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EDUCATION 4.17

Chancengerechtigkeit

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Thema | Dossier<br />

Markus P. Neuenschwander<br />

«Chancengerechtigkeit<br />

faktisch<br />

herstellen!»<br />

Foto: zvg<br />

Aufgezeichnet von Catherine Arber<br />

In der Schweiz sei die Chancengerechtigkeit in der Schule<br />

formal gegeben. Nur: «Faktisch gibt es sie nicht.» Davon<br />

ist Markus Neuenschwander, Leiter des Zentrums Lernen<br />

und Sozialisation an der Pädagogischen Hochschule der<br />

Fachhochschule Nordwestschweiz, überzeugt. Dabei sei<br />

Chancengerechtigkeit eine ethische Frage: «Es ist ein<br />

Menschenrecht, dass alle Kinder gleiches Recht auf<br />

Bildung haben.» Dieser Wert habe an Bedeutung eingebüsst.<br />

In der Schweiz wisse man zwar, wie dieses Ziel zu<br />

erreichen sei. «Wir müssten die Chancengerechtigkeit faktisch<br />

herstellen!», sagt er. Im Vergleich zu anderen Werten<br />

gerate sie im politischen Diskurs zu oft ins Hintertreffen.<br />

Unter Chancengerechtigkeit versteht Markus Neuenschwander,<br />

dass alle die gleichen Chancen haben, ungeachtet<br />

ihres Geschlechts oder ihrer sozialen Herkunft.<br />

Im schweizerischen Schulwesen sei die Chancengerechtigkeit<br />

verzerrt. So seien männliche Kinder aus höheren<br />

sozialen Milieus in der Sekundarschule und erst recht im<br />

Gymnasium übervertreten. Gerade im Kanton Bern macht<br />

Markus Neuenschwander aufgrund der Ergebnisse seiner<br />

Studie «Wirkungen der Selektion» (Wi-Sel) «starke Herkunfts-<br />

und Geschlechtereffekte» aus.<br />

Um diese Verzerrung auszugleichen, könnten<br />

sowohl im institutionellen als auch im schulischen Bereich<br />

Massnahmen ergriffen werden. Zunächst sei auf der institutionellen<br />

Ebene die Frage entscheidend, wie Selektion<br />

organisiert ist und wann sie in der Schule stattfindet. Neuenschwander<br />

plädiert für einen möglichst späten Übertritt<br />

auf die Sekundarstufe I: «Befunde belegen, dass der Leistungszuwachs<br />

der Kinder in der Primarschule grösser ist<br />

als in der gegliederten Sekundarschule», sagt der Erziehungswissenschaftler.<br />

Beim Selektionsentscheid sollten<br />

die eigentlichen Leistungen entscheidend sein, die nicht<br />

nur im Klassenvergleich beurteilt würden, sondern in<br />

einem grösseren Kontext, etwa im kantonalen Vergleich.<br />

So würden die Testergebnisse aussagekräftiger, und die<br />

Chancengerechtigkeit erhöhe sich. Die grossen Leistungsunterschiede<br />

zwischen den Schulklassen könnten<br />

laut Neuenschwander dadurch berücksichtigt werden.<br />

Auch die Auswahl der Promotionsfächer sollte ausgewogener<br />

sein: Bei den für den Sekübertritt entscheidenden<br />

Fächern seien die Mädchen in zwei von drei Fächern bes-<br />

Dr. Markus Neuenschwander ist Leiter des<br />

Forschungszentrums Lernen und Sozialisation der<br />

Pädagogischen Hochschule FHNW, Professor für<br />

Pädagogische Psychologie und Mitglied des Instituts<br />

für Bildungswissenschaften der Universität<br />

Basel. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Übergang<br />

Schule-Beruf, Selektion, Sozialisation in Schule<br />

und Familie, überfachliche Kompetenzen, Berufsbildungsentscheidungen.<br />

ser (Deutsch und Französisch), die Knaben lediglich in<br />

Mathematik. Markus Neuenschwander empfiehlt, ein<br />

Fach wie NMM, in dem beide Geschlechter in etwa gleich<br />

gut abschneiden, mit in die Evaluation einzubeziehen.<br />

Und schliesslich sei die Elternmitwirkung bei der Selektionsentscheidung<br />

auf das Recht auf Information zu reduzieren.<br />

Die eingeführte Leistungsprüfung bei Uneinigkeit<br />

zwischen Eltern und Lehrpersonen findet er fairer als das<br />

frühere Konsensverfahren. Es können aber auch Massnahmen<br />

auf der Unterrichtsebene ergriffen werden: «Die<br />

Erwartungen an die Kinder sollten fair und nicht durch<br />

Vorurteile verzerrt sein», sagt der Bildungsforscher. Gerade<br />

Migrantinnen und Migranten oder Kinder aus bildungsfernen<br />

Familien bräuchten besondere Ermutigung<br />

durch die Lehrkräfte.<br />

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