27.09.2017 Aufrufe

Demokratie / dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 69 (4/2017)

In zahlreichen Schwerpunktausgaben der letzten Jahre hat dérive gezeigt, wie ein demokratischeres Modell von Stadt aussehen könnte. Es geht dabei um eine Stadt, in der die Bewohner aktive und gleichberechtigte Bürger und Bürgerinnen und keine passiven Konsumenten sind, die sich – je nach Ausstattung mit finanziellem, rechtlichem, kulturellen und sozialem Kapital – ihr Recht auf Stadt leisten können oder eben nicht. dérive 69 (4/2017) mit dem schlichten Titel Demokratie setzt diese Reihe an Heften fort und steuert einige Beiträge bei, deren Fokus sich mit den Stichwörtern Munizipalismus, Selbstverwaltung, Versammlungen, Partizipation sowie Öffentlichkeit und Staat zusammenfassen lassen. Das Heft kann hier https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/heft-69 bestellt werden.

In zahlreichen Schwerpunktausgaben der letzten Jahre hat dérive gezeigt, wie ein demokratischeres Modell von Stadt aussehen könnte. Es geht dabei um eine Stadt, in der die Bewohner aktive und gleichberechtigte Bürger und Bürgerinnen und keine passiven Konsumenten sind, die sich – je nach Ausstattung mit finanziellem, rechtlichem, kulturellen und sozialem Kapital – ihr Recht auf Stadt leisten können oder eben nicht. dérive 69 (4/2017) mit dem schlichten Titel Demokratie setzt diese Reihe an Heften fort und steuert einige Beiträge bei, deren Fokus sich mit den Stichwörtern Munizipalismus, Selbstverwaltung, Versammlungen, Partizipation sowie Öffentlichkeit und Staat zusammenfassen lassen. Das Heft kann hier https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/heft-69 bestellt werden.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Demos und Kratos<br />

Während die abgehängten Klassen sich scheinbar in großen<br />

Zahlen von Angstdiskurs und rechtspopulistischen<br />

Milchmädchen-Rechnungen angezogen fühlen, was weltweit<br />

einen besorgniserregenden Aufstieg von neuen autokratischen<br />

Führerfiguren hervorbringt, wächst auch der Widerstand gegen<br />

<strong>Demokratie</strong> als hohle Phrase und die Forderung nach einer<br />

umfassenden Demokratisierung von Gesellschaft. Zentrum dieses<br />

Widerstandes sind die Städte. Doch welches Potenzial birgt<br />

das Konzept <strong>Demokratie</strong> über den bekannten Status Quo hinaus?<br />

Ein möglicher Ansatz verbirgt sich in einer etymologischen<br />

Spurensuche: Die gängigste und einfachste Übersetzung von<br />

<strong>Demokratie</strong> ist Volksherrschaft. Sie ist grundsätzlich nicht<br />

falsch, meist fällt aber unter den Tisch, dass demos keinesfalls<br />

im völkischen bzw. ethnischen Sinne zu verstehen ist. Da<strong>für</strong><br />

verwendeten die Griechen den Begriff ethnos. <strong>Demokratie</strong> steht<br />

also keineswegs <strong>für</strong> ethnische Ausgrenzung zur Verfügung, wie<br />

es die von der wahren Volksherrschaft träumenden Wir-sinddas-Volk-Fraktionen<br />

verlangen.<br />

In seinem Beitrag For Democracy: Planning and Publics<br />

without the State setzt sich Mark Purcell näher mit der Begriffsdeutung<br />

von <strong>Demokratie</strong> auseinander. Das Ergebnis seiner<br />

demokratietheoretischen und etymologischen Analyse: <strong>Demokratie</strong><br />

bedeutet im Kern, dass Menschen ihr angeborenes Potenzial,<br />

ihre Angelegenheiten selbst zu verwalten, so frei als nur<br />

möglich nutzen können sollen. Purcell interpretiert kratos (dt.<br />

Macht, Stärke) nicht als Macht über oder Herrschaft über, sondern<br />

als die Macht oder das Vermögen zu etwas, also als Fähigkeit<br />

Dinge zu bewegen, Entscheidungen zu fällen, Probleme zu<br />

meistern. So wie in der attischen <strong>Demokratie</strong> die Bürger der<br />

Polis ihre Angelegenheiten in Versammlungen selbst regelten,<br />

fordert Purcell dazu auf, uns die Macht wieder zu eigen zu<br />

machen, die wir in der repräsentativen <strong>Demokratie</strong> an den Staat<br />

abgegeben haben, und das jedem Menschen innewohnende<br />

Potenzial zu nutzen. Dass diese natürlichen Fähigkeiten bei den<br />

meisten heute eher verkümmert scheinen und wir als Gesellschaft<br />

erst wieder lernen müssen, sie zu entdecken, ist offensichtlich.<br />

Change begins in the city<br />

Die Lust dazu ist in den letzten Jahren auf jeden Fall<br />

spürbar im Steigen begriffen. Das beginnt bei Community-Gärten,<br />

Fab-Labs oder selbstorganisierten Hausprojekten und reicht<br />

bis zu Bestrebungen der politischen Selbstverwaltung, wie wir<br />

sie derzeit beispielsweise bei der kurdischen Bevölkerung in<br />

Rojava und in zahlreichen Städten weltweit beobachten können.<br />

Ähnlich wie David Graeber von »elementarem Kommunismus«<br />

spricht, unter dem er vorrangig alltägliche gegenseitige Hilfe<br />

versteht, ohne die keine Gesellschaft funktionieren kann, deutet<br />

Purcell auf zahlreiche bereits bestehende Initiativen und Aktionen<br />

hin, die heute als Möglichkeitsfenster in eine andere Gesellschaft<br />

den Weg in Richtung einer umfassenderen <strong>Demokratie</strong><br />

weisen. Für Purcell ist <strong>Demokratie</strong> kein Stadium, das irgendwann<br />

in seiner höchsten Vollendung erreicht werden kann, sondern<br />

ein Horizont auf den man sich asymptotisch zubewegt.<br />

Dabei tauchen frühe demokratische Werkzeuge wie etwa die<br />

offene Versammlung immer wieder auf, was ihre Wichtigkeit <strong>für</strong><br />

die demokratische Gesellschaft unterstreicht. Am eindrucksvollsten<br />

passiert das derzeit in Städten wie Barcelona, wo die<br />

Stadtteilversammlung (Asamblea) eine wichtige Rolle in der<br />

Stadtpolitik spielt. Dass diese Form der unmittelbaren demokratischen<br />

Auseinandersetzung derzeit <strong>für</strong> intensives Nachdenken<br />

sorgt, beweist auch die im Oktober erscheinende neue Publikation<br />

von Hardt/Negri unter dem Titel Assembly.<br />

Die Occupy-Bewegung und die weltweiten Platzbesetzungen<br />

der letzten Jahre mögen von vielen als nicht erfolgreich<br />

betrachtet worden sein, aber sie haben gemeinsam mit erfolgreichen<br />

kommunalen Experimenten wie etwa in Porto Alegre<br />

Prozesse in Gang gesetzt und umfassende Lernerfahrungen<br />

ermöglicht. In Summe bilden sämtliche Bestrebungen der<br />

Selbstorganisation fruchtbare Keime einer sich noch unscharf<br />

abzeichnenden, aber durchaus hoffnungsvollen neuen munizipalistischen<br />

Bewegung. In Spanien haben sich die Indignados des<br />

spanischen Movimiento 15-M von 2011 zahlreich in Initiativen<br />

organisiert und sind bei den Kommunalwahlen im Frühjahr<br />

2015 als Bewegungs-Plattformen angetreten. Im Gegensatz zu<br />

populistischen Top-down-Bewegungen, die alten Wein in neuen<br />

Schläuchen verkaufen, sind sie tatsächlich bottom-up entstanden.<br />

Mit ihren Programmen <strong>für</strong> echten gesellschaftlichen Wandel,<br />

gegen Korruption und soziale Ungleichheit und <strong>für</strong> eine<br />

offene, solidarische Gesellschaft haben sie in einer Vielzahl von<br />

spanischen Städten aus dem Stand den Wahlsieg davongetragen.<br />

Sie regieren mit Ahora Madrid und seiner neuen Bürgermeisterin<br />

Carmen Carmela sowohl das politische als auch mit Barcelona<br />

en Comú (BComú) und der PAH-Aktivistin 1 Ada Colau das<br />

ökonomische Zentrum Spaniens und arbeiten intensiv an einer<br />

Öffnung der politischen Institutionen und der Entwicklung von<br />

neuen demokratischen Werkzeugen zur Verbindung der Ebene<br />

von Nachbarschaft und Stadtteilversammlung mit der institutionellen<br />

Stadtpolitik.<br />

Radical Cities<br />

Wie kann also eine <strong>Demokratie</strong> aussehen, die nicht in<br />

der weit verbreiteten Form der repräsentativen <strong>Demokratie</strong><br />

erstarrt? Murray Bookchin, der 2006 verstorbene Begründer<br />

eines libertären Kommunalismus, dessen Ideen heute von zahlreichen<br />

politischen Gruppen wieder aufgegriffen werden, verfolgt<br />

in seinem Buch Die Agonie der Stadt (1996) die These,<br />

dass eine lebendige <strong>Demokratie</strong> nur dann möglich ist, wenn<br />

Menschen auf lokaler Ebene miteinander über ihre Anliegen von<br />

1<br />

PAH – Plataforma de<br />

Afectados por la Hipoteca<br />

ist eine spanienweite,<br />

selbstorganisierte Plattform<br />

gegen Zwangsräumungen und<br />

<strong>für</strong> das Recht auf Wohnen,<br />

die mit Hilfe von direkten<br />

Aktionen große Erfolge<br />

gegen die Räumungsklagen<br />

der Banken als Folge der<br />

Immobilienkrise erreicht<br />

hat. Ada Colau, die<br />

derzeitige Bürgermeisterin<br />

von Barcelona, war eine der<br />

führenden AktivistInnen<br />

der PAH.<br />

Frank Eckardt — TRUMP on Main Street<br />

05

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!