KUNSTINVESTOR AUSGABE JULI 2017
KUNST ALS KAPITALANLAGE AUSGABE JULI 2017 Chefredakteur: Michael Minassian
KUNST ALS KAPITALANLAGE
AUSGABE JULI 2017
Chefredakteur: Michael Minassian
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KUNST.INVESTOR Kommentar – Otto Hans Ressler<br />
Auch Wilhelm Worringer ging vom Verlangen des<br />
Menschen aus, sich in ein Kunstwerk einfühlen zu<br />
können. Aber der ästhetische Genuss funktionierte nur<br />
bei naturalistischer Kunst; auf geometrische,<br />
lebensfremde Formen ließ er sich nicht anwenden.<br />
Worringer setzte nun dem Verlangen nach Einfühlung<br />
das Verlangen nach Abstraktion entgegen. Er erblickte<br />
in den Perioden, in denen stark stilisierte Formen<br />
entstanden, das Unvermögen einer Generation, seinen<br />
Platz in einem einheitlichen Weltbild zu finden. Die<br />
Unsicherheit gegenüber der Außenwelt, die den<br />
Menschen dieser Perioden bedrohlich und fremd<br />
erschienen sei, habe in der Kunst ein Übermaß an<br />
Klarheit gefordert. Die Darstellungen hätten von der<br />
Willkür (und der daraus hervorgehenden Lebendigkeit)<br />
einer chaotischen Welt befreit und auf absolute<br />
Elemente reduziert sein müssen, um dem Betrachter<br />
Klarheit, Ruhe und Kontemplation zu bieten. Die<br />
einfache Linie... bot den durch die Unklarheit und<br />
Verworrenheit der Erscheinungen beunruhigten<br />
Menschen die größte Beglückungsmöglichkeit, schrieb<br />
er. Worringer prophezeite, dass das 20. Jahrhundert<br />
aus genau diesem Grund eines der Abstraktion sein<br />
werde. Nur wenige Jahre später zeigte Wassily<br />
Kandinsky bei der dritten Ausstellung der „Neuen<br />
Künstlervereinigung“ die fast vollständig abstrakte<br />
„Komposition V“; und wieder ein paar Jahre später<br />
setzte Kasimir Malewitsch mit seinem „Schwarzen<br />
Quadrat“ eine Art Schlusspunkt unter die Malerei.<br />
Wilhelm Worringers Thesen führten dazu, dass die<br />
Kunst außerhalb von Antike und Renaissance neu<br />
bewertet wurde. Sie wurde fortan nicht mehr als<br />
Ergebnis eines künstlerischen Niedergangs betrachtet,<br />
sondern als Ausdruck der psychischen und<br />
gesellschaftlichen Bedingungen dieser Epoche. Die von<br />
der modernen Kunstgeschichte damals noch<br />
missachteten modernen Künstler fanden in Worringers<br />
Schriften eine ideale theoretische Begründung: Die in<br />
vielerlei Hinsicht zerrüttete Zeit verlange nach neuen<br />
Ausdrucksformen, und diese würden in der Abstraktion<br />
gefunden werden. Das 20. Jahrhundert hat die größten<br />
Experimente hervorgebracht, die je in der Geschichte<br />
der Menschheit unternommen wurden – und zum Teil<br />
gingen sie über die Grenzen der menschlichen<br />
Vorstellungskräfte weit hinaus. In diesem Jahrhundert<br />
wurde etwas in Bewegung gesetzt, das in bestürzend<br />
kurzer Zeit alle Grundlagen und Überzeugungen<br />
unseres Daseins und Handelns veränderte. Die<br />
gesellschaftlichen Gefüge und Hierarchien, die über<br />
Jahrhunderte gehalten hatten, gingen zu Bruch, und<br />
nicht nur der Wunsch nach neuen Formen<br />
zwischenmenschlichen Zusammenlebens, sondern<br />
schreckliche Kriege waren die Folge.<br />
Die Einstellung des Menschen zu sich selbst und zur<br />
Welt wurde revidiert, die Vorstellung eines mit<br />
Lichtgesch-windigkeit auseinanderplatzenden Weltalls<br />
rechnerisch evident, und damit die für ewig gehaltenen<br />
Maßverhältnisse unserer Existenz – Zeit und Raum –<br />
relativiert. Die Körperlichkeit der Gegenstände wurde<br />
durch Erkenntnisse von Kraftfeldern, von Energie,<br />
Bewegung und Geschwindigkeit ad absurdum geführt<br />
und ersetzten jene von der Stabilität der Dinge. Das<br />
alles geht nach wie vor über die Fassbarkeit unserer<br />
Sinne weit hinaus, es eröffnete aber der Logik und der<br />
Phantasie unendlich weite, neue Räume. Nicht nur die<br />
Vorstellung von Natur, auch jene vom Menschen selbst<br />
ging in die Brüche – dafür sorgte die Psychoanalyse.<br />
Die Erkenntnis, dass nur ein kleiner Teil unseres<br />
Bewusstseins sichtbar sei, der weitaus größere Teil<br />
unseres Tuns und Handelns jedoch von Trieben<br />
gesteuert werde, erschütterte die Prämissen des<br />
humanistischen Menschenbildes so sehr, dass Zweifel<br />
an seiner Existenz aufkamen. Das moderne Denken<br />
war fortan eine zwiespältige Verknüpfung hellwacher<br />
logischer Intelligenz und geradezu irrational tiefer<br />
Intuition. Die Freiheit, die sich bot, war riesig; die Angst<br />
ebenso. In dieser Situation also wurde und wird Kunst<br />
produziert. Sie ist Ausdruck des über Nacht erfolgten<br />
Zusammenbruchs aller sicher gewähnten Annahmen<br />
und der sich nun neu formierenden Überzeugungen.<br />
Die Welt und die darin sichtbar in Erscheinung<br />
tretenden Gegenstände waren bis vor kurzem noch<br />
Basis der Beschäftigung der bildenden Kunst gewesen,<br />
also all das, was man mit den Augen erfassen konnte.<br />
Durch Jahrhunderte hatte sich das Bild als stark genug<br />
erwiesen, um alle Bedingtheiten des Menschen<br />
darzustellen. Nun wurde über Nacht alles fragwürdig.<br />
Wenn sogar die Gegenständlichkeit der Dinge nicht<br />
mehr sicher war, mussten ganz neue Fragen gestellt<br />
werden.