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CYBERMOBBING<br />
23. Oktober 2015: Um 10 Uhr 30 wird Tiziana Cantone von der Gerichtspolizei<br />
angehört. Auf Anraten einer jungen Beamtin, so die Mutter,<br />
ändert sie ihre Aussage leicht ab, da die eindeutige Formulierung in der<br />
Anzeige – sie beschuldigt fünf Männer, die Videos veröffentlicht zu<br />
haben – aufgr<strong>und</strong> der mangelnden Beweise zu riskant sei.<br />
Tiziana Cantone, bis vor ein paar Monaten eine noch unbekannte<br />
Frau Anfang 30, ist in Italien mittlerweile ein grösserer Begriff als mancher<br />
Spitzenpolitiker, in Neapel kennt beinahe jedes Kind ihren Namen<br />
<strong>und</strong> den verhängnisvollen Satz. Am 4. November 2015 stellt sie daher<br />
einen Antrag auf Namensänderung. Cantone, den Nachnamen des unbekannten<br />
Vaters, möchte sie in Giglio, den Mädchennamen der Mutter,<br />
tauschen. Sie begründet den Antrag mit der kurzen Ehe der Eltern <strong>und</strong><br />
der nicht vorhandenen Beziehung zum Vater.<br />
24. Dezember 2015: Es ist Heiligabend, Tiziana <strong>und</strong> ihre Mutter<br />
haben den Christbaum geschmückt. Abends bei der Bescherung sitzt<br />
die Tochter unter dem Baum, sie trägt einen Pullover mit einer Schleife<br />
darauf. «In diesem Jahr bist du das schönste Geschenk», sagt die Mutter<br />
<strong>und</strong> macht ein Bild der Tochter, die sich nur noch ungern fotografieren<br />
lässt. Fünf Tage später kommt die Mutter gerade mit Einkäufen für Silvester<br />
nach Hause, als sie Tiziana regungslos auf dem Wohnzimmerboden<br />
vorfindet. Die Schwägerin wählt 118, die Notrufnummer. Tiziana<br />
kann vor Ort gerettet werden, hat offenbar zu viele der verschriebenen<br />
Pillen genommen.<br />
In den nächsten Wochen liegt Tiziana wie gelähmt auf dem<br />
Sofa. Sie verlässt nur noch selten das Haus, <strong>und</strong> wenn, dann am liebsten<br />
in Begleitung eines Familienangehörigen. Einmal wöchentlich, mittwochs<br />
von 16 bis 17 Uhr, besucht sie ihre Psychotherapeutin, die seit Oktober<br />
2015 von der Mutter bezahlt wird. Im Juni bricht Tiziana die Therapie ab.<br />
Mindestens einmal fährt sie noch zu den Fre<strong>und</strong>en di Palos, bei denen<br />
sie den Sommer 2015 verbracht hat. Im März 2016 ist sie für mindestens<br />
zehn Tage dort, wie Kassenzettel belegen.<br />
Mittlerweile ist ein Jahr vergangen, seit Tiziana Anzeige erstattet<br />
hat. Doch ihr Albtraum ist noch immer nicht vorbei. 8. Mai<br />
2016: Von Hand schreibt Tiziana eine Muttertagskarte: «Die Jugend verwelkt,<br />
die Liebschaften werden weniger, die Blätter der Fre<strong>und</strong>schaft<br />
MACHST DU