplett abhanden gekommen. Auf satirische<br />

Verfälschungen eines Orbán-Interviews<br />

wurde mit unverzüglichen Kündigungen<br />

reagiert. Hier die Vorgeschichte:<br />

In der Weihnachtsausgabe des Fejér Megyei<br />

Hírlap erschien das für alle zwölf regionalen<br />

Mediaworksblätter zentral redigierte<br />

Orbán-Interview mit einigen<br />

erfundenen Zitaten, die ein Unbekannter<br />

eingefügt hatte. Unter anderem wurde<br />

Orbáns Aussage, wonach Ungarn deshalb<br />

ein stabiles Land sei, weil die Regierung<br />

das Volk regelmäßig nach seiner Meinung<br />

befrage, um den frei erfundenen Zusatz<br />

ergänzt: „Obwohl sie uns gar nicht interessiert<br />

hat.“ An einer anderen Stelle wird<br />

Orbán, der dem Christentum eine staatstragende<br />

Funktion in seinem Land zubilligt,<br />

fälschlicherweise in den Mund gelegt:<br />

„Ich wünsche mir, dass immer mehr<br />

Menschen zu einer heidnischen Auffassung<br />

von Weihnachten zurückkehren.“<br />

Die verantwortliche Redakteurin des Fejér<br />

Megyei Hírlap (dem Nachrichtenblatt<br />

des Komitats Fejér) aus Székesfehérvár<br />

wurde ebenso gekündigt wie vier weitere<br />

leitende Mitarbeiter dieser und einer<br />

zweiten Zeitung, wie das Internetportal<br />

Veszprémkukac.hu berichtete.<br />

Ziemlich unappetitlich war die österreichische<br />

Beteiligung an der plötzlichen<br />

Schließung der traditionsreichen, regierungskritischen<br />

ungarischen Tageszeitung<br />

Népszabadság. Obwohl der österreichische<br />

Eigentümer der Mediaworks AG, der Investmentbanker<br />

Heinrich Pecina, die Einstellung<br />

mit massiven Verlusten zu argumentieren<br />

versuchte, wurde rasch klar, dass<br />

das Blatt durch die Totalblockade staatlicher<br />

Inserate sowie den Druck auf private<br />

Inserenten systematisch ausgetrocknet<br />

wurde. Der passionierte Jäger Pecina<br />

leitete von 1990 bis 1997 die Creditanstalt<br />

Investment Bank (CAIB); Anfang 2001<br />

ging er bei der kroatischen Schifffahrtsgesellschaft<br />

Tankerska an Bord, laut Firmenbuch<br />

mischte er jahrelang im Gas- und Ölhandel<br />

mit. Im Frühjahr 2014 übernahm<br />

Pecina dann vom Schweizer Medienhaus<br />

Ringier die ungarische Firma Mediaworks<br />

AG mit der Tageszeitung Népszabadság,<br />

dem Wirtschaftsblatt Világgazdaság, der<br />

Sportzeitung Nemzeti Sport sowie weiteren<br />

Regionalzeitungen und einer Druckerei.<br />

Pecina wies jede politische Einflussnahme<br />

seitens der Orbán-Regierung beim<br />

Verkauf von Népszabadság empört von sich.<br />

Doch die Druckerschwärze war noch<br />

nicht trocken, als bekannt wurde, dass die<br />

Mediaworks AG inklusive des liberalen<br />

Aushängeschildes an das Medienunternehmen<br />

Opimus Press verkauft wurde.<br />

Dieses gehört zu einem Firmengeflecht<br />

von Lőrinc Mészáros, einem engen Freund<br />

des ungarischen Ministerpräsidenten Victor<br />

Orbán. Mészáros ist vom Installateur<br />

zum Millionär aufgestiegen – auch dank<br />

seines Jugendfreundes. Außerdem ist er der<br />

Bürgermeister von Felcsút, dem Heimatort<br />

Orbáns. Vorsitzender des Beirats der<br />

Verkäuferfirma Vienna Capital Partners ist<br />

der frühere österreichische Botschafter in<br />

Brüssel, Gregor Woschnagg. Ferner sitzt<br />

auch ein Mann mit Beziehungen zum ungarischen<br />

Premier dort: der ehemalige ungarische<br />

Außenminister János Mártonyi.<br />

Während über dem pflegeleichten<br />

Freund Mészáros noch das Füllhorn ausgeschüttet<br />

wird, damit regierungstreue<br />

Medien die Oberhand an der öffentlichen<br />

Meinung gewinnen können, werden aufmüpfige<br />

Freunde bestraft.<br />

Das erfolgreiche Tandem, das die ehemalige<br />

Jugendpartei Fidesz zur Regierungsmacht<br />

führte, der Politiker Orbán<br />

und der Bau-, Agrar- und Medienunternehmer<br />

Lajos Simicska, ist einander seit<br />

einem Jahr spinnefeind. „Mein Bündnis<br />

mit Orbán war darauf gegründet, dass wir<br />

die Diktatur und das postkommunistische<br />

System abreißen wollten“, sagte der Geschäftsmann<br />

nach dem Zerwürfnis. „Aber<br />

bei diesem Bündnis war nicht die Rede davon,<br />

dass wir stattdessen eine neue Diktatur<br />

errichten.“ Das Verhältnis der Schulfreunde<br />

kühlte nach Orbáns zweitem<br />

Wahlsieg merkbar ab, weil zwar Simicskas<br />

Baukonzern Közgép weiterhin von öffentlichen<br />

Aufträgen profitierte, aber seine<br />

Medien damit begannen, einzelne Regierungsmaßnahmen<br />

zu kritisieren. Orbán<br />

verfügte daraufhin, dass diese Medien<br />

nicht mehr mit Werbeaufträgen von staatlichen<br />

und staatsnahen Unternehmen „versorgt“<br />

werden würden. Simicskas Medien,<br />

darunter die einflussreiche Zeitung Magyar<br />

Nemzet, der Nachrichtensender Hír<br />

TV und Lánchíd Rádió, hatten wesentlich<br />

zum erdrutschartigen Wahlsieg des Fidesz<br />

2010 beigetragen. „Als Nachrichtenkonsumenten<br />

profitieren wir von diesem Krieg<br />

10 wına | Mai 2017


MUTIGE PORTALE<br />

© Andras Nagy /picturedesk.com<br />

Skandalgeschichten<br />

über Viktor Orbán wie<br />

hier im Herbst 2016 in<br />

der nicht mehr existierenden<br />

Tageszeitung<br />

Népszabadság<br />

wird es in Ungarn in<br />

naher Zukunft kaum<br />

mehr geben, wenn<br />

die Medienlandschaft<br />

weiterhin so rasant<br />

unter den Einfluss der<br />

derzeitigen Regierung<br />

gerät.<br />

sches Instrumentarium erschöpft sich in<br />

abgestumpfter political correctness. Ihnen<br />

fehlt schlicht und einfach der Mut,<br />

und wenn sie jemanden treffen, der diese<br />

Tugend aufbringt, greifen sie ihn an. Kein<br />

Wunder, dass sie sich vom Freiheitskämpfer<br />

Orbán irritiert fühlen.“<br />

Dieser mutige Mann hatte bereits 2010,<br />

als er die Zweidrittelmehrheit im Parlament<br />

eroberte, die elektronischen Medien<br />

unter seine Kontrolle gebracht. Hunderte<br />

Redakteure im öffentlich-rechtlichen<br />

Rundfunk wurden auf die Straße gesetzt.<br />

Wer bleiben durfte, wurde unter das Dach<br />

der MTVA eingegliedert, jene staatliche<br />

Agentur, die über ein gut Dutzend Radio-<br />

und TV-Programme herrscht und<br />

den „Kunden“ die regierungsfreundlichen<br />

Meldungen kostenlos und fertig redigiert<br />

liefert. Sogar ein treuer „ungarischer<br />

Heimkehrer“ aus den USA durfte<br />

„Die Onlineportale<br />

Index, 444, Átlátszó<br />

oder Direkt 36 wühlen<br />

dort, wo es der Regierung<br />

weh tut: bei<br />

Korruptionsskandalen<br />

rund um die Regierungspartei<br />

Fidesz. Sie<br />

erfüllen die Aufgabe<br />

des Watchdogs in der<br />

Gesellschaft.“<br />

Péter Új, Chefredakteur<br />

der beiden Schulfreunde“, freut sich die<br />

Soziologin Éva Kovács, „denn jetzt weiß<br />

man eindeutig, dass Simicskas Hír TV<br />

keine Pro-Regierungspropaganda mehr<br />

macht.“<br />

So ungetrübt kann diese Freude nicht<br />

sein, denn nur ein einzelner enttäuschter<br />

Orbán-Freund trägt noch nicht wesentlich<br />

zur freien Information in Ungarn<br />

bei. Ganz im Gegenteil, die jüngste Übernahme<br />

des angesehenen Wirtschaftsmagazins<br />

Figyelő (Beobachter) durch Mária<br />

Schmidt, die langjährige Hofhistorikerin<br />

Orbáns, ist ein weiterer Tiefschlag für<br />

die Meinungsvielfalt. Auch als Branchenfremde<br />

konnte sie die vor 60 Jahren gegründete<br />

Wochenzeitung ohne viel Risiko<br />

erwerben: Seit 2006 verfügt sie über<br />

ein großes Vermögen, das sie von ihrem<br />

Mann geerbt hat. Schmidt ist für ihre<br />

geschichtsrevisionistischen Projekte sowie<br />

die Relativierung des Holocaust bekannt-berüchtigt.<br />

Erst jüngst schwärmte<br />

sie von Viktor Orbán in der konservativen<br />

Wochenzeitung Heti Válasz: „Durch sein<br />

strategisches Denken, seine Standhaftigkeit,<br />

Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit,<br />

Ausdauer und nicht zuletzt seinen<br />

Mut löst Orbán bei den Entscheidungsträgern<br />

im heutigen Westeuropa nicht<br />

nur Panikreaktionen, sondern auch Gereiztheit<br />

und Irritationen aus“, denn, so<br />

Schmidt weiter, „im Gegensatz zu Orbán<br />

sind diese Personen keine Politiker, sondern<br />

politische Manager. Von der Politik<br />

interessiert sie nur jenes Kapitel, das von<br />

der Technik der Macht handelt. Sie sind<br />

davon getrieben, ihre Macht so lange wie<br />

möglich aufrechtzuerhalten. Sie können<br />

nicht zwischen richtig und falsch, gut und<br />

schlecht unterscheiden, denn ihr politimitnaschen:<br />

Der Filmproduzent und<br />

Regierungskommissar für die staatliche<br />

Filmförderung, Andrew G. alias András<br />

Vajna, kaufte von ProSiebenSat1 Media<br />

den Sender TV2 ebenso wie den landesweit<br />

gehörten Sender Radio 1. „Wir sind<br />

der einzig verbliebene private Radiosender“,<br />

berichtet Julia Váradi vom Klubrádió,<br />

„und daher ständigen Schikanen ausgesetzt“.<br />

„Gott soll einen hüten vor allem,<br />

was noch ein Glück ist.“ Seit 2010 ist<br />

Viktor Orbán Regierungschef, und ab diesem<br />

Zeitpunkt fiel Ungarn im Pressefreiheits-Ranking<br />

der Organisation Reporter<br />

ohne Grenzen um 44 Plätze. Im Jahr<br />

2016 war das Land unter 180 Staaten auf<br />

Rang 67 gelandet, hinter Malawi, Niger<br />

und der Mongolei. Und auch diese Platzierung,<br />

frei nach Friedrich Torberg, „was<br />

noch ein Glück ist“, verdankt Ungarn ausschließlich<br />

einzelnen mutigen Unternehmern.<br />

„Wir füllen die Lücke, die Népszabadság<br />

hinterlassen hat“, sagt László Puch, der<br />

Népszava (Volksstimme), die einzige verbliebene<br />

linke Tageszeitung Ungarns, gemeinsam<br />

mit anderen Investoren gekauft<br />

hat. Népszava wurde 1877 gegründet, im<br />

Kommunismus war sie das Zentralorgan<br />

der Gewerkschaften, jetzt ist sie die neue<br />

Hoffnung der Linken. Puch war aktiv<br />

in der ungarischen sozialistischen Partei<br />

(MSZP) und ist ein Neounternehmer, der<br />

neben anderen Firmen auch noch zwei regionale<br />

Wochenzeitungen in Ungarn betreibt.<br />

Puch hat zwanzig Redakteure vom<br />

eingestellten Népszabadság übernommen.<br />

Die unerschrockenen Regierungskritiker<br />

findet man derzeit fast nur mehr<br />

bei den Onlineportalen. Diese produzieren<br />

billiger als Zeitungen oder Radiosender<br />

und erreichen mehr Menschen, auch<br />

über Landesgrenzen hinweg. Das Onlineportal<br />

444.hu ist eines der aufmüpfigsten<br />

Medien Ungarns. „Als wir gesehen haben,<br />

dass die Politik immer näher kommt, haben<br />

wir Ende der 1990er-Jahre erst Index*<br />

und dann 444 gegründet“, erklärte Chefredakteur<br />

Péter Új dem deutschen Journalisten<br />

Stephan Ozsváth. „Diese Onlineportale<br />

wie Index, 444, Átlátszó oder Direkt 36<br />

wühlen dort, wo es der Regierung weh tut:<br />

bei Korruptionsskandalen rund um die Regierungspartei<br />

Fidesz. Sie erfüllen die Aufgabe<br />

des Watchdogs in der Gesellschaft“,<br />

fügt Ozsváth an. Finanzieren müssen sich<br />

solche Projekte über Spenden und großzügige<br />

Förderer. <br />

*Index wurde<br />

von einer<br />

Firma erworben,<br />

die über<br />

eine Stiftungskonstruktion<br />

zu großen Teilen<br />

dem Oligarchen<br />

Simicska<br />

gehört.<br />

wına-magazin.at<br />

11


MILLIARDEN IN 3D<br />

Von Reinhard Engel<br />

Der Eintrag an der amerikanischen<br />

Technologiebörse<br />

Nasdaq zu Stratasys Ltd. ist<br />

knapp und präzise: Das Unternehmen<br />

hat zwei Zentralen, eine in<br />

Minneapolis in den USA und eine in<br />

Rehovot in Israel. Mit seinen insgesamt<br />

2.800 Beschäftigten hält der Spezialist<br />

für 3D-Druck weltweit mehr als 600 einschlägige<br />

Patente. Die Drucker werden<br />

für drei Arten von Anwendungen eingesetzt:<br />

für die Produktentwicklung, für den<br />

Bau von Prototypen und auch für die direkte,<br />

digital gesteuerte Produktion.<br />

Die heutige Stratasys entstand im Jahr<br />

2012 durch das Verschmelzen der amerikanischen<br />

Stratasys mit der israelischen<br />

Objet. „Mit diesem Zusammenschluss“,<br />

schrieb damals das Techportal NoCamels<br />

- Israeli Innovation News, „entsteht<br />

ein 3D-Druck-Gigant mit einem Börsenwert<br />

von etwa 1,4 Milliarden Dollar“.<br />

Objet setzte damals geschätzte 150<br />

Mio. Dollar jährlich um, etwa gleich viel<br />

wie Stratasys. Dabei hatten beide Unternehmen<br />

schon zuvor in der innovativen<br />

Branche als wichtige Akteure gegolten.<br />

Und gemeinsam starteten die<br />

beiden Partner einen steilen Wachstumskurs,<br />

zusätzlich getrieben von weiteren<br />

Zukäufen. Im Jahr 2014 betrug der<br />

Umsatz schon 750 Mio. Dollar, um dann<br />

zwei Jahre später auf 670 Mio. Dollar zurückzufallen.<br />

Der US-amerikanische Firmenteil<br />

geht auf den Erfinder Scott Crump zurück,<br />

der schon 1988 in der Küche seiner<br />

Mutter Wachs und Plastik zusammenrührte,<br />

um damit seine ersten Druckversuche<br />

zu starten. Während der nächsten<br />

Jahre folgte ein stetiger Aufstieg des Unternehmens,<br />

das er mit gegründet hatte.<br />

Das israelische Unternehmen Objet<br />

wurde zehn Jahre nach seinem künftigen<br />

Partner ins Leben gerufen. Im Jahr<br />

1998 gründeten Rami Bonen, Gershon<br />

Miller und Hanan Gotaiit die Firma, finanzierten<br />

sie mit mehreren Runden von<br />

Venture-Kapital, unter anderem vom<br />

Schweizer israelischen Investor Elan Jaglom,<br />

von der TDA-Stiftung und von<br />

Leon Recanati.<br />

Objet entwickelte sich laut NoCamels<br />

zu einem global führenden Unternehmen<br />

in der 3D-Branche. Die Drucker<br />

des Unternehmens, die pro Stück zwischen<br />

10.000 und 400.000 Dollar kosten,<br />

werden unter anderem in folgenden<br />

Industriebranchen eingesetzt: bei Herstellern<br />

von Spielwaren und elektronischen<br />

Geräten, in der Automobil- und<br />

Zulieferindustrie, bei Schmuckerzeugern,<br />

in Dentallabors und in modernen<br />

Schuhfabriken. Angeblich hat Apple-<br />

Viele Hightechunternehmen<br />

lassen in Israel entwickeln<br />

und fertigen<br />

anderswo. Der 3D-Druck-<br />

Spezialist Stratasys produziert<br />

in zwei Werken im<br />

Land seine Maschinen:<br />

Exportquote 99 Prozent.<br />

Chef Steve Jobs die ersten Prototypen<br />

des iPhone auf Druckern von Objet anfertigen<br />

lassen. Diese Werkstücke bestehen<br />

übrigens längst nicht mehr nur<br />

aus Kunststoff – oder aus einem einzigen<br />

Kunststoff: Manche Drucker können<br />

auch unterschiedliche Materialkomponenten<br />

nahtlos miteinander kombinieren,<br />

so dass verschiedene Bauteile nicht mehr<br />

zusammengebaut oder verklebt werden<br />

müssen. Das spart Arbeitsschritte, Zeit<br />

und Lohnkosten.<br />

Warum überhaupt 3D-Druck? Was<br />

sind die Vorteile von 3D-Druck? Die<br />

Methode, die auf Englisch „additive manufacturing“<br />

heißt, bedeutet, dass man<br />

nicht aus einem Rohling die Form des<br />

Bauteils herausarbeitet, wie das üblicherweise<br />

geschieht, mit Fräsen, Bohrern oder<br />

anderen Werkzeugen. Im Gegenteil, das<br />

Teil wird in winzigen Schichten langsam<br />

aufgebaut, aus flüssigem oder pulverförmigem<br />

Material quasi gedruckt. Damit<br />

sind viel komplexere Formen möglich, die<br />

auch unregelmäßige Hohlräume enthalten,<br />

wie man sie mit Werkzeugen kaum<br />

herausbohren könnte. Das kann für Maschinenbauer<br />

sehr interessant sein, etwa<br />

für Turbinen, aber auch, um tragende<br />

Strukturteile leichter zu machen, ähnlich<br />

menschlichen oder tierischen Knochenstrukturen.<br />

Vor allem aber wird es der-<br />

Drucken<br />

AUF ISRAELISCH<br />

12 wına | Mai 2017


STRATASYS DRUCKGIGANT<br />

© Stratasys<br />

Schicht um<br />

Schicht entstehen<br />

die Objekte beim<br />

3D-Druck und<br />

können so auch<br />

komplexeste Formen<br />

annehmen.<br />

sende von unterschiedlichen Ersatzteilen<br />

teuer auf Lager gehalten und dann einzeln<br />

zu den Werkstätten geschickt, die<br />

sie gerade brauchen. Künftig könnten die<br />

Unternehmen der Automobil-, Elektround<br />

Maschinenbauindustrie bloß riesige<br />

elektronische Datenbanken der Teile vorhalten.<br />

Ausgedruckt wird dann nur das,<br />

was aktuell nachgefragt wird.<br />

Der Druck könnte auch ganz in der<br />

Nähe der Kunden stattfinden, selbst<br />

wenn das defekte Gerät von sehr weit<br />

her kommt – aus Japan, China oder Korea.<br />

Nicht zuletzt deshalb interessieren<br />

sich schon Logistikkonzerne wie DHL<br />

für die 3D-Technologie. Denn warum<br />

sollte nicht der Spediteur in seinem Lager<br />

gleich die Herstellung übernehmen<br />

und das Teil dann nur die letzten Kilometer<br />

bis zum Kunden transportieren?<br />

Zwei Fabriken in Israel – Turbulenzen<br />

an der Börse. Im September 2014<br />

schnitt der damalige Finanzminister Yair<br />

Lapid bei einer feierlichen Zeremonie<br />

das Eröffnungsband der zweiten israelischen<br />

Fabrik von Stratasys durch, in der<br />

Stadt Kiryat Gat im Süden von Israel, wo<br />

Auch die ersten<br />

Prototypen des<br />

iPhone sollen auf<br />

Druckern von Objet<br />

entstanden sein.<br />

zeit beim Prototypenbau genutzt: Damit<br />

lassen sich in den Entwicklungsabteilungen<br />

schnell neue Komponenten herstellen<br />

und auch physisch testen, die Ingenieure<br />

sind nicht bloß auf das theoretische<br />

Berechnen angewiesen.<br />

Dies funktioniert übrigens nicht nur<br />

für die direkte Produktion der Maschinenteile,<br />

sondern auch für die Herstellung<br />

komplexer Formen, in denen dann<br />

Kunststoff- oder Metallteile ganz herkömmlich<br />

gegossen werden. Das macht<br />

etwa ein österreichischer 3D-Spezialist,<br />

Lithoz, für Komponenten, die einmal in<br />

einer Flugzeugturbine eingebaut werden<br />

sollen. Aber es gibt auch ganz andere Anwendungsbeispiele<br />

aus unterschiedlichen<br />

Branchen: Ohrenärzte nutzen die Technik<br />

für persönliche angepasste Stöpsel<br />

bei Hörgeräten; jüngere Patienten von<br />

Zahnärzten bekommen ihre durchsichtigen<br />

Zahnspangen auf diese Weise angemessen.<br />

Der Sportartikelhersteller Adidas<br />

beginnt gerade damit in einer Fabrik<br />

in Deutschland ganze Schuhe drucken,<br />

das Ziel sind hier hohe Stückzahlen.<br />

Aber damit sind die Möglichkeiten<br />

noch lange nicht ausgereizt. Zwar wird<br />

sich auch in der Zukunft nur schwer ein<br />

ganzes Auto ausdrucken lassen. Aber<br />

besonders für das weltweite Ersatzteilgeschäft<br />

könnte die Technologie interessant<br />

werden. Heute werden noch Tauschon<br />

Intel eine Chip-Fertigung betreibt.<br />

Dazu kamen damals auch 60 Mitarbeiter<br />

des Unternehmens mit bunten Helmen<br />

angeradelt, die bei Tagesanbruch in der<br />

Zentrale von Stratasys in Rehovot aufgebrochen<br />

waren und mit ihren Rädern 45<br />

Kilometer zurückgelegt hatten. Seither<br />

werden die Hightechdruckstationen für<br />

industrielle Anwender aus beiden Fertigungsstätten<br />

zu 99 Prozent exportiert.<br />

An der Börse hat Stratasys eine extreme<br />

Berg- und Talfahrt hingelegt, nicht<br />

unähnlich anderen Techfirmen. Investoren<br />

erwarteten eine rasante Marktdurchdringung<br />

mit 3D-Druckern, schnell<br />

breite industrielle Anwendungen. Doch<br />

dazu ist es bisher nicht gekommen. Noch<br />

werden vor allem komplizierte Spezialteile<br />

gedruckt, und das eher in bescheidenen<br />

Stückzahlen. Das langsamere<br />

Wachstum beim Verkauf von Druckern<br />

ließ auch das Folgegeschäft stagnieren:<br />

die Lieferung von Materialien zum<br />

Drucken sowie Service- und Reparaturdienstleistungen.<br />

Die Auswirkungen für<br />

das Unternehmen waren kurzzeitig hohe<br />

Abschreibungen und Verluste, jene an der<br />

Nasdaq fielen dramatisch aus: Der Börsenkurs<br />

von Stratasys schoss zunächst<br />

von 18 Dollar auf 135 Dollar in die Höhe,<br />

nur um im Jahr 2015 wieder auf 18 abzustürzen.<br />

Mittlerweile<br />

steht er bei 24. <br />

Einsatzsmöglichkeiten.<br />

Ob Figuren, Helme,<br />

Sport- und Hörgeräte,<br />

Zahnspangen, Schuhe,<br />

Flugzeugteile ...<br />

wına-magazin.at<br />

13


PERSPEKTIVEN DER WELTANSICHT<br />

Eine<br />

Ansichtssache<br />

Digitale Landkarten auf Smartphones und Tablets ersetzen ihre analogen Vorgänger<br />

in unserem Alltag faktisch zur Gänze. Doch ihre Funktionsweise<br />

verdanken sie Menschen, die genau definiert haben, was sie davon profitieren<br />

und wir sehen sollen. Ein Interviewmit dem Kultur- und Medienwissenschafter<br />

Alex Gekker. Von Itamar Treves-Tchelet<br />

WINA: Dr. Alex Gekker, digitale Landkarten<br />

auf Smartphones und Computern<br />

spielen heute eine zentrale Rolle in unserem<br />

Alltag. Faktisch ersetzten sie die analogen<br />

Landkarten. Welche Aspekte dieses<br />

Wandels sind uns, den Usern, nicht unmittelbar<br />

bewusst?<br />

Alex Gekker: Eine der Herausforderungen<br />

bei den digitalen Landkarten ist, dass<br />

sie von uns als natürlich und selbstverständlich<br />

begriffen werden. Es muss aber<br />

klar sein, dass dahinter ein Algorithmus<br />

steckt – und der ist artifiziell hergestellt,<br />

auch wenn er als mathematisch-objektiv<br />

erscheint. Denn er wurde von Menschen geschrieben, die genau<br />

definiert haben, was er tun soll. Wir sehen also die Welt, so<br />

wie der Anbieter der Karten-App, so wie Google, Apple oder<br />

die in Israel entwickelte App Waze sie uns zeigen wollte. Und<br />

diese Sicht ist sicher nicht objektiv.<br />

Im Februar 2016 sind in Colorado (USA) viele Autofahrer steckengeblieben,<br />

nachdem sie die Warnhinweise in Form von<br />

Straßenschildern über die winterliche Autobahnsperre ignorierten.<br />

Sie meinten, ihr Navigationssystem zeigte, dass die<br />

Route offen wäre. Wieso vertrauen Menschen den digitalen<br />

Landkarten so automatisch?<br />

•<br />

Eine Ursache ist die Integration von kommerzieller Satellitentechnologie.<br />

Die Anbieter der Landkarten haben somit einen<br />

billigen Zugang zu Daten und Bildern in hoher Auflösung.<br />

Von oben: Krim aus österreichischer<br />

Sicht. Die Halbinsel Krim<br />

aus der österreichischen Version<br />

von Google Maps. Die strichlierte<br />

Linie markiert eine umstrittene<br />

Grenze. (Ukraine im Norden,<br />

Russland im Osten).<br />

... aus russischer Sicht. Die<br />

Halbinsel Krim aus der russischen<br />

Version von Google Maps. Die<br />

schwarze Linie markiert eine klare<br />

russische Grenze (Russland liegt<br />

im Osten).<br />

... aus ukrainischer Sicht. Die<br />

Halbinsel Krim aus der ukrainischen<br />

Version von Google Maps.<br />

Die strichlierte, grau markierte Linie<br />

wird benutzt, um Regionen im<br />

Landesinneren zu unterscheiden,<br />

gilt aber nicht als Außengrenze<br />

des Staates.<br />

Auf Google Maps kann man zum Beispiel<br />

leicht zwischen dem Satellitenbild und<br />

der Landkarte hin und her wechseln. Die<br />

Benutzer glauben dann, dass die beiden<br />

identisch sind, was nicht der Fall ist. Die<br />

digitalen Landkarten haben zudem auch<br />

viele der kognitiven Aufgaben vom User übernommen. So kann<br />

das System schon selber Routen und Distanzen berechnen. Die<br />

Landkarte weiß auch oft besser als wir, wo wir uns im Moment<br />

befinden. All das verstärkt das Gefühl, dass die Landkarte natürlich,<br />

selbstverständlich und transparent ist. Das ist ein generelles<br />

Problem vieler User-Interfaces.<br />

Dass sie zu vereinfacht sind?<br />

•<br />

Dass sie eine Illusion von Transparenz verleihen. Heute wird<br />

die digitale Landkarte kaum hinterfragt. Und wenn die Realität<br />

dann mit der digitalen Landkarte kollidiert, würden sich tatsächlich<br />

viele Menschen immer noch auf das Navisystem verlassen.<br />

Das ist auch das Ziel des Herstellers: Er will, dass die User<br />

darauf vergessen, dass sie eine Technologie benutzen, die ihnen<br />

die Welt vereinfacht darstellt. Würde man sich stets fragen, ob<br />

14 wına | Mai 2017


DIGITAL LITERACY<br />

© google maps; privat<br />

die Datenbank hinter der Landkarte mit der Realität übereinstimmt,<br />

wäre diese Technologie für den Alltag nicht nutzbar.<br />

Auf der Welt gibt es viele geopolitisch umstrittene Grenzen.<br />

Letztes Jahr behaupteten palästinensische Journalisten, dass<br />

Google Maps „Palästina“ entfernt habe. Der Konzern meinte<br />

hingegen zu Recht, es existierte vorher nie im System. Sind digitale<br />

Landkarten anfälliger für politischen Einfluss?<br />

•<br />

Selbstverständlich. Die Palästina-Diskussion ist ein klassisches<br />

Beispiel dafür, wie die Politik die Landkarte beeinflussen könnte.<br />

In diesem Fall würde aber Google so oder so dem User unterschiedliche<br />

Landkarten zeigen – abhängig davon, wer sucht, wo<br />

er sich befindet oder welchen Browser er benutzt. So wie bei<br />

der Halbinsel Krim. In Russland zeigt Google die Krim als Teil<br />

Russlands. In der Ukraine ist sie ukrainisch.<br />

Wie schätzen Sie denn die politische Wirkung einer digitalen<br />

Landkarte ein?<br />

•<br />

Als Propagandatool ist sie, wie jede andere Landkarte, sehr<br />

wirksam. Früher waren ja die sehr detaillierten Landkarten ein<br />

Staatsgeheimnis. Aber schon vor sechs Jahren konnte die Friedensbewegung<br />

Peace Now (Schalom Achschaw) eine Karte der<br />

jüdischen Siedlungen im Westjordanland auf Google herstellen<br />

und damit der ganzen Welt über deren Ausdehnung berichten.<br />

Die israelische Regierung würde diese Informationen vielleicht<br />

nicht veröffentlichen wollen, auch wenn sie existieren.<br />

Kann man von einem ähnlichen Einfluss auf unsere Verhaltensweisen<br />

im Alltag ausgehen?<br />

•<br />

Ich habe mich mit einem Landkartendesigner ausgetauscht,<br />

der eine Idee in seinem Team durchzusetzen versuchte. Er wollte<br />

Parks und Naturschutzgebiete mit einer augenfälligen grünen<br />

Farbe markieren. Er dachte, dass die User somit umweltbewusster<br />

unterwegs sein würden. Ob sowas wirklich wirkt, ist schwer zu<br />

beweisen. Allerdings zeigt die Tatsache, dass Mitarbeiter in dieser<br />

Branche mit solchen Gedanken spielen, ein Informationsgefälle<br />

zwischen ihnen und den Usern an.<br />

Wie nutzen dann Google, Apple, Garmin und auch die israelische<br />

Navi-App Waze diesen Vorteil aus?<br />

•<br />

Mit der Satellitentechnologie im Hintergrund ist von einem<br />

Wettbewerb auszugehen, in dem es darum geht, wer schneller und<br />

präziser die Informationen liefert. Google Maps, als die populärste<br />

gratis angebotene Landkarte der<br />

Welt, betrachtet beispielsweise<br />

die User als Konsumenten. Sie<br />

sollten bei ihrer Suche möglichst<br />

viele Geschäfte in ihrer Umgebung<br />

sehen. Googles Businesskern<br />

ist ja der Verkauf von Werbungen.<br />

Darum findet man in<br />

Wien, London oder New York<br />

eine detailliertere Landkarte als<br />

in afrikanischen Ländern. Es ist<br />

auch ihr Recht, so zu handeln.<br />

DR. ALEX GEKKER<br />

(32) ist in der Ukraine geboren und in<br />

Israel aufgewachsen. Er arbeitet für die<br />

Universität Amsterdam als Dozent und<br />

Forscher im Bereich New Media und<br />

Digital Culture. alexgekker.com<br />

DIGITAL MAPPING,<br />

auf Deutsch „Digitale Kartierung“,<br />

bezieht sich auf die Visualisierung von<br />

Daten, hauptsächlich für die Herstellung<br />

von digitalen Landkarten auf<br />

Smartphones, Computern oder GPS-<br />

Geräten. Bekannte Anbieter dieser<br />

Landkarten sind Google und Apple aus<br />

den USA., Garmin aus der Schweiz<br />

und Tomtom aus Holland. Die in Israel<br />

entwickelte populäre Navi-App Waze<br />

wurde 2013 von Google aufgekauft.<br />

Wie können wir uns als User besser<br />

schützen?<br />

•<br />

Eine Lösung wäre die Förderung von Digital Literacy, vor allem<br />

bei jungen Menschen. Sie sollen verstehen, was eine digitale<br />

Landkarte macht, wer sie kontrolliert und dass dahinter Menschen<br />

mit einer Agenda stehen. Eine andere Lösung wäre, mehr<br />

in Alternative Mapping zu investieren, das Aktivisten betreiben,<br />

z. B. openstreetmap.com, oder auch in staatliche Kartografieinstitutionen,<br />

die eigentlich ihr Vorrecht über die Herstellung<br />

von Landkarten zu Gunsten kommerzieller Anbieter längst<br />

verloren haben.<br />

wına-magazin.at<br />

15


NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />

Generation<br />

wohin?<br />

Von Gisela Dachs<br />

Ihr Misstrauen in Institutionen<br />

eint die heutige Jugend in Europa<br />

und Israel. Darüberhinaus gibt es<br />

aber auch noch andere Daten,<br />

die auf einen zunehmenden<br />

Pessimismus bei jungen<br />

jüdischen Israelis verweisen.<br />

Gerade hat man in Tel Aviv wieder<br />

einmal kollektiv Geburtstag<br />

gefeiert. Der Staat wurde 69<br />

Jahre alt. Und wie immer bevölkerten<br />

auch diesmal Kinder und<br />

Jugendliche am Vorabend des Unabhängigkeitstages<br />

die Straßen im Stadtzentrum, gerüstet mit<br />

Schaumdosen und aufblasbaren Hammern. Der<br />

Alkoholkonsum hat auch hier zugenommen,<br />

aber es gibt immer noch viel weniger Betrun-<br />

Jüdische Jugendliche definieren sich generell<br />

als religiöser als bisher und verordnen sich<br />

damit auch stärker im rechten politischen<br />

Lager (von 56 % 2004 auf 67 % 2016).<br />

kene als in Europa bei vergleichbaren öffentlichen<br />

Feierlichkeiten.<br />

Für ein genaueres Bild in Hinblick auf Ähnlichkeiten<br />

und Unterschiede bei der jüngeren<br />

Generation hier und dort lohnt sich ein Blick<br />

auf zwei Studien, die fast zeitgleich im April<br />

erschienen sind. Europäische Rundfunkanstalten<br />

haben die größte kontinentale Jugendstudie<br />

veröffentlicht, die es je gab: An Generation<br />

What? haben sich fast eine Million junger<br />

Menschen zwischen 18 und 34 Jahren aus 35<br />

Ländern beteiligt. Mit einem klaren Ergebnis:<br />

Junge Europäer hegen Institutionen gegenüber<br />

ein großes Misstrauen. 86 % der Befragten haben<br />

somit „kein Vertrauen“ in religiöse Institutionen,<br />

82 % misstrauen der Politik, 79 % den<br />

Medien, 65 % den Gewerkschaften, 58 % der<br />

Justiz, 49 % den Schulen und 47 % der Polizei.<br />

In Israel liegt die Fragestellung erwartungsgemäß<br />

ein wenig anders. Aber in Hinblick auf<br />

das Vertrauen in Institutionen zeichnet sich<br />

ein ähnlicher Trend ab. Nach der jüngsten von<br />

insgesamt vier Studien, die von MACRO und<br />

der Friedrich-Ebert-Stiftung in den vergangenen<br />

zwanzig Jahren durchgeführt wurden, ist<br />

das Vertrauen in das Justizwesen und die Armee<br />

stark gesunken. Waren es 1998 noch 74 %<br />

der jüdischen Jugend, die der Justiz vertrauten,<br />

so sind es heute nur mehr 54 %. Das Vertrauen<br />

in die Armee sank von 63 % auf 40 %. Bei der<br />

arabischen Jugend wiederum ging im gleichen<br />

Zeitraum das Vertrauen in die israelische Polizei<br />

von 72 % auf 40 % zurück. Und während<br />

1998 noch 71 % ihren religiösen Institutionen<br />

vertrauten, sind es heute nur mehr 46 %.<br />

Die Studie erforschte die „Seelenlage“ von<br />

1.260 Jugendlichen aus allen Sektoren im Alter<br />

von 15 bis 18 und 21 bis 24 Jahren. Dabei wurde<br />

jeweils zwischen vier Fokusgruppen unterschieden:<br />

Säkulare, Ultraorthodoxe, Nationalreligiöse<br />

und Araber. Die Ergebnisse verweisen auf<br />

einen klaren Trend: Demnach definieren sich<br />

jüdische Jugendliche generell als religiöser als<br />

bisher und verordnen sich damit auch stärker<br />

© Zeichnung: Karin Fasching; Flash 90<br />

16 wına | Mai 2017


Israels Jugend:<br />

Wirtschaftlich<br />

erfolgreich wollen<br />

sie sein und dabei<br />

das Leben so<br />

richtig genießen.<br />

im rechten politischen Lager (von 56 % 2004<br />

auf 67 % 2016).<br />

Befragt nach ihren Lebenszielen, steht bei allen<br />

wirtschaftlicher Erfolg ganz oben auf der<br />

Skala (mit Ausnahme der jungen arabischen<br />

Frauen, die vor allem eine höhere Bildung anstreben).<br />

Gleich danach sehnt man sich nach<br />

einer höheren Bildung, will aber gleichermaßen<br />

auch das Leben genießen. Nur ein kleiner<br />

Prozentsatz (8,4 % der jüdischen jungen Männer,<br />

6,2 % der jüdischen jungen Frauen sowie<br />

5,9 % der arabischen Jugendlichen und 7,6 %<br />

der weiblichen arabischen Jugend) sieht einen<br />

Umzug ins Ausland als erstrebenswert an.<br />

Das überraschendste Ergebnis mag die unterschiedliche<br />

Wahrnehmung zwischen Juden<br />

und Arabern sein, wenn es um die Einschätzung<br />

der individuellen Zukunftsmöglichkeiten<br />

geht. 74 % der arabischen Jugend ist in dieser<br />

Hinsicht optimistisch (so hoch wie nie zuvor),<br />

während nur 56 % der jüdische Jugend so denkt<br />

(so niedrig wie nie zuvor).<br />

Demnach war die junge jüdische Generation<br />

noch nie so pessimistisch eingestellt. Erklärt<br />

wird diese Haltung vor allem mit Ernüchterung<br />

im Erwachsenenleben. Denn<br />

damit ist häufig die konkrete Erfahrung verbunden,<br />

nach Armeepflicht und teurem Studium<br />

keinen Job zu finden. Für die arabische<br />

Jugend wiederum habe sich das Bildungsniveau<br />

verbessert, was mehr Arbeitsmöglichkeiten<br />

als früher bedeute. Zudem biete eine zunehmend<br />

offenere Welt, ermöglicht durch die<br />

sozialen Netzwerke im Internet, mehr Einblicke<br />

in die Realität der arabischen Nachbarländer,<br />

die Israel im Vergleich sowohl politisch<br />

wie wirtschaftlich besser abschneiden lassen<br />

– auch wenn sich nur 24,4 % der arabischen<br />

jungen Männer und 13,3 % der jungen Frauen<br />

der israelischen Gesellschaft zugehörig fühlen.<br />

Und während bei den jungen Juden in Israel<br />

an oberster Stelle die Sorge über steigende<br />

Lebenskosten (67,4 %) und damit verbundene<br />

gesellschaftliche Gräben steht, ist es bei den<br />

Mehr als 90 % der Juden und knapp<br />

80 % der Araber sind nach einer Studie<br />

mit sich und ihrem Leben in Israel<br />

„zufrieden“ oder „sehr zufrieden“.<br />

jungen israelischen Arabern das Verhältnis zur<br />

jüdischen Bevölkerung (47,3 %).<br />

Zieht man eine weitere Studie zu Rate, die<br />

sich mit der Befindlichkeit der Erwachsenen<br />

beschäftigt, entspannt sich das Bild wieder ein<br />

wenig. Pünktlich zum Unabhängigkeitstag hat<br />

das Jerusalemer Jewish People Policy Institute<br />

seinen zweiten Pluralismus Index veröffentlicht.<br />

Demnach sind mehr als 90 % der Juden und<br />

knapp 80 % der Araber mit sich und ihrem Leben<br />

in Israel „zufrieden“ oder „sehr zufrieden“.<br />

Es gilt: Je weiter rechts und religiös sich die<br />

jüdischen Befragten definieren, desto zufriedener;<br />

und am zufriedensten sind die, die sich<br />

hauptsächlich als „Israeli“ definieren. Was alle<br />

eint, ist die mehrheitliche Überzeugung, dass<br />

das gute Leben am besten in getrennten Nachbarschaften<br />

stattfinden sollte. <br />

wına-magazin.at<br />

17


GESELLSCHAFT<br />

Madame<br />

Courage<br />

Zum Geburtstag der<br />

Schauspielerin Helene<br />

Weigel am 12. Mai<br />

Am Ende wurde ihr letzter Wille<br />

missachtet. Zu Recht. Eigentlich<br />

wollte Helene Weigel, am 12. Mai 1900<br />

in Wien als Tochter jüdischer Eltern geboren<br />

und eine Woche vor ihrem 71. Geburtstag<br />

verstorben, auf dem zentral gelegenen<br />

Dorotheenstädtischer Friedhof<br />

in Berlin zu Füßen ihres Ehemanns Bertolt<br />

Brecht beigesetzt werden. Heute ruht<br />

sie an seiner Seite. Zu groß war ihr Anteil<br />

am schriftstellerischen Werk des Dichters,<br />

Dramatikers und Theaterintendanten,<br />

mit dem sie seit Mitte der 1920er-<br />

Jahre bis zu seinem Tod 1956 zusammen<br />

war. Sie selbst stufte ihren Part an seiner<br />

Werkentwicklung in ihrer charakteristisch<br />

herben Art auf die Bemerkung „Ich habe<br />

gut gekocht“ herab.<br />

Auszuhalten<br />

hatte sie mit<br />

dem Augsburger<br />

aus gutbürgerlichem<br />

Haus genug,<br />

vor allem in<br />

emotionaler Hinsicht.<br />

Denn der<br />

schmale, listige,<br />

ideenreiche wie<br />

formulierungsgewaltige<br />

Marxist<br />

war, was Gefühle<br />

anging, von<br />

großer einseitiger<br />

Freizügigkeit.<br />

Was für Helene<br />

© Andreas Nader/Jan Arnold Gallery | *Bertolt Brecht über die Bühnenarbeit<br />

Helene Weigels.<br />

18 wına | Mai 2015<br />

„alles/Ausgesucht<br />

nach Alter, Zweck<br />

und Schönheit<br />

Mit den Augen<br />

der Wissenden/<br />

Und den Händen<br />

der brotbackenden,<br />

netzestrickenden/Suppenkochenden<br />

Kennerin/Der<br />

Wirklichkeit.“*<br />

BUCH-TIPP<br />

Bertolt Brecht, Helene Weigel:<br />

ich lerne: gläser +<br />

tassen spülen: Briefe<br />

1923–1956.<br />

Suhrkamp, 402 S.,<br />

€ 27,70<br />

WINAPLOTKES<br />

ISRAELISCHE<br />

STRASSENKÜNSTLER<br />

VEREWIGEN SICH AM<br />

WIENER NASCHMARKT<br />

Zur Veröffentlichung ihrer Doppelausstellung<br />

OUT OF PLACE in der<br />

Jan Arnold Gallery im Museumsquartier<br />

machten die Straßenkünstler Nitzan<br />

Mintz und Dede halt am Wiener Naschmarkt.<br />

Das Paar, welches sowohl gemeinsam<br />

als auch separat Kunst im öffentlichen<br />

Raum schafft, ist in der israelischen<br />

Straßenkunstszene nicht mehr wegzudenken.<br />

Die Künstlerin Nitzan Mintz ist<br />

für ihre Gedichte bekannt, die sich aus<br />

verschiedenen Materialien und Formen<br />

zusammensetzen. Sie beschreibt ihre<br />

Poesie als ein Zeichen des Versagens<br />

großer Träume und den Versuch, das<br />

Unvernünftige zu verbalisieren: die Unfähigkeit,<br />

in die Kindheit zurückzukehren,<br />

das gebrochene Herz, die politischen und<br />

gesellschaftlichen Hoffnungen, Genderfragen<br />

und ihre einseitige Beziehung zu<br />

Gott. Dede malt Tiere aus Holzstücken,<br />

die in ständiger Flucht von Ort zu Ort laufen,<br />

auf der Suche nach Sicherheit. Sein<br />

Markenzeichen ist das Pflaster, welches<br />

als Symbol für die Heilung persönlicher<br />

und sozialer Wunden gilt. Er betrachtet<br />

die Straße als den ultimativen Raum der<br />

Schöpfung, die passendste und wahre<br />

Plattform für die Kommunikation von<br />

Botschaften und Selbstausdruck.<br />

Dede und seine Partnerin Nitzan Mintz<br />

starteten ihre Tour mit einer Präsentation<br />

ihrer Arbeit auf der Leipziger Buchmesse.<br />

Anschließend kamen sie für ihre<br />

Ausstellung und Buchveröffentlichung<br />

in die Jan Arnold Gallery nach Wien und<br />

reisten weiter nach München. Wer im<br />

sechsten Bezirk aufmerksam durch die<br />

Straßen geht, wird nicht nur am Naschmarkt,<br />

sondern auch in der Kaunitzgasse<br />

auf ein Werk der beiden stoßen. I.L.<br />

Weigel bedeutete, dass sie allezeit Nebenbuhlerinnen<br />

erdulden musste, mal verdeckt,<br />

nach 1933, nach der Flucht ins dänische,<br />

schwedische, dann amerikanische<br />

Exil, offen in ménages à trois et à quatre.<br />

Am Ende war sie aber dann die Witwe,<br />

die seine Theaterkompagnie im Haus am<br />

Schiffbauerdamm in Berlin zur Brecht-Pilger-<br />

und -Leitstätte erhob. Dort wurden bis<br />

Mitte der 1980er-Jahre seine Dramen in<br />

orthodox mustergültiger Form inszeniert.<br />

Und dabei mit jener Intensität, die Helene<br />

Weigel als Schauspielerin auszeichnete,<br />

ob beim Vorsprechen 1919, bei der<br />

die blutjunge Anfängerin Routiniers der<br />

Wiener Volksbühne einschüchterte, oder,<br />

nach 15-jähriger Auftrittspause, ab 1949<br />

als Mutter Courage. AK<br />

Helene Weigel und Bertolt Brecht: Die<br />

beiden lernten einander 1923 kennen und<br />

blieben bis zu seinem Tod 1956 ein Paar.<br />

Ihr gemeinsames Grab steht auf dem<br />

Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.<br />

© Friedrich / Interfoto / picturedesk.com


FAMILIENMENSCH & GESCHÄFTSFRAU<br />

© Reinhard Engel; privat<br />

Gerti Schächter:<br />

Es war nicht<br />

immer einfach<br />

Das bewegte Leben einer starken Frau – erzählt<br />

zwischen Bridge und Fleischlaberln.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

Es geht gleich los, ich muss meinen<br />

Platz einnehmen“, ruft die<br />

elegante weißhaarige Dame und<br />

lässt ihre Gesprächspartnerin unvermutet<br />

stehen. Gerti Schächter feiert in diesen Tagen<br />

ihren 92. Geburtstag und hat es eilig<br />

zum Bridgetisch und dem darauffolgenden<br />

Turnier. „Heute bin ich nur Dritte geworden,<br />

von insgesamt 48 Teilnehmern“, berichtet<br />

sie nachher telefonisch. „Aber hier<br />

sind die Listen der letzten Spiele, da war<br />

ich immer auf Platz 1!“ Auf den fünf Protokollblättern<br />

steht sie tatsächlich als Erste<br />

in der Gewinnerrubrik.<br />

Gerti spielt seit vielen Jahren leidenschaftlich<br />

gerne Bridge, die Turniere machen<br />

ihr besonders viel Spaß. Sie fährt<br />

noch Auto und kommt auch mit dem eigenen<br />

Wagen in den Klub. Im Bus fährt<br />

sie mit ihren Bridgepartnern nur zu den<br />

Auswärtsturnieren, z. B. nach Waltersdorf<br />

oder Puchberg. „Da spielen wir nachmittags<br />

und abends, und am nächsten Morgen<br />

werden die Partien gemeinsam besprochen.“<br />

Nur bei den Auslandsreisen macht<br />

sie jetzt nicht mehr mit. Gerti führt uns<br />

durch die denkmalgeschützte Wohnung, in<br />

der sich seit 1967 der Bridge-Club-Wien<br />

befindet. Adolf Loos, einer der wichtigsten<br />

Wegbereiter der architektonischen Moderne<br />

in Österreich, richtete 1913 diese<br />

großbürgerliche Wohnung für den jüdischen<br />

Unternehmer Emil Löwenbach ein.<br />

Loos machte Löwenbach auch mit dem<br />

jungen Oskar Kokoschka bekannt, der<br />

ihn 1914 porträtierte. Das Gemälde hängt<br />

heute in der Neuen Galerie in New York.<br />

So locker und leicht, wie jetzt das Leben<br />

zu laufen scheint, war es für Gerti Schächter<br />

nicht immer. Knapp 23 Jahre war sie alt,<br />

Gerti Schächter mit ihren Söhnen<br />

Norbert und Siegfried.<br />

„Ich wollte immer<br />

nach Wien, weil ich<br />

so viel Schönes darüber<br />

gehört habe.“<br />

als sie ohne Eltern 1948 mit der Bahn aus<br />

Bukarest über Budapest in Wien ankam.<br />

„Meine Schwester ging mit einem Kindertransport<br />

nach Israel, aber ich wollte immer<br />

nach Wien, weil ich so viel Schönes<br />

darüber gehört habe“, erzählt sie. Gleichaltrige<br />

Freunde aus der rumänischen Heimat<br />

nahmen sie auf, und bald darauf lernte<br />

sie ihren zukünftigen Mann kennen. „Paul<br />

sagte nach einer Woche zu mir: ‚Du wirst<br />

meine Frau.‘ Ich habe darüber gelacht, aber<br />

er ließ nicht locker, hat ständig angerufen,<br />

mich ins Theater und zum Essen ausgeführt.“<br />

Paul Schächter wurde bald darauf<br />

ihr Mann und der Vater ihrer beiden<br />

Söhne Siegfried und Norbert. „Zuerst war<br />

noch gar nicht klar, ob wir in Wien bleiben,<br />

aber bald etablierte sich Paul mit einem<br />

Textilgroßhandel am Wiener Salzgries.“<br />

Und eine weitere jüdische Familie<br />

aus dem zerstörten Osteuropa hatte sich<br />

hier eine Existenz aufgebaut.<br />

Doch Paul Schächter starb im 50. Lebensjahr,<br />

und Gerti begann, täglich im<br />

Geschäft zu arbeiten: „Das war wirklich<br />

schlimm, mein älterer Sohn erlitt so einen<br />

Schock, dass er in der Schule kaum etwas<br />

leisten konnte. Ich war ständig bei den<br />

Lehrern und musste viele Nachhilfestunden<br />

zahlen.“ In der Oberstufe löste sich der<br />

Knoten und Siegfried, der jetzt mehrere<br />

Modegeschäfte betreibt, schloss sein Wirtschafts-<br />

und Psychologiestudium mit dem<br />

Magister ab. Norbert, der sportliche Marathonläufer,<br />

begann zwar Jus zu studieren,<br />

entschied sich dann aber doch für das<br />

praktische Geschäftsleben. Als Vorstandsmitglied<br />

von Keren Hayessod engagiert er<br />

sich seit vielen Jahren für Sozialprojekte<br />

in Israel. „Ich habe drei Enkeltöchter und<br />

bin mächtig stolz auf sie. Sarah arbeitet als<br />

Ärztin, Aviella ist Betriebswirtin, und Lisa,<br />

die Jüngste, studiert noch“, freut sich Oma<br />

Schächter.<br />

Im Wiener Stadttempel hat Gerti<br />

Schächter seit Jahrzehnten einen fixen<br />

Sitzplatz. Von der ersten Galerie aus kann<br />

sie zu ihren Söhnen hinunterschauen und<br />

winken. „Mein Sohn Norbert ruft mich jeden<br />

Tag um acht Uhr in der Früh an, um zu<br />

hören, wie es mir geht.“ Und was macht die<br />

energiegeladene, lebensfrohe Gerti nach<br />

dem heutigen Bridgeturnier? „Ich mache<br />

jetzt 40 Fleischlaberln für die Party meiner<br />

Enkelin Aviella. Die liebt sie so sehr.“ <br />

wına-magazin.at<br />

19


„Mein Ziel war, die<br />

ÖVP auf die<br />

Vielfalt dieses<br />

Landes aufmerksam<br />

zu machen.“<br />

20<br />

wına | Mai 2017


„Politik ist keine Einbahnstraße,<br />

sondern ein Dialog“<br />

WINA: Über zehn Jahre waren Sie als Berater und Pressesprecher<br />

für ÖVP-Politiker tätig. Inwieweit muss jemand<br />

in dieser Rolle die Ansichten und Werte seiner Arbeitgeber<br />

auch als Privatperson teilen?<br />

Daniel Kapp: Wenn es eine möglichst hohe Deckung an<br />

Wertorientierung gibt – und das war zwischen mir und<br />

Josef Pröll definitiv der Fall – kann die Zusammenarbeit<br />

eine spannende Tätigkeit sein. Politik ist keine Einbahnstraße,<br />

sondern ein Dialog: Ein Berater von Politikern beeinflusst<br />

ja deren Positionierung. Ich zum Beispiel habe mir<br />

gewünscht, dass die ÖVP in manchen Dingen weltoffener,<br />

weltgewandter, liberaler wäre. Und zumindest ihr Verhältnis<br />

zum Judentum betreffend ist mir das auch gelungen.<br />

Was genau galt es an diesem Verhältnis zu verbessern?<br />

❙ Da die ÖVP früher noch viel stärker auf ihre christlichen<br />

Wurzeln pochte, war es für bürgerliche und marktliberal<br />

denkende Menschen anderer Glaubensrichtungen<br />

schwierig, in dieser Partei eine politische Heimat zu finden.<br />

Verschlimmert wurde die Situation durch den problematischen<br />

Umgang mit der Geschichte: beginnend mit<br />

der mangelnden Distanzierung vom christlichen Antisemitismus<br />

der Zwischenkriegszeit und kulminierend in der<br />

Waldheim-Affäre. Der Sager „Ein echter Österreicher“<br />

trieb das Ganze noch auf die Spitze. Was die ÖVP vollkommen<br />

verabsäumte, war, sich auch mit ihrer antifaschistischen<br />

Vergangenheit auseinanderzusetzen und diese Facette<br />

positiv hervorzuheben. Die Hälfte der Mitglieder<br />

des ersten Parteivorstandes kam direkt aus dem KZ oder<br />

der politischen Haft. In der heutigen Politsprache würde<br />

man das als ein Asset bezeichnen.<br />

Wie gingen Sie an die Sache heran?<br />

❙ Mein Ziel war, die ÖVP auf die Vielfalt dieses Landes<br />

aufmerksam zu machen und somit auch der jüdischen Gemeinde<br />

näherzubringen. Diese Zusammenführung mündete<br />

in einen offiziellen Empfang zu Rosch ha-Schana.<br />

Traditionell gibt der Bundespräsident einen Weihnachtsempfang.<br />

Da dachte ich, das österreichische Judentum sollte<br />

in einem ähnlich symbolischen Akt gewürdigt werden. Vizekanzler<br />

Pröll übernahm damals diese Aufgabe; heute wird<br />

MEN T SCHEN: DANIEL KAPP<br />

Der Strategie- und Kommunikationsberater Daniel Kapp war längstdienender<br />

Ministersprecher der österreichischen Bundesregierung. Als<br />

engste Vertrauensperson Josef Prölls brachte er die ÖVP dem Judentum<br />

näher. Kapp war viele Jahre Vorstandsmitglied der Österreichisch-Israelischen<br />

Gesellschaft. Redaktion und Fotografie: Ronnie Niedermeyer<br />

sie von Außenminister Kurz weitergeführt. Zum jüdischen<br />

neuen Jahr werden also jährlich um die hundert prominente<br />

Mitglieder der jüdischen Gemeinde in das Ministerium<br />

eingeladen – Kultusräte, Rabbiner und so weiter.<br />

Deshalb sollen Juden ÖVP wählen?<br />

❙ Es gibt keinen Grund für Juden, irgendeine Partei zu wählen<br />

– außer jene, die sie für sich als sinnvoll erkennen. Mein<br />

Ideal wäre, dass es keine Partei gibt, die man als Jude definitiv<br />

nicht wählen kann.<br />

Während des Jugoslawien-Krieges haben Sie sich humanitär<br />

engagiert: Sie evakuierten Flüchtlinge, transportierten<br />

Medikamente und ermöglichten Kindern aus dem belagerten<br />

Sarajevo, Ferien in Österreich zu verbringen. Wenn<br />

Sie heute wieder jung wären, würden Sie sich für syrische<br />

Flüchtlinge einsetzen?<br />

❙ Höchstwahrscheinlich ja. Als junger Mann hätte ich es,<br />

ohne lange zu reflektieren, einfach getan. Diesmal hat die<br />

Bequemlichkeit gesiegt, bestärkt durch den Gedanken: „Ich<br />

habe schon genug gemacht, ich kann nimmer.“ Stolz bin<br />

ich nicht darauf.<br />

Ihre Mutter war Ethnologin, Ihr Vater Diplomat. Die Kindheit<br />

verbrachten Sie in Ruanda, Sambia, Burma und Malaysia.<br />

Welche Einsichten haben Sie von dort mitgenommen?<br />

❙ Dass das Leben in der Tat sehr vielfältig ist. Ich habe viele<br />

Kulturen kennengelernt, viele unterschiedliche Lebenskonzepte<br />

wahrgenommen. Das führte mich zu dem Schluss,<br />

dass jeder Mensch die Möglichkeit eines erfüllten Lebens<br />

haben sollte – gegenseitiger Respekt vorausgesetzt. Aus diesem<br />

Grund bestärkte ich Josef Pröll darin, die eingetragene<br />

Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare zu ermöglichen.<br />

Ich sagte ihm: Wer für sich einen Wertekanon übernommen<br />

hat, der eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft<br />

nicht zulässt, muss ja selber keine eingehen. Von mir aus<br />

kann er diesen Wertekanon auch seinen Kindern vermitteln.<br />

Wenn die Kinder es aber trotzdem anders machen, hat<br />

er das auch zu respektieren. Respekt vor der Vielfalt ist das<br />

Wesentliche, das ich meiner internationalen Erziehung zu<br />

verdanken habe. Das – und die Sehnsucht nach der Sonne.<br />

wına-magazin.at<br />

21


INTERVIEW MIT ERWIN STEINHAUER<br />

„Man muss den Mut haben,<br />

Haltung zu zeigen“<br />

Über die jüdische Mischung in seiner<br />

Familie, seinen Entdecker Gerhard<br />

Bronner und seine Liebe zur Klezmer-<br />

Musik spricht der beliebte Kabarettist<br />

und Schauspieler Erwin<br />

Steinhauer mit Marta S. Halpert.<br />

WINA: Herr Steinhauer, Sie sind als scharfzüngiger Kabarettist,<br />

vielseitiger Bühnen- und Filmschauspieler und auch als<br />

Regisseur ein Begriff. Seit einigen Jahren widmen Sie sich wieder<br />

verstärkt Ihren Musikprogrammen. Das überrascht nicht,<br />

weiß man doch, dass Sie Ihre ersten Jazzmessen mit Gitarre<br />

und Gesang schon als Zehnjähriger in der Lichtentaler Kirche<br />

vor Publikum absolviert haben. Dennoch, beim Festival der jüdischen<br />

Kultur präsentieren Sie das Programm Klezmer, reloaded,<br />

extended. Wie haben Sie die jüdische, die Klezmer-Musik<br />

entdeckt?<br />

Erwin Steinhauer: Ich bin mit der Klezmer-Musik aufgewachsen,<br />

durch meinen Vater war mir diese Musik immer schon ein<br />

Begriff. Beim Begräbnis meines Vaters hat auch eine Klezmer-<br />

Band gespielt.<br />

Gab es auch jüdische Mitglieder in Ihrer Familie?<br />

•<br />

Ja, das kann man wohl sagen: Mein Urgroßvater Eduard Just<br />

kam als 18-Jähriger aus Rumänien über Ofen (alter Name für das<br />

heutige Buda, Anm.) nach Wien. Er wurde später nach Theresienstadt<br />

deportiert, doch zum Glück befreit. Ich habe ihn noch<br />

kennengelernt, denn er hat bis 1954 gelebt, da war ich drei Jahre<br />

alt. Er hat mich Ofenstierer genannt, weil ich beim Kamintürl<br />

alles hinein und heraus geräumt habe.<br />

Die erste prägende Persönlichkeit in Ihrem Leben war Ihre<br />

Großmutter Emmi, das Ergebnis einer katholisch-jüdischen<br />

Beziehung?<br />

•<br />

Ja, das war meine Großmutter. Wir haben gemeinsam im neunten<br />

Bezirk gelebt, und da meine Eltern arbeiten gegangen sind,<br />

war Emmi die Chefin im Haus. Sie überlebte die NS-Zeit, weil<br />

sie in Schwechat im Keller eines Lebensmittelgeschäfts versteckt<br />

war. Mein Urgroßvater (genannt Papaa) und mein Vater waren<br />

in einem Schrebergarten in Meidling versteckt, sind aber verraten<br />

worden: Meinem Vater, einem „Mischling ersten Grades“,<br />

hat „der Führer noch eine Chance gegeben“, wie das so schön<br />

geheißen hat. Er konnte zwischen der SS und der Wehrmacht<br />

wählen. Da ist mein Vater mit sechzehn Jahren an die Front gegangen,<br />

ist sehr früh verletzt worden, und damit war der Krieg<br />

gleich aus für ihn. Der Papaa ging über den Umweg Morzinplatz<br />

nach Theresienstadt.<br />

Hat die legendäre Emmi, Mutter Ihres Vaters Wolfgang, den<br />

berüchtigten Wiener Antisemitismus zu spüren bekommen?<br />

•<br />

Ja, Großmutter Emmi hat wirklich sehr gelitten. Es gab ein<br />

traumatisches Erlebnis am Vorabend des Einmarsches 1938:<br />

Da kam ein junger Mann, der immer bei uns in der Wohnung<br />

die „Politische“ kassierte, so nannte man den geheimen Mitgliedsbeitrag<br />

für die SPÖ. Als mein Vater am nächsten Tag aus<br />

der Schule gekommen ist, sah er seine Mutter, die Emmi, kniend<br />

am Gehsteig beim „Putzen“ – und daneben stand der junge<br />

Mann, der am Vorabend die „Politische“ kassiert hatte, in seiner<br />

SA-Uniform. Mein Vater hat die Welt nicht mehr verstanden.<br />

Das war ein sehr prägendes Erlebnis für ihn.<br />

Ihr Vater war die wichtigste Bezugsperson bei Ihrer politischen<br />

Sozialisierung in jungen Jahren, aber auch später. Erzählen<br />

Sie uns davon?<br />

•<br />

Also die Emmi hat das Meiste in unserer Familie bestimmt,<br />

so auch, dass ich in ein katholisches Gymnasium gehen soll.<br />

„Man weiß ja nie, was noch kommt“, hat sie gesagt, „das ist<br />

g,scheiter.“ Mein Vater hat klein beigegeben. Dann kam ich<br />

plötzlich mit 14 Jahren, am ersten Tag des neuen Schuljahres,<br />

von der Schule nach Hause und erklärte meinem Vater, dass<br />

man mich in der Schule nicht mehr haben will. Mein Vater ist<br />

© Nancy Horowitz<br />

22 wına | Mai 2017


gleich in die Schule gelaufen und hat nachgefragt: „Das geht gar<br />

nicht, dass Ihr Sohn in der Schule erzählt, dass er ständig am<br />

jüdischen Friedhof bei seinen Verwandten am 4. Tor ist!“ Das<br />

war bitte, 1965! Daraufhin hat mein Vater zur Großmutter gesagt,<br />

„jetzt nehme ich die Geschichte in die Hand“: Von diesem<br />

Moment an hat er begonnen, mich zu politisieren. Er hat mir<br />

Einschlägiges zu lesen gegeben und mir auch zum ersten Mal<br />

unsere komplizierte Familiengeschichte erzählt. Bis zu diesem<br />

magischen Punkt, bis zu meinem 14. Lebensjahr hatte die Familie<br />

geschwiegen. Diese neue enge Bindung zu meinem Vater<br />

hat dann bis zu seinem Tod bestanden.<br />

Wo sind Sie dann in die Schule gegangen?<br />

•<br />

Er hat mich im zweiten Bezirk in ein öffentliches Gymnasium<br />

gesteckt, dort habe ich dann maturiert. Das war im Stuwerviertel<br />

beim Prater, das war eine herrliche Zeit.<br />

Sie gelten als einer der Pioniere des neuen österreichischen<br />

Kabaretts. Wie kam es dazu?<br />

•<br />

Ich bin mit 23 Jahren von Gerhard Bronner entdeckt worden.<br />

1974 gründete ich gemeinsam mit Wolfgang A. Teuschl, Erich<br />

Demmer, Alfred Rubatschek und Erich Bernhardt das Kabarett<br />

Keif. Felix Rotholz, der Mann und Manager von Brigitte<br />

Neumeister, hat mich dort gesehen und den Gerhard gedrängt,<br />

mich anzuschauen. Bronner hat mich in der Folge in seine Radiosendung<br />

Schlager für Fortgeschrittene eingeladen und später<br />

ins Fernsehen, in seine Sendung Showfenster; viele Jahre war ich<br />

auch im Team des sonntäglichen Gugelhupf.<br />

Beim Festival der jüdischen Kultur 2017 präsentieren Sie unter<br />

dem Titel Ich bin ein Durchschnitts-Wiener fast ausschließlich<br />

Lieder von Hermann Leopoldi. Wie kam es dazu?<br />

Gerhard hat immer gesagt, „hör dir den Hermann Leopoldi<br />

•<br />

genau an. Er vertonte wunderbare Texte!“ Mir war Leopoldi nur<br />

ein Begriff von seinen Gassenhauern Schön ist so ein Ringelspiel<br />

oder Schnucki, ach Schnucki. Erst viel später, als wir mit Peter Rosmanith<br />

und unserer Band überlegt haben, was wir machen könnten,<br />

sind wir wieder auf Leopoldi gekommen<br />

und auf unglaublich tolle<br />

„Man muss sich<br />

gegen den rechten<br />

Zeitgeist wehren,<br />

man muss Farbe bekennen,<br />

Zivilcourage<br />

haben – und man<br />

muss den Mut haben,<br />

diese Haltung<br />

auch zu zeigen.“<br />

Erwin Steinhauer<br />

Texte gestoßen. Das wollen wir einer<br />

jüngeren Generation näherbringen,<br />

weil es so schade wäre, wenn das<br />

verschwindet.<br />

Hätte Hermann Leopoldi als Hersch<br />

Kohn auch so einen Erfolg gehabt?<br />

•<br />

Wahrscheinlich nicht. Die Namensänderung<br />

hat schon sein Vater<br />

1911 vorgenommen, und er hat sicher<br />

Recht gehabt. Leopoldi war ja<br />

im KZ Dachau und wurde später von<br />

den Eltern seiner ersten Frau, die bereits<br />

in den USA waren, „freigekauft“.<br />

Er feierte in den USA Riesenerfolge,<br />

wına-magazin.at<br />

23


DIE LIEBE ZUM KLEZMER<br />

Erwin Steinhauer (sitzend) und<br />

Seine Lieben: Joe Pinkl, Peter<br />

Georg Graf und Peter Rosmanith.<br />

füllte Hallen mit drei- bis viertausend Zuschauern. Leopoldi<br />

passte sein Repertoire an die neue Sprache an: Mit I am a quiet<br />

Drinker oder A Little Café Down the Street trat er in New York,<br />

Ohio und Pittsburgh auf. Seine Texte waren so melodisch gehalten,<br />

dass wir es mit Klezmer probieren wollten. Sascha Shevchenko<br />

(Akkordeon) und Maciej Golebiowski (Klarinette) haben<br />

sich intensiv damit beschäftigt, und so sind praktisch neue<br />

Lieder entstanden. Wir haben seine Texte verziert, die Basis natürlich<br />

erkennbar gelassen, aber jetzt kommt der Leopoldi stark<br />

Klezmer-betont daher.<br />

Sie haben erst unlängst im Wiener Konzerthaus sehr bewegende<br />

Texte im Rahmen des Gedenkkonzerts Defiant Requiem<br />

– Verdi in Terezin gelesen. Sie nehmen oft an Benefizveranstaltungen<br />

teil, die gegen das Vergessen gerichtet sind. Haben Sie<br />

ähnlich wie Ihr Vater Ihren Kindern auch ein gesellschaftspolitisches<br />

Bewusstsein weitergegeben?<br />

•<br />

Ich habe meiner Tochter und meinen beiden Söhnen sehr früh<br />

alles über unsere familiäre Mischung erzählt. Sie sind auch alle<br />

stolz darauf, ohne es groß nach außen zu publizieren. Ich denke,<br />

dass mein Sohn Matthias, der auch am Theater in der Josefstadt<br />

spielt, auch in dieser Beziehung in meine Fußstapfen treten wird.<br />

Er ist sicher bereit, sich zu engagieren, wenn er gefragt wird. Sogar<br />

mein 17-jähriger Sohn Stanislaus kennt<br />

seine Wurzeln, denn das ist das Allerwichtigste,<br />

man muss wissen, woher man kommt.<br />

Wie sehen Sie die Welt heute aus Ihrer Erfahrung:<br />

Kann man noch irgendetwas Positives<br />

bewirken?<br />

•<br />

Wenn ich es nicht glauben würde, würde<br />

ich es nicht versuchen. Man muss sich gegen<br />

den rechten Zeitgeist wehren, man muss<br />

Farbe bekennen, Zivilcourage haben – und<br />

man muss den Mut haben, diese Haltung<br />

auch zu zeigen. Es ist ganz wichtig, sich<br />

zu positionieren, das sage ich auch meinen<br />

Kindern, das ist das einzige, das Sinn macht.<br />

Kommt das bei der Jugend an?<br />

•<br />

Es muss uns gelingen, den Kindern zu vermitteln,<br />

dass sie nicht auf die Populisten<br />

ERWIN STEINHAUER<br />

wurde 1951 in Wien geboren. Nach der<br />

Matura wollte er das Reinhardt-Seminar<br />

besuchen und Schauspieler werden, begann<br />

aber 1969 auf Wunsch des Vaters<br />

ein Studium (Germanistik und Geschichte),<br />

das er vor der Dissertation abbrach.<br />

Als Kabarettist begann er 1974 im Keif,<br />

spielte später auch im Simpl. Von 1982<br />

bis 1988 war er Ensemblemitglied des<br />

Burgtheaters und begeisterte u. a. in der<br />

Rolle des Herrn Karl; am Theater in der<br />

Josefstadt war und ist er als Schauspieler<br />

und Regisseur erfolgreich tätig.<br />

Als freischaffender Künstler schrieb er<br />

Lieder und Texte sowie mehrere Bücher.<br />

Steinhauer wirkte außerdem in mehr als<br />

50 Hörspielen und über einhundert Filmund<br />

Fernsehproduktionen mit.<br />

und deren einfache Antworten hereinfallen. Wir müssen uns<br />

um Lösungen und Menschlichkeit bemühen. Denn die Demokratie<br />

hat den Nachteil, dass auch jene Kräfte, die sie zerstören<br />

wollen, gleich behandelt werden. Wenn wir gewisse Leute an<br />

die Macht lassen, dürfen wir uns nicht wundern, dass sie Schritt<br />

für Schritt über neue Gesetze die Demokratie aushebeln. Wie<br />

man an der Türkei sieht, geht das ganz schnell, und man befindet<br />

sich plötzlich in einem System mit autoritären Strukturen.<br />

Wie sehen Ihre beruflichen Pläne aus? Sehen wir Sie bald wieder<br />

im Theater? Oder bleiben Sie vorerst bei der Musik?<br />

•<br />

Jetzt arbeite ich mit Fritz Schindlecker an unserem dritten gemeinsamen<br />

Buch, das wird Schöne Weihn-Achterln heißen. Bisher<br />

haben wir schon Sissi, Stones und Sonnenkönig, Geschichten unserer<br />

Jugend gemacht und zuletzt Wir sind SUPER! ... Die österreichische<br />

Psycherl-Analyse. Mitte Mai gastieren wir mit Flieger<br />

grüß mir die Sonne im Wiener Konzerthaus: ein Text von H. C.<br />

Artmann, musikalisch umrahmt von meiner Band, den Lieben.<br />

Wir haben diese wunderbare Erzählung schon 2012 im Mandelbaum<br />

Verlag als Hörbuch herausgebracht und uns wegen des<br />

großen Erfolgs zu einer Bühnenfassung entschlossen.<br />

Wann sehen wir Sie im Fernsehen?<br />

•<br />

Derzeit verhandeln wir über einen Tatort; außerdem drehe ich<br />

mit Florian Teichtmeister zwei weitere TV-Krimis für die Serie<br />

Die Toten von Salzburg. Im Spätherbst arbeite ich wieder am<br />

Theater in der Josefstadt für eine Uraufführung von Peter Turrini.<br />

Ihr Vater war in seiner Freizeit Schüler bei<br />

Josef Dobrowsky an der Akademie der bildenden<br />

Künste. Er malte in Öl und Aquarelle.<br />

Haben Sie auch diese Neigung zur Malerei?<br />

•<br />

Nein, ich leider nicht, aber mein Sohn Matthias<br />

hat das Talent geerbt. Als mein Vater<br />

gestorben ist, hat er als Reaktion auf seinen<br />

Tod unbedingt Malerei studieren wollen.<br />

Aber dann kann das Bundesheer, und danach<br />

wollte er sich nur mehr der Schauspielerei<br />

und dem Drehbuchschreiben widmen.<br />

Waren Sie schon einmal in Israel?<br />

•<br />

Ja, mit meinem Vater, der öfter Israel besucht<br />

hat. 1990 ist er mit mir nach Jerusalem<br />

gefahren, weil er unbedingt wollte, dass<br />

ich die Gedenkstätte Yad Vashem sehe. Dafür<br />

bin ich ihm sehr dankbar.<br />

© Nancy Horrowitz<br />

24 wına | Mai 2017


ARUM<br />

WIEN<br />

Foto & Redaktion: Ronnie Niedermeyer<br />

Obwohl ein Teil meiner Familie nachweislich seit<br />

1789 in Österreich weilt, bin ich die einzige, für<br />

die Wien der Lebensmittelpunkt darstellt. (Von<br />

einem gelehrten und kampfbegeisterten Vorfahren abgesehen,<br />

der als Revolutionär 1848 das Weite suchte). Im<br />

Juni 1989, einen Tag, nachdem ich mein Maturazeugnis<br />

erhalten hatte, stand ich mit zwei Koffern (einer mit<br />

Kleidung, der andere mit Büchern) am Westbahnhof. Die<br />

Bundeshauptstadt war mein Ziel, dort wollte ich Judaistik<br />

studieren, ein Studium, das mir große Freude bereiten<br />

sollte, außerdem kannte ich bereits meinen zukünftigen<br />

Mann, der hier auf mich wartete. Das vielfältige kulturelle<br />

Angebot auf Weltklasseniveau, die zeitlose Eleganz der<br />

Donaumonarchie und die gute Infrastruktur innerhalb der<br />

jüdischen Gemeinde waren von jeher die Hauptfaktoren,<br />

weshalb nur Wien für uns im deutschsprachigen Raum<br />

in Frage kommen konnte. Wir wollten es jedoch genauer<br />

wissen und sind 2006 mit unserem Nachwuchs nach London<br />

übersiedelt. Noch mehr Kultur und noch mehr Juden.<br />

Unsere drei Kinder haben dort eine exzellente Ausbildung<br />

genossen, in kodesch und in chol, ich aber habe unser liebes<br />

Wien vermisst. Im Londoner Haus, in der Dachkammer,<br />

habe ich angefangen, Romane zu schreiben, mir fehlten<br />

jedoch das künstlerische Eingebundensein und die Auseinandersetzung<br />

mit Gleichgesinnten. Und natürlich die<br />

deutsche Sprache. In London konnte ich Kultur antizipieren,<br />

hier bin ich ein Teil davon. Da mein Mann beruflich<br />

an den Kontinent gebunden war und nur am Wochenende<br />

bei uns sein konnte, kehrten wir vor zwei Jahren mit<br />

unserem jüngsten Sohn nach Wien zurück.<br />

TIPP: Der stimmungsvollste Ort in Wien ist für mich der<br />

Spittelberg, dort habe ich meine Schreibstube. Angrenzend an<br />

den ersten Bezirk ist er ein Miniaturstädtchen in sich, mit<br />

wunderschönen Biedermeierhäusern, autofreien Kopfsteinpflastergässchen,<br />

Dorfbrunnen und Künstlerateliers. Ein<br />

Blick aus dem Fenster, und die Inspiration fließt.<br />

Schulamit Meixner:<br />

In London konnte ich<br />

Kultur antizipieren, in<br />

Wien bin ich ein Teil davon.<br />

SCHULAMIT MEIXNER<br />

wuchs im Rheintalischen auf. Während ihrer Schulzeit gründete<br />

sie gemeinsam mit Robert Schneider und Efraim Meixner den<br />

Theaterverein Die Schaukinder. In Wien studierte sie Judaistik<br />

und Theaterwissenschaft, arbeitete im Jüdischen Museum und<br />

unterrichtete jüdische Geschichte an der ZPC-Schule und im<br />

JIFE. Ihre Romane ohnegrund (2012) und Bleibergs<br />

Entscheidung (2015) sind bei Picus erschienen. 2016 war<br />

sie Co-Organisatorin des Yiddish Culture Festival Vienna.<br />

wına-magazin.at<br />

25


JÜDISCHE HOCHSCHÜLERSCHAFT<br />

Text: Alexia Weiss<br />

Foto: Daniel Shaked<br />

Rebellische<br />

Studierende<br />

„Eine junge jüdische<br />

politische“ Stimme habe in<br />

Wien bisher gefehlt, meint<br />

die neue Leitung der<br />

Jüdischen Österreichischen<br />

HochschülerInnen<br />

(JÖH).<br />

Benjamin „Bini“ Guttmann (21),<br />

er studiert Jus und Politikwissenschaften,<br />

und Benjamin<br />

„Beni“ Hess (23), Jusstudent,<br />

sind seit Jänner das neue Präsidententeam<br />

der JÖH und stehen damit an der Spitze<br />

des sechsköpfigen Boards. Im kurzen<br />

Wahlkampf waren sie angetreten, um die<br />

JÖH, die in den vergangenen Jahren vor<br />

allem von internationalen Studierenden<br />

der Lauder Business School geführt worden<br />

war, wieder politischer zu machen. Vor<br />

allem aber suchten sie einen Ort, an dem<br />

sie sich auch als Studierende engagieren<br />

können.<br />

„Als wir noch in der Schule waren,<br />

waren wir sehr aktiv“, sagt Guttmann. Er<br />

besuchte die Oberstufe der Zwi-Perez-<br />

Chajes-Schule, war als Jugendlicher im<br />

Shomer, leistete seinen Zivildienst im Jüdischen<br />

Museum Wien. Auch Hess ist ein<br />

Shomernik, nach der Matura an der American<br />

International School ging er nach Israel<br />

zur Tzava – dem Militärdienst. „Und<br />

als ich dann nach eineinhalb Jahren wieder<br />

nach Wien zurückgekommen bin, hat<br />

etwas gefehlt. Man hat sich zwar mit jüdischen<br />

Freunden getroffen, aber es gab da<br />

nicht eine Organisation, in der man sich<br />

gemeinsam engagieren konnte. Wir haben<br />

von unseren Eltern die ganze Zeit Geschichten<br />

gehört, wie es früher einmal war.<br />

Das hat sich supertoll angehört, und das<br />

wollten wir auch.“<br />

Nun sind sie, wo sie hinwollten, die beiden<br />

Benjamins. Und sie haben viel vor. Mit<br />

einer Podiumsdiskussion zum Thema Antisemitismus<br />

in den JÖH-Räumlichkeiten<br />

haben sie schon etwas vorgelegt. Mit<br />

Schabbat-Abenden und Partys wie etwa<br />

zu Purim kommt auch die Geselligkeit in<br />

der JÖH nicht zu kurz: „Das Soziale ist<br />

auch wichtig“, so Guttmann. Sie möchten<br />

die Räume in der Währinger Straße zu<br />

einem Open Space machen, in dem man<br />

sich in der Mittagspause treffen oder auch<br />

lernen kann. Dazu muss die Immobilie allerdings<br />

erst aufgemöbelt werden – doch<br />

die Finanzierung dafür ist noch nicht aufgestellt.<br />

Als wir einander zum Interview<br />

treffen, sind die Räume nicht einmal zugänglich:<br />

Der erste Schlüssel sperrt nicht,<br />

der zweite ebenfalls nicht, und bald ist klar:<br />

Hier wurde am Schloss manipuliert. Ob es<br />

sich um einen Einbruchsversuch oder einen<br />

antisemitischen Akt handelte, konnte<br />

bisher nicht eruiert werden.<br />

Neben dem Sozialen ist die Vernetzung<br />

für die neue JÖH-Spitze ein zentrales<br />

Thema: in Wien unter den jüdischen<br />

Studierenden, aber auch international. Das<br />

Board der JÖH hat bereits an einer Konferenz<br />

der World Union of Jewish Students<br />

(WUJS) teilgenommen. International<br />

ein großes Thema: der Kampf gegen<br />

die BDS-Bewegung (Boycott, Divestment,<br />

Sanctions). „Da sind wir natürlich<br />

solidarisch“, so Hess. In Wien spiele BDS<br />

allerdings so gut wie keine Rolle, betont<br />

Guttmann. Das habe auch damit zu tun,<br />

dass die HochschülerInnenschaft an der<br />

Uni Wien hier eine klare Position dagegen<br />

vertrete. Das sei in anderen Ländern nicht<br />

so. Als Beispiel nennt Guttmann England:<br />

Dort würden von Studierendenvertretern<br />

sogar Boykottaufrufe gegen Israel unterschrieben.<br />

Ein Anliegen ist es ihnen aber vor allem,<br />

eine laute, junge jüdische politische<br />

Stimme zu sein. Und wer jung ist, rebelliert<br />

gerne. So betonen die beiden unisono,<br />

dass sie nicht mit allem, was die Führung<br />

der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG)<br />

Wien tut, einverstanden sind und dass sie<br />

in Zukunft einer breiteren Öffentlichkeit<br />

durch entsprechende Statements zeigen<br />

wollen, „dass es in mancher Hinsicht progressivere<br />

Stimmen gibt, die eine konträre<br />

Meinung vertreten“, so Hess.<br />

Gibt es da Beispiele? Guttmann und<br />

Hess nennen die Position zu Flüchtlingen.<br />

„Die IKG hat die Stigmen gegen Flücht-<br />

26 wına | Mai 2017


DIALOG & SOLIDARITÄT<br />

Die Rebellen: Benjamin Hess<br />

(li.) und Benjamin Guttmann. Sie<br />

sind jung, jüdisch, politisch und<br />

die neuen Gesichter der JÖH.<br />

linge noch verschärft und dem Chor von<br />

der rechten Seite auch noch Argumente<br />

geliefert“, meint Hess. Guttmann ergänzt:<br />

„Und wenn Strache sagen kann, ‚schaut,<br />

die IKG sagt auch, die Flüchtlinge sind<br />

ein Problem‘, dann ist das Munition, die<br />

man nicht liefern muss.“ Und Hess weiter:<br />

„Wenn der Staat Israel es schafft, die<br />

Grenze zu Syrien aufzumachen und Menschen<br />

zu helfen – warum schaffen wir das<br />

nicht?“<br />

Mit Muslimen will die neue JÖH-Führung<br />

mehr in Dialog treten. Dass es bei<br />

dem einen oder anderen Muslimen antisemitische<br />

Ressentiments gibt, ist ihnen<br />

bewusst. Eine rein konfrontative Schiene<br />

sei da aber keine Lösung. Nur das Gespräch<br />

und das gegenseitige Kennenlernen<br />

können helfen. „Uns ist bewusst,<br />

dass wir da wesentlich flexibler sind als<br />

die IKG-Führung. Wir können mit mehr<br />

Menschen und Gruppen in Kontakt treten,<br />

wo das die IKG vielleicht aus politischen<br />

oder anderen Gründen nicht tun<br />

kann“, meint Hess. Grenzen gebe es aber<br />

natürlich: „Mit den Grauen Wölfen würden<br />

wir uns nicht an einen Tisch setzen“,<br />

betont Guttmann.<br />

„Dialog mit Nazis<br />

hat keinen Platz.<br />

Man muss sie<br />

blockieren und<br />

alles tun, um sie<br />

zu verhindern.“<br />

Benjamin<br />

Guttmann<br />

Mehr Solidarität hätten sich Hess<br />

und Guttmann seitens der jüdischen Gemeinde<br />

in der kürzlich geführten Kopftuchdebatte<br />

erwartet, räumen aber ein:<br />

Hier sei zwar die Mehrheit des JÖH-Vorstands,<br />

aber nicht das gesamte Board ihrer<br />

Meinung. Guttmann: „Wir wären dafür<br />

gewesen zu sagen, dass ein Verbot von religiösen<br />

Kleidungsvorschriften nicht geht,<br />

da das Diskriminierung ist und auch auf<br />

uns zurückfällt. Als Minderheiten muss<br />

man zusammenstehen und Solidarität zeigen.“<br />

Wenn eine Laizismusdebatte geführt<br />

worden wäre, „wäre das legitim gewesen.<br />

Aber der Punkt ist ja, dass das einfach eine<br />

offen rassistische Maßnahme ist“, so Guttmann.<br />

„Wir können nicht selektiv gegen<br />

Rassismus, der uns betrifft, auftreten und<br />

gegenüber dem anderen nicht“, sagt Hess.<br />

Klar abgrenzen wollen sich die jüdischen<br />

Studierendenvertreter auch weiterhin<br />

von rechten Antisemiten. Hier sehen<br />

sie auch keine Möglichkeit des Dialogs<br />

oder Gesprächs: Einen überzeugten Antisemiten<br />

könne man nicht vom Gegenteil<br />

überzeugen. „Und ich finde das auch<br />

nicht den richtigen Umgang. Dialog mit<br />

Nazis hat keinen Platz. Man muss sie blockieren<br />

und alles tun, um sie zu verhindern“,<br />

betont Guttmann. Die JÖH war<br />

daher auch Teil der Demonstration gegen<br />

den so genannten Akademikerball in<br />

der Hofburg. Die Straße sieht sie als Studierendenvertretung<br />

auch als einen jener<br />

Räume, wo man Flagge zeigen könne –<br />

vor allem wenn es um Rechtsextremismus<br />

geht.<br />

„Es ist sehr leicht, die Diskussion auf<br />

muslimischen Antisemitismus zu beschränken“,<br />

so Hess. „Wir sagen ja auch<br />

nicht, dass es dieses Problem nicht gibt.<br />

Aber das, was uns unmittelbar betrifft,<br />

ist der rechte Antisemitismus.“ Unterschwellig<br />

ist diesem Hess am Juridikum<br />

begegnet. Guttmann hat so seine Erfahrungen<br />

beim Ausgehen und im Fußballstadion<br />

gemacht. Hier kennen sie keinen<br />

Pardon. Und würden sich wünschen, wenn<br />

das alle in der jüdischen Gemeinde so sähen.<br />

joeh.at<br />

wına-magazin.at<br />

27


ARCHITEKTURSÜNDEN<br />

Das Ungeheuer von T<br />

und der gefundene Schatz<br />

Die Stadtplanung in Tel<br />

Aviv war nicht immer<br />

vorteilhaft. Doch manchmal<br />

verbirgt sich an architektonischen<br />

Schandflecken<br />

zwischen Schmutz<br />

und Verwahrlosung ein<br />

wahrer Schatz – wie die<br />

landesweit größte Sammlung<br />

an jiddischer Literatur<br />

in der „neuen“ zentralen<br />

Busstation.<br />

Bausünde.Tel<br />

Aviver nennen<br />

das monströse<br />

Gebäude<br />

der zentralen<br />

Busstation voll<br />

Abscheu „Ha­<br />

Miflezet“ – das<br />

Ungeheuer.<br />

Von Daniela Segenreich-Horsky<br />

Die Verantwortlichen für die<br />

Tel Aviver Stadtplanung haben<br />

einige Bausünden zu verantworten,<br />

so etwa den verschandelten<br />

Dizengoff-Platz, der jetzt<br />

nach beinahe fünfzig Jahren wieder in<br />

seine ursprüngliche Form zurückversetzt<br />

wird. Oder den Atarim-Platz an der<br />

Strandpromenade, von dem Bürgermeister<br />

Lahat im zweiten Golfkrieg gesagt<br />

hat, er sollte am besten von einer Scud-<br />

Rakete getroffen werden. Auch das pittoreske<br />

alte Viertel von Neve Zedek wäre<br />

damals beinahe zu Gunsten von Hochhäusern<br />

niedergemäht worden. Doch bei<br />

Weitem führend in dieser Liste ist wohl<br />

die „neue“ zentrale Busstation. Die Tel<br />

Aviver nennen das monströse Gebäude<br />

im südlichen Stadtviertel von Neve<br />

Sha’anan voll Abscheu „HaMiflezet“ –<br />

das Ungeheuer. Und der Name passt:<br />

44.000 Quadratmeter Boden verschlingt<br />

das Unding. Und in seinem Inneren liegt<br />

ein insgesamt 230.000 Quadratmeter<br />

umfassendes hässliches Labyrinth aus<br />

sieben teilweise unterirdischen Stockwerken<br />

mit unübersichtlichen Passagen,<br />

Parkplätzen und über tausend heruntergekommenen<br />

Geschäftslokalen, die zum<br />

Großteil leer stehen.<br />

Architekt dieses Schandmals war niemand<br />

Geringerer als Ram Karmi, der im<br />

In- und Ausland gefeierte Meister, zu<br />

dessen Werken unter anderem das majestätische<br />

Gebäude des Obersten Gerichtshofs<br />

in Jerusalem gehört. Die zentrale<br />

Busstation ist wohl eher zu seinen<br />

„Jugendsünden“ zu zählen und scheint<br />

offiziell in der Liste seiner Bauwerke<br />

und in seinen Büchern nirgends auf. –<br />

Wohl mit gutem Grund: Die neue Anlage<br />

sollte die aus allen Nähten platzende<br />

alte Tel Aviver Busstation ersetzen. Baubeginn<br />

unter Ram Karmi war 1967, doch<br />

Budgetprobleme verschleppten den Bau,<br />

und das von den Tel Avivern als „weißer<br />

Elefant“ betitelte Projekt wurde erst beinahe<br />

drei Jahrzehnte später von zwei anderen<br />

Architekten fertiggestellt. Bereits<br />

kurz nach der Eröffnung 1993 war klar,<br />

dass die damals weltweit größte Busstation,<br />

die bis heute täglich von etwa hunderttausend<br />

Menschen bevölkert wird,<br />

extrem schlecht geplant, inadäquat und<br />

unwirtschaftlich ist. Die kompliziert angelegte<br />

Anlage mit ihren 29 Rolltreppen<br />

und 13 Liften ist völlig unübersichtlich,<br />

und einige der als Shoppingcenter vorgesehenen<br />

Stockwerke werden so gut<br />

wie nicht verwendet, während die übrigen<br />

Etagen überfüllt und die Bahnsteige<br />

und Zugänge viel zu eng sind.<br />

Wer hier um Hilfe schreit, wird nicht<br />

gehört. Vor fünf Jahren meldeten die Eigentümer<br />

schließlich den Bankrott an.<br />

28 wına | Mai 2017


JIDDISCHE SCHATZINSEL<br />

el Aviv<br />

Heute tummeln sich im Inneren dieses<br />

„Ungeheuers“ in einem der ärmsten Viertel<br />

von Tel Aviv Drogensüchtige, Prostituierte,<br />

Taschendiebe und Obdachlose.<br />

Daneben bieten Fremdarbeiter aus den<br />

Philippinen und Flüchtlinge aus Afrika<br />

auf einer Art Markt im Erdgeschoss des<br />

Gebäudes ihre Waren an, hauptsächlich<br />

Textilien, Obst, Gemüse und ihre lokalen<br />

kulinarischen Spezialitäten. Es ist, als<br />

wäre man auf einem Straßenmarkt in Senegal<br />

und Manila gleichzeitig.<br />

Kunst und jiddische Kultur. Das<br />

Gelände wirkt vernachlässigt, schmutzig<br />

und abgenützt, ist teilweise überfüllt und<br />

an anderen Stellen leer wie eine Geisterstadt.<br />

Ein Mord und drei Vergewaltigungen<br />

sollen in den letzten Jahren hier stattgefunden<br />

haben: „Hier würde man gar<br />

nicht gehört werden, wenn man um Hilfe<br />

schreit“, verkündet Ajelet, eine der zahlreichen<br />

Fremdenführerinnen, die hier<br />

ihr tägliches Brot verdienen, indem sie<br />

Gruppen von Schaulustigen durch die<br />

Anlage führen. Im fünften, völlig abgelegenen<br />

und menschenleeren Stockwerk<br />

angelangt, entdecken die Besucher unerwartet<br />

einen künstlerischen Schatz –<br />

riesige Wandbilder, Graffitis, wo immer<br />

man hinsieht. Manche der hier vertretenen<br />

Künstler, wie Dede oder Neta Mintz,<br />

sind im In- und Ausland bekannt, andere<br />

sind völlig anonym. Es ist, als wäre<br />

man in einer großen Ausstellungshalle.<br />

Daneben dienen einige der kleinen leerstehenden<br />

Lokale als Kunstgalerien und<br />

werden von den Künstlern aus Geldmangel<br />

auch als vorübergehende Schlafstellen<br />

benützt.<br />

Und wenn man dann schließlich am<br />

allerletzten Ende des Nordflügels angekommen<br />

ist, sozusagen in der Mitte von<br />

nirgendwo, steht man vor dem Eingang<br />

zu Yung & Yiddish, der Bibliothek mit<br />

der größten Sammlung an jiddischen<br />

Büchern im Land. 50.000 Titel an jid-<br />

Mendy<br />

Cahane hat<br />

ein kleines<br />

Universum des<br />

Jiddischen<br />

geschaffen,<br />

das wohl an<br />

das verlorene<br />

Paradies erinnern<br />

mag.<br />

discher und übersetzter Literatur sowie<br />

Zeitungen und Magazine sind hier rund<br />

um eine kleine Bühne gestapelt, auf der<br />

Mendy Cahane, der Initiator dieses Unternehmens,<br />

ab und zu jiddische Klassiker,<br />

aber auch Jacques Brel und internationale<br />

Hits auf „Mamme Luschen“ singt.<br />

Der Schauspieler, Übersetzer und Interpret<br />

von Chansons hat, nachdem er<br />

auf der Tel Aviver Universität Deutsch,<br />

Englisch und Französisch abgehakt<br />

hatte, den Charme der jiddischen Sprache<br />

entdeckt und war von dieser Kultur<br />

nicht mehr losgekommen: „Da hat<br />

sich mir plötzlich eine ganze Welt aufgetan“,<br />

sagt er heute. Er tauchte ein in diese<br />

Welt und hatte noch das Privileg, Schauspielunterricht<br />

bei den Großen des Jiddischen<br />

Theaters zu nehmen. So wurde<br />

der gebürtige Belgier zum Jiddisch-Spezialisten<br />

und machte vor zwei Jahren unter<br />

anderem als Übersetzer, Sprachcoach<br />

und Schauspieler beim preisgekrönten<br />

Holocaustfilm Schauls Sohn mit, in dem<br />

Großteils Jiddisch gesprochen wird.<br />

In seiner Sammlung, die er vor etwa<br />

zehn Jahren in das kostengünstige Lokal<br />

in der Busstation übersiedelte, finden<br />

sich unzählige Schätze, etwa eines<br />

der ältesten erhaltenen Bücher in Jiddisch<br />

aus dem frühen siebzehnten Jahrhundert,<br />

zwei illustrierte Ausgaben von<br />

Rudyard Kiplings Dschungelbuch aus<br />

den 1920er-Jahren, eine alte Antholo-<br />

In der Mitte von<br />

nirgendwo steht<br />

man vor dem<br />

Eingang zu<br />

Yung & Yiddish,<br />

der Bibliothek<br />

mit der größten<br />

Sammlung an<br />

jiddischen<br />

Büchern in Israel.<br />

gie der französischen Literatur und eine<br />

Übersetzung von Baudelaire ins Jiddische.<br />

Daneben Tagesblätter und Illustrierte<br />

vom Anfang des letzten Jahrhunderts,<br />

zahlreiche Platten, Kinderbücher<br />

und Spiele und sogar ein Monopoly-Spiel<br />

mit Anweisungen auf Jiddisch ...<br />

Einige potenzielle Besucher der Veranstaltungen<br />

von Yung & Yiddish lassen<br />

sich vom Labyrinth der Busstation mit<br />

ihren zwielichtigen Typen sicherlich abschrecken,<br />

aber Mendy Cahane sieht in<br />

dem Ort auch Vorteile: „Dieser Platz ist<br />

billig und groß und auch ein wenig wirr<br />

und exotisch. Und wenigstens ist hier inzwischen<br />

ein Fortbestehen der Sammlung<br />

möglich ...“ <br />

wına-magazin.at<br />

29


30 wına | Mai 2017


OPERNSALON<br />

„Manche hoffen darauf,<br />

die Netrebko bei uns<br />

zu treffen“<br />

Sissy Strauss verpflanzte ihren<br />

New Yorker Künstlersalon in ihre<br />

Geburtsstadt. Trotzdem bleibt die<br />

Sehnsucht nach dem Job an der<br />

Met und im Big Apple.<br />

© Reinhard Engel, medaivilm<br />

Von Marta S. Halpert<br />

Sie denkt gar nicht daran, ihre<br />

Gefühle, ihre Wehmut zu verbergen.<br />

Dafür ist Sissy Strauss<br />

viel zu offen und direkt. Bereut<br />

sie den Umzug nach<br />

Wien? „Ja, natürlich, ständig und täglich“,<br />

sprudelt es aus der aparten Frau mit den<br />

strahlend blauen Augen hervor. Aber die<br />

Sehnsucht gilt nicht nur der Stadt New<br />

York, „sondern den beiden Sachen, die ich<br />

geliebt habe und die ich jetzt nicht mehr<br />

haben kann: meinen Job an der Metropolitan<br />

Opera und die Gegend, in der wir<br />

gelebt haben.“ Nur zwei Häuserblocks<br />

von der Met entfernt lag die Wohnung<br />

mit einem atemberaubenden Blick von<br />

der Dachterrasse über die Stadt. Aber<br />

auch den Doorman, der sie rührend bewacht<br />

hatte, vermisst sie. Wenigstens der<br />

Fahrstuhlführer, ein Serbe mit Familie in<br />

Wien, kam sie bereits zu Silvester hier<br />

besuchen.<br />

Hier, das ist eine großbürgerliche, gemütliche<br />

Wohnung mit charmantem<br />

Flair innerhalb des Gürtels. Riesige Ölgemälde<br />

der jüdischen und nicht-jüdischen<br />

Vorfahren aus der Welt der Großindustrie<br />

Brünns umgeben die elegant<br />

leger gekleidete Gastgeberin – und ge-<br />

nau als solche hat sie sich einen legendären<br />

Ruf erworben. Beruflich für die<br />

Betreuung der internationalen Künstler<br />

an der Met zuständig, wusste sie um<br />

deren Einsamkeit in der Riesenmetropole:<br />

„Für eine Neuproduktion oder eine<br />

Wiederaufnahme sitzen sie sechs bis acht<br />

Wochen allein in New York und kennen<br />

niemanden“, erzählt<br />

Sissy, und Ehemann Max<br />

fügt hinzu: „Hier in Europa<br />

kann man über das<br />

Wochenende nach Berlin<br />

oder Paris heimfliegen,<br />

von den USA aus<br />

ging das gar nicht.“ Mehr<br />

als vierzig Jahre stand ihr<br />

New Yorker Zuhause unzähligen<br />

internationalen<br />

Stars aus aller Welt offen:<br />

„Auf meinen zwei Riesenherden<br />

konnte ich für 80<br />

Gäste leicht Gulasch machen:<br />

40 Pfund Fleisch,<br />

30 Pfund Zwiebel, das ging noch. Aber<br />

in den letzen 20 Jahren kamen immer<br />

mehr – so bis zu 200 Personen –, und da<br />

musste ich auf Pasta Bolognese umstellen.<br />

Das war kein Problem, es gab gute<br />

fertige Pasta-Saucen, und ein Packerl<br />

Nudeln kann man immer noch ins Was-<br />

„Ich war eine<br />

miserable Studentin,<br />

ich habe<br />

immer nur die<br />

Hetz’ gesucht.“<br />

Sissy Strauss<br />

ser hauen“, lacht Sissy, die jetzt auch in<br />

Wien gelegentlich die berühmt-beliebten<br />

„Pasta Partys“ veranstaltet. „Gulasch<br />

geht nur mehr für zehn bis zwölf Freunde<br />

bei Tisch.“<br />

Als „Salondame“ oder gar „Salonlöwin“<br />

sieht sie sich nicht gerne tituliert,<br />

obwohl auch der jüngst über sie gedrehte<br />

Film Der letzte Salon<br />

von ihren gesellschaftlichen<br />

Aktivitäten<br />

in diesem Sinne<br />

handelt. Der deutsche<br />

Autor und Regisseur<br />

Joachim Dennhardt<br />

zeichnet ein sehr feinfühliges<br />

Porträt der<br />

Grande Dame der<br />

Metropolitan Opera<br />

und verewigt darin<br />

jenen „letzten Salonabend“,<br />

den Sissy und<br />

Max Strauss vor ihrem<br />

Umzug nach<br />

Wien im August 2015 für ihre befreundeten<br />

Künstler gegeben haben. Spontane<br />

großartige Soloarien, Duette und Quartette,<br />

die alle als Liebeserklärung an Sissy<br />

gedacht sind, bereichern diesen Film, der<br />

mit dem Hollywood International Independent<br />

Documentary Award 2016<br />

wına-magazin.at<br />

31


MUSIK & FREUNDSCHAFTEN<br />

Schenk & Strauss. Seit einem<br />

halben Menschenleben sind sie<br />

eng befreundet, und die Verbindung<br />

reicht von Wien bis nach<br />

New York – und zurück.<br />

ausgezeichnet wurde. Die Spitzentenöre<br />

Juan Diego Flórez und Piotr Beczala,<br />

die Mezzosopranistinnen von<br />

Weltrang Elina Garanča und Elena<br />

Maximova gehören ebenso zu den<br />

Stars, die Ständchen für die großzügige<br />

Gastgeberin anstimmen, wie Anna Netrebko.<br />

„Sie ist ein besonders warmherziger<br />

Mensch und lustiger Kumpel“, erzählt<br />

Sissy, die sich jetzt in Wien kaum<br />

der vielen Einladungen erwehren kann.<br />

Anna<br />

Netrebko.<br />

Zu Gast bei<br />

Sissy: „Ein<br />

besonders<br />

warmherziger<br />

Mensch<br />

und lustiger<br />

Kumpel.“<br />

Zurück in<br />

Österreich. In<br />

den eineinhalb<br />

Jahren in Wien<br />

haben Sissy<br />

und ihr Mann<br />

Max inzwischen<br />

zu sechs<br />

Kultursalons<br />

eingeladen.<br />

„Vielleicht hoffen sie dann, irgendwann<br />

bei uns die Netrebko zu treffen – und<br />

manchmal passiert das sogar“, schmunzelt<br />

Strauss. Elina Garanča nannte sie liebevoll<br />

„unsere Met-Mama“ und meinte,<br />

Sissys Salon in New York sei einer der<br />

wenigen Orte in der hektischen Opernwelt<br />

gewesen, wo man sich zuhause fühlen<br />

konnte. „Die Met ohne sie ist nahezu undenkbar“,<br />

sagte Chefdirigent James Levine<br />

bei Sissys Pensionierung 2014.<br />

Von Opernleidenschaft und „Wiener-Brünner<br />

jüdischen Mafia“. Doch<br />

wie kommt eine wohlbehütete junge Frau<br />

Mitte der 1960er-Jahre allein in die USA?<br />

Nach der Matura wusste Sissy nicht, was<br />

sie studieren sollte. „Wenn man das nicht<br />

weiß, geht man meistens an die juridische<br />

Fakultät“, erzählt sie. Ihr Vater hatte zwar<br />

Medizin studiert, widmete sich aber dem<br />

Theaterbetrieb, u. a. leitete er das Theater<br />

in der Liliengasse und später das Ateliertheater<br />

am Naschmarkt. „Ich war eine<br />

miserable Studentin, ich habe immer nur<br />

die Hetz’ gesucht“, gibt sie freimütig zu.<br />

Die Musik und die Liebe zur Oper hatte<br />

ihr der Vater bereits in die Wiege gelegt,<br />

und so arbeitete sie unentgeltlich mit ihren<br />

engen Freunden im Büro der Jeunesse<br />

Musicale. „Das war eine wichtige Station<br />

in meinem Leben: Ich war zwar weder in<br />

einem Chor, noch habe ich ein Instrument<br />

gespielt, aber die Musik ging mir<br />

ans Herz.“ Der unruhige Geist wollte<br />

weg aus Wien, weg von der Familie und<br />

Englisch lernen.<br />

Die Cousine ihrer Mutter war nach<br />

Montreal ausgewandert und lud sie bei<br />

ihren Wien-Besuchen immer wieder<br />

nach Kanada ein. „Sie war die Tochter<br />

des Bruders meiner Großmutter und hat<br />

als einzige den Holocaust überlebt, weil<br />

sie in Prag und Brünn versteckt war; ihre<br />

ganze Familie ist umgekommen. Sie hat<br />

nach dem Krieg einen Architekten geheiratet.<br />

Als dann die Kommunisten kamen,<br />

sind sie nach Kanada ausgewandert.“<br />

Sissy organisierte ihre Reise hinter<br />

dem Rücken der Eltern: Sie bekam am<br />

kanadischen Konsulat problemlos ein<br />

Immigrationsvisum, das Geld für das<br />

One-Way-Ticket nach Montreal streckte<br />

© medaivilm<br />

32 wına | Mai 2017


NEW YORK WIEN<br />

ihr die Caritas vor. Sie hatte eine Arbeitserlaubnis,<br />

konnte kaum Englisch und begann<br />

deshalb, in einem schicken Warenhaus<br />

Büstenhalter und Korsetts zu<br />

schlichten. Bei einem deutschen Flüchtling,<br />

der behauptete, Engländer zu sein,<br />

nahm sie Privatstunden und besserte innerhalb<br />

von fünf Monate ihre Sprachkenntnisse<br />

wesentlich auf. „Meine Tante<br />

hatte einen großen Freundeskreis, ich<br />

habe sie immer die „Wiener-Brünner<br />

jüdische Mafia“ genannt. Einen dieser<br />

Brünner Freunde lernte ich bei einem<br />

Brunch kennen. Er lebte in New York,<br />

und als ich ihn dort auf dem Rückweg<br />

von eine Europareise besuchte, fragte er<br />

mich nach einer Woche, ob ich ihn heiraten<br />

wolle.“ Sechs Monate<br />

später wurde geheiratet,<br />

aus dieser Ehe<br />

stammt ein Sohn.<br />

Sissys Salon entsteht.<br />

Sissy lebte in einem<br />

beschaulichen Vorort<br />

von New York, etwa<br />

45 Minuten von Manhattan<br />

entfernt, langweilte<br />

sich und spielte<br />

täglich rund vier Stunden<br />

Bridge. „Das habe<br />

ich fast drei Jahre so gemacht.<br />

Dann sagte ich<br />

mir, ich bin nicht einmal<br />

30 Jahre alt, ich will mein<br />

Leben nicht so verbringen!“<br />

Freunde, die auch<br />

aus Wien emigriert waren, kannten die<br />

künstlerische Betriebsleiterin an der Metropolitan<br />

Opera – und die suchte einen<br />

Volontär. Drei Jahre arbeitete Sissy unbezahlt<br />

in diesem Büro: „Ich habe noch<br />

Italienisch und etwas Spanisch gekonnt<br />

und aus den internationalen Opernmagazinen<br />

herausgesucht, wo welcher<br />

Künstler welche Partie singt. 1975 gab es<br />

ja noch keinen Computer, und ich hatte<br />

eine riesige Kartothek angelegt, die für<br />

das künstlerische Betriebsbüro sehr hilfreich<br />

war.“ So lernte sie mit der Zeit eine<br />

große Zahl an Dirigenten, Regisseuren<br />

und Sängern kennen. Vier Jahre später<br />

Der letzte Salon.<br />

Sissy Strauss,<br />

New York – Wien.<br />

Buch & Regie:<br />

Joachim Dennhardt;<br />

Produzent: Mario Hann<br />

„Ich bin ein<br />

Spezialist in<br />

billigen Weinen“,<br />

bekennt Max<br />

schmunzelnd.<br />

„Wenn die Leute<br />

exquisit essen<br />

wollen, müssen<br />

sie ins Restaurant<br />

gehen.“<br />

bekam Sissy eine neue Chefin, und diese<br />

bot ihr einen Vollzeitjob mit Bezahlung<br />

an. Da Sissy inzwischen mit ihrer Familie<br />

wieder in Manhattan wohnte, nahm<br />

sie freudig an.<br />

„Die meisten Sängerinnen<br />

und Solisten<br />

konnten damals kaum<br />

Sprachen. Der Otti<br />

Schenk war da eine<br />

Ausnahme, der sprach<br />

ganz gut Englisch. Ich<br />

kümmerte mich um<br />

Wohnungen für sie,<br />

um Arzttermine und<br />

vieles mehr.“ Die ersten<br />

kleinen Einladungen<br />

zum Abendessen<br />

machte Sissy noch,<br />

als sie im ländlichen<br />

Bronxville lebte. Ihr<br />

damaliger Mann war<br />

geschäftlich viel gereist,<br />

und so begann<br />

sie, kleine Essen für<br />

die einsamen Großstadtkünstler zu machen.<br />

Auch ihren Max hat Sissy indirekt<br />

durch die Met kennengelernt. „Jeffrey<br />

Tate war 1979 Assistent von James<br />

Levine an der Met und vorher auch bei<br />

Herbert von Karajan. Max und ich waren<br />

unabhängig voneinander sehr befreundet<br />

mit Tate. Er hat uns vorgestellt, aber wir<br />

waren damals beide verheiratet. Erst als<br />

unsere Ehen zerbrachen, haben wir uns<br />

näher kennengelernt.“<br />

Seit 1983 lebt Sissy mit Max Strauss,<br />

der in Hamburg geboren wurde, aber in<br />

Amerika aufwuchs, wo er als Industrieller<br />

erfolgreich war. War er auch so ein<br />

Opernfan? „Ich lebte eine Zeit lang in<br />

Holland und bin gerne ins Concertgebouw<br />

zu Konzerten gegangen, so habe<br />

ich auch Jeffrey Tate kennengelernt. Als<br />

ich nach New York zurückkam, war Bizets<br />

Carmen meine erste und einzige<br />

Oper, die ich gehört hatte. Aber da ich<br />

ganz nah bei der Met gewohnt habe,<br />

bin ich öfter auf gut Glück – auch ohne<br />

Karte – hingegangen“, lacht Strauss. Gab<br />

es Künstler, um die sie sich gekümmert<br />

haben und die sie dann in der Folge<br />

menschlich enttäuscht haben? „Nein,<br />

Sänger und Sängerinnen sind besonders<br />

nette und anhängliche Menschen“,<br />

beeilt sich Sissy zu versichern. Dann zählen<br />

beide auf, wie tiefgreifend und ausdauernd<br />

die Freundschaften mit Größen<br />

wie Edita Gruberova, Gwyneth Jones,<br />

Placido Domingo oder Christa Ludwig<br />

sind. „Für René Pape waren wir seine<br />

amerikanischen Eltern.“<br />

In den eineinhalb Jahren in Wien<br />

haben Sissy und Max inzwischen sechs<br />

große Partys veranstaltet: „Ich habe<br />

schon 650 Flaschen Wein in Wien gekauft“,<br />

berichtet Max voller Stolz. Ist er<br />

so ein Weinkenner? „Nein, ich bin ein<br />

Spezialist in billigen Weinen“, bekennt<br />

er schmunzelnd. „Wenn die Leute exquisit<br />

essen wollen, müssen sie ins Restaurant<br />

gehen“, sekundiert Sissy humorvoll.<br />

Gesellschaftlich ist das Ehepaar Strauss<br />

in Wien angekommen, dennoch schimmert<br />

ein wenig verklärter Seelenschmerz<br />

nach der ganz großen Weltbühne bei den<br />

Erzählungen durch. <br />

wına-magazin.at<br />

33


SÜSSES HANDWERK<br />

Süßes aus der<br />

Manufaktur<br />

In der Chocolaterie<br />

Fabienne bieten Vater<br />

Yoram Hess und sein<br />

Sohn Jonathan handgemachte<br />

belgische Pralinen<br />

an. Wiener Kunden<br />

können gustieren und sich<br />

ihre Schokomischungen<br />

Text und Foto: Reinhard Engel<br />

Die weiß lackierten Ziegelwände<br />

kontrastieren kühl mit den sorgfältig<br />

aufgeschichteten Stapeln<br />

kleiner Köstlichkeiten in unterschiedlichen<br />

Brauntönen. Das Konfektgeschäft<br />

Fabienne in der Wiener Innenstadt wirkt<br />

wie ein schickes Loft, man könnte sich<br />

leicht in Manhattan vermuten, in London<br />

oder in einem bürgerlichen Pariser Bezirk.<br />

„Wir sind vor wenigen Monaten hierher<br />

in die Riemergasse übersiedelt“, erzählt<br />

Jonathan Hess, der Juniorchef. „Unser altes<br />

Geschäft war schon ein wenig in die<br />

Jahre gekommen. Mit dem Umzug haben<br />

wir auch das Gold von den Verpackungen<br />

genommen, sind cleaner und moderner<br />

geworden.“ Fabienne war von seinem<br />

Vater Yoram vor 30 Jahren gegründet worden,<br />

wenige Blocks entfernt, in der Wollzeile.<br />

Und Fabienne konnte sich in diesen<br />

Jahren einen soliden Stammkundenstock<br />

von Wiener und niederösterreichischen<br />

Naschkatzen aufbauen.<br />

Dabei hatte der Gründer eigentlich –<br />

abgesehen von seinem eigenen Hang zum<br />

Süßen – keine Beziehung zu dieser Branche<br />

gehabt. Yoram Hess, Jahrgang 1953,<br />

wurde in Israel geboren und studierte in<br />

Aachen Maschinenbau. „Ich komme aus<br />

einer linken israelischen Familie, da waren<br />

die klassischen Diaspora-Studien wie<br />

selbst zusammenstellen,<br />

ins übrige Österreich<br />

wird per Post geliefert.<br />

Arzt oder Anwalt verpönt. Ich sollte als<br />

Techniker Israel weiterbringen.“ Aachen<br />

wählte er wegen des hervorragenden Rufs<br />

der Rheinisch Westfälischen Technischen<br />

Hochschule und weil es dort schon einige<br />

israelische Studenten gab. „Außerdem<br />

stammte mein Vater aus Deutschland,<br />

und ich konnte etwas Deutsch.“<br />

Die Idee mit dem Import belgischer<br />

Schokolade war Hess schon während seiner<br />

Studienzeit in Aachen gekommen. Er<br />

hatte wiederholt jenseits der nahen Grenze<br />

diese Köstlichkeiten gekostet. „Als mich<br />

dann die Liebe nach Wien verschlagen hat,<br />

habe ich gedacht, das müsste auch hier gut<br />

funktionieren, und habe ein Geschäft aufgemacht.“<br />

Das war Ende der 80er-Jahre.<br />

„Wir führen heute 80 verschiedene Pralinen<br />

von 16 belgischen Lieferanten“, erzählt<br />

der Junior Jonathan. „Und das sind<br />

durchwegs keine Industriefirmen, sondern<br />

kleine Manufakturen in der Provinz – mit<br />

Handarbeit. Sie liefern stets frische Ware,<br />

ohne Konservierungsmittel.“<br />

Doch so gerne die beiden das Süße haben,<br />

ganz abhängig wollen sie davon nicht<br />

sein. Und das müssen sie auch nicht. Hess<br />

Senior war nach dem Studium zunächst<br />

nach Israel zurückgekehrt und hatte einen<br />

Job bei einem namhaften Schmuckhersteller<br />

angenommen. „Die haben Halbfertigwaren<br />

erzeugt aus unterschiedlichen<br />

Edelmetallen, ähnlich wie die Ögussa<br />

hier.“ Einen Ingenieur mit einschlägigen<br />

Sprachkenntnissen brauchte man, weil<br />

der Großteil des Maschinenparks aus<br />

Deutschland stammte. Doch er blieb nicht<br />

lange in seinem ursprünglichen Technikfeld.<br />

Bald sandte ihn die Firma nach Europa,<br />

um in England, Deutschland und<br />

Österreich den Vertrieb aufzubauen. Dann<br />

lernte er seine Frau kennen, heiratete und<br />

zog nach Wien.<br />

Nach wenigen Jahren machte er<br />

sich mit dem Verkauf von israelischem<br />

Schmuck selbstständig, und das sehr erfolgreich.<br />

Heute gehören zu den Kunden<br />

seines 12-Mitarbeiter-Unternehmens<br />

Kaufhof und Otto in Deutschland, der<br />

riesige englische Versandhändler Argos,<br />

das Dorotheum oder Hartlauer in Österreich.<br />

„Wir bewegen uns im unteren und<br />

mittleren Segment, das heißt, nichts ist<br />

teurer als 2.000 Euro im Endverkauf“, erklärt<br />

Yoram Hess. „Und wir liefern nicht<br />

an einzelne Juweliere, nur an den Großhandel<br />

oder an Ketten.“<br />

Auch sein technikaffiner Sohn Jonathan,<br />

geboren 1991, betreibt daneben<br />

ein eigenes Unternehmen, schon seit er<br />

34 wına | Mai 2017


Vater & Sohn.<br />

Yoram (re.) und<br />

Jonathan (li.)<br />

Hess versüßen<br />

das Leben ihrer<br />

Kunden mit<br />

feinsten<br />

Pralinen.<br />

18 ist. Mittlerweile 12 Mitarbeiter<br />

in seiner Medienund<br />

Showtechnikfirma stellen<br />

Licht, Tonanlagen oder<br />

Bühnen für unterschiedliche<br />

Veranstaltungen zur Verfügung.<br />

Das kann eine einfache<br />

Pressekonferenz sein<br />

oder ein ganzer Abend mit<br />

Musik und Gesang wie etwa<br />

im Wiener Palais Schönburg, als Yoram<br />

Hess im März gemeinsam mit der Sopranistin<br />

Chen Reiss die hiesige Freundesgesellschaft<br />

für das Israel Philharmonic<br />

Orchestra ins Leben rief.<br />

Jonathan ist inzwischen nicht nur bei<br />

den schokoüberzogenen Fruchtstücken<br />

und Trüffeln Partner seines Vaters, sondern<br />

auch im Schmuckhandel. Denn in<br />

beiden Branchen werden Technik und<br />

IT immer wichtiger. Das betrifft etwa<br />

im Pralinengeschäft den Webshop und<br />

die Werbung auf diversen Internetplattformen<br />

sozialer Netze. Und das umfasst<br />

auch längst das Bestell- und Liefersystem<br />

von Schmuckstücken für die großen<br />

Kaufhäuser oder Kataloghändler. Deren<br />

Kunden wählen dort die Ware aus, verpackt<br />

und geliefert wird von Hess. „Es ist<br />

„Wir führen heute 80<br />

verschiedene Pralinen<br />

von 16 belgischen<br />

Lieferanten<br />

[...] keine Industriefirmen,<br />

sondern<br />

kleine Manufakturen<br />

in der Provinz –<br />

mit Handarbeit.“<br />

Jonathan Hess<br />

ganz entscheidend, dass wir<br />

diese Technologien beherrschen“,<br />

ist sich der Senior sicher.<br />

„Denn daran arbeiten<br />

alle anderen auch.“ Ebenso<br />

entscheidend ist aber, stets<br />

veränderte Kollektionen anzubieten<br />

und nicht nur neue<br />

Designs, sondern auch neue<br />

Materialien auszuprobieren.<br />

„Genaueres möchte ich dazu noch nicht<br />

sagen“, so Yoram Hess. „Aber wir suchen<br />

ständig nach Möglichkeiten, der Konkurrenz<br />

voraus zu sein. Das betrifft natürlich<br />

Herstellungstechniken wie Materialien.“<br />

Selbst im scheinbar simplen Schokoladegeschäft<br />

wird laufend modernisiert.<br />

Zwar bleiben die traditionellen Produktionsmethoden<br />

in Belgien dieselben.<br />

Aber schon längst fahren keine Lieferanten<br />

mehr quer durch Europa mit eigenen<br />

Kleinlastern, sondern DHL stellt die<br />

süße Ware kurzfristig je nach der saisonal<br />

wechselnden Nachfrage zu. Und mit<br />

dem neuen gekühlten Lieferservice der<br />

österreichischen Post „Daily Fresh“ bekommt<br />

jeder Kunde in Österreich seine<br />

Pralinen nach der Internetbestellung am<br />

nächsten Tag ins Haus. <br />

© Martin Steiger<br />

wına-magazin.at<br />

35


DAS FELD AM DACH<br />

URBAN FARMING:<br />

oben Gemüseplantage<br />

Mit der urbanen Landwirtschaft<br />

wird auch in Israel<br />

fleißig experimentiert, die<br />

Technologien sind vielfältig<br />

und überraschend einfach.<br />

Eines der Ziele der neuen<br />

israelischen Pioniere ist es,<br />

dass in Zukunft jeder<br />

Städter seinen eigenen<br />

organischen Gemüsegarten<br />

auf dem Fensterbrett<br />

oder Balkon<br />

anlegen kann.<br />

Von Daniela Segenreich-Horsky<br />

Die Gruppe von Nahrungsmittelberatern<br />

und Gastronomen<br />

aus Deutschland und<br />

Österreich klettert langsam<br />

die altmodischen labyrinthähnlichen<br />

Stockwerke des Shoppingcenters<br />

hoch. Das Dizengoff-Center am südlichen<br />

Ende der berühmten gleichnamigen<br />

Einkaufsstraße war das allererste seiner<br />

Art in Israel, und beinahe ist das etwas<br />

abgenützte und verblaste Flair der Siebzigerjahre<br />

schon wieder charmant und en<br />

vogue. Für die Besucher geht es bei dieser<br />

vom Zukunftsfonds organisierten Reise<br />

um das Thema Food, also um Trends in der<br />

Produktion und Verarbeitung von Nahrungsmitteln<br />

– ein wichtiges Thema für<br />

die Zukunft.<br />

Fünfzehn Minuten von der Farm bis<br />

auf den Teller. „Wir pflanzen hier auf<br />

650 Quadratmetern jeden Monat etwa<br />

hunderttausend Setzlinge, die wir dann<br />

an Geschäfte und Restaurants hier im<br />

Zentrum und im nahen Umkreis auch<br />

an private Haushalte verkaufen“, erzählt<br />

der junge Farmer Lavi Kushelevich seinen<br />

staunenden Gästen, als sie aus dem<br />

lauten Tumult der Verkaufsetagen in die<br />

sonnige Idylle auf dem Dach<br />

des Einkaufszentrum hoch oben<br />

über den Straßen von Tel Aviv<br />

hinaustreten. Wichtig sei dabei,<br />

dass die hier angebauten Salatblätter<br />

oder Mangos möglichst<br />

schnell und frisch von der Farm<br />

zum Endverbraucher kommen:<br />

„Der Weg von Obst und Gemüse<br />

zum Konsumenten kann<br />

oft Wochen dauern, bei Importware<br />

sogar Monate. Die Ware,<br />

die die Konsumenten dann hier<br />

im Supermarkt kaufen, hat meist<br />

schon Tausende von Kilometern<br />

in Lkws oder Flugzeugen<br />

zurückgelegt. Unser Salat dagegen<br />

ist in zehn Minuten unten<br />

in einer Restaurantküche und in<br />

fünfzehn Minuten am Teller des<br />

Gastes.“<br />

Zu TuBiShvat, dem Neujahrsfest<br />

der Bäume im Frühling,<br />

kommen besonders viele Gruppen<br />

von Kindern und Jugendlichen, um Setzlinge<br />

auf dem Dach zu pflanzen und von<br />

einem völlig neuen Blickwinkel aus darüber<br />

zu lernen, „wie einfach man selbst anbauen<br />

und gesund essen kann“. Im Bereich<br />

der Erziehung sieht Lavi eine wichtige<br />

Aufgabe, aber auch die Entwicklung von<br />

Technologien für die Zukunft steht hoch<br />

oben auf seiner Prioritätenliste. Es geht<br />

unter anderem darum, neue platz- und<br />

wassersparende Technologien für den Anbau<br />

von Obst und Gemüse auszuprobieren,<br />

die leicht anzuwenden und auch leicht<br />

zu exportieren sind und auch in Afrika<br />

oder China angewandt werden können –<br />

eine Aufgabe, die in Hinblick auf die immer<br />

weiter wachsende Weltbevölkerung<br />

immer dringender wird. Im Gemüseanbau<br />

in der Großstadt liegt eine denkbare<br />

Alternative zur heute üblichen Landwirtschaft,<br />

denn in etwa fünfzig Jahren werden<br />

nach Schätzung der Vereinten Nationen<br />

achtzig Prozent aller Menschen in Großstädten<br />

leben, weit weg von den Anbaugebieten.<br />

Zugleich soll es bis dahin um drei<br />

Milliarden mehr Menschen auf der Welt<br />

geben, und die herkömmlichen Anbauflächen<br />

werden dann nicht mehr ausreichen,<br />

um den ständig steigenden Nahrungsbedarf<br />

aller zu decken.<br />

36 wına | Mai 2017


INNOVATION AQUAPONIE<br />

Aquaponische Systeme<br />

erlauben es, Gemüse und<br />

Fische gemeinsam wachsen<br />

zu lassen.<br />

deren Seite kommen dann flüssiger Dünger<br />

und Gas zum Kochen heraus. „Dieses<br />

Gas wird dann manchmal von den Chefs<br />

verwendet, die hier oben ihren Gästen demonstrieren,<br />

wie man ein besonders frisches<br />

und gesundes Menü kocht“, erklärt<br />

Lavi. Na, dann: Bon Appetit!<br />

© Xxxxx, living green<br />

Die neuen Technologien könnten da<br />

Abhilfe schaffen: Sie erschließen neue<br />

Anbauflächen und brauchen weniger Platz<br />

und Energie als die traditionelle Landwirtschaft.<br />

Außerdem benötigen die in<br />

den hydroponischen Systemen angebauten<br />

Gurken und Tomaten auf dem Dizzengoff-Center<br />

um etwa achtzig Prozent<br />

weniger Bewässerung als Gemüse aus dem<br />

konventionellen Anbau, weil das Wasser<br />

nicht im Boden versickert, nachdem es die<br />

Wurzeln der Pflanzen genährt hat, sondern<br />

erhalten bleibt. Und auch der Einsatz<br />

von Pestiziden ist hier oben nicht notwendig,<br />

womit die Produkte als „organisch“<br />

gelten können.<br />

Lavi und sein Team haben einige interessante<br />

Methoden und Hydrotechnologien<br />

entwickelt und getestet, die zum<br />

Teil auch auf dem kleinsten Balkon angewandt<br />

werden können. „Wir wollen den<br />

Städtern hier in Israel zeigen, wie sie ihren<br />

organischen Spinat ohne viel Aufwand zu<br />

Hause anbauen können“, meint der Agronom.<br />

„Alles, was diese Pflanzen brauchen,<br />

sind Luft, ein wenig Wasser und Sonne,<br />

und von der haben wir hier ja genug ...“<br />

Die Wurzeln der Salat- und Gemüseblätter,<br />

die in den großflächigen Wannen<br />

„Unser Salat ist in<br />

zehn Minuten unten<br />

in einer Restaurantküche<br />

und in fünfzehn<br />

Minuten am<br />

Teller des Gastes.“<br />

Lavi Kushelevich<br />

auf dem Dach des Kauftempels wachsen,<br />

floaten im Wasser. Sie brauchen, ebenso<br />

wie die Setzlinge in den verschiedenen<br />

Rohrtürmchen, keine Erde. Daneben<br />

schwimmen in einem Pool Goldfische,<br />

die in einem aquaponischen System<br />

durch ihre Ausscheidungen den Dünger<br />

für die Pflanzen schaffen. Und gegenüber<br />

steht eine Kompostbox, in die auf der einen<br />

Seite Bioabfall geworfen wird – auf der an-<br />

Tel Aviv als Food-Mekka und Trendsetter.<br />

Die Farm auf dem Dach ist nicht<br />

das einzige Unternehmen, dass die österreichische<br />

Trendforscherin Hanni Rützler<br />

und ihre Food-Touristen-Gruppe in<br />

Staunen versetzt: „Es gibt hier in Israel so<br />

viele kulinarische Welten, die miteinander<br />

harmonisieren! Die Küche ist frisch und<br />

gesund und hat kulinarischen Tiefgang“,<br />

schwärmt die diplomierte Ernährungswissenschaftlerin,<br />

die Israel zum Schwerpunkt<br />

ihres Food Report 2017 gewählt hat.<br />

Auch der Levinsky-Markt in Süd-Tel-<br />

Aviv hat großen Eindruck hinterlassen:<br />

„Man sieht dort erst auf den zweiten Blick<br />

die tolle Spezialisierung ... Zum Beispiel<br />

die hohe Qualität und das große Sortiment<br />

an Hülsenfrüchten. Und auch der<br />

Meat-Market ist unglaublich beeindruckend,<br />

all diese jungen, engagierten Unternehmer<br />

haben einen völlig neuen Zugang<br />

zum Thema Fleisch.“<br />

Besonders überrascht ist Rützler von<br />

der Vielfalt und Qualität der israelischen<br />

Küche. Sie meint, dass die dritte Generation<br />

von Israelis mit großem Selbstbewusstsein<br />

zurück zu den Wurzeln geht<br />

und das kulinarische Erbe ihrer jeweiligen<br />

Herkunftsländer neu interpretieren<br />

kann: „Das führt dazu, dass sie spielerisch<br />

und kreativ mit diesen kulinarischen Zitaten<br />

umgehen können. Es gibt in Tel<br />

Aviv heute im Food-Bereich eine ganz<br />

tolle, junge, urbane Szene - von der kleinen<br />

Imbissstube bis zum teuren Restaurant<br />

-, die hervorragend ist!“ Dabei sieht<br />

sie auch hier den Trend weg von der traditionellen<br />

schweren Mahlzeit mit drei<br />

Gängen. „In“ sind laut der Trendforscherin<br />

vielfältige Mezze, also viele kleine, kreative,<br />

frische Gerichte, die man formlos<br />

untereinander teilen kann: „Da liegt ein<br />

kulinarischer Schatz, da gibt es noch viel<br />

zu heben!“ <br />

Info: livingreen.co.il/en/urbanfarming-israel-en<br />

wına-magazin.at<br />

37


WINAFINESPITZ<br />

Das Kräutlein auf der Suppe<br />

Schon Paracelsus meinte, alle Wiesen und Matten, alle Berge und Hügel seien Apotheken,<br />

und ging dabei auf die Heilkraft der Kräuter ein. Eine der schönsten Nebensachen der Welt<br />

sollte man dabei nicht außer Acht lassen – den wohltuenden Geschmack vieler Kräuter.<br />

Appetizer. Zwei<br />

Handvoll Kräuter<br />

mit der Gurke,<br />

Knoblauch,<br />

Zitronensaft,<br />

saurer Milch und<br />

Öl pürieren und<br />

fein abschmecken.<br />

Wenn in Wien jemand als „Kräutl auf jeder Suppe“ bezeichnet<br />

wird, so ist diese Beurteilung meist wenig<br />

schmeichelhaft, ist doch damit eine Person gemeint, die immer<br />

und überall dabei sein muss, ohne jedoch Wünschenswertes<br />

beizutragen.<br />

Im wahren Wortsinn allerdings ist das Kräutlein in jeder<br />

Suppe oder auch in jedem anderen Gericht mehr als begrüßenswert.<br />

Und gerade im Frühling bringen die grünen Energiespender<br />

nicht nur viel Geschmack in das Essen, sondern<br />

auch Wohlbefinden für Körper und Geist. Die Macht der<br />

Kräuter spielte im Lauf der Menschheitsgeschichte unterschiedliche<br />

Rollen, und aus geheimnisvollen Gemischen und<br />

Destillaten, die nur Wissenden bekannt waren, aus Arzneien<br />

und Giftmischungen, aus Liebestränken und Schlafmitteln<br />

sind heute schmackhafte und bekömmliche Zutaten unserer<br />

frischen lokalen Küche geworden. Aus Hexen und Alchemisten,<br />

die in die Geheimnisse um die<br />

© Scheriau & Typolt<br />

Wirkungen eingeweiht waren und daher eine<br />

bedeutende Rolle in der jeweiligen Gesellschaft<br />

eingenommen haben, sind Köchinnen<br />

und Köche geworden, die mit ihren Kreationen<br />

begeistern und verzaubern. Dass Kräuter<br />

aus unserem Leben nicht wegzudenken<br />

sind, steht fest, und dass sie über ihren physischen<br />

Einsatz hinaus bedeutend<br />

sind, können wir alljährlich<br />

auf der Sederplatte sehen, wo die<br />

bitteren Kräuter eine besondere<br />

spirituelle Rolle spielen.<br />

Aber nicht nur Bitteres, auch<br />

viele andere Gewürzpflanzen<br />

kann man im Tanach aufspüren:<br />

der Kapernstrauch in Kohanim<br />

12,5 als Symbol für die<br />

Vergänglichkeit der Welt, Koriander,<br />

das „Wanzenkraut“ (von den Griechen<br />

wegen des muffigen Geruchs nach Koris =<br />

Wanze und Aneson = Anis benannt) in Ex<br />

16,31 oder Kümmel und Dill, deren Anbau<br />

in Jes 28,25 als wichtige Tätigkeit des Bauern<br />

erwähnt wird.<br />

Der heutige Geschmack ist zwar mehr<br />

nach Zitronenmelisse und Basilikum ausgerichtet,<br />

dennoch: Die jahrhundertealte Kultivierung<br />

unseres Kräuterbezugs lässt sich<br />

nicht verleugnen. In Europa machten sich<br />

in der Geschichte der Kräuterheilkunde vor<br />

allem die Benediktinermönche des frühen<br />

KRÄUTERSUPPE<br />

ZUTATEN (FÜR 4 PERSONEN):<br />

2 Handvoll frische Kräuter<br />

(Petersilie, Schnittlauch, Basilikum,<br />

Oregano, Kresse, Minze ...)<br />

1 Salatgurke<br />

1 Knoblauchzehe gehackt<br />

1 Zitrone, Saft<br />

250 ml saure Milch<br />

3 EL Olivenöl<br />

Salz, Pfeffer<br />

einige Kräuter zum Bestreuen<br />

ZUBEREITUNG:<br />

Kräuter waschen, gut trocknen<br />

und mit einem scharfen Messer<br />

klein hacken. Gurke schälen,<br />

klein würfeln, einige Würfel beiseitelegen.<br />

Die Kräuter mit der<br />

Gurke, Knoblauch, Zitronensaft,<br />

saurer Milch und Öl pürieren.<br />

Mit Salz und Pfeffer würzen, evtl.<br />

mit Wasser verdünnen. In Suppenschalen<br />

anrichten, mit Gurkenwürfel<br />

und einigen Kräutern<br />

garnieren. Lässt sich gut vorbereiten<br />

und ist ein erfrischender<br />

Appetizer.<br />

Mittelalters verdient. Sie übertrugen die hebräischen und griechischen<br />

Texte und retteten so das Wissen um die Wirkung<br />

der Pflanzen bis in unsere Zeit. Sie legten in ihren Klöstern<br />

auch selbst Gärten an, um die Heilkräfte von Kräutern und<br />

Gewürzen nutzen zu können.<br />

Aber auch die jüdischen Gelehrten des Mittealters trugen<br />

zur Erweiterung des europäischen Kräuterwissens bei: In den<br />

Medizinschulen von Montpellier und Toulouse in Südfrankreich<br />

wurden die arabischen Übersetzungen antiker Quellen<br />

ins Hebräische transferiert und erweiterten das Wissen der<br />

ruhmreichen jüdischen Ärzte. Das Mittelalter wurde so zur<br />

Hochblüte der Heilkräuter- und Heilpflanzenwissenschaft.<br />

Und der legendäre Gelehrte der frühen Neuzeit, Paracelsus,<br />

meinte: „Alle Wiesen und Matten, alle Berge und Hügel<br />

sind Apotheken.“ Er trennte pflanzliche und mineralische<br />

Ausgangssubstanzen mit Hilfe alchemistischer Techniken<br />

und vereinte sie zu neuen Rezepturen. Mit<br />

der Erfindung des Buchdrucks verbreiteten<br />

sich nach und nach auch kräuterkundliche<br />

Schriften.<br />

Und tatsächlich ist nicht nur der Geschmack<br />

der Kräuter ein ernstzunehmendes<br />

Thema, sondern auch ihre wohltuende<br />

bis heilende Wirkung: Kümmel und Koriander<br />

helfen bei Verdauungsbeschwerden<br />

und Magenschmerzen und sind daher<br />

ideal für schwere Kost, wie Kraut oder roher<br />

Fisch. Thymian lindert Husten und Bronchialinfekte<br />

und passt zu Pilzgerichten. Salbei<br />

heilt Zahnschmerzen und Wunden auf<br />

den Schleimhäuten und peppt jedes Geflügel<br />

auf. Rosmarin stärkt das Herz, wirkt<br />

anregend und ist der perfekte Begleiter für<br />

Lamm. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen,<br />

und wer sich damit intensiver beschäftigen<br />

möchte, dem sei eines der zahlreichen<br />

Fachbücher empfohlen.<br />

Nun aber zurück zum eigenen Lieblingskraut,<br />

das man frisch in kleinen Töpfen auf<br />

der Fensterbank ziehen kann - Küchenkräuter<br />

sind übrigens genügsam und dekorativ:<br />

Hier steht der persönliche Geschmack im<br />

Vordergrund, und das folgende Rezept, eine<br />

erfrischende kalte Kräutersuppe, kann nach<br />

Belieben variiert werden.<br />

<br />

<br />

Be’TeAvon und Le Chajim!<br />

Herzlichst, Finespitz<br />

38 wına | Mai 2017


MATOK & MAROR<br />

WEIN<br />

Der Grüne Veltliner<br />

Fass 4 vom Weingut<br />

Ott in Feuersbrunn<br />

am Wagram in Niederösterreich<br />

ist unter Kennern<br />

eine Legende. Vor<br />

etwa 20 Jahren wurde das<br />

vierte Veltliner-Fass einer<br />

Serie von einigen wissenden<br />

Kunden als das Beste<br />

seiner Art auserkoren, und<br />

seitdem sind die Flaschen<br />

mit dem interessanten grafischen<br />

Etikett immer<br />

rasch verkauft. Auch der<br />

Jahrgang 2015 ist wieder<br />

besonders gut gelungen. In<br />

vier Durchgängen im Oktober<br />

handverlesen lagerte<br />

der feine GrüVe im Stahltank<br />

bis Februar 2016,<br />

und wenn man die Flasche<br />

jetzt, mehr als ein Jahr danach,<br />

öffnet, tut sich ein<br />

wahres Geschmacks- und<br />

Dufterlebnis auf: von Zitrus<br />

über Vanille bis<br />

zu herbem Pfeffer<br />

und grasigen Kräutern<br />

auf dem Gaumen,<br />

frischer Apfel<br />

in der Nase, „zupackend<br />

frisch und unfassbar<br />

trinkfreudig“.<br />

Daher gilt:<br />

Wenn es irgendwo<br />

eine Flasche Fass<br />

4 zu haben gibt,<br />

gleich zugreifen,<br />

sonst ist sie vergriffen!<br />

ott.at<br />

Mit „Naches“<br />

Gesundes<br />

genießen<br />

Die Betreiber der Maschu-<br />

Maschu-Lokale eröffnen eine<br />

neue Gastrolinie mit vegetarischem<br />

Soul Food.<br />

Ich komme fast täglich hierher, mir taugt<br />

das“, lacht eine junge Frau, die sich gerade<br />

ein schickes Einmachglas mit diversen Salaten<br />

anfüllen lässt. Das Naches hat erst vor<br />

drei Wochen aufgesperrt und kann sich schon<br />

über mehr als eine Stammkundin freuen. „In<br />

der unmittelbaren Umgebung arbeiten ca.<br />

3.000 Menschen: im nahe gelegenen Finanzamt,<br />

im Verlag des Standard und<br />

so weiter“, erzählt Simon Deutsch,<br />

Gründer der drei Maschu-Maschu-<br />

Lokale. „Viele von ihnen möchten<br />

auch zu Mittag etwas Vernünftiges<br />

und nicht allzu Schweres essen.“<br />

Die drei Geschäftspartner<br />

Gerald Spennadel, Avi Yosfan und<br />

Simon Deutsch reagieren mit ihrem<br />

Pilotprojekt Naches auf den<br />

aktuellen Trend und die wachsende<br />

Nachfrage nach vegetarischen, zum Teil sogar<br />

veganen Speisen. „Falls unser Konzept hier<br />

aufgeht, werden wir uns um weitere Standorte<br />

bemühen, an denen es eine hohe Fluktuation<br />

an Menschen gibt“, sagt Spennadel und<br />

träumt schon von Naches-„Kindern“ auf dem<br />

WU-Campus, dem Flughafen oder in Spitälern.<br />

Er kümmert sich außerdem um das gegenüber<br />

gelegene Maschu Maschu in Wien-<br />

Landstraße, während Deutsch und Yosfan<br />

zusätzlich die Standorte in Neubau und der<br />

Innenstadt führen.<br />

Doch was unterscheidet das Naches von den<br />

erfolgreichen Maschu-Maschu-Lokalen? „Es<br />

gibt kein Fleisch und auch kein Falafel, dafür<br />

jede Menge an Gesundem: Quinoa, Linsen,<br />

Süßkartoffeln, Couscous, Chia-Samen, Sprossen,<br />

rote Rüben und vieles mehr“, erklärt Yosfan,<br />

der auch stolz hinzufügt, dass rund 80 Prozent<br />

der Kundschaft weiblich ist. Das Angebot<br />

reicht von einer Tagessuppe um 4,20 € bis zu<br />

einem warmen Tagesgericht, etwa einem Kürbis-Kichererbsen-Curry<br />

mit Basmati-Reis um<br />

7,20 €. Im Fokus steht die Vielfalt an frischen<br />

bunten Salaten: Tabouleh-Bulgur-Tomaten-<br />

Frühlingszwiebel und Minze oder Roter Reis<br />

© Reinhard Engel<br />

„Viele möchten<br />

auch zu Mittag<br />

etwas Vernünftiges<br />

und nicht<br />

allzu Schweres<br />

essen.“<br />

RESTAURANT- TIPP<br />

NACHES<br />

Sparefrohgasse 1, 1020 Wien<br />

Öffnungszeiten: Mo.–Fr., 11–19 Uhr<br />

Tel.: +43/(0)664/261 30 03<br />

mit Butterkürbis und getrockneten<br />

Tomaten. Den<br />

Hummus gibt es in drei Variationen:<br />

klassisch mit Sesamsauce und Olivenöl,<br />

mit roten Rüben und Pinienkernen oder<br />

mit getrockneten Tomaten.<br />

Naches ist die jiddische Version des hebräischen<br />

Nachat und bedeutet so viel wie „Freude,<br />

Zufriedenheit“. Die Freude vermittelt sich auch<br />

bei den moderaten Preisen der hochwertigen<br />

Produkte: Salat klein kostet 4,90 €, die große<br />

Portion 6,50 €. Dazu wird Feigensenf, scharfes<br />

S’chuk, Erdbeer-Balsamico und selbstgemachtes<br />

Bärlauch-Salz angeboten. 100 Blumen heißt<br />

das leichte Craftbeer, es ist das einzige alkoholische<br />

Getränk, sonst beherrschen Softdrinks<br />

und Matchbata-Eistee die Kühlvitrinen. Alle<br />

Speisen gibt es zum Mitnehmen in Einmachgläsern,<br />

das Pfand kostet einen Euro. Das puristische<br />

Interieur lädt an einer Bartheke mit<br />

Hockern auch zum Verweilen ein, dabei kann<br />

man sich vielerlei Saucen und Zutaten für zuhause<br />

aussuchen. Für das schöne Wetter stehen<br />

schon Tische vor dem Naches bereit. „Im<br />

Sommer bieten wir dann auch Eis am Stiel an,<br />

ähnlich wie das israelische Produkt Artik“, freut<br />

sich Gerald Spennadel, „das wird ohne Milch<br />

produziert und ist damit koscher oder zumindest<br />

parve.“ Paprikasch<br />

wına-magazin.at<br />

39


GENERATION UNVERHOFFT<br />

Die Welt ist ihr<br />

Zuhause<br />

Eigentlich hatte Daliah Dombrowski nicht<br />

geplant, nach Israel auszuwandern. Dem Auslandsjahr<br />

folgte das Studium – und nun der perfekte Job.<br />

Ihre Abenteuerlust ist aber noch längst nicht gestillt.<br />

„Ich will schon noch woanders<br />

hin.“ Daliah Dombrowski<br />

Es war so, ‚Ooops, jetzt bin ich nach<br />

Israel ausgewandert‘ “, sagt Daliah<br />

Text & Foto:<br />

Dombrowski und schiebt den Laptop<br />

auf ihrem Schoß zurecht. Auf<br />

Anna<br />

Goldenberg<br />

der Wand hinter ihr ein Bild von<br />

Marilyn Monroe, links und rechts<br />

türmen sich Pölster. Gemütlich sieht sie aus, ihre<br />

Wohnung in Tel Aviv.<br />

Daliah, 28, war die Erste in der Freundesgruppe,<br />

die mit der Alija, der Auswanderung nach Israel, ernst<br />

machte. Nachdem sie in ihrer Kindheit und Jugend<br />

viel Zeit in der zionistisch-sozialistischen Jugendbewegung<br />

Hashomer Hatzair verbracht hatte, war die Option,<br />

mit der Organisation ein Jahr nach der Matura in<br />

Israel zu verbringen, attraktiv. Man lernte Hebräisch,<br />

arbeitete und lebte in einer Gemeinschaft.<br />

Nach dem Jahr ging sie trotzdem nach Wien zurück<br />

und schrieb sich für Architektur an der Technischen<br />

Universität ein. „Bei der ersten Vorlesung<br />

gab es keinen Platz im Raum für mich.“ Desillusioniert<br />

erkundete sie andere Möglichkeiten. In die<br />

USA? Zu teuer, zu weit weg. „Israel war leicht, weil<br />

ich es schon gekannt habe.“ Ideologische Gründe,<br />

wie sie sie nennt, gab es keine, nur pragmatische:<br />

Als Neuzuwanderin zahlte der Staat für ihre Studiengebühren<br />

und einen intensiven Hebräischkurs.<br />

Die Betreuungsverhältnisse an der Tel Aviv University,<br />

wo sie nun Geografie und Wirtschaft studierte,<br />

waren paradiesisch. Jetzt war Daliah also<br />

eine von denen, die im Ausland studierten. Im jüdischen<br />

Freundeskreis taten das mehrere, sie verbrachten<br />

die Semester in England, Frankreich oder<br />

Holland. Im Sommer traf man einander in Wien.<br />

Ende 2013, als Daliah schon ihren Master in<br />

Stadtplanung am Technion Haifa machte, gründete<br />

sie eine englischsprachige Theatergruppe, The<br />

Stage. Nun hatte sie etwas, ähnlich wie damals der<br />

Shomer, zu dem sie selbst aktiv beitrug, an das sie<br />

glaubte und das einen Freundeskreis entstehen ließ,<br />

der durch das gemeinsame Projekt zusammengehalten<br />

wurde. Irgendwann begann es sich so anzufühlen,<br />

als sei sie tatsächlich hergezogen.<br />

Dann kam letzten Herbst der Job, „der für sie erfunden<br />

wurde“, als Community Managerin bei der<br />

von Google gekauften Navigationsapp Waze. Das<br />

Büro ist in Tel Aviv, Daliah bereist nun die ganze<br />

Welt. Zuletzt kombinierte sie einen Geschäftstermin<br />

in Prag mit einer Wien-Visite. Sieht sie ihre<br />

Zukunft also in Israel? „Ich will schon noch woanders<br />

hin“, sagt sie, vielleicht nach Berlin. Auch<br />

Wien wäre eine Möglichkeit, wenn ihre Wiener<br />

Freunde nicht gerade alle woanders lebten, weil<br />

sie von ihren Auslandsstudien nicht zurückgekehrt<br />

waren. „Aber“, sagt sie und lächelt in die Kamera<br />

von ihrem Laptop, „wo man lebt, hat nicht so viel<br />

Bedeutung.“ <br />

40 wına | Mai 2017


KULTUR<br />

Meschuggene<br />

Kuscheltiere<br />

Charlemagne Palestines<br />

Einzelausstellung in Paris<br />

Hat hier jemand etwa Toys “R” Us geplündert?<br />

Oder eine Handgranate<br />

hineingeworfen? Das Musée d’art et<br />

d’histoire du Judaïsme zeigt einen irren<br />

Kindergeburtstag. Oder ist das Kunst?<br />

Aber ja ist das Kunst. Und zwar die<br />

Charlemagne Palestines. Der gebürtige<br />

New Yorker, dessen Eltern aus Odessa<br />

stammten, hatte 2015 eine Schau in<br />

Irrer Kindergeburtstag<br />

oder<br />

der Kunsthalle Wien.<br />

Kunst im Jüdischen<br />

Museum Heuer wird er, eigentlich<br />

Chaim Moshe Pa-<br />

in Paris?<br />

lestine, 70. Lange als<br />

Avantgardemusiker tätig,<br />

unter anderem mit Terry Riley, hat<br />

er ein höchst eigenwilliges, dabei putziges<br />

und durch und durch meschuggenes<br />

Lebenskunstwerk geschaffen,<br />

mit ganz vielen Teddybären, Kindersachen,<br />

Kinderspielzeug, knallbunt und<br />

erfrischend heiter. In Paris sind auch<br />

neueste Arbeiten zu sehen. Ob Anfassen<br />

erlaubt ist, fragen Sie am besten<br />

die Aufseher. A.K.<br />

© mahj, Gisèle Freund; IMEC,<br />

Fonds MCC, Dist. RMN-Grand Palais<br />

MUSÉE D’ART ETI<br />

D’HISTOIRE DU JUDAÏSMEI<br />

bis 19. November 2017i<br />

mahj.orgI<br />

BUCH-TIPP<br />

Lorenz Jäger:<br />

Walter Benjamin:<br />

Das Leben eines<br />

Unvollendeten.<br />

Rowohlt 2017,<br />

400 S., € 26,95<br />

MUSIK-TIPPS<br />

BEN-HAIM<br />

Das kleine deutsche cpo-<br />

Label ist nicht genug zu loben für seine<br />

ambitionierte Programmarbeit in heutigen,<br />

für Entdeckungen auf CD harten<br />

Zeiten. Nun liegt Symphony No. 2<br />

von Paul Ben-Haim (1897–1984), abgeschlossen<br />

1945 und eine Synthese<br />

der Spätromantik, plus sein Concerto<br />

Grosso in einer höchst engagierten Einspielung<br />

der NDR Radiophilharmonie<br />

des 2015 verstorbenen Dirigenten Israel<br />

Yinon vor. Eine Entdeckung.<br />

FELDMAN<br />

Morton Feldmans Piano and<br />

Orchestra, simpel, abstrakt,<br />

schroff, zerbrechlich, ist das<br />

Gegengift zur Zerstreuungsunkultur.<br />

Die Pianistin Palais de<br />

Mari und das Radio-Sinfonieorchester<br />

Frankfurt unter dem Dirigat von Markus<br />

Hinterhäuser haben es 2000 subtil aufgenommen,<br />

das Label col legno hat den<br />

Silberling jetzt zum Sonderpreis neu<br />

aufgelegt. Repetitiv ausharrend, sich<br />

nie wiederholend, langsam und dezent<br />

dissonant: intime Musik zum Atemholen<br />

und Mitdenken.<br />

DAVID ORLOWSKY TRIO<br />

Musik hat keine Grenzen.<br />

Und auf der neuen CD Paris<br />

– Odessa (Sony) des David<br />

Orlowsky Trios hat auch Europa<br />

keine Grenzen. Das inzwischen<br />

mehrfach mit Preisen ausgezeichnete<br />

Trio des Klarinettisten führt<br />

in zwölf Tracks Klezmer, Klassik, Volksweisen,<br />

gehört und aufgeschnappt in<br />

Bukarest, Wien und in der Bukowina,<br />

zusammen. Das ist beschwingt, klug<br />

und macht gute Laune. Auch und erst<br />

recht auf ein vereintes Europa. AK<br />

Passagen<br />

Künstlerische Reflexionen zu<br />

Walter Benjamins „Passagen“-Buch<br />

Das Foto ist bekannt: Da sitzt ein etwas<br />

fülliger Essayist und Kulturphilosoph<br />

namens Walter Benjamin, 1933<br />

aus Berlin exiliert, an einem Tisch in der<br />

Pariser Nationalbibliothek und exzerpiert<br />

hoch konzentriert alte Bücher. Wie<br />

macht man daraus Kunst? Wie macht<br />

man aus Benjamins anspruchsvollem<br />

Passagenwerk über Paris und die vielgestaltigen<br />

Passagen der Seine-Stadt,<br />

1927 begonnen und bei seinem Suizid<br />

1940 nicht abgeschlossen, Kunst?<br />

Das zeigt das Jewish Museum New York<br />

durchaus eindrucksvoll mit seiner Schau<br />

The Arcades: Contemporary Art. Eine<br />

Vielzahl von Arbeiten sehr unterschiedlicher<br />

Künstlerinnen<br />

und Künstler, von Walker<br />

Evans bis Mike Kelley,<br />

von Joel Sternfeld,<br />

Walter<br />

Benjamin in<br />

der Pariser<br />

Nationalbibliothek.<br />

Cindy Sherman, Haris Epaminonda und<br />

Andreas Gursky bis zu Raymond Hains<br />

und Markus Schinwald, zeigen Reflexionen,<br />

ferne bis lose Echos und urbanistische<br />

Nähe. A.K.<br />

JÜDISCHES MUSEUM NEW YORK<br />

bis 6. August 2017<br />

thejewishmuseum.orgI<br />

41


WINA: Wie haben Sie die Werke ausgewählt?<br />

Aline Rezende Ich habe jeden der sechs<br />

Künstler einzeln in ihren Studios getroffen<br />

und mit ihnen gemeinsam jene<br />

Werke ausgewählt, die sie gemacht haben,<br />

weil sie es wollten. Viele der Künstler<br />

fertigen auch Auftragsarbeiten an. Ich<br />

habe ihnen aber gesagt, lass uns deinen<br />

Selbstausdruck präsentieren. Die Werke der Künstler sind sehr<br />

unterschiedlich, aber sie vervollständigen einander. Man spürt,<br />

dass sie alle Teil einer Gruppe sind. Aber man muss nicht gleich<br />

sein, um das Gleiche zu fühlen.<br />

Wie werden die unterschiedlichen Werke zusammenpassen?<br />

Der Fokus liegt auf der Einzigartigkeit und Verschiedenheit<br />

•<br />

innerhalb der Gruppe. Wir haben alle gemeinsam, dass wir in<br />

Wien arbeiten. Die Künstler haben gemeinsam, dass sie jüdisch<br />

sind, aber die Religion spielt in ihren Werken kaum eine Rolle.<br />

Anstatt sich darauf zu versteifen, was wir gemeinsam haben,<br />

richte ich den Blick auf die Unterschiede. Unsere Einzigartigkeit<br />

trennt uns nicht, sie bringt uns zusammen.<br />

Die Künstler wurden also ausgewählt, weil sie jüdisch sind, obwohl<br />

die Ausstellung selbst ihr Judentum kaum behandelt?<br />

Ich denke, es ist ein einmaliger Zugang und ein bisschen radikal.<br />

Auch wenn es in der Ausstellung nicht hauptsächlich um<br />

•<br />

Judentum gehen wird, ist sie doch Teil des jüdischen Festivals.<br />

Die Kulturkommission will zeigen, was zeitgenössische, junge<br />

jüdische Künstler machen – bevor sie jüdisch sind. Sie haben<br />

mich als nicht-jüdische Kuratorin eingeladen. Ich habe ihnen<br />

gleich gesagt, dass Religion ein sehr sensibles Thema ist, insbesondere,<br />

wenn es nicht die eigene ist. Für eine Ausstellung darüber<br />

wäre ich nicht die richtige Person. Sie sagten, dass sei der<br />

Grund, weshalb sie mich ausgewählt hatten.<br />

Fanden Sie es eine Herausforderung, dass die Kulturkommission<br />

die Künstler schon zuvor bestimmt hatte?<br />

INTERVIEW MIT ALINE REZENDE<br />

„Unsere Einzigartigkeit<br />

bringt uns zusammen“<br />

Gibt es junge jüdische Kunst<br />

aus Wien? Eine Ausstellung<br />

mit sechs Künstlern beim Festival<br />

der jüdischen Kultur soll<br />

diese Frage mit einem klaren<br />

„Ja“ beantworten. Warum sie<br />

sich auf die Räumlichkeiten im<br />

Brick-5 besonders freut und<br />

was ihre eigenen Erfahrungen<br />

zum Konzept beitragen, erzählt<br />

die Kuratorin Aline<br />

Rezende im Interview mit<br />

Anna Goldenberg.<br />

Es ist ein ungewöhnlicher Zugang<br />

•<br />

zum Kuratieren. Normalerweise würde<br />

ich zuerst über das Konzept nachdenken<br />

und dann über die möglichen Künstler.<br />

Aber die Ausstellungsvorbereitung verläuft<br />

nicht immer linear. Die Kulturkommission<br />

hat die Künstler mit gutem<br />

Grund ausgewählt. Das Thema des Festivals<br />

ist Österreich, und es ist ein jüdisches<br />

Festival. Wir haben die Auswahl diskutiert und sind zu<br />

dem Schluss gekommen, dass sie als Gruppe gut funktioniert.<br />

Die dreitägige Ausstellung findet im Veranstaltungszentrum<br />

Brick-5 statt, eine ehemalige Erbsenschälfabrik und vor dem<br />

Krieg ein jüdisches Kulturzentrum. Das ist keine klassische Galerie.<br />

Ist das ein Vor- oder Nachteil?<br />

Für mich haben so genannte Offspaces nur Vorteile. Wir sind so<br />

•<br />

gewohnt, Kunstwerke in einem Museum zu sehen, wo es strikte<br />

Regeln gibt und man die Dinge zum Beispiel nicht anfassen<br />

kann. Hier hingegen kann ich mit dem Raum spielen und zum<br />

Beispiel entscheiden, ob man Musik spielt, und kreativ darin sein,<br />

wie man die Werke platziert. Man kann Wein trinken, wenn man<br />

will. Kunst anzusehen, ist nie passiv, sondern aktiv. Man vergleicht<br />

die Werke, fragt sich, warum ist das hier, warum ist das Kunst. In<br />

einem Offspace kann man mit dieser Erfahrung mehr spielen.<br />

Wie empfanden Sie die Arbeit in großen Museen?<br />

Ich bin seit zehn Jahren als Kuratorin tätig, zumeist in Museen.<br />

•<br />

Die Arbeit in großen Museen wie dem National Art Center oder<br />

dem MoMA in New York ist teuer und eingeschränkt, weshalb<br />

ich es genieße, jetzt in einem Offspace zu kuratieren. Zum Beispiel<br />

wurde in Tokio streng geregelt, wer in der Galerie sein darf,<br />

wenn die Werke geliefert werden. Die Kuratoren machten die<br />

ganzen Recherchen und Vorbereitungen, und meistens waren es<br />

dann nur die Chefs, die dabei waren, wenn die Werke kamen.<br />

Aber natürlich war es auch eine große Freude, mit berühmten<br />

Kunstwerken zu arbeiten! Picasso selbst lebt jedoch nicht mehr.<br />

Arbeitet man hingegen mit zeitgenössischen Künstlern zusam-<br />

42 wına | Mai 2017


„Man muss nicht<br />

gleich sein, um<br />

das Gleiche zu<br />

fühlen.“<br />

Aline Rezende<br />

men, kann man die Ausstellung gemeinsam erstellen.<br />

Das finde ich sehr interessant.<br />

Haben Sie das Bedürfnis gehabt, sich auf den<br />

jüdischen Aspekt vorzubereiten?<br />

Ich fühle mich nicht anders als die Künstler.<br />

•<br />

Ich liebe das. Ich frage Menschen nicht zuerst<br />

nach ihrer Religion. Ich habe einen katholischen<br />

Hintergrund, aber ich rede ja nicht die ganze Zeit<br />

über Jesus. Was du tust und wie du dich mit Menschen<br />

verbindest, ist wichtiger. Außerdem habe ich<br />

in New York gearbeitet, wo die Kunstszene sehr<br />

jüdisch ist. Ich habe mich dort nicht als Außenseiterin gefühlt.<br />

Und so sollte es auch sein. Deshalb habe ich Diversität als Thema<br />

für die Ausstellung ausgesucht. Wir sollten mehr in diese Richtung<br />

gehen, nicht nur in der Kunst.<br />

ALINE LARA REZENDE<br />

wurde in Brasilien geboren und<br />

studierte u. a. an der University<br />

of Tsukuba in Japan. Sie<br />

arbeitete u. a. für das Museum<br />

of Modern Art (MoMA) in New<br />

York, das Vitra Design Museum,<br />

das National Art Center sowie<br />

das Museum of Contemporary<br />

Art, beide in Tokio. Als Journalistin<br />

schreibt sie für Magazine,<br />

Zeitungen und Rundfunkmedien<br />

über Design und Kultur.<br />

in Wien lebe, habe ich hauptsächlich österreichische<br />

Freunde – obwohl mein Deutsch nicht<br />

so gut ist, wie ich es gerne hätte. So lebt man<br />

hier eben. Man muss offen sein.<br />

Welche Rolle spielt bei Ihrer Einstellung, dass<br />

Sie in Brasilien aufgewachsen sind?<br />

Vielleicht wäre ich anders, wenn ich nicht im<br />

•<br />

multikulturellen Brasilien aufgewachsen wäre,<br />

sondern zum Beispiel in Japan. Wir sind so gemischt,<br />

Europäer, Nicht-Europäer, Muslime,<br />

Juden, Japaner und viele mehr. Wenn ich auf<br />

etwas von meiner Nationalität stolz bin, ist es das. Oft höre ich,<br />

dass ich nicht brasilianisch aussehe. Aber wie sieht eine Brasilianerin<br />

aus? Eine Sambatänzerin? Ein Fußballspieler? Das sind<br />

Stereotypen. Jeder Mensch könnte Brasilianer sein.<br />

© Anna Goldenberg<br />

Wie kann das gelingen?<br />

Vor über zehn Jahren zog ich von Brasilien nach Japan, wo ich<br />

•<br />

dann sechs Jahre lebte. Der Unterschied zwischen den beiden<br />

Ländern ist riesig. Dort musste ich mich anpassen, sonst hätte ich<br />

sehr gelitten. Das erste Jahr fühlte ich mich als Touristin, weil<br />

alles so neu war. Im zweiten Jahr war ich richtig müde von all<br />

den Adaptionen, die ich an mir selbst vornehmen musste, um<br />

Teil der Gesellschaft zu werden. Zum Beispiel berühren einander<br />

Menschen in Japan kaum. In Brasilien umarmt man<br />

sich die ganze Zeit, Japaner geben einander kaum die Hand.<br />

Und im dritten Jahr wurde ich zur Japanerin. Mein damaliger<br />

Chef sagte zu mir, es ist so seltsam, du bist eine weiße Person,<br />

verhältst dich aber wie eine Japanerin. Dann zog ich nach Europa,<br />

erst nach Lissabon und schließlich nach Wien. Seit ich<br />

Finden Sie es manchmal schwierig, die Balance zwischen Anpassung<br />

und Bewahrung der Einzigartigkeit zu halten?<br />

Nein. Ich höre nie auf, ich selbst zu sein. Zum Beispiel liebe<br />

•<br />

ich Akzente. So viele Menschen wollen Englisch akzentfrei<br />

sprechen. Ich bin dagegen, denn wir haben Englisch als Sprache,<br />

um mit Menschen aus verschiedenen Ländern zu sprechen.<br />

Wir machen es zu einer internationalen Sprache und benutzen<br />

Redewendungen aus unseren Muttersprachen. Wir denken<br />

also alle unterschiedlich, aber wir sprechen in Englisch.<br />

Der Akzent ist deshalb oft das Einzige, das mir zeigt, dass du<br />

anders bist und wo du herkommst. Es ist ein guter Anfang für<br />

Gespräche. Wenn Franzosen das „H“ nicht aussprechen können,<br />

finde ich das super. Man strengt sich ein wenig an und<br />

trifft sich in der Mitte.<br />

wına-magazin.at<br />

43


AUSSTELLUNG BRICK 5<br />

Jung.Jüdisch.Kunst<br />

Eine Austellung im Brick5 im Rahmen des Festivals<br />

der jüdischen Kultur zeigt Werke junger Künstler als<br />

deren Selbstausdruck und geht dabei der Frage nach,<br />

was einen (jüdischen) Künstler ausmacht.<br />

Gioia Zloczower<br />

liebt … Objekte<br />

Gioias Werke spiegeln Kontraste<br />

wider. Dabei spielt sie beispielsweise<br />

mit der feinen Linie zwischen<br />

Schönheit und Revolte<br />

sowie Sauberkeit und Schmutz.<br />

„Ich liebe es, mit meinen Objekten<br />

zu spielen und mit ihnen intim<br />

zu werden, sei es ein Donut,<br />

ein Model oder ein Einkaufswagen.“<br />

blondebundle.com<br />

Roy Riginashvili<br />

liebt … das Geschriebene<br />

Roy, in Haifa geboren und in Wien<br />

aufgewachsen, schöpft aus dem<br />

unendlichen Fundus weiser und<br />

wunderschöner Verse der Thora<br />

und setzt sie kalligrafisch und malerisch<br />

mit Tinte, Tusche und Aquarelltechniken<br />

in Szene.<br />

phesh.at<br />

Shira Ehlers<br />

malt ... neue Welten<br />

Shira hat eine Leidenschaft<br />

für verschiedene Kunststile.<br />

Durch das Mixen unterschiedlicher<br />

Materialien<br />

und Maltechniken erschafft<br />

sie in filigranen Tuschezeichnungen<br />

und aufwändigen<br />

Collagen mysteriös-schöne<br />

neue Welten.<br />

shiraehlers.com<br />

Daniel Shaked<br />

fotografiert … Kontexte<br />

Daniels Porträts nationaler und<br />

internationale Musikstars, Politiker<br />

und Fußballer zeigen nicht<br />

nur Gesichter. Sie halten die<br />

Stimmung des Moments fest,<br />

thematisieren den Kontext<br />

und erzählen dadurch ganze<br />

Geschichten.<br />

danielshaked.com<br />

Andrew M. Mezvinsky<br />

mixt … Ironie, Poetik<br />

und Medien<br />

Andrew, der 2009 aus Philadelphia,<br />

USA, nach Wien kam und mit Franz<br />

West arbeitete, verbindet Mixed<br />

Media mit skulpturalen Zeichnungen,<br />

Malereien und Videos, die poetische<br />

Situationen mit Ironie und Humor<br />

darstellen. India Ink, Grafit, Öl, Pastel,<br />

Collagen sowie Färbetechniken<br />

gehören unter anderem zur Bandbreite<br />

der verschiedenen Techniken<br />

seiner Werke, die bereits international<br />

gezeigt wurden.<br />

andrewmezvinsky.com<br />

Sascha Vernik<br />

erzählt … große Formate<br />

Sascha alias Revkin studierte<br />

Malerei an der Universität für<br />

angewandte Kunst in Wien.<br />

Seine Arbeiten umspannen narrative<br />

Medien wie klassische 2D-<br />

Animation und Storyboards<br />

sowie großformatige Ölgemälde<br />

und sind international bekannt.<br />

revkin.at<br />

44 wına | Mai 2017


GARTENGESCHICHTEN<br />

Dattelpalme<br />

und Dattelpalmer<br />

Wer Meir Shalevs<br />

Romane kennt, weiß<br />

von dessen Liebe zur<br />

Natur, zu den Pflanzen<br />

und Tieren, zur<br />

Landschaft Israels, in<br />

der seine Figuren und<br />

ken und stetigen Männlichkeit“ sitzen zu<br />

ihre Geschichten allesamt<br />

verwurzelt sind.<br />

Gärtner nur weibliche Exemplare dieser<br />

müssen, pflanzt der klug vorausschauende<br />

Im neuen Buch Mein<br />

Spezies.<br />

Wildgarten hat der<br />

große Erzähler nun<br />

die Natur selbst<br />

zu seiner Heldin<br />

gemacht.<br />

Meir Shalev:<br />

Mein Wildgarten.<br />

Aus dem Hebräischen<br />

von Ruth<br />

Achlama.<br />

Diogenes 2017,<br />

352 S., € 24,70<br />

doch recht viele zu geben, denn Gartenkultur<br />

dürfte derzeit ziemlich „in“ sein.<br />

Für die allzu kultivierten, manikürten<br />

Anlagen, in die Neureiche alte Olivenbäume<br />

verpflanzen lassen, hat der Wildgärtner<br />

allerdings nur leisen Spott übrig.<br />

Von Anita Pollak<br />

Im Norden Israels hat Meir Shalev<br />

ein altes Haus inmitten eines großen<br />

Grundstücks gefunden und gekauft.<br />

Es scheint auf ihn gewartet zu haben, liegt<br />

es doch im „Emek“, in der Jesreelebene,<br />

im Kernland Shalevs, dort, wo alle seine<br />

großen Romane angesiedelt sind. Und<br />

nachträglich verwundert nur, dass der<br />

Autor nicht immer schon dort gewohnt<br />

hat. Ziemlich spät im Leben ist er angekommen<br />

in diesem Garten, der seine neue<br />

Liebe und eine späte, umso heftigere Leidenschaft<br />

geworden ist.<br />

Wenn es gilt, irgendwo Pflanzen vor<br />

anrückenden Baggern zu retten, Knollen<br />

auszugraben oder Samen einzusammeln,<br />

dann muss auch das Schreiben warten.<br />

Pflanzen sind Lebewesen, für Shalev haben<br />

sie Gefühle, sie können leiden, ja sogar<br />

lieben. So sehnt sich die Dattelpalme<br />

nach dem Dattelpalmer, und die Blüten<br />

des männlichen Johannisbrotbaums riechen<br />

gar nach menschlichem Sperma. Um<br />

nicht eines Tages „im Schatten seiner star-<br />

Gartenfantasien. Man sieht schon, es<br />

menschelt gewaltig in Shalevs Paradiesgarten,<br />

einem offenbar gar nicht so kleinen<br />

Stückchen Land, von dem aus man<br />

keine menschlichen Ansiedlungen sieht,<br />

weil die sanften Hügelketten des Karmel<br />

sie gnädig verdecken. Völlig abgeschirmt<br />

von der „höchst komplizierten Weltgegend“,<br />

in der er lebt, jätet er rückenschonend<br />

auf allen Vieren, sät,<br />

pflanzt, beobachtet Vögel,<br />

bekämpft Schädlinge und<br />

wartet geduldig auf Blüten<br />

und Früchte, denn Geduld<br />

kann man lernen von einem<br />

Garten. Erinnerungen,<br />

Episoden, Weisheiten<br />

aus der Bibel, Gedichte der großen Lyriker<br />

des Landes, zu denen auch Meirs<br />

Vater Yitzhak Shalev zählte, gehen dem<br />

fantasievollen Fabulierer dabei durch den<br />

Kopf.<br />

Gäste sind nicht immer willkommen,<br />

schon gar nicht andere besserwisserische<br />

Gärtner. Und davon scheint es in Israel<br />

Es menschelt<br />

gewaltig in<br />

Shalevs Paradiesgarten.<br />

Seit die frühen Zionisten den kargen<br />

Boden des Landes fruchtbar machten,<br />

gehört das Arbeiten mit und in der Erde<br />

und das Wissen darum zum nationalen<br />

Erbe der Gründerväter und wird nach<br />

wie vor hoch geschätzt. Und so lernt man<br />

auch bei Shalev, der keinen Gartenratgeber<br />

und schon gar kein<br />

botanisches Lehrbuch<br />

schreiben wollte, doch<br />

eine Menge von der erstaunlichen<br />

Vielfalt der<br />

Flora Israels mit seinen<br />

über 2.700 Pflanzenarten.<br />

Viele der im Buch<br />

beschriebenen und von Meirs Schwester<br />

Refaella Shir feinst gezeichneten Blumen<br />

wird man außerhalb Israels nicht kennen,<br />

geschweige denn zum Blühen bringen<br />

können. Aber eine Sehnsucht nach<br />

so einem verwunschenen Garten Eden<br />

unter südlicher Sonne wird beim Lesen<br />

wohl entstehen. <br />

wına-magazin.at<br />

45


BADENER MAHNMAL<br />

Ein imaginärer<br />

Davidstern<br />

sch<strong>web</strong>t über der Endstation<br />

Im Zentrum Badens erinnert ein neues<br />

Mahnmal an die Opfer des<br />

Nationalsozialismus.<br />

April im Zentrum der Stadt, am Josefsplatz,<br />

der Endstation der Badener Bahn.<br />

Passanten können es eilig durchschreiten<br />

oder stehen bleiben und entlang der<br />

36 im Boden verankerten Stahlstäbe hinaufschauen<br />

und dann etwas erblicken,<br />

das nicht da ist. Einen imaginären Davidstern,<br />

der gleichsam über dem Platz<br />

sch<strong>web</strong>t. Symbolhaft soll er an die Opfer<br />

des Nationalsozialismus erinnern, die<br />

ja auch nicht mehr da sind. Schon lange<br />

nicht mehr, obwohl die jüdische Gemeinde<br />

der Kurstadt vor dem Krieg mit<br />

2.400 Mitgliedern die drittgrößte Österreichs<br />

war.<br />

„In Österreich<br />

wurde ja eher an<br />

die Gefallenen<br />

als an die Verfolgten<br />

erinnert.“<br />

Robert Vorberg<br />

Von Anita Pollak<br />

Es ist so, als hätten wir nie<br />

existiert.“ Dieser Satz einer<br />

aus Baden vertriebenen<br />

Jüdin war quasi die Initialzündung<br />

für das Interesse<br />

von Badener Schülern an der jüdischen<br />

Vergangenheit ihrer Stadt. Heute ist der<br />

damalige HAK-Schüler Lukas Hold,<br />

Jahrgang 1988, Obmann des Vereins zur<br />

Aufarbeitung der jüdischen Geschichte<br />

in Baden. Gemeinsam mit dem Historiker<br />

Robert Vorberg, der damaligen Gemeinderätin<br />

Nedina Malinovic und einer<br />

in Folge von der Stadt Baden eingerichteten<br />

Arbeitsgruppe hat er ein ambitioniertes<br />

Projekt angestoßen und verwirklicht.<br />

Das Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus<br />

in Baden steht seit Ende<br />

Offenes Denkfeld. Mit seiner Installation<br />

Counterpoles/Widerstäbe hat Peter<br />

Kozek einen für das Mahnmal ausgeschriebenen<br />

Wettbewerb gewonnen.<br />

Dass der Künstler ein geborener Badener<br />

ist, bezeichnet er selbst als „Zufall“.<br />

Als „offenes Denkfeld“, das man beliebig<br />

durchschreiten kann, hat Kozek seine Installation<br />

entworfen. Aus immer neuen<br />

Perspektiven werden sich dabei immer<br />

neue Bilder ergeben. Am Boden bilden<br />

die Verankerungen von jeweils drei Stäben<br />

die Spitzen imaginärer Dreiecke, die<br />

sich auf die verschiedenen Winkel beziehen,<br />

mit denen in den KZs unterschiedliche<br />

Häftlingsgruppe wie Homosexuelle<br />

und politisch Verfolgte gekennzeichnet<br />

wurden, denn allen, nicht nur den jüdischen<br />

Opfern ist dieses Mahnmal gewidmet.<br />

Das war eine Vorgabe der Arbeitsgruppe,<br />

die sich mit dem Wunsch eines<br />

solchen Projekts 2013 an die Stadtge-<br />

© Peter Kozek<br />

46 wına | April 2017


HISTOTAINMENT<br />

Projektentwurf von Peter<br />

Kozek. 36 im Boden verankerte<br />

Stahlstäbe lassen<br />

einen imaginären Davidstern<br />

entstehen.<br />

meinde wandte. „2005 wurde zwar<br />

die Synagoge saniert, doch ein zentrales<br />

Erinnerungszeichen an die<br />

Opfer des Nationalsozialismus hat<br />

gefehlt. In ganz Österreich wurde<br />

ab den 50er-Jahren ja eher an die<br />

Gefallenen als an die Verfolgten erinnert.<br />

Die schwarz-grüne Stadtregierung<br />

hat sehr offen auf unsere<br />

Vorstellungen reagiert. Unser Ziel<br />

war es, dieses Projekt auch in der<br />

Bevölkerung zu verankern, deshalb<br />

sollte es an einem zentralen Platz<br />

und dauerhaft sein“, erzählt Robert<br />

Vorberg, der Leiter der Arbeitsgruppe.<br />

Die inhaltlichen Vorgaben hat Peter<br />

Kozek mit seiner Stahlkonstruktion<br />

künstlerisch perfekt umgesetzt. „Ich habe<br />

gleich Feuer gefangen und mich im Vorfeld<br />

auch mit Elie Rosen, dem Vertreter<br />

der jüdischen Gemeinde in Baden, beraten,<br />

was man sich von jüdischer Seite von<br />

so einem Mahnmal erwartet. Ich wollte<br />

nicht mit einer brachialen, banalen Symbolik<br />

arbeiten.“<br />

Deshalb bleibt der Ort an sich unverändert,<br />

mit Parkbänken, Blumen und<br />

Fahrradständern, und doch kommt man<br />

an den fest verankerten Stäben nicht<br />

vorbei. Kozek sieht sie einerseits hoffnungsvoll<br />

als heilende „Akupunktur des<br />

Platzes“, gleichzeitig aber sind seine „Widerstäbe“<br />

auch „Widerstände“, die eine<br />

aktive Auseinandersetzung mit der Erinnerung<br />

evozieren sollen, die man ja<br />

nicht verordnen kann. Eine Infostele erklärt<br />

zusätzlich die historischen Hintergründe<br />

und die Gestaltung des Mahnmals.<br />

„Ich wollte<br />

nicht mit einer<br />

brachialen,<br />

banalen Symbolik<br />

arbeiten.“<br />

Peter Kozek<br />

„Histotainment“. Wie die Badener<br />

Bevölkerung das doch immerhin irritierende<br />

Objekt aufnehmen wird, ist<br />

noch nicht wirklich absehbar. Für Arbeitsgruppe<br />

und Verein sind mit dieser<br />

künstlerischen Setzung die Aktivitäten<br />

keineswegs abgeschlossen,<br />

der begonnene Diskurs ist damit erst<br />

sichtbar eröffnet. Schülergruppen besuchen<br />

schon seit einiger Zeit die Synagoge<br />

und den jüdischen Friedhof<br />

in Baden und beginnen auch selbst<br />

zu recherchieren. „Da kann es schon<br />

vorkommen, dass sie in ihrer Umgebung<br />

auf ein Nachbarhaus stoßen, in<br />

dem Opfer gelebt haben. Wir arbeiten<br />

da aber nicht mit erhobenem Zeigefinger“,<br />

erklärt Lukas Hold.<br />

Der Verein hat eine „Schicksalsdatenbank“<br />

auf Basis der Vermögensanmeldungen<br />

und der Arisierungsakte erstellt<br />

und nach einjähriger Recherche<br />

unter anderem bei Yad Vashem außerdem<br />

eine wunderbare deutsch-englische<br />

Website eingerichtet, die als „Histotainment“<br />

vor allem Anknüpfungspunkte für<br />

junge Menschen bieten soll. jewishhistorybaden.com<br />

stößt auf reges Interesse aus<br />

der ganzen Welt.<br />

Mit vereinten Kräften und höchst bescheidenen<br />

Mitteln – die Gesamtkosten<br />

des Mahnmals belaufen sich auf nur<br />

80.000 Euro und sind neben Sponsoren<br />

größtenteils von Stadt und Land Niederösterreich<br />

aufgebracht worden – haben<br />

diese drei jungen Herren, Angehörige der<br />

Enkelgeneration, mit dem neuen Mahnmal<br />

im Herzen von Baden ein Zeichen<br />

gesetzt, das Hoffnung gibt.<br />

wına-magazin.at<br />

47


PORTRÄT WILNA<br />

Das Jerusalem<br />

des Nordens<br />

„Messieurs, mir scheint,<br />

wir sind in Jerusalem“,<br />

sagte Napoleon, als er<br />

einst Wilna betrat. Nun<br />

erschien das Porträt<br />

dieser Stadt, zu Deutsch<br />

Von Alexander Kluy<br />

Mein Winkel Europas ermöglicht<br />

aufgrund der<br />

dort stattfindenden außerordentlichen<br />

und<br />

todbringenden Ereignisse, für die nur<br />

verheerende Erdbeben die passende<br />

Metapher scheinen, eine besondere Perspektive,<br />

der zufolge alle, die von dort<br />

stammen, die Poesie unseres Jahrhunderts<br />

etwas anders zu beurteilen pflegen<br />

als die Mehrheit meiner<br />

Hörer.“ Als der polnische<br />

Dichter und Nobelpreisträger<br />

Czesław<br />

Miłosz dies 1982 in einer<br />

Vorlesung an der<br />

Harvard University bekannte,<br />

sprach er über<br />

eine Grenzregion, die<br />

er, der Emigrant, damals<br />

seit mehr als dreißig Jahren<br />

nicht mehr gesehen<br />

hatte – Nordostpolen<br />

und Litauen. Städte<br />

wie Kaunas und Kowno<br />

und Vilnius, Letzteres<br />

auf Polnisch Wilno, auf<br />

Deutsch Wilna. Und auf<br />

Jiddisch Vilne.<br />

170 Jahre zuvor soll Napoleon, seit<br />

acht Jahren Kaiser der Franzosen, auf<br />

seiner Kampagne durch Russland, die so<br />

schmählich enden sollte, in Wilna gesagt<br />

haben: „Messieurs, mir scheint, wir sind<br />

in Jerusalem.“ So auffällig waren auf den<br />

Gassen der Stadt die vielen orthodoxen<br />

Juden, dass sie als „Jerusalem des Nor-<br />

Wilna, auf Jiddisch Vilne,<br />

und zeigt einen Ort<br />

jüdischen Lebens und<br />

gelebter Jiddischkeit.<br />

Judengasse in<br />

Wilna,1915. Bis 1940<br />

war Wilna ein Kristallisationspunkt<br />

des<br />

Judentums, 1943 hörte<br />

jüdisches Leben hier<br />

nahezu auf.<br />

dens“, „Jerusalem Litauens“, „Jerusalem<br />

Osteuropas“ bezeichnet wurde.<br />

1323 waren erstmals Juden vom litauischen<br />

Fürsten ins Land gerufen worden.<br />

Wie überall auch wurden sie in den folgenden<br />

Jahrhunderten Opfer von Verfolgungen,<br />

Pogromen, Ausweisungen,<br />

neuerlichen Einladungen. Bauten ein<br />

Gemeindeleben auf. Ab etwa 1740 wurde<br />

Wilna ein Ort jüdischer Frömmigkeit, jüdischer<br />

Gelehrsamkeit und der Haskala,<br />

auch säkularer Bildung, Kultur, Poesie.<br />

Druck- und Verlagshäuser,<br />

junge Poeten, die<br />

auf Jiddisch schrieben,<br />

wie Moshe Kulbyak, der<br />

1937 Opfer des Stalinismus<br />

wurde – jüngst<br />

ist sein schmaler Revolutionsroman<br />

Montag<br />

auf Deutsch erschienen<br />

–, Bundisten, Zionisten.<br />

Bis 1940 war Wilna<br />

ein Kristallisationspunkt<br />

des Judentums, auch<br />

in einem immer stärkeren<br />

Meer aufbrausenden<br />

Nationalismus,<br />

Extremismus, Antisemitismus<br />

(plus bei Vilne<br />

zusätzlich eines heutzutage<br />

wieder vertraut klingenden hässlichen<br />

Polonismus). Dreizehnmal haben sich die<br />

Herrschaftsverhältnisse in der Stadt allein<br />

während des 20. Jahrhunderts geändert,<br />

radikal, noch öfters mit Gewalt, Blutvergießen,<br />

Ermordungen, Vertreibungen und<br />

Verschleppungen. Ende September 1943,<br />

mit der brutalen Auflösung des Ghettos<br />

© picturedesk.com<br />

48 wına | Mai 2017


JÜDISCHE TOPOGRAFIE<br />

Dann wird auf jüdische und jiddische<br />

Kultur und die Bedeutung von Übersetzungen<br />

als innereuropäischer Weltkulturund<br />

Gedankentransfer eingegangen – wer<br />

weiß schon, dass die erste jiddische Übersetzung<br />

von Thomas Manns Roman Der<br />

Zauberberg 1930 von Isaac Bashevis Singer<br />

stammte? –, auf den Kampf um Autonomie,<br />

sozialen Status und den Blick<br />

von außen, hier jenen des Autors Arnold<br />

Zweig, der ab 1917 an der Ostfront erstmals<br />

jiddisches Leben hautnah erlebte.<br />

Danach wird Jiddischkeit in Berlin und<br />

deren Wechselwirkungen mit Wilna ausgeleuchtet,<br />

auf den großen Dichter Abrain<br />

Wilna, hörte jüdisches Leben hier nahezu<br />

auf; im späteren Sowjetkommunismus<br />

balancierte die Gemeinde auf der<br />

Demarkationslinie eines Geradesogeduldetwerdens.<br />

Auf Initiative der Historiker Elke-Vera<br />

Kotowski und Julius H. Schoeps, beide am<br />

Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische<br />

Studien in Potsdam aktiv,<br />

dessen Gründungsdirektor 1992 und<br />

seitheriger Leiter Schoeps ist, fand 2013<br />

die Tagung Das jiddische Vilne statt. Nun<br />

liegen dank der Finanzierung mehrerer<br />

Stiftungen die Tagungsbeiträge in Buchform<br />

vor, kombiniert mit zwei Dutzend<br />

Illustrationen, historischen Fotografien<br />

(besonders interessant und aussagekräftig)<br />

und zeitgenössischen künstlerischen<br />

Echos darauf, die zwischen Surrealismus<br />

und Abstraktion changieren.<br />

Es entspricht der Natur solcher Publikationen,<br />

dass die Beiträge recht unterschiedlich<br />

sind. Unterschiedlich im<br />

Ansatz. Unterschiedlich im Stil. Auch<br />

unterschiedlich in Anspruch und Niveau.<br />

So ist es keine Überraschung, dass es<br />

sich auch in diesem Fall so<br />

verhält. Eine entschieden<br />

negative Überraschung ist<br />

aber, dass in diesem akademischen<br />

Band wissenschaftlicher<br />

Beiträger derart<br />

viele orthografische<br />

Fehler enthalten sind. Es<br />

gibt Texte, deren mündlicher<br />

Tonfall nur sacht<br />

überarbeitet wurde. Andere<br />

Kurzstudien hingegen,<br />

ganz besonders der<br />

Text des am Frankfurter<br />

Fritz-Bauer-Instituts tätigen<br />

Historikers Christoph<br />

Dieckmann über die<br />

Zerstörung des Ghettos in<br />

Vilnius im September 1943, sind derart<br />

gehaltvoll und dicht, dass auf 25 Seiten<br />

hier fast zu viele Informationen untergebracht<br />

sind.<br />

Klug ist die dramaturgische Reihung.<br />

Es setzt ein mit einer historischen<br />

Einführung, die weit in die Historie<br />

zurückgeht, bis in die frühe Neuzeit.<br />

„... im friedlichen<br />

Winkel Europas<br />

zwischen Wannsee<br />

und Potsdam<br />

– dort,/<br />

wo vieles geschah<br />

und wohl<br />

nichts mehr geschehen<br />

wird.“<br />

Tomas Venclova<br />

Elke-Vera Kotowski,<br />

Julius H. Schoeps (Hrsg.):<br />

Vilne Wilna Wilno<br />

Vilnius. Eine jüdische<br />

Topografie zwischen<br />

Mythos und Moderne.<br />

Edition Hentrich<br />

2017, 202 S.,<br />

€ 22,70 (A)/€ 22 (D)<br />

Die<br />

weibliche<br />

Seite<br />

Gottes<br />

30. April bis<br />

8. Okt. 2017<br />

Jüdisches<br />

Museum<br />

Hohenems<br />

ham Sutzkever eingegangen, auf die Zerstörung<br />

des Ghettos 1943 und die fast<br />

vollständige Auslöschung jüdischen Lebens.<br />

Die letzten fünf Texte widmen sich<br />

jüdischen und jiddischen Lebens- und<br />

Sprachwelten im Rückspiegel, in der Erinnerung,<br />

im Zuge von nach 1990 einsetzenden<br />

Rekonstruktionen. Überaus<br />

nützlich ist am Schluss eine Liste mit<br />

weiterführender Literatur.<br />

Der aus dem litauischen Klaipeda<br />

stammende und seit 40 Jahren im Exil,<br />

erst kurz in Wien, seither in den USA lebende<br />

Poet Tomas Venclova schrieb bei<br />

einem Berlin-Aufenthalt in einem Gedicht,<br />

nach Osten gerichtet: „... ein Schatten<br />

liegt auf/der Vergangenheit (wie auf<br />

der Gegenwart), im Licht der ersten heiteren/Wochen:<br />

die Brücken/im friedlichen<br />

Winkel Europas zwischen Wannsee und<br />

Potsdam – dort,/wo vieles geschah und<br />

wohl nichts mehr geschehen wird.“ <br />

Museum & Café:<br />

Di bis So 10–17 Uhr<br />

Schweizer Str. 5<br />

A-6845 Hohenems<br />

www.jm-hohenems.at<br />

wına-magazin.at<br />

49


EUROPÄISCHE FLÜCHTLINGSKRISE<br />

Die neue<br />

Kriegsflüchtlinge, Wirtschaftsflüchtlinge:<br />

Haben sie überhaupt einen individuel-<br />

ODYSSEElen Fluchtgrund, den es braucht, um Asyl<br />

zugesprochen zu bekommen? Warum flüchten Menschen<br />

überhaupt? Und was nehmen sie dabei auf sich?<br />

Von Anita Pollak<br />

Der britische Journalist Patrick<br />

Kingsley war in den vergangenen<br />

Jahren an vielen Hotspots<br />

dieser Erde: Er hat sich in Afrika<br />

den Fluchtweg durch die Sahara angesehen<br />

und sich umgeschaut, wie und von<br />

wo Menschen aus Libyen den Weg über<br />

das Mittelmeer nach Europa starten. Er<br />

hat sich Flüchtlingstrecks auf der Balkanroute<br />

angeschlossen und nachgeforscht,<br />

wie es Syrern ergeht, die sich nach Ägypten<br />

gerettet haben. Er hat einen Flüchtling<br />

auf seiner Zugfahrt durch Europa begleitet,<br />

der es schließlich bis Schweden<br />

geschafft hat. Doch hat er dort eine Zukunft?<br />

Und wird er eines Tages seine Familie<br />

nachholen können?<br />

Kingsley zeigt in seinem Reportagenband<br />

Die neue Odyssee. Eine Geschichte der<br />

europäischen Flüchtlingskrise vor allem eines<br />

auf: die globale Dimension der aktuellen<br />

Fluchtbewegungen. Wer die Geschichten<br />

liest, die er hier dokumentiert,<br />

hat nach der Lektüre zwar genau so wenig<br />

wie der Autor eine Antwort parat,<br />

weil es für solch komplizierte Sachverhalte<br />

eben auch keine einfachen Lösungen<br />

gibt. Man wird sich aber der blinden<br />

Patrick Kingsley:<br />

Die neue Odyssee.<br />

Eine Geschichte<br />

der europäischen<br />

Flüchtlingskrise,<br />

C. H. Beck, 2016,<br />

332 S., 21,95 €<br />

Flecken bewusst, vor allem hinsichtlich<br />

der Lage in Afrika.<br />

Beispiel Eritrea. Männer werden für<br />

unbegrenzte Zeit zum Militärdienst eingezogen,<br />

der Sklavenarbeit ähnelt, körperliche<br />

Misshandlungen inklusive. Das<br />

gilt auch für Jugendliche: Kingsley schildert<br />

den Fall des 15-jährigen Adam, der<br />

„Die einzige vernünftige, logische und langfristige<br />

Antwort auf die Krise ist, ein legales Verfahren<br />

einzurichten.“ Patrick Kingsley<br />

bereits als 14-Jähriger zur Armee eingezogen<br />

wurde, desertierte, verhaftet, ins<br />

Gefängnis gesteckt und schließlich erneut<br />

zu einem Leben als Kindersoldat gezwungen<br />

wurde. Er konnte sich schließlich bis<br />

Italien durchschlagen. „In Eritrea habe ich<br />

nie an die Zukunft gedacht – ich wusste<br />

nie, ob ich den morgigen Tag noch erleben<br />

würde. Aber jetzt versuche ich es“,<br />

sagte der Jugendliche Kingsley in Europa.<br />

Der Journalist hat viele solcher Schicksale<br />

zusammengetragen: Sie geben den<br />

Flüchtlingen eine Stimme und machen<br />

ihre Fluchtgründe nachvollziehbar. Ihre<br />

Geschichten zeigen aber auch, wie sie immer<br />

stärker in Abhängigkeit von skrupellosen<br />

Schleppern geraten, desto mehr Europa<br />

sich abschottet.<br />

Fazit Kingsleys. Und trotzdem werden<br />

sich immer mehr Menschen auf den<br />

Weg nach Europa machen. In ihrer Heimat<br />

können sie aus den verschiedensten<br />

Gründen nicht mehr bleiben, die Nachbarländer<br />

bieten entweder keinen Schutz<br />

oder keine Möglichkeit zu existieren. „Der<br />

Schlüssel zur Bewältigung des Problems<br />

ist, diese Realität zu akzeptieren“, so der<br />

Autor. Er habe hunderte von Flüchtlingen<br />

gefragt, warum sie sich auf den beschwerlichen<br />

Weg machen. Die Antwort<br />

sei immer gewesen: „Weil es keine andere<br />

Wahl gibt.“ Er rät daher: „Die einzige vernünftige,<br />

logische und langfristige Antwort<br />

auf die Krise ist, ein legales Verfahren<br />

für die riesige Zahl von Flüchtlingen<br />

einzurichten, über das sie Europa auf einem<br />

sicheren Weg erreichen können. Von<br />

einem perfekten Szenario ist das weit entfernt.<br />

Es ist jedoch das geringste Übel.“<br />

Ja, Kingsleys Beobachtungen und<br />

Schlüsse bieten jede Menge Diskussionsstoff.<br />

Dieser Debatte werden wir uns<br />

allerdings nicht entziehen können – dieses<br />

Buch setzt der Abschottungspolitik<br />

die menschliche Dimension entgegen. <br />

50 wına | Mai 2017


WINA WERK-STÄDTE<br />

Patras<br />

Thora-Rollen werden zum<br />

Schutz und als Ausdruck der<br />

Heiligung schön „angezogen“.<br />

Während sie bei uns in einen<br />

Thora-Mantel gehüllt werden,<br />

verwahrt man sie traditionell in<br />

Griechenland und im Orient in<br />

einem Behältnis (hebräisch Tik).<br />

Von Esther Graf<br />

Der Tik gehört zur<br />

Sammlung des Jüdischen<br />

Museums in Athen.<br />

Die Verwendung von Thora-Mänteln<br />

und Tikkim (Plural von Tik,<br />

Thora-Behältnis) wurde nachweislich<br />

bereits im Mittelalter<br />

gepflegt. Illuminierte Handschriften<br />

ab dem 9. Jahrhundert liefern uns dafür<br />

bildliche Beweise. Thora-Mäntel sind aus Stoff<br />

und fast ausnahmslos in Europa zu finden. Tikkim<br />

sind aus Holz oder Metall gefertigt, mit verschließbaren<br />

Scharnieren versehen und typisch<br />

für den Orient und Griechenland.<br />

Während zur Ausstaffierung einer Thora-Rolle<br />

in Europa neben Thora-Mantel auch eine Thora-<br />

Krone und Thora-Aufsätze gehören, sind diese<br />

im orientalischen Tik mit integriert.<br />

Das hier gezeigte Exemplar stammt aus dem<br />

18. Jahrhundert aus der Synagoge in Heraklion,<br />

Kreta. Der Tik war ein Geschenk der Synagoge<br />

in Patras, stammt aber wahrscheinlich aus Korfu.<br />

Korfu war im 18. Jahrhundert unter venezianischer<br />

Herrschaft, was den stilistischen Einfluss<br />

der italienischen Lagunenstadt erklärt. Eine Stifterinschrift<br />

verrät, dass die<br />

Thora-Rolle 1913 ein Geschenk<br />

von Bona Elchai<br />

war, Mitglied einer renommierten<br />

jüdischen Familie<br />

in Heraklion. Der Korpus<br />

des hölzernen Tik ist in<br />

Rot gehalten. Den oberen<br />

Abschluss bildet eine Art<br />

Krone in Gold. Das Rankendekor<br />

der Thora-Krone<br />

lässt einen an architektonische<br />

Elemente venezianischer<br />

Renaissancepaläste<br />

denken. Die Thora-Aufsätze<br />

(hebräisch Rimmonim)<br />

erinnern an ein königliches<br />

Zepter. Daneben<br />

verbergen sich Metallhülsen,<br />

die an Simchat Thora<br />

oder Schawuot als Halter<br />

für Blumen oder Ähren<br />

dienen. <br />

PATRAS, die Hauptstadt der<br />

Region Westgriechenland, ist mit<br />

214.000 Einwohnern die drittgrößte<br />

Stadt Griechenlands. Die ersten<br />

Juden kamen im 4. Jahrhundert v.<br />

d. Z. aus Syrien. Im 15. Jahrhundert<br />

kamen Flüchtlinge aus Spanien,<br />

und Italien hinzu. Vor dem Zweiten<br />

Weltkrieg lebten ca. 260 Juden hier,<br />

von denen etwa die Hälfte ermordet<br />

wurde. Die nach 1945 von wenigen<br />

Mitgliedern neu gegründete<br />

Gemeinde bestand bis 1991. Das<br />

Innere der bereits 1984 geschlossenen<br />

Synagoge wurde in das Jüdische<br />

Museum nach Athen gebracht.<br />

© The Jewish Museum of Greece, 2014<br />

wına-magazin.at<br />

51


TRAGISCHER JUSTIZIRRTUM<br />

Jesus und<br />

„die Juden“<br />

Eine jüdische Perspektive auf die Passionsgeschichte Jesu<br />

bot vor fast einem halben Jahrhundert erstmals der deutschisraelische<br />

Starjurist Chaim Cohn. Sein Standardwerk<br />

ist jetzt in deutscher Übersetzung wieder neu aufgelegt<br />

worden und immer noch faszinierend.<br />

Von Anita Pollak<br />

Kein anderer Prozess in der Menschheitsgeschichte<br />

hatte derart weitreichende<br />

Folgen. Geführt wurde<br />

er unter Ausschluss der Öffentlichkeit,<br />

und dennoch scheint die ganze Welt darüber<br />

Bescheid zu wissen. Seit fast zweitausend<br />

Jahren gilt als erwiesen: Die Juden<br />

waren oder sind schuld am Tod Jesu. Obwohl<br />

die Kirche diesen christlichen Common<br />

Sense nach der Schoah in Erklärungen<br />

abzuschwächen versucht hat, zeigt die<br />

Geschichte des Judenhasses, wie stark und<br />

ungebrochen das Stigma des Gottesmordes<br />

weiter wirksam ist.<br />

Bei Gründung des Staates Israel im Jahr<br />

1948 wurde sein Oberster Gerichtshof vor<br />

allem von protestantischer Seite ersucht,<br />

den Prozess Jesu wiederaufzunehmen, um<br />

den tragischen Justizirrtum zu bereinigen.<br />

Dazu kam es zwar nicht, aber einen damals<br />

tätigen jungen Oberstaatsanwalt<br />

ließ die faszinierende<br />

Causa nicht mehr<br />

los. Zwanzig Jahre lang<br />

widmete sich Chaim Cohn<br />

„abendlich-nächtlich“ diesem<br />

Prozess und legte seine<br />

Thesen 1968 in einem hebräischen<br />

Buch vor, das 1997<br />

erstmals ins Deutsche übersetzt<br />

worden ist.<br />

Der 1911 in Lübeck geborene<br />

und 2002 in Jerusalem<br />

verstorbene Chaim<br />

Cohn war nicht nur Oberster<br />

Richter, Menschenrechtsexperte<br />

und sogar<br />

einmal Justizminister Israels, er war darüber<br />

hinaus ein profunder Kenner des<br />

römischen und jüdischen Rechts. Dieser<br />

Expertise und einem tiefgründigen Studium<br />

der Quellen verdanken sich seine<br />

revolutionären Thesen.<br />

Tendenziöse Evangelien. Was in Wirklichkeit<br />

geschehen sein könnte, nennt er den<br />

Hauptteil seines Werks, der sich der Verhaftung,<br />

dem Prozess und der Kreuzigung<br />

Jesu widmet. Was darüber bekannt ist, vermitteln<br />

im Wesentlichen die Evangelien,<br />

die Cohn einerseits mit den historischen<br />

Gegebenheiten zu Zeiten Jesu, andererseits<br />

mit den römischen und jüdischen Gesetzen<br />

während der römischen Besatzung Judäas<br />

konfrontiert. Aus den sich daraus ergebenden<br />

Widersprüchlichkeiten stellt er<br />

die Faktizität der Evangelien infrage und<br />

außerdem fest: Je später sie verfasst wurden,<br />

umso mehr verlagerten sie die Schuld<br />

an der Kreuzigung Jesu<br />

weg von Pilatus und<br />

pauschal auf „die Juden“.<br />

Weil die frühen<br />

Christen zunehmend<br />

„Hunderte Generationen<br />

von Juden<br />

sind für ein Verbrechen<br />

bestraft<br />

worden, das<br />

weder sie noch<br />

ihre Vorfahren<br />

begangen haben.“<br />

unter römischer Verfolgung<br />

litten, schien<br />

es ihnen vermutlich<br />

opportuner, die Römer<br />

zu entlasten und<br />

sie damit gewogener<br />

zu machen. Infolge<br />

dieser stark tendenziösen<br />

Darstellungsweise<br />

der Ereignisse in den<br />

Evangelien hat sich<br />

das Bild der Juden als<br />

Chaim Cohn:<br />

Der Prozeß und<br />

Tod Jesu aus<br />

jüdischer Sicht.<br />

Aus dem Englischen<br />

von Christian Wiese und<br />

Hannah Liron. Jüdischer<br />

Verlag im Suhrkamp<br />

Verlag; 573 S., € 39,10<br />

blutgierige Gottesmörder tief in das christliche<br />

Bewusstsein eingegraben. „Hunderte<br />

Generationen von Juden sind in der ganzen<br />

christlichen Welt für ein Verbrechen<br />

bestraft worden, das weder sie noch ihre<br />

Vorfahren begangen haben. Schlimmer<br />

noch, jahrhunderte-, vielmehr jahrtausendelang<br />

wurden sie gezwungen, aufgrund<br />

des angeblichen Anteils ihrer Vorväter am<br />

Prozess und an der Kreuzigung Jesu alle<br />

denkbaren Formen der Peinigung, Verfolgung<br />

und Demütigung zu erdulden [...].“<br />

Wenn man die in sich schlüssigen Analysen<br />

des Autors auf eine These herunterbrechen<br />

müsste, was kaum möglich ist, so<br />

wäre es seine wohl begründete Behauptung,<br />

dass die Juden Jesus liebten, denn er<br />

war einer der ihren und wie sie ein Opfer<br />

der römischen Gewaltherrschaft über Israel.<br />

Aus dieser Perspektive müsse das Verhör<br />

Jesu am Vorabend des Pessachfestes<br />

als verzweifelter Versuch des Hohepriesters<br />

verstanden werden, diesen von seinem<br />

messianischen Anspruch abzubringen und<br />

so vor der Kreuzigung zu bewahren.<br />

Als Gegenentwurf zur kanonisierten<br />

Passionsgeschichte und ihrer Traditionen<br />

hatte Cohns Klassiker bislang nur ein<br />

schwaches Echo. Ob die Neuauflage nach<br />

fast einem halben Jahrhundert in einen anderen<br />

Resonanzraum vorstoßen wird können,<br />

bleibt abzuwarten. <br />

52 wına | Mai 2017


URBAN LEGENDS<br />

Im Schlund<br />

Mitunter platzen all die kleinen<br />

Filterblasen, und wir finden uns<br />

wieder in einer monströsen<br />

Riesenbubble, in der sich die Welt<br />

abzeichnet. Zeitgleich wirken<br />

Fakten, Fiktionen und herrschende<br />

Narrationen auf uns ein.<br />

Paul Divjak<br />

Die so genannte Zeitlinie der Zuckerberg’schen<br />

Prosumentenplattform hält<br />

einen tagtäglich auf Trab. Schließlich<br />

gilt es, nichts zu versäumen, Klicks und Likes zu<br />

verteilen, soziales Engagement zu beweisen und<br />

ein paar persönliche Spuren zu hinterlassen. Und<br />

mitunter platzen all die kleinen Filterblasen, und<br />

wir finden uns wieder in einer Monsterbubble, in<br />

der grelle Infohäppchen aufpoppen und um unsere<br />

Aufmerksamkeit buhlen: Fakten, Fiktionen<br />

und herrschende Narrationen wirken zeitgleich auf uns<br />

ein, erzählen von einer Welt, die mit jedem Weiterscrollen<br />

das Parallelgeschehen noch absurder erscheinen lässt.<br />

Eine Menschenmenge in Japan: Sexarbeiterinnen tragen<br />

seit dem Jahr 1977 alljährlich einen Stahlpenis durch<br />

die Straßen, um den Dämon in der Vagina zu besiegen,<br />

wie es heißt. Ein Ritual, das dem Gebet gegen sexuell<br />

„We,re robots, made of robots,<br />

made of robots.“ Daniel Dennett<br />

übertragbare Krankheiten gilt. Es wird rosa Stangenwassereis<br />

gelutscht. Unterdessen gibt andernorts die Defacto-Präsidentin<br />

Myanmars eine Erklärung ab: Es gäbe<br />

keine ethnischen Säuberungen in ihrem Land. – Smash<br />

Cut.<br />

Pepsi hat eine Kampagne lanciert, in der eine weiße<br />

Frau die Softdrinkrevolution mit einer Dose des sprudelnden<br />

Zuckergetränks anführt; potenzielle Polizeigewalt<br />

löst sich in Lifestyle-Wohlgefallen auf; Bombenstimmung!<br />

Logisches Resultat auf diese hanebüchene<br />

Werbeidee ist – auf gut Deutsch – ein Scheißsturm.<br />

Die wiederkehrenden Bilder von Giftgastoten in Syrien<br />

und die widersprüchlichen Interpretationen und Reaktionen<br />

darauf sind mit dem nächsten Post auch schon<br />

wieder vergessen, denn: Siegfried kehrt ins Opernhaus<br />

Nürnberg zurück. Was in Serbien naturgemäß weniger<br />

auf Interesse stößt: Dort wird weiterhin gegen den künftigen<br />

Präsidenten demonstriert.<br />

Nach dem Übergriff auf ein homosexuelles Paar posieren<br />

Politiker demonstrativ händchenhaltend für Fotografen.<br />

Währenddessen hat in Hessen ein 22-Jähriger<br />

beschlossen, die Sache mit der Verkehrssicherheit selbst<br />

in die Hand zu nehmen: Er malt sich einfach seine eigenen<br />

Zebrastreifen.<br />

Die AfD ist mit einem Plakat an die Öffentlichkeit<br />

gegangen: „Wir stehen als AfD an der Seite der jüdischen<br />

Gemeinde in Deutschland.“ – Newsflash: Steve<br />

Bannon ist nun nicht mehr im nationalen Sicherheitsrat.<br />

(Unglaublich auch jenes Video: Ein Bär rettet einen<br />

Vogel vor dem Ertrinken.)<br />

Eine vergrabene Box mit 6.000 Fotos aus dem Ghetto<br />

Łódź dokumentiert den Alltag und die Deportationen<br />

zwischen 1940 und 1944. In der Ausstellung Memory<br />

Unearthed ist im Museum of Fine Arts Boston derzeit<br />

eine Auswahl der Bilder von Henryk Ross zu sehen.<br />

„We pray for the lives of the wounded and the souls<br />

of those who have passed“, sagt Präsident Trump nach<br />

dem US-Luftangriff in Syrien.<br />

Josef Hader erzählt etwas über Erdbeerjoghurt.<br />

In Banksys Walled Off Hotel an der Mauer in Bethlehem<br />

werden nun schon seit mehreren Wochen interessierte<br />

Gäste empfangen; eine dystopische Touristenattraktion.<br />

– Mikroplastik überall. Und: Doug Aitkens<br />

Mirror House reflektiert die Schönheit und Einsamkeit<br />

der Kalifornischen Wüste.<br />

„Goebbels’ Sekretärin bricht ihr Schweigen“: Sie gibt<br />

ein erstes – und zugleich allerletztes – ausführliches Interview<br />

vor der Kamera, und ihr faltenzerfurchtes Gesicht<br />

in Schwarzweiß zeugt von der Kartografie inszenierter<br />

Erinnerung. Ein Deutsches Leben – jetzt im Kino!<br />

Popsänger Barry Manilow outet sich mit 73 Jahren. –<br />

Die Frieze Fair widmet sich diesmal übrigens den Fragen:<br />

„How important is art as a form of protest?’“ und „How<br />

effective is it as a conduit of change?“ – Und wo wir gerade<br />

von Kunst sprechen: Mit Worry will vanish revelation<br />

lädt die Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist zur Kunstmeditation,<br />

zu einem Trip in das Sinnliche und Sublime.<br />

Sensationsfund: In Ägypten wurde eine neue Pyramide<br />

entdeckt!<br />

Ist unser Bewusstsein tatsächlich bloß eine Illusion?<br />

Unsere Gehirnzellen sind Roboter, die auf chemische Signale<br />

reagieren, sagt der Kognitionsforscher Daniel Dennett<br />

in einem Interview mit der BBC.<br />

Erwähnt werden sollte schließlich noch eine aktuelle<br />

Studie, die belegt: Menschenaffen können erkennen,<br />

wenn wir etwas glauben, das nicht wahr ist. – Und sie fühlen<br />

Mitleid mit uns ... <br />

Zeichnung: Karin Fasching<br />

wına-magazin.at<br />

53


MAI KALENDER<br />

von Angela Heide<br />

KONZERT<br />

19.30 Uhr<br />

MuTh<br />

Am Augartenspitz 1,<br />

1020 Wien<br />

ERÖFFNUNGSKONZERT<br />

19.30 Uhr<br />

Odeon<br />

Taborstraße 10, 1020 Wien<br />

9. MAI<br />

OUT OF SIGHT<br />

Aus dem Blick geratene, vergessene<br />

Werke von so wunderbaren<br />

Komponisten, Kabarettisten, Sängern<br />

und vielem mehr wie Fritz<br />

Spielmann, Hermann Leopoldi,<br />

Friedrich Hollaender oder Walter<br />

Jurmann präsentieren der unermüdliche<br />

Wiener Musiker und Komponist<br />

Bela Koreny und Ethel Merhaut.<br />

„Mit Bela ein Programm zu<br />

entwickeln und es aufzuführen, ist<br />

jedes Mal ein Abenteuer“, erzählt<br />

die in Wien geborene junge Sopranistin.<br />

Nun haben sich die beiden<br />

KünstlerInnen erneut auf die<br />

gemeinsame Spurensuche begeben<br />

und haben musikalische Juwelen<br />

wiederentdeckt, die von der<br />

vertriebenen und vergessenen großen<br />

Zeit des Wiener jüdischen Kulturlebens<br />

erzählen und die sie mit<br />

Hits des New Yorker Jiddish Theatre<br />

von Avraham Ellstein kombinieren,<br />

dem so mancher der Vertriebenen<br />

im Exil begegnet sein mag – nun<br />

finden sie erneut auf der Bühne zusammen.<br />

Begleitet werden die beiden beim<br />

Eröffnungskonzert des diesjährigen<br />

Festivals der jüdischen Kultur von<br />

Schauspieler-Multitalent Cornelius<br />

Obonya, der unter anderem Texte<br />

von Ephraim Kishon liest.<br />

11. MAI<br />

ICH BIN EIN<br />

DURCHSCHNITTS-WIENER<br />

Was für eine Begegnung: Erwin<br />

Steinhauer & Klezmer, reloaded, extended<br />

– Erwin Steinhauer, Schauspieler,<br />

Kabarettist, Autor, Publikumsliebling<br />

seit Jahrzehnten auf der<br />

Bühne und im Fernsehen, trifft hier –<br />

als Sänger! – auf Klezmer reloaded,<br />

Alexander Shevchenko und Maciej Golebiowski,<br />

auf Hermann Leopoldi und<br />

auf Songs, die man in dieser Formation<br />

und musikalischen Neusicht wohl<br />

nicht so schnell wieder hören wird.<br />

Auch der Titel folgt einem Lied Leopoldis,<br />

der 1888 als Hersch Kohn<br />

in Wien Meidling geboren wurde, jedoch<br />

früh schon auf Anraten des Vaters<br />

den Namen änderte – was ihn<br />

nicht vor den Konzentrationslagern<br />

retten sollte. Dank eines Affidavits seiner<br />

Schwiegereltern überlebte er die<br />

Schoah, emigrierte nach New York –<br />

und kehrte 1947 nach Wien zurück,<br />

wo er 1959 starb. Seine Texte sind so<br />

vordergründig leicht wie tiefgründig<br />

traurig, humorvoll und menschlich –<br />

und erzählen von den verlorenen Heimaten,<br />

ob im Schtetl oder im kleinen<br />

Café in Hernals ... Wienerlied meets<br />

Jazz meets Tango meets Chanson –<br />

bunter kann Klezmer wohl nicht sein.<br />

Interview mit Erwin Steinhauer<br />

auf Seite 22<br />

VERNISSAGE<br />

18 Uhr<br />

Brick5<br />

Fünfhausgasse 5 , 1150 Wien<br />

15. MAI<br />

JUNGE JÜDISCHE KUNST<br />

AUS WIEN<br />

Die Gemeinsamkeit der Unterschiedlichkeit<br />

– Kuratiert von der<br />

in Brasilien geborenen und heute<br />

in Wien lebenden jungen Kuratorin<br />

Aline Lara Rezende, präsentieren<br />

jüdische KünstlerInnen, deren Gemeinsamkeit<br />

ihr Leben in Wien ist,<br />

aktuelle Positionen aus ihren sehr<br />

unterschiedlichen künstlerischen<br />

Arbeiten. Shira Ehlers kombiniert<br />

unterschiedliche Materialien und<br />

Maltechniken, Andrew Mezvinsky<br />

verbindet Mixed Media mit skulpturalen<br />

Zeichnungen, Malereien und<br />

Videos, und Daniel Shaked hält in<br />

seinen Fotoarbeiten zu Musikstars,<br />

Politikern oder Fußballern deren<br />

sehr persönliche Stimmungen fotografisch<br />

fest, Porträts, die dem Moment<br />

gelten, den Augenblick in einer<br />

Welt der Prominenz und des<br />

Scheins wertschätzen. Weitere Arbeiten<br />

sind zu sehen von Roy Riginashvili,<br />

Sascha Vernik und Gioia<br />

Zloczower, die in den Räumen des<br />

Brick 5 auf aufregende und ungewöhnliche<br />

Weise abseits klassischer<br />

Museumskunst präsentiert werden.<br />

Interview mit Aline Rezende<br />

auf Seite 42<br />

54 wına | Mai 2016


FILM<br />

18 Uhr<br />

Votivkino<br />

Währinger Straße 12,<br />

1090 Wien<br />

SZENISCHE LESUNG<br />

19.30 Uhr<br />

Kunst im Prückel<br />

Biberstraße 2,<br />

1010 Wien<br />

16. MAI<br />

VIKTOR FRANKL,<br />

DER PSYCHOLOG<br />

Über die Größe des<br />

Menschen – Als der<br />

Wiener Arzt Viktor Frankl,<br />

u. a. Begründer der Logotherapie<br />

und Existenzanalyse,<br />

kurz nach Ende<br />

des Zweiten Weltkrieges<br />

von seinem Freund<br />

Bruno Pittermann – von<br />

1957 bis 1967 Vorsitzender<br />

der SPÖ, von<br />

1957 bis 1966 Vizekanzler<br />

und von 1964<br />

bis 1976 Präsident der<br />

Sozialistischen Internationale<br />

–, gebeten wird,<br />

seine Erlebnisse im Konzentrationslager<br />

niederzuschreiben,<br />

ist wohl<br />

niemandem klar, wie<br />

bahnbrechend Frankls<br />

1946 erschienenes<br />

Buch … trotzdem Ja zum<br />

Leben sagen: Ein Psychologe<br />

erlebt das Konzentrationslager<br />

sein<br />

wird. Christian Spatzek,<br />

der auch Regie führt,<br />

präsentiert gemeinsam<br />

mit Julia Reisinger, Kurt<br />

Hermann und dem Autor<br />

des Abends, Helmut<br />

Korherr, dessen biografisches<br />

Stück über das<br />

Leben und Werk Frankls<br />

als gespielte Lesung.<br />

STRASSENFEST<br />

Einlass 14:30 Uhr<br />

Rathaus Wien<br />

Friedrich-Schmidt-Platz 1,<br />

1010 Wien<br />

21. MAI<br />

STRASSENFEST<br />

Höhepunkt des Festivals<br />

der jüdischen Kultur ist<br />

auch dieses Jahr das gemeinsame<br />

große Straßenfest<br />

im Arkadenhof des Wiener<br />

Rathauses. Moderiert von<br />

Schauspieler und Humor-Spezialisten<br />

Giora Seeliger (Rote<br />

Nasen, Internationale Schule<br />

für Humor in Wien) präsentieren<br />

eine Reihe großartiger<br />

Musikformationen Beliebtes<br />

und Bekanntes, Traditionelles<br />

und Aktuelles. Zu Gast<br />

sind das siebenköpfige Ensemble<br />

Klesmer Wien, Timna<br />

Brauer und Elias Meiri, FRE-<br />

JLECH der Grinberg-Brüder,<br />

die Schlomo Band Vienna<br />

rund um Sänger Shlomo Sarikov,<br />

das Ensemble Shalom<br />

Alejchem und Yair Barzilai mit<br />

seiner Band. Das Programm<br />

ist so schillernd wie seine InterpretInnen:<br />

chassidische<br />

Lieder und jiddische Volkslieder,<br />

Songs from Jerusalem,<br />

Musik aus Ost- und Westeuropa,<br />

Amerika und natürlich<br />

Wien – und das auf Hebräisch,<br />

Englisch, Russisch, Italienisch,<br />

Spanisch und Bucharisch.<br />

Ein Fest für alle mitten<br />

im Herzen von Wien.<br />

18. MAI<br />

VIENNA’S LOST<br />

DAUGHTERS<br />

Wiens verlorene Töchter<br />

Die 1970 nahe Wien geborene<br />

Filmregisseurin, Moderatorin<br />

und Fotografin Mirjam<br />

Unger hat mit ihrem<br />

vor 10 Jahren erschienenen<br />

Film Vienna’s Lost Daughters<br />

acht jüdischen Frauen<br />

im Alter von über 80, die<br />

1938/39 vor dem Nationalsozialismus<br />

durch Kindertransporte<br />

gerettet werden<br />

konnten, ein sehr persönliches<br />

filmisches Denkmal<br />

gesetzt, in dem das ambivalente<br />

Verhältnis der vertriebenen<br />

Jüdinnen zu Wien<br />

ebenso wenig verschwiegen<br />

wird wie deren traumatische<br />

Erfahrungen von Ausgrenzung,<br />

Verfolgung und<br />

Flucht. Aber auch ihrem<br />

neuen Leben in New York,<br />

in dem Wien bis zuletzt in ihnen<br />

weiterlebte, spürt Unger<br />

darin feinfühlig nach. Nach<br />

der Vorstellung spricht die<br />

Regisseurin, die zuletzt für<br />

ihre Verfilmung von Christine<br />

Nöstlingers Maikäfer<br />

flieg mehrere Auszeichnungen<br />

erhielt, mit Giora Seeliger<br />

über die Entstehung des<br />

Films und darüber, wie sich<br />

Erinnerungen über Generationen<br />

hinweg manifestieren<br />

und was Kinder und Enkelkinder<br />

weitertragen können<br />

und wollen.<br />

Siehe auch Das letzte Mal,<br />

Seite 56<br />

KONZERT<br />

19.30 Uhr<br />

Porgy & Bess<br />

Riemergasse 11, 1010 Wien<br />

23. MAI<br />

SCHUM DAVAR<br />

Sandra Kreisler & Band<br />

Die Tochter von Georg Kreisler<br />

und Topsy Küppers<br />

weiß um ihr großes künstlerisches<br />

Erbe. Denn „wo<br />

Kreisler draufsteht, ist auch<br />

Kreisler drin“. Sanfte und<br />

entspannende Töne darf<br />

man an diesem Abend also<br />

nicht erwarten, dazu sind<br />

die Dinge, die Kreisler, kongenial<br />

begleitet von Gennadij<br />

Desatnik an Geige, Bratsche,<br />

Gitarre und Valeriy<br />

Khoryshman am Akkordeon,<br />

zu erzählen hat, zu wichtig,<br />

zu heutig und zu herrlich<br />

düster. Und so verspricht<br />

der Titel auf der einen Seite<br />

„kleine Sachen“ und auf der<br />

anderen knoblauchscharfe<br />

Beobachtungen rund um<br />

das jüdische Leben von<br />

heute. Modern, musikalisch<br />

und mutig – Kreisler eben.<br />

© ikg-kultur.at, Simone Hofmann, filmfonds-wien.at, Nancy Horrowitz<br />

wına-magazin.at<br />

55


DAS LETZTE MAL<br />

Das letzte Mal beeindruckt von<br />

einem filmischen Ereignis war<br />

ich …<br />

... bei der Berlinale. Dort gibt es so<br />

wundervolle Kinos in einer Dimension,<br />

wie ich sie selbst nur aus Filmen<br />

kannte. Beim Film Beuys im<br />

vollen Friedrichstadtpalast blieb<br />

mir der Atem weg.<br />

Das letzte Mal filmreif gefeiert<br />

habe ich …<br />

... beim Sederabend auf Einladung<br />

meiner Mutter, mit meinen<br />

Schwestern und unseren Kindern,<br />

also drei Generationen. Es war ein<br />

festliches Tohuwabohu, wir können<br />

ja alle nicht still halten. Das<br />

sind dann Szenen wie aus einem<br />

Woody-Allen-Film, ich würde das<br />

gerne mal mit filmen.<br />

Meine letzte oscarverdächtige<br />

Leistung war …<br />

... vielleicht, als ich unseren Kater<br />

mitten in der Nacht intuitiv gepflegt<br />

habe, als er von einem Marder völlig<br />

zerkratzt und zerbissen, nass<br />

und zitternd nach Hause gekommen<br />

ist. Nach zwei Stunden hat<br />

er sich beruhigt, und am nächsten<br />

Tag wollte er schon wieder strawanzen<br />

gehen.<br />

Das letzte große Drama in<br />

meinem Leben war …<br />

... die plötzliche Erkrankung meiner<br />

Tante. Sie kämpft tapfer um ihr<br />

Leben.<br />

Meine letzte wichtige „Regieanweisung“<br />

bekam ich …<br />

... von meiner Mutter, als sie mir<br />

sagte: „Mirjam, du darfst glücklich<br />

sein.“<br />

VOM<br />

GLÜCKLICH-<br />

SEINDÜRFEN<br />

Für alles gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes<br />

Mal. Regisseurin Mirjam Unger erzählt über filmreife<br />

Sederabende, einen oscarverdächtigen Pflegeeinsatz<br />

und die wichtigste Regieanweisung ihrer Mutter.<br />

Im Rahmen des Festivals der jüdischen Kultur 2017 läuft<br />

Mirjam Ungers Film Vienna’s Lost Daughters (2007).<br />

Im Film porträtiert die geborene Wienerin acht jüdische<br />

Frauen, die 1938/39 vor dem Nationalsozialismus<br />

aus Wien nach New York geflüchtet sind, und<br />

zeichnet ihre traumatischen Erfahrungen mit Flucht und<br />

Ankunft in einem neuen ungewissen Leben nach.<br />

© Christine Ebenthal<br />

Vienna’s Lost Daughters: 18.5., 18–20.30 Uhr, Votivkino, mit anschließendem Gespräch der Regisseurin mit Giora Seeliger<br />

Weitere Infos: ikg-kultur.at<br />

56 wına | Mai 2017


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