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Herbede und der Platz<br />
Liebe Leserinnen und Leser!<br />
Ist Ihnen das auch schon des Öfteren passiert? Man hört<br />
oft jahrelang irgendwelche Begrifflichkeiten, nimmt die mit<br />
dem Begriff verbundenen Aussagen zur Kenntnis und trotzdem<br />
hat man in Wirklichkeit gar nicht verstanden, worum<br />
es eigentlich geht?<br />
So ein Schlüsselerlebnis hatte ich neulich mal wieder. Ich<br />
war zu einer feierlichen Gesellschaft eingeladen worden,<br />
ein fünfzigster Geburtstag. Die ganze Gesellschaft nahm<br />
nach dem obligatorischem Begrüßungssekt an einer sehr<br />
langen, festlich gedeckten Tafel Platz. Per Tischkärtchen<br />
fand auch ich schnell meinen Platz an der Tafel, genau<br />
in der Mitte dieses unglaublich langen Tisches. Links<br />
neben mir saßen mir unbekannte Menschen, die wohl<br />
Kiffer freunde aus stürmischen Jugendzeiten gewesen sein<br />
mussten, welche aber mittlerweile wohl auch stolze Reihenmittelhaus-Besitzer<br />
waren. Links gegenüber am Tisch<br />
mussten wohl Verwandte aus Sachsen-Anhalt sitzen, die<br />
aber nicht aktuell zur Verwandtschaft der jetzigen dritten<br />
Frau gehörten, sondern wohl eher zur ersten Frau, kann<br />
aber auch die zweite Frau gewesen sein. Rechts neben mir<br />
saßen irgendwelche mir unbekannte Arbeitskollegen des<br />
Jubilars und rechts gegenüber von mir saßen diverse Nachbarn.<br />
Vier Kleingruppen um mich herum, alle fremd, und<br />
so saß ich einsam in der Mitte dieser Gesellschaft. Interessant<br />
war jetzt aber, dass ich durch diesen besonderen Platz<br />
zeitgleich vier unterschiedlichen Gesprächen versuchte zu<br />
folgen, ohne direkt beteiligt zu sein. Bei den Kifferfreunden<br />
links neben mir ging es um das Thema „Doktortitel und zu<br />
Guttenberg“; die Verwandtschaftsmischpoke lästerte über<br />
irgendwelche Verwandten; die Arbeitskollegen hatten das<br />
Thema „sexuelle Erlebnisse beim letzten Betriebsausflug“<br />
und die Nachbarn neben mir das Thema „Ausstieg aus der<br />
Atomkraft“. Nach dreißig Minuten intensivem Zuhören<br />
gab es dann endlich was auf die Gabel und eine gewisse<br />
schmatzende Stille erfüllte den Raum. Ich war erleichtert,<br />
hatte ich doch aus den ersten dreißig Minuten des vierseitigen<br />
Gesprächsbeschusses nur Folgendes heraushören<br />
können: „Dass der Neffe des Jubilars nämlich komplett<br />
verstrahlt wäre und man als Mann mit fünfzig jetzt mit<br />
so kleinen blauen Tabletten beim Ausflug vom Betrieb<br />
den Einstieg vom Ausstieg verhindern kann, und für die<br />
Doktorspiele zur vorgerückter Stunde wäre es egal, ob japanische<br />
Techniker dabei wären, Hauptsache man hat seit<br />
der Grundschulzeit nicht mehr abgeschrieben und dass ein<br />
Seitensprung auf der Betriebsfeier höchstens die Haltwertzeit<br />
von Jod-131 haben dürfte, nämlich eine Woche. Außerdem<br />
wären die Beziehungen in der Verwandtschaft schon<br />
länger verseucht, weil Adel verpflichtet nämlich und in<br />
einem Reaktor wird auch nur mit heißem Wasser gekocht,<br />
kurz bevor die Stimmung beim Betriebsfest auf den Siedepunkt<br />
kommt und wenn dann das Betriebssystem komplett<br />
ausfällt, ja dann kannst du als schwarzes Schaf der Familie<br />
aber komplett den Doktortitel abgeben!“ Beim Essen<br />
dachte ich dann bei mir: „Micki, wenn das wirre Ergebnis<br />
deiner vierseitigen Gesprächsberieselung schon so aussieht<br />
dann ist doch auch klar, warum von den Parteien in der<br />
Mitte, die ja im Fokus von Hunderten solcher Gespräche<br />
stehen, oft so unverständliches Zeug bei rauskommt. Meine<br />
Erkenntnis des Ganzen: in der Mitte der Gesellschaft zu<br />
sitzen ist ein verdammt harter Job!<br />
Micki Wohlfahrt (www.micki-solo.de)<br />
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