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ZESO_2-2017_ganz

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<strong>ZESO</strong><br />

ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE<br />

02/17<br />

INTERVIEW<br />

Jean-Michel Bonvin<br />

über den Zustand<br />

des Sozialstaats<br />

INTEGRATION<br />

Studie klärt die<br />

Wirksamkeit der<br />

Programme ab<br />

IN-LIMBO<br />

Asylbewerber nutzen<br />

die Wartezeit zum<br />

Lernen und Arbeiten<br />

ARBEITEN IM<br />

SOZIALDIENST<br />

Hohe Anforderungen und immer<br />

breitere Aufgabenpalette – wie<br />

lässt sich das bewältigen?


SKOS-WEITERBILDUNG<br />

Einführung in die öffentliche Sozialhilfe<br />

Montag, 11. September <strong>2017</strong>, 13 bis 18 Uhr, Hotel Arte in Olten<br />

In der Praxis stellen sich Fachleuten und Behördenmitgliedern komplexe Fragen. Rechtliches Wissen<br />

ist ebenso gefragt wie methodisches Handeln und Kenntnisse des Systems der sozialen Sicherheit.<br />

Die Weiterbildung der SKOS nimmt diese Themen auf und vermittelt Grundlagen zur Ausgestaltung der Sozialhilfe<br />

und zur Umsetzung der SKOS-Richtlinien, zu Verfahrensgrundsätzen und zum Prinzip der<br />

Subsidiarität. Insbesondere werden auch die Änderungen der aktuellen Richtlinienrevision erläutert.<br />

Die Veranstaltung richtet sich an Mitglieder von Sozialbehörden und an Fachleute und Sachbearbeitende von<br />

Sozialdiensten, die neu in der Sozialhilfe tätig sind oder ihr Fachwissen auffrischen wollen.<br />

Programm und Anmeldung: www.skos.ch Veranstaltungen


Ingrid Hess<br />

Verantwortliche Redaktorin<br />

EDITORIAL<br />

HOHE ANFORDERUNGEN MEISTERN<br />

DANK PROFESSIONALITÄT<br />

Lehrer und Lehrerin, Pfarrer oder Pfarrerin, Arzt bzw. Ärztin<br />

oder auch Schreiner und Schreinerin sind Berufe, die von mehrheitlich<br />

positiven Bildern geprägt sind. Bei den Sozialarbeitenden<br />

ist das anders. Sozialarbeitende stehen vor allem in der Sozialhilfe<br />

immer wieder im rauen Wind öffentlicher Debatten, die<br />

zuweilen heftig und weniger positiv und konstruktiv geführt<br />

werden. Gleichzeitig ist der Berufsalltag von Sozialarbeitern<br />

sehr anforderungsreich. Eine steigende Zahl von Klientinnen<br />

und Klienten ist zu betreuen, oft ohne zusätzliche Kapazitäten.<br />

Sozialdienste müssen die Einhaltung rechtlich-administrativer<br />

Anforderungen sicherstellen, die Berechtigung hieb- und stichfest<br />

klären und zusätzlich noch die psychosoziale Beratung<br />

oder Begleitung von Menschen in schwierigen Lebensphasen<br />

übernehmen. Auch KESB-Mandate, Betreuung von Demenzkranken<br />

können zum Aufgaben-Portfolio gehören . Dass Sozialarbeitende<br />

gegenüber ihrem Beruf dennoch mehrheitlich positiv<br />

eingestellt sind, ist keine Selbstverständlichkeit und zeugt<br />

von einer in der Regel hohen Professionalität (Seite 12).<br />

Erwartet wird von den Sozialdiensten auch, dass sie möglichst<br />

viele Sozialhilfebeziehende rasch wieder in den Arbeitsmarkt<br />

zurückführen. Das Mittel dazu ist seit etwa 30 Jahren die Aktivierung.<br />

Das Konzept brachte gewisse positive Resultate, aber<br />

nicht immer und nicht in jedem Fall, wie der Genfer Soziologe<br />

Jean-Michel Bonvin im Interview sagt (Seite 8). In Zukunft sollen<br />

verstärkt Grundkompetenzen vermittelt werden, um die Sozialhilfebeziehenden<br />

fitter für Ausbildung und Arbeitsmarkt zu<br />

machen (Seite 6).<br />

2/17 <strong>ZESO</strong><br />

1


SCHWERPUNKT<br />

Sozialarbeit in der<br />

Sozialhilfe<br />

Die Anforderungen an<br />

Sozialarbeitende, die in der<br />

Sozialhilfe arbeiten, sind<br />

hoch, die Aufgabenpalette<br />

gross: Lassen sich wirtschaftliche<br />

und persönliche<br />

Unterstützung unter<br />

einen Hut bringen?<br />

Nicht nur für den einzelnen Sozialarbeitenden,<br />

sondern für die Sozialhilfe insgesamt<br />

kann es herausfordernd sein, wirtschaftliche<br />

Hilfe und psychosoziale Beratung<br />

gleichermassen zu gewährleisten, wie die<br />

Beiträge des Schwerpunktes zeigen. Sie<br />

machen aber auch deutlich, dass neue<br />

Konzepte in Gang gebracht werden und<br />

Sozialdienstmitarbeitende trotz allem mit<br />

ihrem Beruf im Durchschnitt relativ zufrieden<br />

sind.<br />

12–23<br />

12–25<br />

14 22<br />

<strong>ZESO</strong><br />

ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE HERAUSGEBERIN Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS, www.skos.ch REDAKTIONSADRESSE<br />

Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS, Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch, Tel. 031 326 19 19<br />

© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin.<br />

Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />

ISSN 1422-0636 / 114. Jahrgang<br />

Erscheinungsdatum: 5. Juni <strong>2017</strong><br />

Die nächste Ausgabe erscheint im September <strong>2017</strong>.<br />

REDAKTION Ingrid Hess, Regine Gerber AUTORINNEN UND AUTOREN IN DIESER AUSGABE Jeremias Amstutz,<br />

Catherine Arber, Barbara Beringer, Heinrich Dubacher, Ruth Gurny, Véréna Keller, David Kieffer, Stephan Kirchschlager,<br />

Carlo Knöpfel, Sarah Madörin, Patricia Max, Karin Meier, Peter Neuenschwander, Thomas Oesch, Caroline<br />

Pulver, Jan G. Scheibe, Ueli Teckblenburg, Nicole Wagner, Susanne Wenger, Daniel Weyermann, Peter Zängl,<br />

TITELBILD Rudolf Steiner LAYOUT Marco Bernet, mbdesign Zürich KORREKTORAT Karin Meier DRUCK<br />

UND ABOVERWALTUNG Rub Media, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 PREISE<br />

Jahresabonnement CHF 82.– (SKOS-Mitglieder CHF 69.–), Jahresabonnement Ausland CHF 120.–, Einzelnummer<br />

CHF 25.–.<br />

2 <strong>ZESO</strong> 2/17


6<br />

8<br />

INHALT<br />

5 KOMMENTAR<br />

Menschen motivieren, ein erfülltes Leben<br />

zu führen – Kommentar von Nicole Wagner<br />

6 THEMA SOZIALHILFE<br />

Pilotprojekt Grundkompetenzen bringt<br />

positive Resultate<br />

8 INTERVIEW<br />

«Man kann mit der Aktivierung allein<br />

nicht alle Probleme lösen» , sagt Soziologe<br />

Jean-Michel Bonvin<br />

11 Praxis<br />

Ab welchem Zeitpunkt besteht Anspruch<br />

auf Unterstützung?<br />

12–25 SCHWERPUNKT<br />

SOZIALARBEIT IN DER SOZIALHILFE<br />

14 Wie steht es um die Sozialarbeit in der<br />

Sozialhilfe?<br />

16 Sozialhilfe – ein Arbeitsfeld mit hohen<br />

Qualifikationsanforderungen<br />

18 «Der Verwaltungsaufwand nimmt nach<br />

Meinung vieler zu grossen Raum ein».<br />

Nachgefragt bei Roger Pfiffner<br />

20 Psychosoziale Beratung in der Sozialhilfe<br />

in den Fokus rücken<br />

22 Die Praxis muss sich an der Ausbildung<br />

der künftigen Mitarbeitenden beteiligen<br />

24 Die Arbeit in den Sozialdiensten erfordert<br />

Fachwissen und Allrounder-Qualitäten –<br />

zwei Sozialarbeitende erzählen<br />

30<br />

32<br />

36<br />

26 INTEGRATIONSPROGRAMME<br />

Die Wirkung ist schwer zu messen – jetzt<br />

liegt ein validiertes Messinstrument vor<br />

28 FACHBEITRAG<br />

Sekundäre Folgen der Fachkräfteinitiative<br />

30 REPORTAGE<br />

Asylbewerber lernen und Arbeiten<br />

während der langen Wartezeit<br />

32 PLATTFORM<br />

Zivis sind beliebte Hilfskräfte im<br />

Sozialwesen<br />

33 FORUM<br />

Neuorientierung in der Sozialhilfe ist nötig<br />

34 LESETIPPS UND<br />

VERANSTALTUNGEN<br />

36 PORTRÄT CHRISTINE HUNZIKER<br />

Unterstützung für Jugendliche mit<br />

Schwierigkeiten in der Lehre<br />

2/17 <strong>ZESO</strong><br />

3


NACHRICHTEN<br />

Martin Klöti folgt Peter<br />

Gomm als SODK-Präsident<br />

Nach sechsjähriger engagierter Tätigkeit<br />

gibt Regierungsrat Peter Gomm (SP) aus Solothurn<br />

per Ende Juli sein Amt als Präsident<br />

der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen<br />

und Sozialdirektoren (SODK) ab. Unter<br />

seiner Ägide wurden die Richtlinien der<br />

Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe<br />

(SKOS) angepasst. Zu seinem Nachfolger<br />

hat die Plenarversammlung der SODK Martin<br />

Klöti (FDP) – zurzeit Regierungspräsident<br />

von St. Gallen – bestimmt. Martin Klöti<br />

steht seit seiner Wahl in die St.Galler Regierung<br />

im Jahr 2012 dem Departement des Innern<br />

vor. Er wird das Präsidium der SODK per<br />

1. August <strong>2017</strong> übernehmen. (Red.)<br />

Sieben Prozent Arme<br />

Im Jahr 2015 waren in der Schweiz rund<br />

570 000 Personen von Einkommensarmut<br />

betroffen. Darunter waren auch knapp<br />

145 000 erwerbstätige Personen. Zu den<br />

am stärksten betroffenen Gruppen zählten<br />

Personen, die alleine oder in Einelternhaushalten<br />

mit minderjährigen Kindern lebten,<br />

Personen ohne nachobligatorische Schulbildung<br />

und Personen in Haushalten ohne<br />

Erwerbstätige. Im Vergleich zum Vorjahr hat<br />

sich die Armutsquote kaum verändert. Dies<br />

geht aus der Erhebung über die Einkommen<br />

und Lebensbedingungen (SILC) des Bundesamtes<br />

für Statistik (BFS) hervor. Personen<br />

ab 65 Jahren wiesen ebenfalls eine<br />

überdurchschnittlich hohe Armutsquote<br />

auf (13,9%), insbesondere, wenn sie alleine<br />

lebten (22,8%). Nicht berücksichtigt hierbei<br />

ist die Vermögenssituation. (Red.)<br />

Kosten in der Sozialhilfe<br />

kaum gestiegen<br />

Die Ausgaben für die Sozialhilfe sind 2015<br />

nominal um 2,1 Prozent auf 2,6 Mrd. Franken<br />

gestiegen. Im Vorjahr hatte die Zunahme<br />

bei 5,5 Prozent gelegen. Die Zahl der<br />

unterstützten Personen nahm im gleichen<br />

Zeitraum um 1,4 Prozent zu, was somit teilweise<br />

den Kostenanstieg erklärt. Die Ausgaben<br />

pro Sozialhilfeempfänger blieben weitgehend<br />

stabil, sie stiegen lediglich um 0,7<br />

Prozent, wie aus der vom BFS publizierten<br />

Erhebung hervorgeht. Die Ausgaben für die<br />

Sozialhilfe machen von den Gesamtausgaben<br />

für Sozialleistungen von insgesamt<br />

157 Mrd. Fr. 1,6 Prozent aus. (Red.)<br />

Studierende der sozialen Arbeit üben<br />

mit virtuellen Klienten<br />

Seit dem Frühjahrssemester trainieren<br />

angehende Fachkräfte der Sozialen Arbeit<br />

an der Berner Fachhochschule BFH ihre<br />

Beratungskompetenzen in einer virtuellen<br />

Situation. Dozierende des Fachbereichs<br />

Soziale Arbeit haben das avatarbasierte<br />

Training als didaktisches Mittel entwickelt.<br />

Damit ist die BFH eine der ersten<br />

Schweizer Hochschulen, die Virtual Reality<br />

in der Lehre anwendet. Zusätzlich zu<br />

den herkömmlichen didaktischen Formen<br />

wie dem Rollenspiel probieren die Studierenden<br />

im virtuellen Training verschiedene<br />

Beratungstechniken aus und üben<br />

besondere Gesprächssituationen.<br />

Die Studierenden tragen hierzu eine<br />

Virtual-Reality-Brille und befinden sich<br />

während des Trainings beispielsweise in<br />

einem virtuellen Büro, in dem sie einen<br />

Klienten treffen. Sie lernen, heikle Themen<br />

anzusprechen oder Sanktionen auszusprechen<br />

und weitere wichtige Fertigkeiten.<br />

Die Trainings werden gefilmt. Die Studierenden<br />

können dank der Aufnahmen ihr<br />

Handeln reflektieren und durch wiederholtes<br />

Eintauchen in die virtuelle Situation<br />

Virtuelle Trainings mit der Brille. <br />

Berner Studie stellt Wirkung von<br />

Anreizen in Frage<br />

Die Berner Fachhochschule Soziale Arbeit<br />

hat im Mai im Auftrag der Berner Konferenz<br />

für Sozialhilfe, Kindes- und Erwachsenenschutz<br />

(BKSE) eine wissenschaftlich<br />

basierte Einschätzung der Wirkungen der<br />

geplanten höheren Anreizleistungen in<br />

der Sozialhilfe verfasst. Der Bericht zeigt,<br />

dass die Erwerbstätigkeit von Sozialhilfebeziehenden<br />

nur begrenzt mit finanziellen<br />

Anreizen erklärt und beeinflusst werden<br />

kann. Laut den Autoren existieren nur<br />

wenige Studien über die Wirkung von Anreizsystemen.<br />

Wo Ergebnisse vorliegen,<br />

weisen sie entweder keine oder nur eine<br />

geringe Wirkung nach. Die grosse Mehrheit<br />

der erwerbslosen Klienten bemühe<br />

sich um Arbeit und sei bereit, «prekäre Erwerbstätigkeiten<br />

in Kauf zu nehmen».<br />

Gemäss der Studie ist davon auszugehen,<br />

dass nur ressourcenstarke Sozialhilfe-<br />

Bild: BFH<br />

perfektionieren. Das Projektteam ist überzeugt,<br />

dass Virtual Reality als didaktisches<br />

Mittel ein praxisnahes Werkzeug darstellt<br />

und die herkömmlichen Trainingsformen<br />

sinnvoll ergänzt. (Red.)<br />

•<br />

beziehende von einem veränderten System<br />

mit reduziertem Grundbedarf und höheren<br />

Anreizleistungen (wie im Kanton Bern vorgeschlagen)<br />

profitieren und eine deutliche<br />

Mehrheit der Sozialhilfebeziehenden finanzielle<br />

Einbussen erleiden wird.<br />

Besonders betroffen wären neben älteren<br />

Sozialhilfebeziehenden über 50<br />

Jahre in erster Linie Kinder und Jugendliche<br />

unter 18 Jahren, welche die geplante<br />

Kürzung des Grundbedarfs stark zu spüren<br />

bekämen. Ob die Integrationszulage<br />

mittelfristig zu höherer Erwerbsbeteiligung<br />

führt, kann nicht belegt werden.<br />

Von höheren Einkommensfreibeträgen<br />

seien «bestenfalls kleine Effekte» zu erwarten.<br />

Ferner könne dessen Erhöhung<br />

zu weiteren Schwelleneffekten zwischen<br />

Sozialhilfe und Niedriglohnbereich führen.<br />

(Red.)<br />

•<br />

4 <strong>ZESO</strong> 2/17


KOMMENTAR<br />

Menschen motivieren, ein erfülltes Leben zu führen<br />

In der Literatur und Forschung wird der<br />

Begriff Aktivierung im Zusammenhang mit<br />

der aktivierenden Sozialhilfe und damit<br />

mit dem Paradigmenwechsel vom Fürsorgestaat<br />

zum aktivierenden Sozialstaat<br />

verwendet. Der Begriff wird zwar als gesellschaftliche<br />

Teilhabe häufig umfassend verstanden,<br />

faktisch aber in den Sozialdiensten<br />

auf Bemühungen zur Eingliederung in<br />

den Arbeitsmarkt reduziert. Das ergibt sich<br />

hauptsächlich aus der Absicht, Sozialhilfebeziehende<br />

ökonomisch unabhängig von<br />

Unterstützung zu machen.<br />

Diese Reduktion hat aber auch damit zu<br />

tun, dass eine staatliche Institution, wie<br />

es die Sozialhilfe ist, ihrer Klientel nicht<br />

direkt zu sozialer Integration im Sinne von<br />

Einbindung in soziale Netze oder zu sozialer<br />

Wertschätzung verhelfen kann. Somit steht<br />

die Frage im Raum, ob der sozialpolitische<br />

Fokus auf «Arbeit um jeden Preis» die Ausgrenzung<br />

von Menschen, die nicht erwerbstätig<br />

sind, tatsächlich verhindert.<br />

Der Gedanke, Menschen zu befähigen,<br />

wieder selbständig Verantwortung für sich<br />

und ihr Leben zu übernehmen, ist und<br />

bleibt in der Sozialhilfe eine der wichtigsten<br />

Maximen. Weil ihr Blickwinkel auf den<br />

Menschen aber sehr stark auf den ökonomischen<br />

Aspekt fokussiert und damit recht<br />

eng ist, sind Anreize wohl ein Instrument,<br />

doch damit lediglich ein eingeschränkter<br />

Bestandteil.<br />

Aktivierende Sozialhilfe, im umfassenden<br />

Sinne, wie sie in den Sozialdiensten angewendet<br />

werden möchte und sollte, bedingt<br />

aber entsprechende Ressourcen der Sozialdienste.<br />

Wenn man ihnen diese verweigert,<br />

dann kann eine wirkungsvolle Aktivierung<br />

und damit eine geglückte Integration nicht<br />

gewährleistet werden.<br />

Nebst den notwendigen Ressourcen ist zudem<br />

auch wichtig, dass das Integra tionsziel<br />

realistisch ist. Für einen Teil der Klientinnen<br />

und Klienten ist das Ziel der erste Arbeitsmarkt.<br />

Für andere, insbesondere Menschen<br />

mit Mehrfachproblematiken, ist dieses<br />

Ziel nicht realistisch. Hier geht es um das<br />

Stabilisieren der Situation.<br />

Damit eröffnet sich aber eine neue Problematik:<br />

Die dauerhafte Existenzsicherung<br />

von Menschen, die nicht mehr erwerbsfähig<br />

sein können und dennoch nicht krank<br />

(genug für die IV) sind, ist nicht kohärent<br />

geregelt. Faktisch übernimmt die Sozialhilfe<br />

diese Aufgabe mehr und mehr, aber sie<br />

hat keinen klaren konzeptionellen Umgang<br />

damit und die neue Rolle ist politisch auch<br />

nicht akzeptiert. Im System klafft eine<br />

Lücke. Der Gesundheitsbegriff ist gesellschaftlich<br />

definiert, der Arbeitsmarkt hat<br />

seine eigene Dynamik, und was weder in<br />

das Eine noch das Andere passt, hat keinen<br />

Namen und damit auch keinen Platz. Und<br />

schliesslich: Auch die beste Aktivierungspolitik<br />

kann keine Arbeitsplätze im ersten<br />

Arbeitsmarkt erzeugen. Hierzu steht auch<br />

die zentrale Frage im Raum: Kann eine<br />

staatliche Einrichtung einen Menschen<br />

überhaupt aktivieren, ihn veranlassen,<br />

etwas zu tun, was er ohne diesen Einfluss<br />

gar nicht tun würde?<br />

Wir wissen alle, um gesund zu werden,<br />

muss man gesund werden wollen. In der<br />

Sozialhilfe gilt das Gleiche: Wenn Klientinnen<br />

und Klienten nicht an eine für sie<br />

bessere Zukunft glauben, vermag auch der<br />

wohlmeinende Einfluss von Sozialarbeitenden<br />

nichts daran zu ändern.<br />

Als Fazit daraus würde ich den Begriff<br />

der Aktivierung gerne auf seinen ursprünglichen<br />

Sinn in der Sozialen Arbeit<br />

zurückführen: Menschen zu motivieren, für<br />

sich Verantwortung zu übernehmen, ihre<br />

Wirksamkeit zu erfahren, ein erfülltes Leben<br />

zu führen und damit die Grundidee zu<br />

verwirklichen, Menschen am gesellschaftlichen<br />

Leben teilhaben zu lassen.<br />

Nicole Wagner<br />

Leiterin Sozialhilfe Basel<br />

2/17 <strong>ZESO</strong><br />

5


Grundkompetenzen verbessern und<br />

Selbständigkeit zurückgewinnen<br />

SOZIALHILFE Viele Klientinnen und Klienten der Sozialhilfe haben<br />

Mühe, administrative Aufgaben selbständig zu erledigen. Mit<br />

neuartigen Pilotprojekten hat das Sozialamt der Stadt Bern<br />

untersucht, wie die Alltags- und Grundkompetenzen unterstützter<br />

Personen verbessert werden können. Die Auswertung der Projekte<br />

zeigt, dass der gewählte Erwachsenenbildungs-Ansatz Potenzial<br />

für die Sozialhilfe hat.<br />

Krankenkasse, Steuererklärung, Stipendienantrag<br />

– nicht wenige Menschen sind<br />

mit alltäglichen administrativen Aufgaben<br />

überfordert, so auch viele Sozialhilfebeziehende.<br />

Im Sozialdienst der Stadt Bern zeigt<br />

sich dies unter anderem am Beispiel Krankenkasse:<br />

Gut die Hälfte der Klientel hat<br />

ihre Krankenkassen-Geschäfte an den Sozialdienst<br />

abgetreten, da sie diese nicht<br />

selbst ändig führen kann. Bei der anderen<br />

Hälfte nimmt die Krankenkassen-Administration<br />

in der Beratung oft einen prominenten<br />

Platz ein – auf Kosten anderer, vielleicht<br />

wichtigerer Themen. Insgesamt bindet<br />

das Thema Krankenkasse im Sozialdienst<br />

zu viele Ressourcen.<br />

Vor diesem Hintergrund lancierte das<br />

Sozialamt der Stadt Bern ein Projekt zur<br />

Befähigung der Klientel im Bereich Alltagsadministration.<br />

Ziel war es, durch Erwachsenenbildungsangebote<br />

die Selbständigkeit<br />

der Klientel im administrativen<br />

Bereich zu erhöhen. Dadurch sollte einerseits<br />

das Selbstvertrauen der betroffenen<br />

Personen gefördert werden, andererseits<br />

erhoffte sich das Sozialamt Entlastungseffekte.<br />

Im Pilotprojekt stand das Thema<br />

Krankenkasse im Zentrum, längerfristig<br />

sind aber Kursangebote zu weiteren Themenbereichen<br />

angedacht.<br />

Unterschiedliche Bedürfnisse – zwei<br />

unterschiedliche Angebote<br />

Bei der Entwicklung und Durchführung<br />

der Kursangebote konnte mit der Volkshochschule<br />

Bern eine Partnerin gewonnen<br />

werden, die über viel Erfahrung in der Arbeit<br />

mit bildungsfernen Personen und in<br />

der Grundkompetenz-Förderung verfügt.<br />

Rasch wurde klar, dass für eine Befähigung<br />

im Bereich Krankenkasse unterschiedliche<br />

Zielgruppen mit unterschiedlichem<br />

Unterstützungsbedarf bestehen.<br />

Bei einem Teil der Betroffenen sind wohl<br />

fehlende Informationen über die Funktionsweise<br />

der Krankenkassenadministration<br />

der Hauptgrund für ihre Probleme<br />

mit der Krankenkasse. Bei einem anderen<br />

Teil der Betroffenen liegt der Hauptgrund<br />

hingegen vielmehr bei fehlenden Grundund<br />

Schlüsselkompetenzen. Vor diesem<br />

Hintergrund wurden für das Projekt zwei<br />

unterschiedliche Kursangebote entwickelt:<br />

Im Kurs «Krankenkasse kurz erklärt»<br />

(Dauer: 5 mal 2 Stunden) wurden das<br />

Grundwissen für die Krankenkassen-Administration<br />

sowie Strategien zur Bewältigung<br />

administrativer Arbeiten vermittelt.<br />

Die Gruppengrösse lag bei 12 Personen,<br />

für die Teilnahme war ein Sprachniveau<br />

B1 erforderlich.<br />

Im Kurs «Den Papierkram im Griff»<br />

(Dauer: 20 mal 2 Stunden) erhielten die<br />

Teilnehmenden neben Informationen<br />

über die Krankenkasse zusätzlich die Möglichkeit,<br />

ihre Grundkompetenzen zu verbessern.<br />

Die Gruppengrösse lag hier bei<br />

10 Personen, das erforderliche Sprachniveau<br />

bei A2.<br />

Während beim kürzeren Kurs ein eher<br />

klassischer Ansatz der Erwachsenenbildung<br />

zum Zug kam, wurde beim längeren<br />

Kurs auf die Arbeit mit der Lernplattform<br />

leap.ch gesetzt. Die Lernplattform macht<br />

es möglich, mit einer sehr heterogenen<br />

Gruppe zu arbeiten. Jede Person wählt auf<br />

der Lernplattform die für sie relevanten<br />

und interessanten Aufgaben und kann<br />

diese in ihrem eigenen Tempo bearbeiten.<br />

Da die Lernplattform online erreichbar ist,<br />

können die Teilnehmenden zudem auch<br />

ausserhalb des Kurses auf sie zugreifen<br />

und weiterarbeiten. Die Kursleitung hat<br />

dabei weniger eine vermittelnde als vielmehr<br />

eine begleitende Rolle. Sie stellt auf<br />

der Plattform Aufgaben zur Verfügung,<br />

führt die Teilnehmenden in die Lernplattform<br />

ein und begleitet sie dann bei ihrem<br />

Lernprozess. Die Förderung der Grundkompetenzen<br />

erfolgt dabei en passant: Die<br />

Teilnehmenden setzen sich vordergründig<br />

mit einem Thema – in unserem Fall Krankenkasse<br />

– auseinander. Die Arbeit auf der<br />

Lernplattform führt aber beiläufig zu einer<br />

ständigen Auseinandersetzung mit Sprache,<br />

Alltagsmathematik sowie Informations-<br />

und Kommunikationstechnologien.<br />

Gleichzeitig fördert die Arbeit mit der<br />

6 <strong>ZESO</strong> 2/17


Die Erledigung alltäglicher<br />

administrativer Aufgaben muss<br />

häufig vom Sozialdienst erledigt<br />

werden.<br />

Bild: Keystone<br />

Lernplattform ein strukturiertes Denken<br />

und Arbeiten.<br />

Positive Rückmeldungen von Teilnehmenden<br />

und Sozialarbeitenden<br />

Im Herbst 2016 konnten im Rahmen des<br />

Projekts je zwei Pilotkurse mit insgesamt<br />

46 Teilnehmenden durchgeführt werden.<br />

Rund zwei Drittel der Teilnehmenden waren<br />

weiblich, fast drei Viertel wiesen einen<br />

Migrationshintergrund auf. Insgesamt haben<br />

35 Personen (76%) die Kurse regelmässig<br />

besucht und abgeschlossen. Vier<br />

Personen (9%) haben den Kurs nicht angetreten,<br />

sieben Personen (15%) haben den<br />

Kurs abgebrochen.<br />

Die Evaluation ergab eine hohe Zufriedenheit<br />

der Teilnehmenden mit den<br />

Kursen und der Kursleitung. Die grosse<br />

Mehrheit der Befragten gab an, dass sie<br />

gerne im Kurs war und sich nach dem<br />

Kurs bei der Krankenkassen-Administration<br />

sicherer fühlt. Auch seitens der<br />

Sozialarbeitenden erhielt das Projekt viel<br />

Zuspruch. Dass mit der Krankenkassen-<br />

Administration ein drängendes Problem<br />

aus ihrem Arbeitsalltag aufgenommen<br />

und gezielt zusätzliche Ressourcen in die<br />

Förderung der Klientel investiert wurden,<br />

wurde sehr positiv aufgenommen.<br />

Für Aussagen über die Wirkung des<br />

Projekts auf die Selbständigkeit der Klientel<br />

und allfällige Entlastungseffekte ist es<br />

noch zu früh. Aus dem Projekt können aber<br />

bereits folgende Schlüsse gezogen werden:<br />

• Beide Kursangebote haben sich bewährt,<br />

insbesondere auch der innovative<br />

Ansatz mit der Lernplattform. Die<br />

Teilnehmenden gaben grösstenteils<br />

positive Rückmeldungen zu dieser Me-<br />

thodik und würden die Arbeit an den<br />

Kursthemen gerne fortsetzen. Auch die<br />

lange Dauer von 40 Stunden war für<br />

die weiterbildungsferne Zielgruppe zu<br />

bewältigen.<br />

• Erwachsenenbildungsangebote sind<br />

eine wertvolle Ergänzung der Arbeit<br />

des Sozialdiensts. Der intensive gemeinsame<br />

Lernprozess und der Setting-<br />

Wechsel ermöglichen der Kursleitung<br />

einen anderen Zugang zur Klientel, was<br />

neue Impulse geben kann.<br />

• Die Zusammenarbeit mit einer externen<br />

Bildungspartnerin hat sich sehr bewährt<br />

– nicht zuletzt, weil die Angebote<br />

dadurch losgelöst waren vom oft negativ<br />

behafteten Kontext der wirtschaftlichen<br />

Sozialhilfe.<br />

• Die Möglichkeiten des Ansatzes werden<br />

durch die Sprachkenntnisse begrenzt:<br />

Ein Teil der Klientel des Sozialdiensts<br />

konnte mit den Angeboten trotz Förderbedarf<br />

nicht erreicht werden, da<br />

er nicht über das nötige Sprachniveau<br />

verfügte. Gleichzeitig stellen gerade Migrantinnen<br />

und Migranten die Hauptzielgruppe<br />

für solche Angebote dar.<br />

Insgesamt sind die Erfahrungen mit<br />

den Pilotangeboten sehr positiv. Das Sozialamt<br />

der Stadt Bern hat aus diesem<br />

Grund beschlossen, die Angebote in ein<br />

Regelangebot überzuführen und den Aufbau<br />

von Kursen zu zusätzlichen Themen<br />

zu prüfen.<br />

•<br />

David Kieffer<br />

Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter<br />

Sozialamt der Stadt Bern<br />

2/17 <strong>ZESO</strong><br />

7


«Man kann mit der Aktivierung allein<br />

nicht alle Probleme lösen»<br />

INTERVIEW Aktivierung und Bildungsprogramme sind Strategien für eine möglichst rasche Rückkehr<br />

von Sozialhilfebeziehenden in den Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Selbständigkeit. Jean-Michel<br />

Bonvin, Soziologe an der Universität Genf, fordert auch Massnahmen im Arbeitsmarkt.<br />

«<strong>ZESO</strong>»: Herr Bonvin, viel ist in den<br />

letzten Monaten die Rede vom Ende<br />

des Sozialstaats angesichts von Schuldenkrise,<br />

Alterung der Gesellschaft<br />

und Strukturwandel im Arbeitsmarkt<br />

– Wie strapazierfähig ist die soziale<br />

Kohäsion?<br />

Jean-Michel Bonvin: Ich denke nicht,<br />

dass der Sozialstaat wirklich gefährdet ist.<br />

Diese Entwicklungen – die Alterung der<br />

Gesellschaft, die Schwächung der Familienstruktur,<br />

die sich in der zunehmenden<br />

Zahl an Einelternfamilien zeigt, der Strukturwandel<br />

und die damit verbundenen<br />

neuen sozialen Risiken – zeigen im Gegenteil<br />

sehr deutlich, dass es nötig ist, den<br />

Sozialstaat zu erhalten. Gleichzeitig zwingen<br />

uns die unter Spardruck stehenden öffentlichen<br />

Finanzen, die Kosten des Sozialstaats<br />

stabil zu halten. Die Finanzierung<br />

des Sozialstaats stellt vor diesem Hintergrund<br />

natürlich langfristig eine wichtige<br />

Herausforderung dar.<br />

Vor allem für die gesellschaftliche Solidarität.<br />

Nimmt die Solidarität in der<br />

Gesellschaft ab?<br />

Es gibt zahlreiche Signale, die darauf<br />

hindeuten, dass das Gefühl der Solidarität<br />

bei vielen Menschen im Moment abnimmt.<br />

Es handelt sich aber nur um Signale<br />

und keine objektiven Grössen. Ein<br />

Beispiel ist die zunehmende Intensität, mit<br />

welcher die Debatte über den Missbrauch<br />

von Sozialleistungen geführt wird. Sie<br />

nährt das Vorurteil vom Sozialhilfeempfänger<br />

als faulem Menschen, der sich weigert<br />

zu arbeiten, und damit von der Grosszügigkeit<br />

der Allgemeinheit profitiert. Die<br />

Debatte über den Sozialhilfe-Missbrauch<br />

verbreitet die Auffassung, dass die arbeitende<br />

Bevölkerung bezahlen muss, während<br />

andere profitieren. Sie trägt auf diese<br />

Art dazu bei, dass die gesellschaftliche Solidarität<br />

in Frage gestellt wird. Es kommt<br />

hinzu, dass der Sozialhilfemissbrauch für<br />

die steigenden Kosten verantwortlich gemacht<br />

wird. In einem solchen Klima sucht<br />

man nach Schuldigen und findet diese in<br />

den Menschen, die sich angeblich nicht<br />

genügend anstrengen, um wieder alleine<br />

zurechtzukommen.<br />

Hat der Missbrauch real zugenommen?<br />

Die Zahlen, die uns zur Verfügung stehen,<br />

enthalten keine Hinweise, dass der<br />

Sozialhilfebetrug oder -missbrauch zugenommen<br />

hätte. Hingegen wurden die<br />

Bedingungen für den Bezug von Sozialleistungen<br />

erheblich verschärft. Wenn also jemand<br />

die jetzt deutlich strengeren Anforderungen<br />

nicht vollumfänglich erfüllt, ist<br />

schnell einmal von Missbrauch die Rede.<br />

Man kann von daher nicht sagen, dass sich<br />

die Mentalität der heutigen Sozialhilfeempfänger<br />

verschlechtert hat. Tatsache ist<br />

vielmehr, dass sie deutlich mehr Bedingungen<br />

erfüllen müssen.<br />

In der Öffentlichkeit ist die Meinung<br />

weit verbreitet, dass wer keine Arbeit<br />

hat, selbst schuld ist. Kann unser<br />

Arbeitsmarkt theoretisch allen Arbeit<br />

geben?<br />

Der Sozialstaat wurde während der<br />

Jahre des Wirtschaftswunders 1945 bis<br />

1973 massgeblich entwickelt. In einer<br />

Zeit also, in der es kaum Arbeitslosigkeit<br />

oder Menschen gab, die auf Sozialhilfe<br />

oder Leistungen der Invalidenversicherung<br />

angewiesen waren. Die grosse Veränderung<br />

kam dann in den meisten Staaten<br />

in den 70er Jahren mit dem Ende der<br />

Vollbeschäftigung. In Europa stiegen die<br />

Arbeitslosenzahlen plötzlich sehr stark an<br />

– in der Schweiz jedoch erst in den 90er<br />

Jahren. Dies hatte zur Folge, dass sich die<br />

Zahl der auf Leistungen des Sozialstaats<br />

angewiesenen Menschen ebenfalls stark<br />

erhöhte. Paradox daran ist, dass genau in<br />

dem Moment, als die Vollbeschäftigung<br />

nicht mehr garantiert war und die Arbeitslosigkeit<br />

anstieg, der Vorwurf des Missbrauchs<br />

laut wurde. In dem Moment also,<br />

in dem es viel schwieriger geworden war,<br />

eine Arbeit zu finden, wurden die Betroffenen<br />

beschuldigt, faul zu sein und den<br />

Sozialstaat zu missbrauchen.<br />

In der Konsequenz versuchte man mit<br />

Anreizen und Auflagen, mit Fördern<br />

und Fordern, Sozialhilfebeziehende<br />

möglichst rasch wieder in den Arbeitsmarkt<br />

zurückzuführen – wie beurteilen<br />

Sie vor diesem Hintergrund das<br />

Konzept der Aktivierung?<br />

Viele Studien zeigen deutlich, dass die<br />

Aktivierung durchaus erfolgreich war, aber<br />

sie konnte die Ursache des Problems nicht<br />

beseitigen: den Mangel an Arbeitsplätzen.<br />

Vor dem Hintergrund der Abwesenheit<br />

jeglicher staatlicher Massnahmen zur konkreten<br />

Schaffung von Arbeitsplätzen fokussierte<br />

man sich also auf die Arbeitslosen,<br />

Sozialhilfeempfänger, IV-Bezüger und so<br />

weiter und versuchte sie möglichst rasch zu<br />

befähigen, sich wieder in den Arbeitsmarkt<br />

zu integrieren. Das ist wichtig und auch<br />

wirksam. Wenn man sich jedoch darauf<br />

beschränkt, dann wird man dem Problem<br />

nicht gerecht. Denn die Wurzel des Problems<br />

liegt nicht nur beim Angebot – also<br />

den Arbeitsuchenden – sondern auch bei<br />

der Nachfrage – dem Arbeitsmarkt. Wenn<br />

eine Warteschlange von Arbeitssuchenden<br />

existiert und manche von ihnen Weiterbildungsprogramme<br />

absolvieren, dann<br />

rücken sie in der Warteschlange nach vorn<br />

und finden vielleicht schneller eine Stelle,<br />

doch die Länge der Warteschlang bleibt<br />

unverändert, weil ja die Zahl der Arbeitsplätze<br />

nicht wächst. Man ermöglicht also<br />

die Verbesserung individueller Problemlagen,<br />

löst aber das strukturelle Problem<br />

8 <strong>ZESO</strong> 2/17


nicht. In der Schweiz ist das Modell der<br />

Aktivierung dennoch etwas erfolgreicher<br />

als in anderen europäischen Ländern, da<br />

der Arbeitsmarkt hier sehr dynamisch ist<br />

und die Arbeitslosigkeit tief.<br />

Der Spardruck im Sozialwesen und<br />

damit auch im Bereich der Sozialhilfe<br />

wird in jedem Fall weiter steigen. Für<br />

die Sozialämter bedeutet das, sie müssen<br />

möglichst viele aus der Abhängigkeit<br />

von der Sozialhilfe führen. Was<br />

bleibt also zu tun?<br />

Es ist natürlich wichtig, diese Menschen<br />

auszubilden und in den Arbeitsmarkt<br />

zurückzubringen, das ist völlig<br />

unbestritten. Aber man muss auch bei<br />

der Nachfrage ansetzen. Ich erachte es im<br />

Übrigen als problematisch, diese Menschen<br />

zu zwingen, irgendeinen Job anzunehmen,<br />

nur um die Sozialhilfekosten<br />

zu dämpfen. Es ist umso fragwürdiger,<br />

als diese Menschen Gefahr laufen, rasch<br />

wieder arbeitslos zu werden und damit<br />

zudem das Entstehen von prekären Arbeitsplätzen<br />

gefördert wird. Man kann<br />

<br />

«Es gibt zahlreiche<br />

Signale, die darauf<br />

hindeuten, dass das<br />

Gefühl der Solidarität<br />

bei vielen Menschen<br />

im Moment<br />

abnimmt.»<br />

mit der Aktivierung allein nicht alle Probleme<br />

lösen. Die aktuelle Politik verfolgt<br />

in erster Linie das Ziel zu verhindern,<br />

dass es immer dieselben sind, die von der<br />

Arbeitswelt ausgeschlossen bleiben. Insgesamt<br />

sind etwa 12 bis 15 Prozent der<br />

Schweizer Bevölkerung nicht in den Arbeitsmarkt<br />

integriert. Sie werden von der<br />

ALV, IV oder Sozialhilfe unterstützt. Diese<br />

12 bis 15 Prozent, davon ist auszugehen,<br />

Bilder: Magali Girardin<br />

lassen sich allein mit den Massnahmen<br />

und Strategien der Aktivierung auf der<br />

Angebotsebene nicht reduzieren.<br />

Die Aktivierung ist also für den Einzelnen<br />

effektiv, aber nicht für die öffentlichen<br />

Finanzen?<br />

Es ist schwer zu sagen, ob sich die Aktivierung<br />

für die Allgemeinheit auszahlt<br />

oder nicht. Das sind komplexe Rechnungen.<br />

Sicherlich hat die symbolische<br />

Dimension der Aktivierung einen starken<br />

präventiven Effekt. Jeder weiss, wenn er<br />

Sozialhilfe beziehen will, muss er viel dafür<br />

tun. In diesem Sinne wirkt die Strategie<br />

der Aktivierung und ist, was die Kontrolle<br />

der Kostenentwicklung angeht, sicher<br />

wirksam. Dennoch gibt es Personen, die<br />

aus den verschiedensten Gründen kaum<br />

eine Chance haben, auf dem Arbeitsmarkt<br />

eine Stelle zu finden. Für diese Leute genügen<br />

die Massnahmen der Aktivierung<br />

nicht. Hier sind andere Lösungen gefragt.<br />

Es ist wichtig, dass der erste Arbeitsmarkt<br />

auch für die Bereitstellung geeigneter Arbeitsplätze<br />

vorbereitet ist. <br />

2/17 <strong>ZESO</strong><br />

9


Aber was müsste geschehen, damit der<br />

Arbeitsmarkt geeignete Arbeitsplätze<br />

bereitstellt?<br />

Das ist wohl die schwierigste Aufgabe.<br />

Der wettbewerbsorientierte Arbeitsmarkt<br />

bietet keinen Platz für alle. Wie sollen also<br />

diejenigen integriert werden, die nicht den<br />

gängigen Produktivitätskriterien eines globalisierten<br />

kompetitiven Marktes entsprechen?<br />

Man könnte sich mehrere Lösungen<br />

vorstellen. Man könnte versuchen, die Logik<br />

des Wettbewerbs im Arbeitsmarkt zu<br />

beeinflussen, indem man Unternehmen<br />

unterstützt, deren Ziele sich nicht allein<br />

nach Profitkriterien richten; eine weitere<br />

Möglichkeit wäre die Schaffung von nachhaltigen<br />

Arbeitsplätzen im sogenannten<br />

zweiten Arbeitsmarkt, der den sozialen<br />

Aspekten mehr Raum gibt; oder aber geschützte<br />

Strukturen auf Verbands- oder<br />

halbstaatlicher Ebene. Diese Arbeit müsste<br />

aber bezahlt sein, um eine Stigmatisierung<br />

zu vermeiden. Es gäbe also viele Optionen.<br />

Es handelt sich dabei nicht um Arbeit, die<br />

den gängigen Marktkriterien zuwiderläuft<br />

,sondern diese ergänzt. Deshalb muss<br />

diese komplementäre Arbeit auch nach<br />

denselben Ansätzen bewertet werden, wie<br />

die anderen Stellen auch.<br />

Der Hauptfokus liegt im Moment auf<br />

der Ausbildung. Mit Bildungsprogrammen<br />

sollen Bildungsdefizite von<br />

Langzeitarbeitslosen behoben werden.<br />

Kann die Bildung alle Probleme lösen?<br />

Das Problem ist die Qualität der Ausbildung.<br />

Wenn man die Leute nur einige<br />

Tage oder Wochen ausbildet, lernen<br />

sie auf diese Art vielleicht ein Motivationsschreiben<br />

oder einen Lebenslauf zu<br />

verfassen. Das ist sinnvoll und kann für<br />

Stellenlose, die bereits über eine gute Ausbildung<br />

verfügen, hilfreich sein. Doch für<br />

diejenigen, die keine Ausbildung haben,<br />

die vielleicht die Schule abgebrochen haben<br />

oder die das Lernen grundsätzlich<br />

ablehnen, sind Programme von derart<br />

kurzer Dauer nicht genug.<br />

Lange dauernde Arbeitslosigkeit, Armut<br />

und in der Folge Abhängigkeit von<br />

der Sozialhilfe gehen häufig einher<br />

mit einer fehlenden Berufsbildung.<br />

Wie kann man diese Defizite auch spät<br />

noch beheben?<br />

Es gibt drei zentrale Voraussetzungen<br />

für eine erfolgreiche Bildungslaufbahn:<br />

die Fähigkeit zu lernen sowie den Willen<br />

JEAN-MICHEL BONVIN<br />

Jean-Michel Bonvin ist Professor für Soziologie<br />

und Sozialpolitik am Institut für Demographie<br />

und Sozioökonomie an der Universität Genf.<br />

Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören<br />

der Wandel in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik<br />

sowie Innovationen in Organisationen des<br />

öffentlichen Sektors. Bonvin leitet derzeit den<br />

Schwerpunkt «welfare boundaries» im NCCR<br />

LIVES, einem Forschungsprogramm des Schweizerischen<br />

Nationalfonds, in dem es um prekäre<br />

Lebensverläufe und Vulnerabilität geht.<br />

und auch die Möglichkeit zu lernen. Es<br />

sind also drei Stufen von Massnahmen<br />

nötig. Zunächst muss das Basiswissen vermittelt<br />

werden, die Grundvoraussetzung<br />

für jede Berufsausbildung. Dann gilt es<br />

bei den Betroffenen die Freude am Lernen<br />

zu wecken, am besten mithilfe von wenig<br />

schulischen Ausbildungsformen, die viele<br />

Sozialhilfeempfänger abschrecken. Und<br />

schliesslich müssen die Rahmenbedingungen<br />

geschaffen werden, indem dafür<br />

gesorgt wird, dass der Betroffene über Zeit<br />

und finanzielle Ressourcen verfügt. Spät<br />

noch eine Lehre zu beginnen, bedeutet beispielsweise<br />

häufig zunächst mal einen im<br />

Vergleich mit der Sozialhilfe erheblichen<br />

Einkommensverlust. Mit einem Lehrlingsgehalt<br />

kann man keine Familie ernähren.<br />

Welche Massnahmen schlagen Sie vor?<br />

Das Programm Forjad zum Beispiel im<br />

Kanton Waadt. Es kommt diesem Ideal mit<br />

der Massnahme Scenic Adventure meiner<br />

Meinung nach am nächsten. In Genf entspricht<br />

das Programm «Scène active» der-<br />

selben Logik. Beide Programme unterstützen<br />

Jugendliche mit einer abgebrochenen<br />

Schullaufbahn, die in hohem Masse gefährdet<br />

sind. Es gilt diese dort abzuholen,<br />

wo sie stehen, ihnen die Freude an der Bildung<br />

zu vermitteln oder ihnen zu helfen,<br />

eine Vision von der Zukunft zu entwickeln.<br />

Jeder hat Freude sich zu bilden, aber nicht<br />

jeder schafft das in einem schulischen Umfeld.<br />

In Genf haben die Jugendlichen acht<br />

Monate lang an einem Theaterstück gearbeitet,<br />

das sie selbst kreiert haben, und es<br />

dann vor mehreren hundert Zuschauern<br />

aufgeführt. Das war eine wichtige Erfahrung,<br />

die in ihnen die Freude geweckt hat,<br />

etwas zu schaffen. Andere etwas konventionellere<br />

Programme zur Vorbereitung auf<br />

eine Lehre liefern ebenfalls sehr ermutigende<br />

Resultate. Dennoch bleibt das Problem<br />

der Nachfrage. Alle diese Programme<br />

haben zum Ziel, das Vertrauen der Betroffenen<br />

in ihre berufliche Zukunft, ihre<br />

Kompetenzen zu stärken, um damit ihre<br />

Attraktivität für potenzielle Arbeitgeber zu<br />

erhöhen. Alle diese Aktivitäten konzentrieren<br />

sich auf die Angebotsseite, die Arbeitnehmer.<br />

Aber nichts garantiert, dass die<br />

Nachfrage nach Arbeitskräften dem folgen<br />

wird, dass es Lehrstellen und Arbeitsplätze<br />

für diese Personen geben wird. Man muss<br />

daher auch auf der Nachfrageseite ansetzen,<br />

was natürlich nicht allein in der Kompetenz<br />

der Sozialdienste liegen kann.<br />

In Europa wird jetzt viel über Sozialinvestitionen<br />

diskutiert. Was bedeuten<br />

diese?<br />

Das Ziel von Sozialinvestitionen ist es,<br />

das produktive Potenzial aller im Sinne des<br />

kollektiven wirtschaftlichen Wohlstands zu<br />

erhöhen. Es geht daher darum, die Stellensuchenden<br />

besser zu qualifizieren und<br />

zwar mit Hilfe von langfristigen Massnahmen,<br />

also beispielsweise mit einer Lehre,<br />

dank der sich Betroffene neue Kompetenzen<br />

aneignen. Diese Strategie verfolgt<br />

eine ehrgeizige Vision der Aktivierung via<br />

die Entwicklung des Humankapitals und<br />

der Bildung. Doch es bleibt auch hier unklar:<br />

Wie kann sichergestellt werden, dass<br />

quantitativ und qualitativ ausreichend Arbeitsplätze<br />

auch für die Schwächsten und<br />

weniger Wettbewerbsfähigen existieren?<br />

Dies, so scheint mir, bleibt die derzeit<br />

wichtigste Herausforderung. •<br />

Das Gespräch führte<br />

Ingrid Hess<br />

10 <strong>ZESO</strong> 2/17


Ab welchem Zeitpunkt besteht<br />

Anspruch auf Unterstützung?<br />

PRAXIS Zwischen der Anmeldung von Frau Meisterhans auf dem Sozialdienst und dem<br />

Leistungsentscheid vergehen drei Wochen. Der Anspruch auf Unterstützung besteht rückwirkend ab<br />

dem Zeitpunkt der erstmaligen Vorsprache. Verfügt die Klientin nicht über genügend Mittel, um die<br />

Zeit bis zum Entscheid zu überbrücken, muss eine angemessene Hilfe geleistet werden.<br />

FRAGE<br />

Frau Meisterhans meldet sich am 15. September<br />

beim Sozialdienst, weil sie Ende Juli<br />

ihre Stelle verloren hat. Die Anspruchsklärung<br />

der Arbeitslosenversicherung wird<br />

einige Zeit in Anspruch nehmen. Die Septembermiete<br />

konnte sie gerade noch bezahlen,<br />

nun verfügt sie aber über keine Ersparnisse<br />

mehr. Deshalb ist sie bis zum<br />

Entscheid der Arbeitslosenversicherung<br />

auf Sozialhilfe angewiesen. Sie hat sich relativ<br />

spät gemeldet, weil sie bis dahin gehofft<br />

hatte, eine neue Stelle zu finden.<br />

Zwischen der Anmeldung von Frau<br />

Meisterhans auf dem Sozialdienst am 15.<br />

September und dem Leistungsentscheid<br />

der Behörde verstreichen drei Wochen.<br />

Ab welchem Datum besteht ein Anspruch<br />

auf Sozialhilfe und wie erfolgt die Berechnung?<br />

Muss für die Zeit zwischen Anmeldung<br />

und Leistungsentscheid allenfalls<br />

überbrückende Hilfe geleistet werden?<br />

PRAXIS<br />

In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />

der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />

und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />

Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />

Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />

(einloggen) SKOS-Line.<br />

GRUNDLAGEN<br />

Jeder Mensch, der seine Existenz nicht<br />

rechtzeitig oder hinreichend aus eigener<br />

Kraft sichern kann, hat Anspruch auf Sicherung<br />

einer menschenwürdigen Existenz<br />

und Hilfe in Notlagen durch den<br />

Staat. Dieser Anspruch wird im Kerngehalt<br />

durch Art. 12 der Bundesverfassung<br />

garantiert. Darüber hinaus garantieren die<br />

Kantone ihrer Bevölkerung ein soziales<br />

Existenzminimum in Form von Sozialhilfe.<br />

Für diese wird regelmässig explizit festgehalten,<br />

dass sie rechtzeitig erfolgen<br />

muss.<br />

Zum Grundsatz der Rechtzeitigkeit gehört,<br />

dass unaufschiebbare wirtschaftliche<br />

Hilfe in dringenden Fällen sofort geleistet<br />

werden muss. Unter Umständen besteht<br />

bereits ein Unterstützungsanspruch, wenn<br />

die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse<br />

noch nicht vollständig abgeklärt<br />

sind, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

ein Sozialhilfeanspruch besteht.<br />

Die Organisation der Sozialhilfe in einer<br />

Gemeinde darf nicht dazu führen, dass<br />

notwendige Unterstützung aus formalen<br />

beziehungsweise terminlichen Gründen<br />

nicht rechtzeitig geleistet werden kann.<br />

Entsprechend muss das Verfahren so organisiert<br />

sein, dass die erforderliche Hilfe<br />

rechtzeitig festgesetzt und ausgerichtet<br />

werden kann. Die Gemeinden sind beispielsweise<br />

angehalten, die Entscheidungskompetenz<br />

für Notfälle an den Sozialdienst<br />

zu delegieren.<br />

Ein Gesuch um Sozialhilfe kann in den<br />

meisten Kantonen auch mündlich anhängig<br />

gemacht werden, womit das Verfahren<br />

eingeleitet wird. Kommt die antragstellende<br />

Person danach ihrer Mitwirkungspflicht<br />

nach, besteht ein Anspruch auf<br />

Unterstützung rückwirkend ab dem Zeitpunkt<br />

der erstmaligen Vorsprache. Dies<br />

gilt auch dann, wenn sich die Beschaffung<br />

der notwendigen Unterlagen aus nachvollziehbaren<br />

Gründen verzögert.<br />

Gemäss SKOS-Richtlinien, Kapitel<br />

A.6-2, sind Haushalte unterstützungsbedürftig,<br />

wenn das monatliche Nettoeinkommen<br />

für den Lebensunterhalt nicht<br />

ausreicht. In der Regel werden in der Sozialhilfe<br />

die Einnahmen des Vormonats den<br />

anrechenbaren Ausgaben des laufenden<br />

Monats gegenübergestellt. Dieser Grundsatz<br />

gilt auch bei Neuaufnahmen und zwar<br />

unabhängig davon, ob ein Antrag zu Beginn<br />

oder zum Ende eines Monats gestellt<br />

wird.<br />

ANTWORT<br />

Der Anspruch auf Ausrichtung von Sozialhilfe<br />

besteht grundsätzlich ab dem Zeitpunkt<br />

der Einreichung eines Gesuchs um<br />

wirtschaftliche Unterstützung. Im Fall von<br />

Frau Meisterhans ist dies der 15. September.<br />

Es besteht dabei kein Grund bei der<br />

Anspruchsberechnung von einer Monatsbetrachtung<br />

abzuweichen. Sofern sich eine<br />

Unterstützungsbedürftigkeit als gegeben<br />

erweist, muss der Lebensbedarf von Frau<br />

Meisterhans für den <strong>ganz</strong>en Monat September<br />

gesichert werden.<br />

Der Anspruch besteht rückwirkend<br />

auch in jenen Fällen, in denen zur Prüfung<br />

des Gesuchs von der Klientin noch<br />

zusätzliche Unterlagen erforderlich sind<br />

oder sich ein Unterstützungsentscheid aus<br />

anderen Gründen verzögert. Sollte Frau<br />

Meisterhans über keinerlei finanzielle<br />

Mittel oder Naturalien mehr verfügen, um<br />

die Zeit bis zum Unterstützungsentscheid<br />

beziehungsweise zur ersten Auszahlung<br />

zu überbrücken, muss bis zu diesem Zeitpunkt<br />

eine angemessene Hilfe geleistet<br />

werden.<br />

•<br />

Heinrich Dubacher und Patricia Max<br />

Kommission Richtlinien und Praxis der SKOS<br />

2/17 <strong>ZESO</strong><br />

11


12 <strong>ZESO</strong> 2/17 SCHWERPUNKT<br />

Bild: Rudolf Steiner


Wie steht es um die Sozialarbeit<br />

in der Sozialhilfe?<br />

Sozialhilfe wird nicht ausschliesslich von Sozialarbeitenden geleistet. Dennoch hat die Sozialarbeit<br />

heute in der Sozialhilfe eine grössere Rolle als früher. Die Trennung von wirtschaftlicher Hilfe und<br />

persönlicher Unterstützung, die vielerorts im Gang ist, könnte die Chance bieten, dass sich die<br />

Sozialarbeit auf freiwillige Beratung konzentrieren kann.<br />

Kann man heute in der Sozialhilfe noch Sozialarbeit leisten oder<br />

dominieren die materiellen und administrativen Aspekte? Es ist interessant,<br />

dass die Frage oft so gestellt wird: sie impliziert, dass<br />

«früher» «richtige» Sozialarbeit praktiziert wurde und dass materielle<br />

und administrative Aspekte nicht dazu gehören. Diese Sichtweise<br />

entspricht nicht den Tatsachen. Der Bereich Sozialhilfe ist<br />

hoch dynamisch und die Sozialarbeit ist vielleicht gerade und erstmalig<br />

dabei, in diesem Bereich einen gebührenden Platz zu erlangen.<br />

Sozialarbeit, ein junger, nicht geschützter Beruf<br />

Was heute als Sozialarbeit bezeichnet wird, ist in vielen Ländern<br />

des industrialisierten Nordens seit Anfang des 20. Jahrhunderts<br />

entstanden. In der Schweiz hat sich Sozialarbeit ab den 1950er-<br />

Jahren im Zuge der Entwicklung des Sozialwesens langsam als Beruf<br />

durchgesetzt. Die entsprechenden Ausbildungen sind allerdings<br />

erst seit rund 20 Jahren bundesweit systematisiert und<br />

anerkannt, dies insbesondere im Kontext der neugeschaffenen<br />

Fachhochschulen. So ist Sozialarbeit ein noch junger Beruf, dessen<br />

Ausübung aber − im Gegensatz zu verwandten Berufen wie der<br />

Pflege, der Psychologie oder des Lehramts − nicht reglementiert<br />

ist. So können Personen ohne entsprechende Ausbildung als Sozialarbeitende<br />

angestellt werden, und es sind deren viele: Nur rund<br />

die Hälfte der in der Sozialen Arbeit Tätigen verfügen über eine<br />

entsprechende Ausbildung. Dieser Zustand ist nicht neu und kann<br />

nicht mit den aktuellen Sparprogrammen erklärt werden. Er ist<br />

hochproblematisch: Wie soll man denn Sozialarbeit ohne Sozialarbeitende<br />

leisten können? AvenirSocial, der Berufsverband der<br />

Fachpersonen der Sozialen Arbeit, lanciert deshalb ab Sommer<br />

<strong>2017</strong> die nationale Kampagne «Eine Ausbildung in Sozialer Arbeit<br />

bürgt für Qualität» und fordert 100 Prozent in Sozialer Arbeit<br />

ausgebildetes Fachpersonal.<br />

Sozialarbeit hat viele Formen und verschiedenste Aufgabenbereiche,<br />

die sich in zahlreichen organisationalen und politischen<br />

Kontexten stetig verändern. Es gibt nicht die eine Sozialarbeit.<br />

Was heute als Sozialarbeit gilt, war gestern vielleicht Aufgabe der<br />

Polizei und kann morgen vom Gesundheits- oder Bildungsbereich<br />

übernommen werden. Insofern ist jeder Bezug auf «wirkliche Sozialarbeit»<br />

problematisch und idealisierend. Ausserdem gehören<br />

materielle, wirtschaftliche und administrative Hilfen seit ihren ersten<br />

Anfängen zur Sozialarbeit. Sie werden heute zu oft abgewertet.<br />

Sozialarbeit war und ist zudem immer vielschichtig. Sie erfüllt gegensätzliche<br />

Mandate von Hilfe und Kontrolle. Sie steht zwischen<br />

der Ermächtigung von Einzelnen oder Gruppen und gesellschaft-<br />

licher Normalisierung, zwischen Emanzipation und Reproduktion<br />

− Verwaltung − von Ungleichheiten, insbesondere von Armut.<br />

Das gilt nicht nur in der Sozialhilfe, ist dort aber besonders deutlich<br />

sichtbar. Dies ist eigentlich ein Vorteil, denn ein benanntes<br />

Spannungsfeld kann angegangen werden. So viel zur Sozialarbeit<br />

allgemein. Wie steht es nun um die Sozialarbeit in der Sozialhilfe?<br />

Immer mehr Sozialarbeit in der Sozialhilfe<br />

Was heute als Sozialhilfe bezeichnet wird, geht auf jahrhundertealte,<br />

immer wieder erneuerte Formen des Umgangs mit Armut zurück.<br />

Alle Gesellschaften mussten Massnahmen finden für ihre<br />

Mitglieder, die nicht für sich sorgen konnten und Hilfe brauchten.<br />

Diese Hilfe ist unabdingbar für eine gewisse Stabilität und Sicherheit,<br />

denn zu grosse Armut bedroht die Gesellschaft insgesamt.<br />

Die Armenhilfe − Fürsorge nach der früheren Terminologie −<br />

wurde in der Schweiz bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts<br />

von verschiedensten Berufsgattungen wahrgenommen, teilweise<br />

auf ehrenamtlicher Basis. Kirchenleute, Verwaltungsangestellte,<br />

politische Mandatsträger, Behördenmitglieder, Lehrer und<br />

Juristen waren darunter – grossen teils Männer. Sozialarbeit kam<br />

14 <strong>ZESO</strong> 2/17 SCHWERPUNKT


SOZIALDIENSTE<br />

erst später dazu. In kleineren Gemeinden der <strong>ganz</strong>en Schweiz,<br />

aber auch etwa in der Stadt Basel wurde Sozialarbeit sogar erst im<br />

letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in der Sozialhilfe eingeführt.<br />

Auch heute noch sind vielerorts politisch gewählte Behördenmitglieder<br />

− also a priori keine Fachpersonen − in der Sozialhilfe tätig.<br />

Sozialhilfe alias Fürsorge ist demnach sehr viel älter als Sozialarbeit.<br />

Es gibt heute mehr Sozialarbeit in der Sozialhilfe als «früher».<br />

Allerdings wird Sozialhilfe nicht ausschliesslich von Sozialarbeitenden<br />

geleistet.<br />

Persönliche Hilfe ohne Zwang<br />

Der Typ der Fachpersonen, die eine sozialstaatliche Leistung erbringen,<br />

sagt etwas aus über die der Leistung zugrunde liegende<br />

Philosophie. So deutet eine Sozialhilfe, die von Sozialarbeitenden<br />

gewährt wird, auf das Prinzip Wohltätigkeit hin: Leistungen werden<br />

von Fall zu Fall abgeklärt und auf das Verhalten des Bezügers<br />

abgestimmt. Ein Rechtsanspruch hingegen kann von administrativen<br />

oder von juristischen Fachpersonen zugesprochen werden −<br />

wir kennen das von den Renten und anderen (Versicherungs-)Leistungen.<br />

Insofern ist die Einführung der Sozialarbeit nicht<br />

Persönliche Hilfe ist nötig, damit Klienten wieder<br />

aus der Armut herausfinden.<br />

Bild: Keystone<br />

zwingend, wenn es denn um den Rechtsanspruch auf finanzielle<br />

Leistungen des Sozialstaates geht. Nun besteht aber Sozialhilfe ja<br />

nicht nur aus finanziellen Leistungen. Persönliche Hilfe – Sozialarbeit<br />

– ist eine Notwendigkeit, wenn Sozialhilfe Menschen wirklich<br />

darin unterstützen soll, ihre Armutssituation zu überwinden<br />

beziehungsweise einigermassen in Würde damit fertig zu werden.<br />

Sozialarbeit ist massgeschneidert: Sie gründet auf einer sorgfältigen<br />

Analyse der Ressourcen der Klienten und unterstützt sie darin,<br />

ein für sie gutes Leben zu führen.<br />

Mehrere Kantone und grosse Städte (z.B. Waadt, Genf, Zürich,<br />

Basel) haben in den letzten Jahren eine vollständige oder<br />

teilweise Trennung von wirtschaftlicher Hilfe und persönlicher<br />

Unterstützung vollzogen, indem erstere von Sachbearbeitenden<br />

und letztere von Sozialarbeitenden wahrgenommen wird. Grund<br />

dieser Reorganisationen war vorab der Druck zunehmender<br />

Fallzahlen, gleichzeitig waren sie Gelegenheit dafür, die Arbeitsteilung<br />

in der Sozialhilfe neu zu denken. Oft braucht es weitere<br />

Spezialisierungen, um die breite Spanne von Bedürfnissen der<br />

Adressatinnen und Adressaten abzudecken, beispielsweise in den<br />

Bereichen beruflicher Wiedereinstieg, Ausbildung, Kinderbetreuung,<br />

Schuldensanierung oder Wohnfragen.<br />

Diese neuen Modelle werden von Weiterbildungen begleitet,<br />

in welchen die Rollen und Aufgaben der jeweiligen Fachpersonen<br />

reflektiert werden. Sie müssen sorgfältiger evaluiert werden. Es<br />

kann sein, dass damit Leistungen abgebaut werden und den Sozialhilfebeziehenden<br />

weniger gut geholfen wird. Es mag aber auch<br />

sein, dass so eine Sozialarbeit ermöglicht wird, die sich auf freiwillige<br />

Beratung konzentrieren kann. Selbige ist respektvoller und<br />

nachhaltiger als Sanktionen und Zwang. Bedingung dafür ist, dass<br />

qualifizierte Fachpersonen in leicht zugänglichen Sozialdiensten<br />

genügend Zeit zur Verfügung stellen können. Diese Bedingung ist<br />

heute nicht überall erfüllt: Eine Vollzeit angestellte Sozialarbeiterin<br />

mit einer angenommenen Fallbelastung von 60 Dossiers kann<br />

jedem Dossier im Jahr 16 Stunden widmen. Da in vielen Sozialdiensten<br />

wesentlich höhere Fallbelastungen üblich sind, besteht<br />

dringender Handlungsbedarf, um wirksame Hilfe zu ermöglichen.<br />

<br />

•<br />

Véréna Keller<br />

Emeritierte Professorin der Haute Ecole de Travail Social et de la Santé<br />

(EESP) in Lausanne & Vizepräsidentin von AvenirSocial<br />

SCHWERPUNKT 2/17 <strong>ZESO</strong><br />


1.5% 1.5% 3%<br />

Sozialhilfe – ein Arbeitsfeld mit hohen<br />

Qualifikationsanforderungen<br />

Im Rahmen des Monitoring-Projekts des Vereins sozialinfo.ch und der Hochschule für Soziale<br />

Arbeit FHNW werden Stellenangebote im Sozialwesen der Schweiz kontinuierlich ausgewertet. Die<br />

Stelleninserate im Arbeitsfeld Sozialhilfe zeigen, welche Anforderungen in diesem Bereich gestellt<br />

werden, welche Funktionen gesucht und welche Ausbildungen gefragt sind.<br />

Im Jahr 2016 wurden auf der Stellenplattform des Vereins<br />

sozialinfo.ch insgesamt 5925 Stelleninserate publiziert. 731 Inserate<br />

betreffen Stellen, die von den ausschreibenden Organisationen<br />

dem Arbeitsfeld Sozialhilfe zugeordnet werden. Dies entspricht<br />

einem Anteil von 12,3 Prozent aller Stelleninserate. Dieser<br />

Anteil blieb zwischen 2011 und 2016 mehr oder weniger konstant:<br />

Er variierte in diesem Zeitraum lediglich zwischen 11,8 und<br />

13,0 Prozent. Am Anteil der Stelleninserate gemessen, stellt die<br />

Sozialhilfe das viertgrösste Arbeitsfeld im Sozialwesen dar: Sie<br />

folgt nach dem Behindertenbereich, der Erziehung/Bildung und<br />

der Jugendarbeit.<br />

Im Jahr 2016 wurden mit Abstand die meisten Stelleninserate<br />

des Arbeitsfeldes Sozialhilfe in den Kantonen Zürich (191<br />

Inserate; 26 Prozent) und Bern (179 Inserate; 25 Prozent) ausgeschrieben.<br />

Es folgten die Kantone Aargau (57 Inserate; 8 Prozent),<br />

Solothurn (52 Inserate; 7 Prozent) und Luzern (46 Inserate;<br />

6 Prozent).<br />

Qualifizierte Fachmitarbeitende gesucht<br />

Stelleninserate für qualifizierte Fachmitarbeit machten im Jahr<br />

2016 in der Sozialhilfe mit Abstand den grössten Teil aus (78 Prozent).<br />

11 Prozent der Inserate betreffen Kader- oder Leitungsstellen,<br />

5 Prozent Gruppen- oder Teamleitungsstellen. Auffällig klein<br />

ist der Anteil an Praktikums- und Zivildienststellen (1 Prozent).<br />

Zum Vergleich: Betrachtet man alle Arbeitsfelder des Sozialwesens<br />

zusammen, haben Praktika und Zivildienststellen einen Anteil von<br />

13 Prozent. Die Anteile der Kaderstellen und diejenigen der qualifizierten<br />

Fachmitarbeit sind hingegen in der Sozialhilfe, verglichen<br />

mit anderen Arbeitsfeldern des Sozialwesens, höher. Dementsprechend<br />

handelt es sich auch bei den meisten<br />

ausgeschriebenen Stellen um Festanstellungen (86 Prozent), lediglich<br />

14 Prozent sind befristet.<br />

Hochschulabschluss gefragt<br />

Die Mindestanforderungen, die in den Stelleninseraten in Bezug<br />

auf die Ausbildung gestellt werden, sind im Bereich der Sozialhilfe,<br />

verglichen mit anderen Arbeitsfeldern des Sozialwesens, sehr<br />

hoch: So gibt es beispielsweise in der Sozialhilfe einen hohen Anteil<br />

an Stelleninseraten, die einen Hochschulabschluss verlangen<br />

(50 Prozent). Zum Vergleich: Im Arbeitsfeld Erziehung/Bildung<br />

wird lediglich in 12 Prozent der Inserate ein Hochschulabschluss<br />

gefordert, im Behindertenbereich sogar nur in 4 Prozent der Fälle.<br />

Ebenfalls wird in der Sozialhilfe oft die Anforderung gestellt,<br />

mindestens eine höhere Berufsbildung abgeschlossen zu haben<br />

(29 Prozent). Nur wenige der ausgeschriebenen Stellen richten<br />

sich an Personen mit einer beruflichen Grundbildung (9 Pro-<br />

AUSGESCHRIEBENE STELLEN IM ARBEITSFELD<br />

SOZIALHILFE NACH KANTON<br />

AUSGESCHRIEBENE FUNKTIONEN IN DEN<br />

STELLENINSERATEN DER SOZIALHILFE<br />

11%<br />

5%<br />

78%<br />

16 <strong>ZESO</strong> 2/17 SCHWERPUNKT


«Der Verwaltungsaufwand nimmt nach<br />

Meinung vieler zu grossen Raum ein»<br />

NACHGEFRAGT Die Arbeitszufriedenheit in Sozialen Diensten ist im Durchschnitt<br />

relativ hoch. Zu schaffen machen den Sozialdienstmitarbeitenden aber die fehlende<br />

gesellschaftliche Anerkennung ihres Berufes, der grosse Verwaltungsaufwand und fehlende<br />

Aufstiegsmöglichkeiten, sagt Roger Pfiffner, Dozent an der Berner Fachhochschule. Er hat eine<br />

Studie zum Thema verfasst.<br />

Herr Pfiffner, was zeichnet eine zufriedene Mitarbeiterin oder einen<br />

zufriedenen Mitarbeiter aus?<br />

Zufrieden ist ein Mitarbeiter meistens dann, wenn er seine<br />

Arbeitsstelle als erfüllend wahrnimmt. Dies ist der Fall, wenn<br />

er das Gefühl hat, durch die Arbeit seine Ziele, Bedürfnisse und<br />

Werte verfolgen und erreichen zu können. Zufriedene Mitarbeiter<br />

sind durch die Erfahrungen, die sie im Arbeitsalltag machen,<br />

in einem positiven emotionalen Zustand. Die Folge sind<br />

hohe Motivation und Leistungsbereitschaft.<br />

Wie zufrieden sind Personen, die in der öffentlichen Sozialhilfe tätig<br />

sind?<br />

Unsere Studie zeigt, dass sich die durchschnittliche Arbeitszufriedenheit<br />

von Sozialdienstmitarbeitenden im mittleren bis<br />

positiven Bereich bewegt. Auffällig ist, dass sich die Zufriedenheit<br />

individuell stark unterscheidet. Bei drei Viertel der Personen<br />

ist die Arbeitszufriedenheit relativ hoch. Auf der anderen<br />

Seite sind rund ein Viertel der Mitarbeitenden unzufrieden mit<br />

ihrer Arbeitsstelle.<br />

Was gefällt Sozialdienstmitarbeitenden an ihrem Beruf?<br />

Sie bewerten vor allem ihre Tätigkeit positiv: Diese wird als<br />

interessant, herausfordernd und vielseitig beschrieben. Und<br />

sie empfinden ihre Arbeit als sinnvoll. Weitere positive Aspekte<br />

sind für viele Selbstbestimmtheit und Entscheidungsautonomie.<br />

Auch die Weiterbildungsmöglichkeiten und die Zusammenarbeit<br />

mit dem Team und den Vorgesetzten werden positiv<br />

bewertet.<br />

Welche Faktoren werden negativ bewertet?<br />

In erster Linie sind das organisatorische Aspekte. Mit den<br />

Aufstiegsmöglichkeiten und dem Gehalt ist man nur teilweise<br />

zufrieden. Der Verwaltungsaufwand nimmt nach Meinung vieler<br />

einen zu grossen Raum ein und auch die Work-Life-Balance<br />

wird eher kritisch bewertet. Am wenigsten zufrieden sind die<br />

Sozialdienstmitarbeitenden mit der gesellschaftlichen Anerkennung<br />

ihres Berufes.<br />

Wie wird die Arbeitsbelastung eingeschätzt?<br />

Die subjektiv empfundene Arbeitsbelastung ist sehr unterschiedlich.<br />

Fast die Hälfte der befragten Personen findet die<br />

Arbeitsbelastung hoch oder sehr hoch. Da ist aber die Sozialhilfe<br />

kein Spezialfall, ähnliche Werte findet man in vielen Berufen.<br />

Was aber in der Sozialhilfe dazu kommt: Es arbeiten viele<br />

Personen mit eher wenig Berufserfahrung in diesem Bereich.<br />

Auch Berufsanfänger müssen jedoch rasch die übliche Anzahl<br />

an Dossiers übernehmen. Dieser Einstieg wird von vielen als<br />

nicht einfach empfunden.<br />

Sind Mitarbeitende in grossen oder kleinen Diensten zufriedener?<br />

Um dies genau beantworten zu können, wäre weitere Forschung<br />

notwendig. Sowohl grosse wie kleine Dienste haben<br />

Vor- und Nachteile. In der Tendenz lässt sich sagen: Administrative<br />

Mitarbeitende fühlen sich eher in kleinen Organisationen<br />

wohl. Es ist persönlicher und das Ergebnis der eigenen<br />

Arbeit ist sichtbarer. Bei Sozialarbeitenden zeigt die Tendenz<br />

hingegen eher in die andere Richtung. Vermutlich weil in städtischen<br />

und stadtnahen Diensten die Vermittlungsmöglichkeiten<br />

von Klienten in Beschäftigungsprogramme etc. besser<br />

sind. Das kann die Arbeit erleichtern und die Selbstwirksamkeit<br />

wird als besser wahrgenommen.<br />

Führen die negativ bewerteten Faktoren zu Kündigungen?<br />

Arbeitszufriedenheit und Fluktuation haben einen starken<br />

Zusammenhang. Der Teil der Personen, der unzufrieden ist,<br />

wird wahrscheinlich früher oder später kündigen. Die negativ<br />

bewerteten Aspekte wie Aufstiegsmöglichkeiten, administrativer<br />

Aufwand, Work-Life-Balance und fehlende gesellschaftliche<br />

Anerkennung haben dabei sicher einen Einfluss.<br />

Es können im Einzelfall aber auch andere Faktoren sein. Auch<br />

die Personalstruktur führt zu Kündigungen: In der Sozialhilfe<br />

arbeiten viele Personen, die zwischen 30 und 39 Jahren Jahre<br />

alt sind. Diese sind auf dem Arbeitsmarkt gesucht und befinden<br />

sich gleichzeitig in einer Lebensphase, in der man sich<br />

häufig noch umorientiert.<br />

Was bedeutet das für die Sozialdienste? Ist das Ausmass der<br />

Fluktuation belastend?<br />

Die Fluktuationsquote ist nicht dramatisch hoch. Kündigungen<br />

gibt es überall. Die Sozialhilfe ist aber ein Bereich, in<br />

dem ein Fachkräftemangel herrscht und es gerade in ländlichen<br />

Diensten nicht immer einfach ist, Stellen zu besetzen.<br />

18 <strong>ZESO</strong> 2/17 SCHWERPUNKT


SOZIALDIENSTE<br />

Auffällig ist auch, dass Sozialdienstmitarbeitende im Vergleich<br />

zu Arbeitnehmenden in anderen Bereichen, bedeutend weniger<br />

lang an einer Arbeitsstelle bleiben. Zudem suchen diejenigen,<br />

die gehen, mehrheitlich nicht eine Stelle in einem anderen<br />

Sozialdienst, sondern wollen ausserhalb der Sozialhilfe arbeiten.<br />

Das macht die Situation anspruchsvoll.<br />

ROGER PFIFFNER<br />

Bild: zvg<br />

Roger Pfiffner ist Dozent an der Berner Fachhochschule. Er forscht<br />

und lehrt vor allem in den Bereichen Organisation und Management<br />

Sozialer Dienste und Schulsozialarbeit.<br />

Im Rahmen der Studie «Soziale Dienste – Attraktivität als Arbeitgebende<br />

und Arbeitsbedingungen für die Mitarbeitenden» hat Roger<br />

Pffiffner zwischen Sommer und Herbst 2015 insgesamt 942 Sozialarbeitende,<br />

Berufsbeistände und Sachbearbeitende online befragt.<br />

Wie liesse sich die Fluktuation vermindern?<br />

Entwicklungspotenzial gibt es beispielsweise bei der Zusammenarbeit<br />

zwischen Sozial- und Sachbearbeitenden. Manche<br />

Gemeinden investieren bereits in zusätzliche Administrationsstellen,<br />

um die Sozialarbeitenden zu entlasten. Auch<br />

wenn die Führungspersonen durchschnittlich positiv bewertet<br />

werden, sind auch sie ein entscheidender Faktor. Deshalb ist<br />

die Schulung von Kaderpersonen sehr wichtig. Einen weiteren<br />

Ansatzpunkt sehe ich in der Grösse der Sozialdienste. Bei<br />

einem Sozialdienst mit nur drei Mitarbeitenden kann es schnell<br />

zu Problemen mit Ferienvertretungen kommen oder es wird<br />

äusserst schwierig, wenn Stellen nicht fristgerecht besetzt<br />

werden können. Auch Aufstiegsmöglichkeiten gibt es in kleinen<br />

Diensten kaum. Und schliesslich müsste die Attraktivität<br />

des Tätigkeitfelds insgesamt erhöht werden, was nicht zuletzt<br />

eine Verbesserung der öffentliche Wahrnehmung der Sozialhilfe<br />

voraussetzt.<br />

Identifizieren sich Sozialdienstmitarbeitende zu wenig mit ihrem<br />

Arbeitgeber und dem Tätigkeitsfeld?<br />

Etwa die Hälfte der befragten Personen identifiziert sich<br />

mit dem Arbeitgeber und die andere Hälfte nur teilweise oder<br />

gar nicht. Bei rund 25 Prozent sind sogar Anzeichen einer Resignation<br />

zu erkennen. Diese Personen haben bei ihrer Arbeit<br />

keine grossen Ziele oder Erwartungen mehr. Die Identifikation<br />

mit dem rechtlichen und politischen Kontext der Sozialhilfe ist<br />

noch tiefer. Beispielsweise haben wir untersucht, ob Sozialdienstmitarbeitende<br />

die aktuellen Reformen in der Sozialhilfe<br />

befürworten. Etwa die Hälfte findet, dass durch die Reformen<br />

die Wirksamkeit der Sozialhilfe für die Klienten, aber auch für<br />

die Gesellschaft verschlechtert wird. <br />

•<br />

SCHWERPUNKT 2/17 <strong>ZESO</strong><br />

Das Gespräch führte<br />

Regine Gerber<br />

19<br />


Gelingende Beratung setzt Kooperation beider Parteien voraus. Bild: Keystone<br />

Psychosoziale Beratung in der<br />

Sozialhilfe in den Fokus rücken<br />

Beratung in der Sozialhilfe stellt an die Fachpersonen hohe Anforderungen. Viele Gespräche werden<br />

jedoch wenig methodisch geführt. Sozialarbeitende in der Sozialhilfe entwickeln stattdessen eigene<br />

Gesprächsführungsstile. Psychosoziale Methoden in der Beratung stärker zu verankern, ist das Ziel<br />

eines von der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit entwickelten Schulungskonzepts.<br />

Dass in der Sozialhilfe Sozialarbeitende arbeiten, kommt nicht von<br />

ungefähr. Ihre Fähigkeit, Beratung auch psychosozial zu gestalten,<br />

also im Gespräch den Fokus mitunter auf psychologische und soziale<br />

Aspekte der Klienten zu lenken, ist hier gefragt. Mit dieser Fähigkeit<br />

fungieren sie als Übersetzungsposition zwischen der individuellen<br />

Lebenswelt von Menschen und den rechtlich-admi nis<br />

trativen Strukturen einer öffentlich finanzierten Sozialhilfe. Beratung<br />

in der Sozialhilfe erfordert von Fachpersonen deshalb eine<br />

besondere Vielseitigkeit: Sie müssen Gehörtes einschätzen und<br />

hinsichtlich psychosozialer Aspekte intervenieren; müssen rechtlich-administrative<br />

Anforderungen einfordern und kontrollieren<br />

sowie Übersetzungsdienstleistungen zwischen beiden Seiten erbringen.<br />

Auch Momente des Abwägens zwischen Sanktionieren<br />

und psychosozialer Hilfestellung gehören dazu.<br />

Studierende der Sozialen Arbeit lernen Beratung zumeist auf<br />

Basis einer Kombination verschiedener Modelle kennen. Dabei<br />

werden üblicherweise systemtheoretische Modelle mit dem nondirektiven<br />

Ansatz nach Rogers kombiniert. Vermittelt wird zudem<br />

lösungs-, ressourcen- und kompetenzorientiertes Denken.<br />

Schaut man Sozialarbeitenden der Sozialhilfe bei ihrer Beratungstätigkeit<br />

zu, ist festzustellen, dass sie diesen Modellen kaum<br />

bis gar nicht folgen. Die Art der Begrüssung, das Wertschätzen von<br />

Klienten für deren Erfolge und die eine oder andere Frage lassen<br />

hin und wieder Elemente von Beratungsmodellen erkennen, die<br />

Gespräche werden jedoch keineswegs entsprechend der Beratungsmodelle<br />

strukturiert. Gestellte Fragen dienen selten als Technik<br />

zur Anregung von Lösungsprozessen. Hauptsächlich werden<br />

sie zur Informationsgewinnung genutzt oder sind verschleierte<br />

20 <strong>ZESO</strong> 2/17 SCHWERPUNKT


SOZIALDIENSTE<br />

Versuche, Klientinnen und Klienten von etwas zu überzeugen.<br />

Der folgende Ausschnitt vom Beginn einer realen Gesprächssituation<br />

stammt aus einem Forschungsprojekt, bei dem Beratungssituationen<br />

beobachtet und für ein Schulungskonzept in der Sozialhilfe<br />

ausgewertet wurden.<br />

Sozialarbeiter (SA): «Also, Frau (…), was hat sich verändert, seit<br />

Sie das letzten Mal bei mir gewesen sind?»<br />

Klientin (KL): «Mhm.» (unbestimmte Aussage)<br />

SA: «Hat sich irgendetwas ergeben oder ist etwas anders?»<br />

KL: «Nein.»<br />

SA: «Gar nichts?»<br />

KL: «E-he, e-he.» (verneinende Aussage)<br />

SA: «Ist alles beim Alten geblieben?»<br />

KL: «Alles, ja.»<br />

SA: «Okay, Sie arbeiten immer noch auf Ihrer Arbeitsstelle?»<br />

KL: «Mhm.» (zustimmende Aussage)<br />

SA: «Das ist … Was haben Sie da, etwa sechzig Prozent, oder?»<br />

KL: «Sechzig, ja.»<br />

SA: «Und das geht gut für Sie dort?»<br />

KL: «Es geht, ja, gut.»<br />

SA: «Okay.»<br />

Die Klientin verneint hier die Frage nach Veränderungen und signalisiert<br />

damit, dass für sie dort kein Gesprächsbedarf besteht. Das<br />

ist insofern ein Problem für das Gespräch, da es sich überspitzt formuliert<br />

weitgehend erübrigt. Die Lösung des Sozialarbeiters besteht<br />

nun darin, dass er diejenigen Informationen durchgeht, die<br />

er von der Klientin bereits hat. Er hält mit dieser Fragetechnik<br />

gleichzeitig die Gesprächssituation aufrecht, kontrolliert, inwiefern<br />

ein Handlungsbedarf seitens der Behörde besteht, und begibt<br />

sich auf die Suche nach einem Beratungsgegenstand.<br />

Standardmodelle der Beratung böten hier alternative Vorgehensweisen:<br />

Das Stellen offener Fragen, die nicht mit Ja oder Nein zu<br />

beantworten sind, eine ausführliche Auftragsklärung bis hin zu einer<br />

Auseinandersetzung des Für und Wider dieser Sechzig-Prozent-Stelle.<br />

Dies ist ein Beispiel für viele Gespräche gesetzlicher Sozialarbeit,<br />

welche wenig methodisch geführt werden. Es liesse sich mutmassen,<br />

dass Sozialarbeitende die in Aus- und Weiterbildungen<br />

vermittelten Herangehensweisen an Beratungen mit der Zeit vergessen.<br />

Dem ist aber nicht so, wie die im Forschungsprojekt durchgeführten<br />

Reflexionsgespräche zeigen.<br />

Gute Gründe, weniger methodisch zu beraten<br />

Die Gründe dafür, warum Sozialarbeitende Beratungsmodellen<br />

nur sehr eingeschränkt folgen, sind sowohl in der notwendigen<br />

Übersetzung der Modelle in die Praxis als auch auf der Interaktions-<br />

und Organisationsebene zu suchen.<br />

Theoretisches Wissen und modellhaftes Handeln müssen in<br />

konkrete Praxissituationen hinein vermittelt werden. Sie können<br />

nie eins zu eins umgesetzt werden, da die Komplexität eines Einzelfalls<br />

und das sich von Moment zu Moment entfaltende Interaktionsgeschehen<br />

jegliche modellhafte Handlungsvorgabe überfordert.<br />

Hinzu kommt, dass die Beratungsmodelle Kooperation<br />

voraussetzen und weitgehend kontextfrei verfasst sind. Das Forschungsprojekt<br />

konnte zeigen, dass Sozialarbeitende stattdessen<br />

eigene Gesprächsführungsstile entwickeln, die sie wiederum an<br />

die jeweilige Situation anpassen.<br />

Gelingende Beratung setzt eine Kooperationsbereitschaft beider<br />

Parteien voraus, da das Produkt der Beratung im Beratungsprozess<br />

selbst erzeugt wird. In der Sozialhilfe kommt es aber immer<br />

wieder zu Situationen, in denen eine Kooperation erschwert<br />

wird. Aktuelle Studien weisen nach, dass insbesondere die Herstellung<br />

einer gemeinsamen Problemsicht und das Erfüllen von<br />

rechtlich-administrativen Auflagen sowie Sanktionen für den Beratungsprozess<br />

eine grosse Herausforderung sind.<br />

Systembedingte Ansprüche an die Fallarbeit, wie beispielsweise<br />

finanzielle und rechtliche Aspekte, erzeugen zudem einen Legitimationsdruck<br />

gegen aussen (politische Entscheidungsträger,<br />

Gesellschaft), nach innen (Kollegium) und auf Organisationsebene<br />

(Leitungsebene). Wird darüber hinaus die zum Teil hohe Arbeitsbelastung<br />

betrachtet, verwundert es nicht, dass methodische<br />

Aspekte der Fallführung im Arbeitsalltag schnell in den Hintergrund<br />

treten.<br />

Auseinandersetzung mit Spannungsfeldern<br />

Wie können Beratungsansätze im Kontext der Sozialhilfe dennoch<br />

hilfreich sein und was braucht es dafür? Die Sozialhilfe der Stadt<br />

Basel hat unlängst ein Konzept eingeführt, das vorsieht, dass neben<br />

dem rechtlich-administrativen Fokus die psychosozialen Anteile<br />

in jedem Fall eine gewichtige Rolle spielen. Dazu gehört auch,<br />

Begründungen für ein bestimmtes Vorgehen nicht nur rechtlich<br />

zu legitimieren, sondern auch auf der Basis von Fachwissen zu psychosozialen<br />

Prozessen. Dies gilt es auch intern zu leben: Mit einer<br />

Teamkultur, in der in Teamsitzungen und anderen Gesprächen<br />

das psychosoziale Wohl der Klientinnen und Klienten wie auch der<br />

Mitarbeitenden in den Fokus rückt.<br />

Das von der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit entwickelte<br />

Schulungskonzept beinhaltet Herangehensweisen auf zwei Ebenen:<br />

Der Leitungs- sowie der operativen Ebene. Auf Leitungsebene<br />

gilt es, die Arbeitsweise nach innen und aussen über ein<br />

Sozialhilfekonzept so zu transportieren, dass professionelle Beratung<br />

ausdrücklich Raum erhält. In den Schulungen beschäftigen<br />

sich Sozialarbeitende mit ihren verschiedenen Rollen, dem<br />

Spannungsfeld (rechtlich-administrativ versus psychosozial), der<br />

Tätigkeit in einem Zwangs-/Pflichtkontext und dem konkreten<br />

methodischen Handeln. Besonders hilfreich sind hier Modelle<br />

zur Motivationsförderung und Veränderungsentwicklung. Sie<br />

geben Anleitung, wann, welche Beratungsmethode zum Einsatz<br />

gebracht werden kann.<br />

Diese Voraussetzungen und die Beschäftigung mit Beratung<br />

im Rahmen der entwickelten Schulung tragen mit dazu bei, dass<br />

Sozialarbeitende ihr professionelles Wissen in Gesprächsführung,<br />

Beziehungsaufbau und Gestaltung sowie Wertschätzung in kompetenter<br />

Weise in die konkrete Fallarbeit hinein vermitteln können.<br />

<br />

•<br />

Jan G. Scheibe<br />

Institut für Sozialarbeit und Recht, Hochschule Luzern<br />

Stephan Kirchschlager<br />

Institut für Soziokulturelle Entwicklung, Hochschule Luzern<br />

SCHWERPUNKT 2/17 <strong>ZESO</strong><br />


Die Praxis muss sich an der Ausbildung<br />

der künftigen Mitarbeitenden beteiligen<br />

Praxisstellen auf Sozialdiensten sind bei Studierenden der Sozialen Arbeit sehr beliebt. Diese<br />

werden im Studium auf die Tätigkeit in der Sozialhilfe gut vorbereitet. Es ist aber auch Aufgabe der<br />

Praxis, frisch Diplomierte weiter zu qualifizieren und sich so an der Praxisausbildung des eigenen<br />

Nachwuchses zu beteiligen.<br />

Mit dem Bachelor-Studiengang «Soziale Arbeit» an der Berner<br />

Fachhochschule sollen die Studierenden die nötigen Kompetenzen<br />

erwerben, um in unterschiedlichen Feldern der Sozialen Arbeit<br />

in die Berufspraxis einsteigen zu können. Mit anderen Worten<br />

ist der Studiengang generalistisch ausgerichtet. Ein generalistischer<br />

Studiengang zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Studierenden<br />

Orientierungswissen erarbeiten und thematische Schwerpunkte<br />

selber setzen können.<br />

Die Praxisorientierung im Studiengang erfolgt in drei Dimensionen:<br />

der Erarbeitung von theoretischem Wissen, dem Transfer<br />

von thematischem Wissen in die Praxisfelder sowie in der theorieund<br />

reflexionsgeleiteten praktischen Tätigkeit in Praxisfeldern im<br />

Rahmen von zwei halbjährigen Praxismodulen. Selbstverständlich<br />

kann ein Studium keine erfahrenen Berufsleute hervorbringen,<br />

sondern Berufsanfänger mit grossem Potenzial, Neugier und Engagement<br />

für das Berufsfeld.<br />

Vielfältige Themen im Modul Sozialhilfe<br />

Die Sozialhilfe ist in den Pflichtmodulen «Schweizerisches Sozialwesen»<br />

und «Einführung Recht» fest verankert. Auch in anderen<br />

Modulen wie «Armut» steht sie als Praxisfeld der Sozialen Arbeit<br />

im Fokus. Zentraler Gegenstand ist sie selbstredend im Modul «Sozialhilfe».<br />

In diesem Modul wird der <strong>ganz</strong>en Komplexität des Themas<br />

nachgegangen, damit die Studierenden auf das professionelle<br />

Handeln im spezifischen Kontext der Sozialhilfe vorbereitet werden.<br />

Das geschieht, indem einerseits rechtliche und verwaltungsorganisatorische<br />

Inhalte, andererseits gesellschafts- und professionsrelevante<br />

Diskurse wie Armut und Soziale Arbeit behandelt<br />

werden. Die folgende Abbildung gibt einen Überblick über die behandelten<br />

Themen im Modul «Sozialhilfe» in deren gegenseitigen<br />

Abhängigkeit und Durchdringung.<br />

ÜBERBLICK ÜBER DIE BEHANDELTEN THEMEN IM MODUL SOZIALHILFE<br />

Recht<br />

Meth.<br />

Handeln<br />

in der<br />

Verwaltung<br />

Sozialhilfe<br />

Soziale Arbeit<br />

Forschung<br />

Armut<br />

Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Sozialhilfe sowohl<br />

auf der Ebene der Richtlinien als auch auf der Ebene von Vorgaben<br />

zur Organisation sozialer Dienste nehmen in der Ausbildung<br />

einen besonderen Stellenwert ein. Herausfordernd wird es<br />

für die Studierenden dann, wenn sie in der Arbeit mit Fallbeispielen<br />

die meso- und makroorganisatorischen Rahmenbedingungen<br />

mit dem Handeln auf Fallebene in Verbindung bringen<br />

sollen. Die meisten Studierenden haben vor dem Besuch des<br />

Moduls noch keine Erfahrung in der Praxis der Sozialhilfe. Die<br />

Anwendung der Richtlinien auf den Einzelfall kann daher ausschliesslich<br />

mit theoretischen Kenntnissen erfolgen. Dies kann<br />

schwierig sein, beispielsweise wenn es um die Berechnung der<br />

Höhe der Sozialhilfe geht oder um konkrete Anforderungen an<br />

ein Sozialhilfebudget.<br />

Gerade die rechtlichen Rahmenbedingungen der Sozialhilfe<br />

haben auf Studierende eine teilweise fast einschüchternde Wirkung.<br />

Durch die herausfordernde Auseinandersetzung mit unterschiedlichen<br />

Rechtsbezügen der Praxis der Sozialhilfe drohen<br />

Wissensbestände zu anderen zentralen Themen wie der Beratung<br />

oder dem methodischen Handeln in den Hintergrund zu geraten.<br />

Deshalb wird im Rahmen des Moduls auf die Themen «Zielvereinbarungen<br />

aushandeln», «Situationsanalyse» und «Budgetberechnung»<br />

speziell eingegangen. Anhand von konkreten Beratungsaufgaben<br />

der Sozialhilfe werden die Studierenden für den<br />

Ermessensspielraum und dessen Bedeutung für das methodische<br />

Handeln sensibilisiert. Neben den bereits dargestellten Themen<br />

haben auch Diskussionen zu tagesaktuellen Themen der Sozialhilfe<br />

Platz. Aufgrund der umfangreichen Berichterstattung bringen<br />

Studierende gegenwärtig etwa Fragen und Meinungen zu der im<br />

Kanton Bern geplanten Sozialhilfegesetzrevision per 01.01.2018<br />

in das Modul ein.<br />

Sozialhilfe wird auch kritisch hinterfragt<br />

Die Studierenden haben auch die Möglichkeit,<br />

die Sozialhilfe in der Praxisausbildung kennenzulernen.<br />

Pro Semester werden im Stellenportal<br />

der BFH, Soziale Arbeit im Durchschnitt 20 Praxisplätze<br />

von Sozialdiensten ausgeschrieben. Das<br />

entspricht einem Anteil von rund einem Sechstel<br />

aller Stellen pro Semester. Gerade die Praxisstellen<br />

auf Sozialdiensten sind aus mehreren Gründen<br />

bei den Studierenden sehr beliebt. Es ist etwa<br />

zu hören, dass man «dort seine Sporen abverdienen<br />

kann» oder dass dies «eine vielseitige Arbeit<br />

wie sonst nirgends» sei. Es hält sich bei den Studierenden<br />

zudem die Idee, dass ein Praxismodul<br />

22 <strong>ZESO</strong> 2/17 SCHWERPUNKT


SOZIALDIENSTE<br />

Der Transfer von theoretischem Wissen in die Praxis ist für die Studierenden eine Herausforderung. <br />

Bild: Berner Fachhochschule<br />

«Selbstverständlich<br />

kann ein Studium keine<br />

erfahrenen Berufsleute<br />

hervorbringen»<br />

in der Sozialhilfe «der beste Einstieg ins Sozialwesen Schweiz» sei,<br />

«aufgrund des zentralen Stellenwerts der Sozialhilfe in der Armutsbekämpfung».<br />

Und doch werden gerade unter Studierenden der Sozialen Arbeit<br />

auch viele kritische Stimmen zur Sozialhilfe laut. Die Frage,<br />

ob auf Sozialdiensten aufgrund der fehlenden Ressourcen und des<br />

hohen öffentlichen Drucks auf alle Beteiligten überhaupt noch<br />

sozialarbeiterisch gearbeitet werden kann, ist eine Frage, die im<br />

Modul «Sozialhilfe» fast jedes Semester aufs Neue diskutiert wird<br />

und die Studierenden sehr beschäftigt. Es entstehen viele Bachelorthesen<br />

zu den unterschiedlichsten Themen der Sozialhilfe, die<br />

Ausdruck der Fragen sind, welche die Studierenden im Verlaufe<br />

des Studiums beschäftigen.<br />

Qualifikationen nachverlangen<br />

Von der Praxis wird immer stark kritisiert, dass bestimmte Inhalte<br />

zur Sozialhilfe nicht obligatorisch für alle Studierenden sind. Es ist<br />

aber ebenfalls Aufgabe der Praxis, sich bei der Anstellung frisch diplomierter<br />

Professioneller der Sozialen Arbeit mit deren erarbeitetem<br />

Profil auseinanderzusetzen und gewisse Qualifikationen nachzuverlangen,<br />

wenn diese während des Studiums noch nicht<br />

erarbeitet wurden. Dies kann zum Beispiel durch die Ermöglichung<br />

von Besuchen bestimmter Fachkurse oder durch die Berücksichtigung<br />

einer verlängerten Einarbeitungszeit erfolgen. Zudem<br />

sind Sozialdienste aufgefordert, in der Praxisausbildung der Studierenden<br />

mitzuwirken, damit sie an der Ausbildung des eigenen<br />

Nachwuchses direkt beteiligt sind und diese auch beeinflussen<br />

können.<br />

Es darf zudem nicht vergessen werden, dass die Sozialhilfe in<br />

den letzten Jahren stark an Komplexität zugenommen hat. Es stellt<br />

sich daher die Frage, ob die Verankerung von deren Inhalten allein<br />

auf Stufe der Bachelor-Ausbildung noch ausreicht. Es sollte bei<br />

der Rekrutierung und Besetzung bestimmter Stellen in der Praxis<br />

mitbedacht werden, ob Absolventinnen einer Master-Ausbildung,<br />

die sich vertiefter mit der Sozialhilfe auseinandergesetzt haben,<br />

die hohen Erwartungen und breiten Ausbildungsanforderungen<br />

nicht besser erfüllen können.<br />

Die Sozialhilfe als Handlungsfeld Sozialer Arbeit kann nicht<br />

ausschliesslich durch die Studiengänge in Sozialer Arbeit gelehrt<br />

werden. Um die Ausbildung für das anspruchsvolle Handlungsfeld<br />

weiterentwickeln und gewährleisten zu können, ist die konsequente<br />

Zusammenarbeit von Hochschulen, Praxisorganisationen<br />

und Studierenden erforderlich. <br />

•<br />

Caroline Pulver<br />

Wissenschaftliche Mitarbeiterin Soziale Arbeit und Modulverantwortliche<br />

«Sozialhilfe», Berner Fachhochschule<br />

SCHWERPUNKT 2/17 <strong>ZESO</strong><br />


Die Arbeit in Sozialdiensten erfordert<br />

Fachwissen und Allrounder-Qualitäten<br />

Im Sozialzentrum Selnau der Stadt Zürich muss Sozialarbeiter Christoph Mosimann viele Aufgaben<br />

unter einen Hut bringen. Reicht das Know-how einmal nicht aus, helfen interne Experten weiter. Anders<br />

im ländlichen Alpnach: Sozialarbeiterin Marion Hasler muss sich oft selbst zu helfen wissen.<br />

Der ausgebildete Sozialarbeiter Christoph Mosimann ist seit einem<br />

knappen Jahr Gruppenleiter Sozialarbeit des Familienprofils<br />

im Quartierteam Zürichberg des Sozialzentrums Selnau der Stadt<br />

Zürich. Sein Team besteht aus vier Sozialarbeitenden, die wie er<br />

für Familien sowie Kinder und Jugendliche zuständig sind, sowie<br />

aus fünf Schulsozialarbeitenden. Knapp die Hälfte seines Pensums<br />

steht Christoph Mosimann für die Fallarbeit zur Verfügung.<br />

Familien in allen Lebensbereichen<br />

Ein Teil seiner rund 30 Klientinnen und Klienten bezieht wirtschaftliche<br />

Sozialhilfe. Hier liegt der Schwerpunkt von Christoph<br />

Mosimanns Arbeit auf der jährlichen Kontrolle der Mittellosigkeit.<br />

Zu diesem Zweck fordert er alle nötigen Unterlagen, wie Bankauszüge<br />

und Mietvertrag, von seinen Klientinnen und Klienten ein. Daraufhin<br />

prüft er, ob weiterhin ein Anspruch auf Sozialhilfe besteht.<br />

Bei einem Treffen mit den Klientinnen und Klienten bespricht er<br />

zudem, ob sie Unterstützung bei der Arbeits- oder Wohnungssuche<br />

benötigen. «Die jährliche Kontrolle ist intensiv. Sie folgt einem genau<br />

vorgegebenen Ablauf, bei dem kein Punkt ausgelassen werden<br />

darf. Gleichzeitig will ich ein wertschätzendes und konstruktives Gespräch<br />

mit meinem Gegenüber führen. Diese beiden Aspekte zu vereinen,<br />

ist anspruchsvoll», sagt Christoph Mosimann.<br />

Weiter betreut er Mandate der KESB. Dazu gehören Beistandund<br />

Vormundschaften sowie ambulante oder stationäre erzieherische<br />

Massnahmen, was eine Zusammenarbeit mit den Eltern,<br />

Schulen, Institutionen und mit weiteren Fachpersonen beinhaltet.<br />

«Dieser Teil meiner Arbeit kann kurzfristig sehr viele Ressourcen<br />

binden. Ist ein Kind daheim gefährdet, muss der Pflegeplatz<br />

möglichst schnell gefunden werden», sagt<br />

Christoph Mosimann. Dringlich sind auch die Abklärungen<br />

für die KESB, die er und sein Team aufgrund<br />

von Drittmeldungen oder Gefährdungsmeldungen<br />

jeweils zu zweit vornehmen. Christoph Mosimann unterstützt<br />

zudem Menschen, die sich freiwillig beraten<br />

lassen. Dabei begleitet er beispielsweise Familien bei Krisengesprächen<br />

in der Schule oder organisiert unterstützende Massnahmen<br />

und klärt deren Finanzierung. Die breitgefächerten Aufgaben<br />

erfordern viel Know-how. Wo es einmal nicht ausreicht, stehen mit<br />

dem internen Fachstab Expertinnen und Experten bereit, die bei<br />

Fachfragen weiterhelfen.<br />

Fälle werden laufend überprüft<br />

Trotz aller Verschiedenheit der Aufgaben gibt es gemeinsame Nenner:<br />

Sie erfordern ein proaktives Mitdenken. «Oft sind wir die Einzigen,<br />

die mit allen involvierten Stellen zusammenarbeiten. Deshalb<br />

liegt es in unserer Verantwortung, jeden Fall <strong>ganz</strong>heitlich<br />

anzuschauen und in die Zukunft zu denken», sagt Christoph Mosimann.<br />

Allen Arbeiten ist ausserdem ein hoher Reglementierungsund<br />

Kontrollgrad gemein: Sie müssen genau dokumentiert werden,<br />

damit sämtliche Schritte eines Falls nachvollziehbar sind.<br />

Eine Kompetenzordnung hält fest, welche Stellen für welche Entscheide<br />

zu involvieren sind. In laufenden Fallrevisionen wird in<br />

der wirtschaftlichen Hilfe überprüft, ob ein Sozialarbeiter sich an<br />

alle Vorgaben hält. «Die Ansprüche an Sozialarbeiter sind hoch. Es<br />

gehört zu unserem Job, eine grosse Zahl Klientinnen und Klienten<br />

auf einem gleichbleibend hohen Niveau zu betreuen und stets die<br />

richtigen Prioritäten zu setzen. Gleichzeitig ist mein Aufgabengebiet<br />

so spannend und vielfältig, dass es mir grosse Freude macht»,<br />

sagt Christoph Mosimann. <br />

•<br />

Karin Meier<br />

24 <strong>ZESO</strong> 2/17 SCHWERPUNKT<br />

CHRISTOPH MOSIMANN:<br />

«Es liegt in unserer<br />

Verantwortung, jeden<br />

Fall <strong>ganz</strong>heitlich<br />

anzuschauen»


SOZIALDIENSTE<br />

MARION HASLER:<br />

«Manchmal komme ich<br />

mir vor wie ein Crash-Test-<br />

Dummy»<br />

KESB-Mandate sind arbeitsintensiv<br />

Einen beträchtlichen Teil ihrer Arbeit machen die KESB-Mandate<br />

aus. 2016 kamen so viele hinzu wie in den Jahren 2013-2015 zusammen.<br />

«Diese Mandate sind zu Beginn sehr arbeitsintensiv:<br />

Man muss den Fall administrativ einfädeln und viel Beziehungsarbeit<br />

leisten, damit ein Vertrauensverhältnis zur Klientin oder zum<br />

Klienten aufgebaut werden kann», sagt Marion Hasler. Müssen<br />

Kinder fremdplatziert werden, was 2016 sieben Mal der Fall war,<br />

ist der Aufwand noch höher, da mehr Stellen involviert sind. «Da<br />

bleibt für andere Aufgaben vorübergehend keine Zeit», meint Marion<br />

Hasler. Fordernd seien weiter die Mandate für alleinstehende<br />

Menschen mit einer Demenzerkrankung. Die Betreuung sei zeitaufwändig,<br />

da die Menschen sich aufgrund ihrer Krankheit nicht<br />

an Abmachungen erinnern könnten oder ihr Geld verlegten. Sind<br />

sie vermögend oder besitzen sie Liegenschaften, kommen zur Finanzverwaltung<br />

und Heimplatzierung die Liegenschaftsverwaltung,<br />

das Sichten und Sichern der Wertsachen sowie die Räumung,<br />

Reinigung und der Verkauf der Liegenschaften dazu.<br />

Bilder: Ursula Markus<br />

«Wir sind ein Gemischtwarenladen: Nebst den Klientinnen und<br />

Klienten, die wir im Rahmen der Sozialhilfe betreuen, übernehmen<br />

wir die Mandate der KESB und beaufsichtigen beispielsweise<br />

Pflegefamilien und Kindertagesstätten», sagt Marion Hasler.<br />

Die gelernte Sozialarbeiterin ist Co-Leiterin des sechsköpfigen,<br />

330-Stellenprozente umfassenden Sozialdienstes der Obwaldner<br />

Gemeinde Alpnach, die rund 6000 Einwohnerinnen und Einwohner<br />

zählt. Zudem ist Marion Hasler Mitglied der Geschäftsleitung<br />

der Gemeindeverwaltung. Die Nähe zur Politik ist in Alpnach<br />

gross: Marion Haslers direkter Vorgesetzter ist der Gemeinderat,<br />

der das Departement Soziales und Gesundheit leitet. «Die Zusammenarbeit<br />

verläuft zwar sehr konstruktiv, aber ich muss etliche<br />

Entscheide begründen und viel Aufklärungsarbeit leisten.»<br />

Politik und Verwaltung reden mit<br />

Die 42-Jährige hat ihre Stelle 2014 angetreten, nachdem sie zwölf<br />

Jahre im wirtschaftlichen Sozialdienst der Stadt Luzern tätig gewesen<br />

war. Der Stellenwechsel brachte eine grosse Veränderung der<br />

Aufgaben und damit der Anforderungen mit sich: Statt Fachwissen<br />

in einem Bereich waren nun Allrounder-Fähigkeiten und ein<br />

breiteres Wissen gefragt. «Anders als in Luzern gibt es in Alpnach<br />

weder einen Rechtsdienst noch eine interne Revision, an die man<br />

sich im Zweifelsfall wenden kann. Man muss sich selbst zu helfen<br />

wissen», so Marion Hasler. Auch wenn sie sich die nötigen Kenntnisse<br />

rasch angeeignet hat, fehlen ihr für seltene Fälle wie etwa die<br />

Restkostenfinanzierung für einen ausserkantonalen Pflegeplatz jedoch<br />

die Routine: «In solchen Situationen habe ich das Gefühl, mit<br />

Halbwissen an eine Sache heranzugehen. Das ist unbefriedigend.»<br />

Ebenfalls nicht immer einfach sei der Umgang mit der relativ<br />

schwerfälligen Administration: «Manchmal komme ich mir vor<br />

wie ein Crash-Test-Dummy: Ich bin voll in Fahrt und sause plötzlich<br />

in eine Wand. Beispielsweise kann ich ein Stelleninserat nicht<br />

einfach mehr selbst aufgeben, sondern muss es erst in die Geschäftsleitung<br />

bringen», so Marion Hasler. Dies seien jedoch kleinere<br />

Unstimmigkeiten, die nichts daran änderten, dass sie ihre Arbeitszufriedenheit<br />

als sehr hoch einschätze: Marion Hasler gefällt<br />

die grosse Vielfalt ihrer Arbeit, die etliche Ausseneinsätze mit sich<br />

bringt. Und das Team – alles Frauen – sei schlicht toll: «Das ist für<br />

mich der wichtigste Faktor überhaupt», sagt Marion Hasler. •<br />

Karin Meier<br />


Wirkungen von Integrationsprogrammen<br />

in der Sozialhilfe<br />

FACHBEITRAG Wie wirken Integrationsprogramme in der Sozialhilfe? Und welche Faktoren spielen<br />

für die Wirkung eine Rolle? In einer Studie der Berner Fachhochschule wird diesen Fragen seit<br />

2014 intensiv nachgegangen. Nun liegt ein validiertes Messinstrument vor, das die Wirkungen von<br />

Integrationsprogrammen sowie die Einflussfaktoren erfasst und zuverlässig misst.<br />

Die Berner Fachhochschule (BFH) hat in<br />

einer Studie die Wirkungen von Integrationsprogrammen<br />

in der Sozialhilfe systematisch<br />

untersucht. Für die Studie wurde eine<br />

Online-Befragung von Programmteilnehmenden<br />

in drei Befragungswellen durchgeführt.<br />

Die Studie zeigte in der ers ten Befragungswelle,<br />

wie sich Teilnehmende von<br />

Integrationsprogrammen in der Sozialhilfe<br />

in vielen Dimensionen deutlich von anderen<br />

Bevölkerungsgruppen unterscheiden.<br />

Bei den Auswertungen wurde zwischen<br />

Teilnehmenden mit dem Ziel der sozialen<br />

Integration (SI) und solchen, die mittelfristig<br />

eine berufliche Integration im ersten Arbeitsmarkt<br />

anstreben (BIP), unterschieden.<br />

Das Profil der befragten Programmteilnehmenden<br />

Personen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit<br />

sind bei den befragten Programmteilnehmenden<br />

mit einem Anteil<br />

von 38 Prozent gegenüber einem Ausländeranteil<br />

von rund 25 Prozent in der ständigen<br />

Wohnbevölkerung (BFS <strong>2017</strong>a)<br />

deutlich übervertreten. Die Hälfte der Teilnehmenden<br />

von Integrationsprogrammen<br />

wurde entweder im Ausland geboren oder<br />

besitzt eine ausländische Staatsangehörigkeit.<br />

47 Prozent haben weder eine Lehre<br />

abgeschlossen noch eine weiterführende<br />

Schule (z.B. Gymnasium) absolviert. Bei<br />

den 25- bis 64-Jährigen in der Schweiz beträgt<br />

der gleiche Anteil 12 Prozent (BFS<br />

<strong>2017</strong>b). Die Hälfte der Teilnehmenden<br />

hat Schulden. Die Teilnehmenden beziehen<br />

im Durchschnitt seit 28 Monaten Sozialhilfe<br />

und sind seit 20 Monaten keiner<br />

Arbeit mehr nachgegangen. Ein Drittel der<br />

Teilnehmenden hat bereits früher an einem<br />

Integrationsprogramm teilgenommen.<br />

Bei den SI-Teilnehmenden ist es die<br />

Hälfte, die bereits Erfahrungen in Integrationsprogrammen<br />

sammelte.<br />

Neben diesen soziodemografischen<br />

und ökonomischen Indikatoren zeigt sich,<br />

dass es den Teilnehmenden der Integrationsprogramme<br />

gesundheitlich deutlich<br />

schlechter geht als Personen der ständigen<br />

Wohnbevölkerung, insbesondere auch<br />

als armutsbetroffenen Personen (vgl. Abbildung<br />

1). Der eigene Gesundheitszustand<br />

wird von den 18- bis 64-Jährigen<br />

in der Schweiz auf einer Skala von 1 (sehr<br />

schlecht) bis 5 (sehr gut) mit gut bis sehr<br />

gut bewertet (ø = 4.3). Dies zeigen Aus-<br />

wertungen der Schweizerischen Gesundheitsbefragung<br />

für das Jahr 2012. Armutsbetroffene<br />

Personen, d.h. Personen,<br />

deren Haushaltseinkommen kleiner ist<br />

als 50 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens<br />

(Median), stufen ihren Gesundheitszustand<br />

mit 4.0 etwas schlechter<br />

ein als die Schweizerische Bevölkerung.<br />

Ein Vergleich mit den durchschnittlichen<br />

Werten der Teilnehmenden zu Beginn des<br />

Integrationsprogramms zeigt, dass sie ihren<br />

Gesundheitszustand noch schlechter<br />

einstufen als armutsbetroffene Personen.<br />

Die Auswertungen machen weiter deutlich,<br />

dass die Teilnehmenden auch weniger<br />

zufrieden sind mit ihrem Gesundheitszustand<br />

als die Durchschnittsbevölkerung.<br />

Die Programmteilnehmenden erzielen auf<br />

einer Skala von 0 (gar nicht zufrieden) bis<br />

10 (vollständig zufrieden) durchschnittliche<br />

Werte von 5.7 (SI) respektive 7.4<br />

(BIP). Zusätzlich fühlen sie sich stärker<br />

durch gesundheitliche Probleme eingeschränkt.<br />

Weiter zeigen die Ergebnisse, dass<br />

die Teilnehmenden der Integrationsprogramme<br />

in der Sozialhilfe einer hohen<br />

psychischen Belastung ausgesetzt sind.<br />

ABB. 1: GESUNDHEITSRELEVANTE INDIKATOREN DER PROGRAMMTEILNEHMENDEN ZU BEGINN DES PRO-<br />

GRAMMS IM VERGLEICH MIT DURCHSCHNITTSWERTEN FÜR DIE SCHWEIZERISCHE BEVÖLKERUNG<br />

Gesundheitszustand<br />

Zufriedenheit mit der Gesundheit<br />

Energie und Vitalität (EVI)<br />

Psychische Belastung (DET PSY)<br />

3.5<br />

5.7<br />

51.0<br />

63.4<br />

3.9<br />

7.4<br />

62.4<br />

61.2<br />

4.0<br />

7.8<br />

66.4<br />

78.0<br />

4.3<br />

8.1<br />

71.6<br />

83.1<br />

1.0 2.0 3.0 4.0 5.0<br />

1 = sehr schlecht, 2 = eher schlecht,<br />

3 = mittelmäsig, 4 = gut, 5 = sehr gut<br />

0.0 2.0 4.0 6.0 8.0<br />

0 = gar nicht zufrieden bis<br />

10 = vollständig zufrieden<br />

Quelle: Online-Befragung der Programmteilnehmenden<br />

(2015/2016), BFS (SGB/SILC 2012); Berechnungen BFH<br />

10.0 0.0 20.0 40.0 60.0 80.0 100.0 0.0 20.0 40.0 60.0 80.0 100.0<br />

0 = sehr tief bis 100 = sehr hoch 0 = sehr hoch bis 100 = sehr tief<br />

SI-Teilnehmende<br />

Armutsbetroffene CH-Bevölkerung (18- bis 64-Jährige)<br />

BIP-Teilnehmende CH-Bevölkerung (18- bis 64-Jährige)<br />

26 <strong>ZESO</strong> 2/17


Dies kommt durch durchschnittliche Indexwerte<br />

von 63.4 respektive 61.2 als<br />

Mass für die psychische Belastung (DET<br />

PSY) zum Ausdruck. Aus einer klinischen<br />

Sicht besteht ein starker Zusammenhang<br />

zwischen psychischen Störungen und<br />

Werten kleiner oder gleich 52. Bei Werten<br />

zwischen 53 und 72 sind psychische Störungen<br />

wahrscheinlich. Höhere Werte verweisen<br />

auf eine gute psychische Gesundheit<br />

(BFS 2014). Ein weiterer Index zeigt<br />

zudem, dass die Programmteilnehmenden<br />

bei Programmbeginn über weniger Energie<br />

und Vitalität verfügen als Armutsbetroffene<br />

und Durchschnittsschweizer.<br />

Die Wirkungen der Integrationsprogramme<br />

Die Wirkungen der Integrationsprogramme<br />

bei den Programmteilnehmenden wurden<br />

mit Hilfe von 40 Indikatoren erhoben.<br />

Der Fokus des Indikatorensets liegt neben<br />

Schlüsselindikatoren zur beruflichen und<br />

materiellen Situation auf weichen Faktoren<br />

wie zum Beispiel der Grad der sozialen Integration<br />

oder der psychischen Stabilität einer<br />

Person.<br />

Nach der Datenbereinigung konnten<br />

die Angaben von 101 Programmteilnehmenden<br />

ausgewertet werden. Davon haben<br />

94 Personen die Programme vollständig<br />

absolviert. Sieben Personen haben die<br />

Programme aus unterschiedlichen Gründen<br />

vorzeitig verlassen. Ob diese Personen<br />

als Vergleichsgruppe verwendet werden,<br />

um die mögliche Entwicklung der Teilnehmenden<br />

zu beschreiben, falls sie nicht<br />

am Programm teilgenommen hätten, wird<br />

nach Abschluss der Fokusgespräche entschieden.<br />

Bei den vorliegenden Ergebnissen<br />

wird die Veränderung in den Indikatoren<br />

zwischen der Erhebung am Ende des<br />

Programms und der Befragung zu Beginn<br />

des Programms als Wirkung interpretiert.<br />

Bei den BIP-Teilnehmenden sind die<br />

grössten Veränderungen im Bereich der<br />

harten Faktoren, der beruflichen und materiellen<br />

Situation, eingetreten. 26 Prozent<br />

haben eine Lehrstelle oder eine Arbeitsstelle<br />

gefunden, weitere 26 Prozent ein<br />

Praktikum. Bei rund der Hälfte der Teilnehmenden<br />

findet keine berufliche Veränderung<br />

statt. Rund 9 Prozent konnten sich<br />

nach Beendigung des Programms von der<br />

Sozialhilfe ablösen und die Schuldenhöhe<br />

ist im Durchschnitt um 3900 Franken gesunken.<br />

Die Zahl der Bewerbungen stieg<br />

im Durchschnitt nur unwesentlich von 23<br />

Bewerbungen in sechs Monaten auf 25.<br />

Die Zahl der Vorstellungsgespräche blieb<br />

praktisch unverändert. Neben diesen Wirkungen<br />

bei den harten Faktoren zeigen<br />

sich die grössten Veränderungen in der<br />

Gruppe der BIP-Teilnehmenden bei der<br />

Tagesstruktur. Die Teilnehmenden stehen<br />

während des Programms im Durchschnitt<br />

eine Stunde früher auf als zuvor. Sie nehmen<br />

auch mehr Mahlzeiten zu sich als<br />

vor dem Programm. Der Indikator zu den<br />

Zukunftsaussichten zeigt zudem, dass die<br />

Unsicherheit bei den BIP-Teilnehmenden<br />

tendenziell abnimmt.<br />

Die grössten Veränderungen sind bei<br />

den SI-Teilnehmenden im Bereich der<br />

Gesundheit auszumachen. Sie fühlen sich<br />

durch gesundheitliche Probleme weniger<br />

stark eingeschränkt und ihre Zufriedenheit<br />

mit der Gesundheit steigt. Der<br />

durchschnittliche Wert dieses Indikators<br />

erhöht sich von 5.7 auf 6.9 Punkte. Die<br />

Teilnehmenden erreichen damit ein mit<br />

den BIP-Teilnehmenden vergleichbares<br />

Niveau. Diese gesundheitliche Verbesserung<br />

schlägt sich auch in der Anzahl der<br />

Arztbesuche nieder. Vor dem Programm<br />

suchten die SI-Teilnehmenden in einem<br />

halben Jahr 7 Mal eine Ärztin oder einen<br />

Arzt (ohne Zahnarzt) auf. Während des Programms<br />

senkt sich dieser Durchschnittswert<br />

auf fünf Arztbesuche. Die SI-Teilnehmenden<br />

fühlen sich bei Programm ende<br />

zudem weniger häufig einsam, was darauf<br />

hinweist, dass auch in der Dimension der<br />

sozialen Integration Veränderungen ausgelöst<br />

werden. Die Auswertungen zeigen<br />

auch, dass sich die Zukunftsaussichten der<br />

Teilnehmenden mit dem Ziel der sozialen<br />

Integration verbessern.<br />

Die Veränderungen in den einzelnen<br />

Indikatoren können standardisiert und<br />

zusammengefasst auf der Ebene von sechs<br />

Wirkungsdimensionen ausgewiesen werden<br />

(vgl. Abb.2). Die Netzdiagramme für<br />

die zwei Untersuchungsgruppen zeigen,<br />

dass bei den BIP-Teilnehmenden die<br />

grössten Wirkungen in der Dimension «Berufliche<br />

und materielle Situation» auszumachen<br />

sind. Bei den SI-Teilnehmenden<br />

ist es die Dimension «Physische und psychische<br />

Gesundheit». Dabei handelt es<br />

sich mit durchschnittlichen Werten nach<br />

Cohens d von 0.37 (BIP) respektive 0.26<br />

(SI) um eher kleine Veränderungen. An<br />

zweiter Stelle im Hinblick auf positive Veränderungen<br />

folgt in beiden Gruppen die<br />

Wirkungsdimension Gesundheitsverhalten<br />

und Tagesstruktur. Aus Abbildung 2<br />

wird auch deutlich, in welchen Dimensionen<br />

kaum Veränderungen eingetreten<br />

sind. So konnten weder die BIP- noch die<br />

SI-Teilnehmenden ihre Sprach- und Ar- <br />

ABB. 2: EFFEKTSTÄRKE AUF EBENE DER DIMENSIONEN<br />

FÜR SI- UND BIP-TEILNEHMENDE<br />

Ein Cohens d zwischen 0.2<br />

und 0.5 bedeutet einen<br />

kleinen, zwischen 0.5 und 0.8<br />

einen mittleren Effekt. d grösser<br />

als 0.8 bedeutet einen<br />

starken Effekt. Quelle: Online-<br />

Befragung der Programmteilnehmenden<br />

(2015/2016);<br />

Berechnungen BFH<br />

Motivation und<br />

Zukunftsperspektiven<br />

Sprach- und<br />

Arbeitskompetenzen<br />

Berufliche und<br />

materielle Situation<br />

Soziale Integration<br />

BIP<br />

SI<br />

Nulllinie<br />

Physische und<br />

psychische<br />

Gesundheit<br />

Gesundheitsverhalten<br />

und Tagesstruktur<br />

2/17 <strong>ZESO</strong><br />

27


eitskompetenzen markant verbessern.<br />

Auch in der Dimension «Motivation und<br />

Zukunftsperspektiven» lassen sich keine<br />

bedeutenden Veränderungen feststellen.<br />

In der Dimension «Soziale Integration» ist<br />

bei den SI-Teilnehmenden ein positiver<br />

Ausschlag zu verzeichnen.<br />

Die Programme<br />

wirken vor allem<br />

im physischen<br />

und psychischen<br />

Bereich positiv<br />

Multivariate Auswertungen<br />

Welche individuellen Faktoren beeinflussen<br />

die Wirkungen der Integrationsprogramme?<br />

Dieser Frage wurde mit Hilfe<br />

von multivariaten Analysen nachgegangen.<br />

Mit Blick auf die berufliche Integration<br />

kann festgehalten werden, dass sich bei<br />

den BIP-Teilnehmenden Migranten weniger<br />

gut integrieren als Schweizerinnen<br />

und Schweizer. Hingegen spielt bei den<br />

BIP- Teil neh menden weder das Alter, das<br />

Geschlecht, der Zivilstand noch die Dauer<br />

des Sozialhilfebezugs sowie die frühere<br />

Teilnahme an Integrationsprogrammen<br />

eine Rolle dabei, ob sie eine Anschlusslösung<br />

finden. SI-Teilnehmende mit einem<br />

Abschluss der Tertiärstufe finden häufiger<br />

eine Praktikumsstelle als Personen mit einer<br />

Berufsbildung. SI-Teilnehmende, die<br />

während der Programmlaufzeit heiraten,<br />

treten weniger häufig nach Programmende<br />

eine Praktikumsstelle an. Neben diesen<br />

Zusammenhängen lassen sich vereinzelt<br />

Geschlechter- und Alterseffekte feststellen.<br />

Beispielsweise steigt die Zufriedenheit<br />

mit der Gesundheit bei den älteren<br />

Teilnehmenden im SI-Programm stärker,<br />

während dieser Effekt bei den BIP-Teilnehmenden<br />

ein negatives Vorzeichen hat.<br />

In der Gruppe der BIP-Teilnehmenden<br />

kann festgestellt werden, dass sich Frauen<br />

gegenüber Männern in zwei Indikatoren<br />

zur Tagesstruktur (Mahlzeiten, Verlassen<br />

des Hauses) stärker verbessern.<br />

Die multivariaten Auswertungen zeigen,<br />

dass sich biografische Ereignisse<br />

während des Programmbesuchs auf die<br />

Gesundheit auswirken können. So hat<br />

zum Beispiel sowohl bei den SI- wie auch<br />

bei den BIP-Teilnehmenden der Tod eines<br />

Haustiers einen negativen Einfluss auf die<br />

Zufriedenheit mit der Gesundheit. Lassen<br />

sich BIP-Teilnehmende scheiden, fühlen<br />

sie sich stärker durch gesundheitliche Probleme<br />

eingeschränkt. BIP-Teilnehmende,<br />

die heiraten, reduzieren ihren Alkoholkonsum<br />

stärker und SI-Teilnehmende<br />

verlassen im Fall einer Heirat häufiger<br />

das Haus, stehen aber im Durchschnitt<br />

später auf. Diese Ergebnisse zeigen, dass<br />

Veränderungen in den gemessenen Wirkungsdimensionen<br />

nicht nur durch den<br />

Programmbesuch, sondern auch durch<br />

biografische Ereignisse ausgelöst werden<br />

können. Umso wichtiger ist es, solche negativen<br />

oder positiven Lebensereignisse<br />

mithilfe des Messinstruments zu erfassen.<br />

Positive Wirkungen<br />

Die vorliegenden Ergebnisse weisen darauf<br />

hin, dass die Integrationsprogramme positive<br />

Wirkungen entfalten. Am deutlichsten<br />

sind diese Effekte in der Dimension «Physische<br />

und psychische Gesundheit» bei den<br />

SI-Teilnehmenden nachzuweisen. Bei den<br />

BIP-Teilnehmenden treten die deutlichsten<br />

Effekte in der Dimension «Berufliche<br />

und materielle Situation» auf. Die weiteren<br />

Auswertungen der dritten Befragungswelle<br />

und der Fokusgruppen werden zusätzliche<br />

Informationen zur Wirkung von Integrationsprogrammen<br />

beisteuern und das hier<br />

skizzierte Wirkungsprofil von SI- und BIP-<br />

Programmen vervollständigen. •<br />

Thomas Oesch<br />

Berner Fachhochschule,<br />

Fachbereich Soziale Arbeit<br />

Peter Neuenschwander<br />

Berner Fachhochschule,<br />

Fachbereich Soziale Arbeit<br />

DIE STUDIE<br />

Die BFH führte die Untersuchung in Zusammenarbeit<br />

mit der Beratungsfirma socialdesign sowie<br />

fünf bernischen Programmanbietern durch. An<br />

der Studie beteiligten sich AMI-Aktive Integration,<br />

die GAD-Stiftung, das Kompetenzzentrum Arbeit,<br />

der Verein maxi.mumm sowie das Schweizerische<br />

Arbeiterhilfswerk. Die Ergebnisse beruhen auf<br />

einer Online-Befragung von Programmteilnehmenden<br />

in diesen fünf Institutionen: 290 wurden<br />

in einer ersten Befragungswelle bei Programmeintritt<br />

zwischen März bis Ende November 2015<br />

befragt und 137 zum Zeitpunkt des Programmaustritts<br />

zwischen Juni 2015 und Ende Mai 2016<br />

(2. Befragungswelle). Zudem konnte ein Teil der<br />

Befragten zirka ein Jahr nach Programmaustritt<br />

telefonisch befragt werden (3. Befragungswelle).<br />

Diese Nachbefragung soll zeigen, ob die Wirkungen<br />

der Integrationsprogramme nachhaltig<br />

sind. Zusätzlich wurden vier Fokusgruppen mit<br />

Teilnehmenden von Integrationsprogrammen<br />

durchgeführt, um die quantitativen Umfrageergebnisse<br />

mit qualitativen Aussagen von<br />

Programmteilnehmenden zu vertiefen.<br />

In der von der Kommission für Technologie und<br />

Innovation (KTI) geförderten Untersuchung<br />

wurde zwischen zwei Teilnehmergruppen<br />

unterschieden. Bei Teilnehmenden mit dem Ziel<br />

der sozialen Integration (SI) steht die soziale<br />

Stabilisierung im Vordergrund. Die berufliche<br />

Integration ist bei ihnen kein explizites Ziel. BIP-<br />

Teilnehmende hingegen streben mittelfristig eine<br />

berufliche Integration im ersten Arbeitsmarkt an.<br />

Um die Wirkungen von Integrationsprogrammen<br />

in der Sozialhilfe systematisch zu untersuchen,<br />

hat die BFH in Zusammenarbeit mit socialdesign<br />

ein umfassendes Wirkungsmodell erarbeitet.<br />

Darin werden sämtliche relevanten Faktoren, die<br />

einen Einfluss auf die beabsichtigten Wirkungen<br />

haben, abgebildet. Neben den Voraussetzungen,<br />

welche die Teilnehmenden beim Eintritt in das<br />

Programm mitbringen (Income), wurden die eingesetzten<br />

Ressourcen (Input) sowie verschiedene<br />

Leistungselemente wie Coachings und<br />

Beratungsgespräche (Output) bei den Anbietern<br />

erfasst. Der Schwerpunkt der Erhebung lag auf<br />

der Erfassung der Wirkungen der Programme<br />

bei den Teilnehmenden (Outcome). Auf dieser<br />

Ebene wurden zum Beispiel Informationen<br />

zur beruflichen und materiellen Situation, zur<br />

sozialen Integration, zur Gesundheit und zu Arbeitskompetenzen<br />

der Teilnehmenden erhoben.<br />

Ob Integrationsprogramme Wirkungen entfalten<br />

oder nicht, hängt nicht zuletzt auch von<br />

programmexternen Bedingungen ab. Einschneidende<br />

biografische Ereignisse während der<br />

Laufzeit des Programms (zum Beispiel der Tod<br />

einer nahestehenden Person oder eine Heirat)<br />

wurden aus diesem Grund ebenfalls erfasst, um<br />

allfällige Zusammenhänge mit Wirkungsindikatoren<br />

abbilden zu können.<br />

28 <strong>ZESO</strong> 2/17


Sekundäre Folge<br />

der Fachkräfteinitiative<br />

FACHBEITRAG Mit der Fachkräfteinitiative sollen mehr gut qualifizierte Frauen mehr arbeiten. Sind<br />

die Massnahmen erfolgreich, wird dies Auswirkungen auf die Nachfrage nach haushaltsnahen<br />

Dienstleistungen und damit auch Sans-Papiers-Hausarbeiterinnen haben. Dies zeigt ein Gutachten,<br />

das die Anlaufstelle für Sans-Papiers Basel bei der Fachhochschule Nordwestschweiz in Auftrag<br />

gegeben hat.<br />

In der Schweiz soll das Potenzial von einheimischen<br />

Fachkräften besser ausgeschöpft<br />

werden. Die Fachkräfteinitiative<br />

des Bundesrates von 2011 (FKI) verlangt,<br />

dass Frauen und ältere Arbeitnehmende<br />

vermehrt in den Arbeitsmarkt integriert<br />

werden. Sie sollen ihre Arbeitspensen erhöhen<br />

und länger erwerbstätig bleiben. Neben<br />

wirtschaftlichen und gleichstellungspolitischen<br />

Zwecken wird mit dieser<br />

Initiative auch die Absicht verfolgt, die Zuwanderung<br />

zu reduzieren – dies vor allem<br />

seit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative<br />

im Februar 2014.<br />

Unbezahlte Arbeit im Haushalt<br />

In der Schweiz arbeiten sehr viele, gerade<br />

auch gut ausgebildete Frauen mit niedrigen<br />

Teilzeitpensen. Diese sollen nun im<br />

Rahmen der FKI ihr Arbeitspensum erhöhen.<br />

Dabei geht jedoch vergessen, dass viele<br />

Frauen neben ihrer Erwerbsarbeit zusätzlich<br />

unbezahlte Arbeit im Haushalt, in der<br />

Kinderbetreuung und in der Pflege von älteren<br />

oder beeinträchtigten Familienangehörigen<br />

leisten. Bei diesen Aufgaben handelt<br />

es sich um Arbeiten, die immer noch<br />

grösstenteils von Frauen verrichtet werden<br />

(was sich, wie verschiedene Studien zeigen,<br />

auch bei zunehmender Erwerbstätigkeit<br />

von Frauen nicht ändert). Wenn die Frauen<br />

nun ihr Arbeitspensum erhöhen, bleibt ihnen<br />

weniger Zeit, um diese Haus- und Betreuungsarbeiten<br />

selbst auszuführen. Und<br />

da Fragen zur Verteilung der Haus- und Betreuungsarbeit<br />

und zum Zugang zu Betreuung<br />

und Pflege bei den Massnahmen der<br />

FKI nicht genügend berücksichtigt werden,<br />

müssten die familienbezogenen Arbeiten<br />

vermehrt auf dem Dienstleistungsmarkt<br />

eingekauft werden – zum Beispiel<br />

bei Sans-Papiers-Hausarbeiterinnen.<br />

Die Analysen des Schweizerischen<br />

Haushaltspanels zeigen, dass das Arbeitspensum<br />

der Frau – neben dem Haushaltseinkommen,<br />

dem Ausbildungsgrad<br />

der Frau und dem Haushaltstyp (mit/<br />

ohne Kinder) – einen sehr grossen Einfluss<br />

auf die Nachfrage nach haushaltsnahen<br />

Dienstleistungen hat. Besonders deutlich<br />

wird dies bei Paarhaushalten mit Kindern:<br />

Haushalte mit Müttern, die ein hohes Teilzeitpensum<br />

haben, nehmen eher Hilfe in<br />

Anspruch (44%), als wenn die Mutter mit<br />

einem niedrigen Teilzeitpensum arbeitet<br />

(28%).<br />

Anstieg der Nachfrage<br />

Schätzungsweise generieren bereits vier<br />

Haushalte, in denen die FKI wirkt, die<br />

Nachfrage nach mindestens einer zusätzlichen<br />

Arbeitskraft im Privathaushalt. Haus-<br />

EXTERNE HILFE NACH<br />

TEILZEITPENSUM DER FRAU<br />

(Paarhaushalte mit Kindern)<br />

Quelle: Fachhochschule Nordwestschweiz 1<br />

1<br />

Knöpfel, Carlo/Zängl, Peter/Madörin, Sarah (2016):<br />

Gutachten: Abschätzung der Folgen der Umsetzung<br />

der Fachkräfteinitiative auf den bezahlten Niedriglohnbereich<br />

in privaten Haushalten, insbesondere<br />

für niedrigqualifizierte Migrantinnen und Migranten<br />

und Sans-Papiers. Im Auftrag der Anlaufstelle für<br />

Sans-Papiers.<br />

28%<br />

44%<br />

unter 50% 50–95%<br />

haltsnahe Dienstleistungen können zwar<br />

auch durch Personen aus dem Verwandten-<br />

oder Bekanntenkreis oder von spezialisierten<br />

Diensten (z.B. Kinderhorte) erbracht<br />

werden, häufig werden diese<br />

Aufgaben jedoch von wenig qualifizierten<br />

Migrantinnen und Migranten übernommen.<br />

Bei wachsender Beschränkung der Arbeitsmigration<br />

ist davon auszugehen, dass<br />

vermehrt Sans-Papiers, also Migrantinnen<br />

und Migranten ohne Aufenthaltsbewilligung,<br />

in den betroffenen Privathaushalten<br />

angestellt werden. Von den 100 000 Personen,<br />

die heute bereits in privaten Haushalten<br />

tätig sind, sind laut der Anlaufstelle<br />

für Sans-Papiers Basel mindestens 40 000<br />

Sans-Papiers. Wie verschiedene Studien<br />

zeigen, zeichnen sich Sans-Papiers-Hausarbeiterinnen<br />

häufig durch eine sehr hohe<br />

Arbeitsmoral, vielseitige Kompetenzen<br />

und eine gute Bildung aus – und unterscheiden<br />

sich damit massgebend von<br />

einem grossen Teil der legalen Arbeitskräfte<br />

im Hauswirtschaftssektor. Zudem bieten<br />

sie oftmals flexiblere Lösungen als spezialisierte<br />

Dienste (wie z.B. Kinderhorte) und<br />

stellen für viele Familien den besten Weg<br />

dar, die Doppelbelastung von Familie und<br />

Beruf befriedigend abzufedern.<br />

Vor dem Hintergrund der Verknüpfung<br />

der FKI mit der Masseneinwanderungsinitiative<br />

ist die beschriebene Entwicklung<br />

politisch so nicht gewünscht. Sie wirft zumindest<br />

die Frage auf, wie arbeitsmarktpolitisch<br />

mit der Nachfrage nach Hilfskräften,<br />

die durch die Umsetzung der FKI in<br />

Privathaushalten entstehen würde, umgegangen<br />

werden soll.<br />

•<br />

Carlo Knöpfel, Professor FHNW Soziale Arbeit<br />

Sarah Madörin, Wissenschaftl. Assistentin<br />

2/17 <strong>ZESO</strong><br />

29


Zeit der Schwebe sinnvoll nutzen<br />

REPORTAGE Während der Wartezeit im Asylverfahren lernen und arbeiten: Das ist die Devise<br />

des neuen Beschäftigungsprogramms In-Limbo, das von Büren an der Aare aus in den<br />

Kollektivunterkünften des Seelands derzeit eingeführt wird. Die Asylsuchenden machen durch das<br />

Programm einen ersten Integrationsschritt in den Schweizer Arbeitsmarkt, können ihre erworbenen<br />

Kenntnisse aber auch bei einer allfälligen Rückkehr in die Heimat brauchen.<br />

Es ist unüblich ruhig an diesem Donnerstag<br />

vor Ostern. In der Kollektivunterkunft<br />

Lyss, wo viele Familien leben und ansonsten<br />

ein reges Gewusel im und um das Haus<br />

herrscht, sind heute viele Asylsuchende am<br />

Fasten und bleiben ruhig in ihren Zimmern.<br />

Auf dem Gelände um das Haus im<br />

Lysser Industrieviertel befinden sich ein<br />

Volleyballfeld, begrünte Hochbeete und<br />

ein Sandkasten. Das Besondere daran ist:<br />

Die Asylsuchenden haben sich all dies selber<br />

gebaut − aus Material, das nicht mehr<br />

gebraucht wurde. So fertigten sie aus alten<br />

Holzpalletten die Hochbeete und benutzten<br />

die Holzplatten eines nicht mehr benutzten<br />

Gartenhauses für den Sandkasten.<br />

Auch die Gartenplatten haben sie selber<br />

verlegt. Sie haben dies im Rahmen des Beschäftigungsprogrammes<br />

In-Limbo getan.<br />

Dieses wurde zunächst im vergangenen<br />

Jahr in der Kollektivunterkunft Büren a.A.<br />

angeboten und wird nun nach und nach<br />

auf die anderen von Asyl Biel & Region<br />

(ABR) betriebenen Unterkünften im Seeland<br />

und in Enggistein eingeführt.<br />

Bereits ab dem zweiten Tag<br />

In-Limbo ist in seiner Art neu. Das Programm<br />

bietet Flüchtlingen nicht nur Beschäftigungsmöglichkeiten,<br />

sondern beinhaltet<br />

auch Bildung. Speziell daran ist,<br />

dass die Asylsuchenden bereits ab dem<br />

zweiten Tag nach ihrer Ankunft in der Kollektivunterkunft<br />

mitmachen können − unabhängig<br />

davon, ob sie in der Schweiz bleiben<br />

oder in ihr Heimatland zurückkehren.<br />

Dabei ist der Name Programm: Die Teilnehmer<br />

sollen die ungewisse Zeit der<br />

Schwebe während ihres hängigen Asylverfahrens<br />

sinnstiftend nutzen können. Sei es<br />

als erster Integrationsschritt in den Schweizer<br />

Arbeitsmarkt oder als Basis für eine<br />

existenzsichernde Tätigkeit in der Heimat.<br />

Jonas Beer hat ein erstes Programm zusammen<br />

mit anderen von der unkonventionellen<br />

Business-schule Kaospilots entwickelt.<br />

Ein Zivildienstleistender, der in der<br />

Kollektivunterkunft Büren a.A. arbeitete,<br />

hatte sie dazu geholt, um einen Business<br />

Plan zu entwickeln, wie mit Asylsuchenden<br />

Produkte hergestellt werden könnten. Daraus<br />

haben Markaus Schneider, Leiter der<br />

Kollektivunterkunft Büren a.A., und Jonas<br />

Beer das In-Limbo-Konzept entwickelt.<br />

Sie dachten dabei vor allem darüber nach,<br />

welchen Mehrwert es für alle bringen würde,<br />

wenn die teils lange Zeit des Wartens<br />

mit Arbeit und Bildung verbracht werden<br />

könnte.<br />

Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit<br />

Heute ist Jonas Beer Verantwortlicher Organisationsentwicklung<br />

bei In-Limbo. Das<br />

Programm kommt gut an: In Büren a.A.,<br />

wo 90 Menschen wohnen, machen drei<br />

Viertel bei In-Limbo mit. Das ist nicht<br />

selbstverständlich, wird doch von den Asylsuchenden<br />

auch so einiges verlangt. Sagen<br />

sie nach einer kurzen Probezeit zu, ist ihre<br />

Teilnahme verbindlich. Das Programm ist<br />

in drei Phasen aufgeteilt: In einer ersten,<br />

drei Monate dauernden Phase kommen<br />

die Asylsuchenden in Berührung mit der<br />

hiesigen Sprache und besuchen Workshops<br />

zum Leben in der Schweiz. «Sie lernen<br />

nebst Geografie und Ähnlichem auch<br />

Praktisches zum alltäglichen Leben in der<br />

Schweiz, etwa wie man ein Billett am Automaten<br />

löst», erklärt Jonas Beer. In dieser<br />

ersten Zeit sind die Asylsuchenden unter<br />

anderem mit dem Putzen der Asylunterkunft<br />

beschäftigt. Ihnen werden wichtige<br />

Grundwerte des schweizerischen Arbeitsmarktes<br />

vermittelt, wie Pünktlichkeit und<br />

Zuverlässigkeit. Zu Beginn habe er diese<br />

erste Phase als nicht so wichtig erachtet, erinnert<br />

sich Beer. «Doch das Gegenteil ist<br />

der Fall.» In diesen ersten Wochen klären<br />

die In-Limbo-Mitarbeitenden auch das Potential<br />

der Asylsuchenden ab. Nach diesen<br />

Lernen statt warten − die Asylsuchenden<br />

erwerben in der Manufaktur praktische<br />

Kompetenzen. <br />

Bilder: Annette Boutellier<br />

30 <strong>ZESO</strong> 2/17


STEIGENDE SOZIALHILFE-<br />

KOSTEN IM ASYLBEREICH<br />

Bund, Kantone und Gemeinden sind mit<br />

wachsenden Sozialhilfekosten im Asylbereich<br />

konfrontiert. Nach Auslaufen der Pauschalabgeltung<br />

des Bundes nach fünf respektive sieben<br />

Jahren müssen die Kantone und Gemeinden die<br />

Sozialhilfe übernehmen. Die SKOS geht in ihren<br />

Berechnungen mittelfristig von einer jährlichen<br />

Steigerung von 4 Prozent der Sozialhilfeaufwendungen<br />

von Kantonen und Gemeinden aus, allein<br />

aufgrund der Entwicklungen im Asylwesen. Oft<br />

entsprechen die Kenntnisse der Landessprache<br />

und die beruflichen Qualifikationen von Personen<br />

aus dem Asylbereich nicht den Anforderungen<br />

des Arbeitsmarktes. Denn gesucht sind fast<br />

ausschliesslich Fachkräfte, zu integrieren sind<br />

jedoch meist junge Asylsuchende, vorläufig Aufgenommene<br />

oder Flüchtlinge mit wenig Schulbildung<br />

und Arbeitserfahrung. Zahlen zeigen, dass<br />

nach fünf Jahren in der Schweiz die Erwerbstätigenquote<br />

von Flüchtlingen bei 31 Prozent und bei<br />

vorläufig Aufgenommenen bei 16 Prozent liegt.<br />

Trotzdem sind viele auf ergänzende Sozialhilfe<br />

angewiesen. Das Beschäftigungsprogramm<br />

In-Limbo hat deshalb zum Ziel, die Erwerbstätigenquote<br />

bei Personen aus dem Asylbereich zu<br />

erhöhen und damit längerfristig die Sozialhilfeausgaben<br />

zu reduzieren. (car)<br />

Einführungswochen können die Asylsuchenden<br />

ihre Arbeit in einer der diversen<br />

Projektgruppen aufnehmen, beispielsweise<br />

in der Velowerkstatt, Gärtnerei, Näherei,<br />

Imkerei oder der Manufaktur. In einer dritten<br />

Phase können die Personen individuell<br />

für externe Arbeitseinsätze vermittelt werden.<br />

«Da sehen wir ein grosses Potenzial»,<br />

sagt Jonas Beer. Indes ist dies aus rechtlichen<br />

Gründen her schwierig umzusetzen,<br />

da viele Asylsuchende den N-Ausweis besitzen<br />

und deshalb noch nicht als reguläre Arbeitskraft<br />

eingesetzt werden dürfen.<br />

Arbeit motiviert<br />

«Tu was du liebst», steht auf dem kleinen<br />

Block geschrieben, der in die Hülle aus<br />

Kaffeesackstoff gelegt werden kann. Die<br />

Asylsuchenden aus Eritrea, Syrien und<br />

Äthiopien stehen in der Manufaktur um einen<br />

Tisch. Sie stellen Umschläge für Agenden<br />

oder Blöcke her und scheinen ihre Arbeit<br />

zu mögen. Konzentriert schneiden sie<br />

den Stoff nach der Vorlage des Schnittmusters<br />

zu, kleben eine Verstärkung auf. Der<br />

33-jährige Ibrahim Agri, der vor zweieinhalb<br />

Jahren aus Syrien in die Schweiz floh,<br />

kennt das Leben in der Asylunterkunft nur<br />

zu gut. «Früher gab es keine Kurse», erinnert<br />

er sich. «Viele Menschen langweilten<br />

sich und verbrachten zwölf Stunden am<br />

Tag mit Schlafen.» Dank In-Limbo hätten<br />

sie nun die Möglichkeit, etwas zu tun und<br />

zu lernen, Erfahrungen zu sammeln. Das<br />

sei gut für die Motivation. Er selber bekam<br />

vor einem Jahr einen positiven Asylent-<br />

scheid und kann nun als Praktikant in der<br />

Kollektivunterkunft in Büren arbeiten.<br />

Ibrahim Agri, der nebst Deutsch auch Kurdisch,<br />

Arabisch, Türkisch, Englisch und<br />

Französisch spricht, träumt davon, eines<br />

Tages als Sozialarbeiter in der Schweiz arbeiten<br />

zu können. Auch die 23-jährige Hamida<br />

aus Afghanistan ist sehr motiviert. Ihre<br />

beiden Kinder spielen unweit des<br />

Arbeitstisches mit Legos. Sie selber ist in<br />

die Arbeit vertieft und möchte noch rasch<br />

ihren Arbeitsschritt beenden, bevor sie sich<br />

mit den andern in die Pause begibt. •<br />

Catherine Arber<br />

www.in-limbo.ch<br />

2/17 <strong>ZESO</strong><br />

31


Der Zivildienst: Helfende Hände<br />

für das Gemeinwohl<br />

PLATTFORM Zivildienstleistende – oder «Zivis» – unterstützen seit 1996 gemeinnützige Institutionen<br />

dort, wo ihnen Ressourcen fehlen. Das Sozialwesen ist seit der Einführung des Zivildienstes das<br />

wichtigste Aufgabenfeld für Zivis. Ein Kurzporträt.<br />

Wer in der Schweiz den obligatorischen<br />

Militärdienst nicht mit seinem Gewissen<br />

vereinbaren kann, hat das Recht, einen zivilen<br />

Ersatzdienst zu leisten. Dieser Dienst<br />

dauert 1,5 Mal so lange, wie der Militärdienst<br />

dauern würde, und wird in öffentlichen<br />

oder gemeinnützigen privaten Institutionen<br />

geleistet. Tätigkeitsbereiche des<br />

Zivildienstes sind das Gesundheits- und<br />

Sozialwesen, das Schulwesen (seit Juli<br />

2016), der Umwelt- und Naturschutz, die<br />

Kulturgütererhaltung, die Landwirtschaft,<br />

die Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre<br />

Hilfe sowie Einsätze im Zusammenhang<br />

mit Katastrophen und Notlagen.<br />

4500 Zivis im Einsatz<br />

Die Vollzugsstelle für den Zivildienst (ZI-<br />

VI) – Teil des Eidgenössischen Departements<br />

für Wirtschaft, Bildung und Forschung<br />

(WBF) – ist für die Zulassung,<br />

Einsätze und Ausbildung von Zivis sowie<br />

die Anerkennung, Betreuung und Inspektion<br />

von Einsatzbetrieben zuständig. Täglich<br />

sind über 4500 Zivis im Einsatz, im<br />

Jahr 2016 leisteten sie rund 1,7 Millionen<br />

Diensttage.<br />

Das Sozialwesen ist seit der Einführung<br />

des Zivildienstes der bedeutendste<br />

Tätigkeitsbereich für Zivis. 2016 wurden<br />

dort 57 % aller Diensttage geleistet. Dieser<br />

Tätigkeitsbereich ist sehr vielfältig. Zivis<br />

können ihre Einsätze insbesondere in Institutionen<br />

für Betagte oder Menschen mit<br />

einer Beeinträchtigung, im Kinder- oder<br />

Jugendbereich, in der Arbeit mit Süchtigen<br />

oder Arbeitslosen sowie im Asylbereich<br />

leisten. Dabei stehen Aufgaben in<br />

der Betreuung und dem Austausch «von<br />

Mensch zu Mensch» im Vordergrund. Mit<br />

ihren Einsätzen im Sozialwesen leisten<br />

Zivis einen wertvollen Beitrag zur Lebensqualität<br />

der Betreuten und zur Entlastung<br />

des Fachpersonals.<br />

Einsatz wo Bedarf besteht<br />

Die Einsätze im Sozialwesen dienen dem<br />

Ziel, den sozialen Zusammenhalt zu stärken<br />

und die Situation von Betreuungsbedürftigen<br />

zu verbessern. Zu diesem Zweck<br />

werden Zivis dort eingesetzt, wo gesellschaftlicher<br />

Bedarf besteht und Ressourcen<br />

fehlen. Ein solcher Bedarf besteht etwa<br />

im Asylbereich. Ein Schwerpunkt der<br />

Massnahmen von Bund und Kantonen im<br />

Rahmen der Fachkräfteinitiative Plus (FKIplus)<br />

liegt bei der verbesserten Integration<br />

von Flüchtlingen und vorläufig aufgenommenen<br />

Personen in den Schweizer Arbeitsmarkt.<br />

Die Zivis leisten mit ihren Einsätzen<br />

im Asylbereich einen Beitrag zur Erreichung<br />

dieses Ziels.<br />

Zivis unterstützen Flüchtlinge und vorläufig<br />

Aufgenommene etwa beim Erlernen<br />

der Sprache, in Beschäftigungsprogrammen<br />

oder in der Berufsvorbereitung. Durch<br />

solche Angebote werden Flüchtlinge und<br />

vorläufig Aufgenommene frühzeitig auf ein<br />

eigenständiges Leben in der Schweiz vorbereitet<br />

oder es wird ihnen eine Perspektive<br />

für die Zeit nach einer allfälligen Rückkehr<br />

in ihr Herkunftsland gegeben.<br />

Im Jahr 2016 wurden 3,4% der<br />

Diensttage von Zivis im Asylbereich geleistet,<br />

viele davon in der Alltagsbetreuung<br />

von Asylsuchenden oder bei Unterhaltsarbeiten<br />

in Durchgangszentren. Für solche<br />

Einsätze standen rund 80 anerkannte Einsatzbetriebe<br />

mit 275 verfügten Einsatzplätzen<br />

zur Verfügung.<br />

Im Vergleich zur Zahl der von Freiwilligen<br />

geleisteten Betreuungsstunden oder<br />

der täglichen Arbeit von Betreuungsfachpersonen<br />

mag der Beitrag von Zivis klein<br />

sein. Klein aber fein: Er erlaubt es gemeinnützigen<br />

Institutionen helfende Hände gezielt<br />

einzusetzen, wo Bedarf besteht.<br />

Zivildienstleistende arbeiten vorwiegend im Sozialwesen, bei der Betreuung von Betagten oder<br />

Kindern zum Beispiel.<br />

Bild: ZIVI<br />

Daniel Weyermann<br />

Wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />

Vollzugsstelle für den Zivildienst ZIVI<br />

www.zivi.admin.ch<br />

32 <strong>ZESO</strong> 2/17


FORUM<br />

Ruth Gurny,<br />

Soziologin (ehem. ZHAW)<br />

Bild: zvg<br />

Ueli Tecklenburg,<br />

Soziologe und Historiker<br />

(ehem. GL SKOS)<br />

Bild: zvg<br />

Eine Neuorientierung der Sozialhilfe ist dringend<br />

Der sozialkritische Thinktank Denknetz<br />

setzt sich für eine gerechte, soziale und<br />

freiheitliche Schweiz ein. Er fordert eine<br />

Sozialpolitik, die diesen Anforderungen<br />

gerecht wird. Dazu gehört eine grundlegende<br />

Neujustierung der Sozialhilfe.<br />

Während langer Zeit stand die Sozialhilfe<br />

in der Schweiz im Schatten der<br />

politischen Aufmerksamkeit. Im Zuge<br />

der wirtschaftlichen Entwicklung gegen<br />

Ende des letzten Jahrhunderts wuchsen<br />

jedoch die Fallzahlen rapide an. Seither<br />

stellt die Sozialhilfe eines der beliebtesten<br />

Angriffsziele im öffentlichen politischen<br />

Diskurs dar.<br />

Die Sozialhilfe, die ursprünglich gedacht<br />

war als vorübergehende Hilfe in individuellen<br />

Notlagen, wurde mehr und<br />

mehr zum Instrument der Absicherung<br />

struktureller Risiken. Dafür eignen sich<br />

aber weder ihre Organisationsform noch<br />

die Bemessung ihrer Unterstützungsleistungen.<br />

Laut Sozialhilfestatistik 2015<br />

ist die Hälfte aller Sozialhilfebeziehenden<br />

schweizweit zwei Jahre und mehr<br />

auf diese Unterstützung angewiesen. Es<br />

kann also schwerlich von einer Unterstützung<br />

in einer vorübergehenden Notlage<br />

gesprochen werden.<br />

fälligsten sind die Unterschiede bei den<br />

Pro-Kopf-Aufwendungen für die Sozialhilfe.<br />

Die massiven Differenzen zwischen<br />

den Kantonen können mit Sicherheit<br />

nicht einfach auf die unterschiedliche<br />

Zusammensetzung der jeweiligen Sozialhilfepopulation<br />

zurückgeführt werden,<br />

sondern widerspiegeln die sehr unterschiedlichen<br />

Praktiken in der Gewährung<br />

der Sozialhilfe. Die SKOS-Studie<br />

aus dem Jahr 2007 zeigte damals auf,<br />

dass das jährlich frei verfügbare Einkommen<br />

von einem Kantonshauptort zum<br />

anderen um 6000 Franken variieren<br />

kann. Die absoluten Zahlen dürften sich<br />

Fast die Hälfte der<br />

rund 13 000 Neurentner<br />

pro Jahr<br />

werden der IV aus<br />

den RAV oder der<br />

Sozialhilfe zugespielt.<br />

Die kantonale Zuständigkeit für die Sozialhilfe<br />

führt zu grossen Unterschieden<br />

auf verschiedensten Ebenen. Am augenseit<br />

2007 verändert haben, die grossen<br />

Differenzen sind aber mit Sicherheit geblieben.<br />

Auch Rechte und Pflichten der<br />

Sozialhilfebeziehenden und die Gewährung<br />

von Zulagen variieren im interkantonalen<br />

Vergleich beträchtlich. Während<br />

beispielsweise das Tessiner Gesetz zur<br />

Sozialhilfe ein Recht der Bezügerinnen<br />

und Bezüger auf soziale Integrationsmassnahmen<br />

festschreibt, ist im Neuenburger<br />

Gesetz genau das Gegenteil zu<br />

finden: Sozialhilfebeziehende haben dort<br />

kein Anrecht auf Teilnahme an einem<br />

Integrationsprojekt, können aber dazu<br />

verpflichtet werden. Gemäss einer anderen<br />

von der SKOS in Auftrag gegebenen<br />

Studie variiert zudem im interkantonalen<br />

Vergleich die Vergabequote von Zulagen<br />

in der Sozialhilfe von 30%-40% bis<br />

hin zu 70%-90%. Ob sich die kantonalen<br />

Unterschiede mit den vor Kurzem<br />

revidierten SKOS-Richtlinien verkleinern<br />

werden, ist mehr als zweifelhaft, wie die<br />

neuen, noch tieferen Unterstützungsleistungen<br />

für junge Erwachsene in verschiedenen<br />

Kantonen zeigen.<br />

Ein weiteres Thema betrifft die Höhe<br />

der Unterstützungsleistungen. Im Jahre<br />

1963 hat die SKOS erstmals zahlenmässig<br />

bezifferte «Richtsätze» herausgegeben.<br />

Sie bemerkte dazu, dass die Unterstützungsleistungen<br />

sowohl der Teuerung<br />

als auch dem steigenden Realeinkommen<br />

angepasst werden sollen. Wäre die-<br />

<br />

2/17 <strong>ZESO</strong><br />

33


FORUM<br />

<br />

sen Prinzipen nach gelebt worden, so<br />

müsste heute der Grundbedarf bei voller<br />

Anpassung an die Lohnentwicklung seit<br />

Einführung der Pauschalisierung der<br />

Richtlinien im Jahre 1998 um 20%<br />

höher sein. Die letzten Entwicklungen im<br />

Kanton Bern, wo eine 10%ige Absenkung<br />

des Grundbedarfs gefordert wird, lassen<br />

schliesslich die schweizweite Anerkennung<br />

der SKOS-Richtlinien als eher<br />

unwahrscheinliche Entwicklung erahnen.<br />

Die gegenwärtige politische Auseinandersetzung<br />

führt die Sozialhilfe in eine<br />

Sackgasse. Deshalb schlägt das Denknetz<br />

eine grundlegende Justierung vor, die<br />

folgende Elemente enthält:<br />

- Schliessen der Löcher in den heutigen<br />

Sozialversicherungen durch<br />

Realisierung der Allgemeinen Erwerbsversicherung<br />

(AEV), welche die<br />

bestehenden Sozialversicherungen<br />

(ohne AHV, BVG) zusammenschliesst.<br />

Dazu gehören auch das Risiko des<br />

Erwerbsausfalls im Krankheitsfall<br />

und der Miteinbezug der selbständig<br />

Erwerbenden.<br />

- Wer trotz zumutbarer Bemühungen<br />

keine würdige Arbeit findet, hat<br />

Anrecht auf Taggelder ohne zeitliche<br />

Beschränkung. Leute, die dauerhaft<br />

leistungsvermindert sind, erhalten<br />

eine (Teil-)Rente.<br />

- Wenn das Total der anrechenbaren<br />

Einkommen eines Haushaltes die<br />

anerkannten Ausgaben nicht deckt,<br />

wird das Haushaltseinkommen auf die<br />

Höhe einer garantierten, bundesweiten<br />

Grundsicherung ergänzt, unabhängig<br />

vom Grund für das unzureichende<br />

Einkommen. Eine solche Grundsicherung<br />

muss mindestens die Höhe<br />

der Ergänzungsleistungen AHV /IV<br />

erreichen.<br />

- Die heutige persönliche Sozialhilfe<br />

wird durch eine integrierte Lebensund<br />

Karriereunterstützung abgelöst.<br />

Die entsprechenden Integrations- und<br />

Beratungsangebote werden auf die<br />

Situation und die Bedürfnisse der Betroffenen<br />

abgestimmt. Es ist auf jede<br />

Form von Zwangsarbeit zu verzichten,<br />

und alle Formen diesbezüglicher Sanktionen<br />

sind abzuschaffen.<br />

- Betroffene, die in eine berufliche<br />

Sackgasse geraten sind und deshalb<br />

arbeitslos werden, müssen berufliche<br />

Um- und Weiterbildungen absolvieren<br />

können, ohne deshalb die Unterstützung<br />

der Sozialversicherung zu verlieren.<br />

Es ist absurd, dass dieser Weg<br />

nur denjenigen offen steht, die auf<br />

ein beträchtliches Vermögen zurückgreifen<br />

können, während alle anderen<br />

von beruflichen Perspektiven abgeschnitten<br />

bleiben. Wir brauchen ein<br />

Stipendienwesen, das auch Erwachsenen<br />

eine berufliche Neuorientierung<br />

ermöglicht.<br />

- Die Arbeitgebenden müssen verpflichtet<br />

werden, eine genügende Anzahl<br />

von Arbeitsplätzen für Menschen mit<br />

verminderter Leistung oder anderen<br />

Einschränkungen zu schaffen. Die<br />

Sozialwerke müssen ihnen in Form<br />

von professioneller Unterstützung,<br />

mit Begleitung und Beratung zur Seite<br />

stehen.<br />

- Die öffentliche Hand hat dafür zu<br />

sorgen, dass in der Pflege, Betreuung<br />

und Gesundheitsversorgung genügend<br />

Ausbildungsplätze und Stellen<br />

geschaffen werden. Zudem sollen<br />

die Arbeitszeiten auf sinnvolle Weise<br />

gesenkt werden, zum Beispiel durch<br />

die Schaffung eines bedingungslosen<br />

Sabbaticals für alle. Damit wird<br />

erreicht, dass sich die Lage auf dem<br />

Erwerbsarbeitsmarkt entspannt und<br />

die Perspektiven für alle jene verbessern,<br />

die heute keine Stelle finden.<br />

- Mindestlöhne sorgen dafür, dass sich<br />

«Arbeit lohnt» und dass die Zahl der<br />

Working poor gesenkt werden kann.<br />

- Schliesslich ist ein Elternurlaub («Elternzeit»)<br />

einzuführen, wie ihn die Eidgenössische<br />

Koordinationskommission<br />

für Familienfragen vorschlägt. •<br />

DAS DENKNETZ<br />

Das Denknetz ist ein sozialkritischer<br />

Thinktank, der gesellschaftstheoretische<br />

und politische Grundlagenarbeit leistet.<br />

Sein Credo ist die Universalität der<br />

Menschenrechte und die Unteilbarkeit der<br />

Grundwerte Freiheit, Gleichheit und Solidarität.<br />

Es erarbeitet Analysen, Thesen und<br />

Reformvorschläge, die diesen Grundwerten<br />

verpflichtet sind.<br />

Das Denknetz ist ein Verein mit rund 1200<br />

Einzelmitgliedern und einer Reihe von Kollektivmitgliedern.<br />

Es finanziert sich ausschliesslich<br />

über Mitgliederbeiträge. Die<br />

Arbeit im Denknetz, ausser der Geschäftsstelle,<br />

wird ehrenamtlich geleistet. Seine<br />

Fachgruppen sind in folgenden Bereichen<br />

tätig: Politische Ökonomie/Steuerpolitik,<br />

Sozialpolitik/Care/Arbeit, Bildungspolitik,<br />

Langzeitpflege, Big Pharma und Prekarität.<br />

Eine ausführliche Darstellung findet sich<br />

auf der Webpage des Denknetzes: www.<br />

denknetz.ch/sites/default/files/denknetz_<br />

grundlagen_sozialhilfe_april_16.pdf<br />

In dieser Rubrik schafft die <strong>ZESO</strong> Raum für Debatten<br />

und Meinungen. Der Inhalt gibt die Meinung des<br />

Autors resp. der Autorin wieder.<br />

34 <strong>ZESO</strong> 2/17


LESETIPPS<br />

Reformieren durch Investieren<br />

Der sozialinvestive Umbau des Wohlfahrtsstaats<br />

verspricht Antworten auf demografische<br />

und ökonomische Herausforderungen des<br />

Wohlfahrtstaats. Investitionen in Humankapital,<br />

etwa in Kinder oder in die Verbesserung des Zugangs<br />

zu Beschäftigung, und eine konsequente<br />

Neubestimmung der Sozialpolitik ermöglichen<br />

es, soziale Ungleichheiten zu reduzieren. Das<br />

Buch untersucht, welche Ausprägungen das Sozialinvestitionsparadigma<br />

in der Schweiz angenommen hat und welche Auswirkungen sich aus<br />

dem sozialinvestiven Umbau des Sozialstaates ergeben.<br />

Bonvin Jean-Michel, Dahmen Stephan (Hrsg.), Reformieren durch Investieren? Chancen<br />

und Grenzen des Sozialinvestitionsstaats in der Schweiz, Seismo, <strong>2017</strong>,<br />

144 Seiten, CHF 28.−. ISBN 978-3-03777-148-8<br />

Familien in der Falle?<br />

Zur Ergründung des sozialen Phänomens Familienarmut<br />

werden familiale Wege in die und aus<br />

der Armut und armutsverweisende Mechanismen<br />

sozialer Wandlungsprozesse untersucht.<br />

In Auseinandersetzung mit den Paradigmen<br />

individualisierter Erwerbsgesellschaften<br />

werden Lockerungen und Verhärtungen des<br />

Zusammenhangs von Familienarmut und individuellen<br />

Lebenschancen aus verschiedenen Perspektiven geprüft. Dabei<br />

wird der These nachgegangen, dass Familien durch Wirkungskräfte der<br />

Armut in eine Falle sozialer Exklusion geraten, aus der ihre Mitglieder<br />

keinen Ausweg finden.<br />

Fehr Sonja, Familien in der Falle? Dynamik familialer Armut in der individualisierten<br />

Erwerbsgesellschaft, Beltz, <strong>2017</strong>, 470 Seiten, CHF 53.−<br />

ISBN:978-3-7799-3646-6<br />

Arbeitsmarktchancen von<br />

Migranten in Europa<br />

Umgang mit schwierigen<br />

Klienten<br />

Das Buch analysiert die Arbeitsmarktchancen<br />

von Einwanderern in 18 westeuropäischen<br />

Ländern. Es untersucht, ob eher die Herkunft<br />

der Personen oder die Herkunft ihrer Bildung<br />

relevant für eine erfolgreiche Arbeitsmarktintegration<br />

ist. Und es geht der Frage nach,<br />

inwieweit landes- und gruppenspezifische<br />

Bildungsverwertungschancen durch die Bildungssysteme der Aufnahmeländer<br />

geprägt werden. Die Ergebnisse liefern Erklärungen für<br />

ethnische Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt und bieten einen Beitrag<br />

zur Diskussion um den Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen<br />

auf Arbeitsmarktchancen.<br />

Herwig Andreas, Arbeitsmarktchancen von Migranten in Europa<br />

Analysen zur Bedeutung von Bildungsherkunft und Bildungssystemen, Springer VS,<br />

<strong>2017</strong>, 342 Seiten, CHF 65.−. ISBN 978-3-658-17117-9<br />

Innovation gegen Armut<br />

Armutsprävention kann nicht durch punktuelle<br />

Massnahmen erreicht werden, sondern erfordert<br />

verschiedene aufeinander abgestimmte Angebote<br />

vom Kleinkind- bis ins Erwachsenenalter. Dazu<br />

sind eine gute Zusammenarbeit der verschiedenen<br />

Akteure sowie eine Koordination der Massnahmen<br />

nötig. Die Tagung des Nationalen Programms gegen<br />

Armut hat das Ziel, Impulse für innovative Ansätze<br />

in der Armutsprävention im Bereich Bildungschancen<br />

zu geben.<br />

Fachtagung des Nationalen Programms gegen Armut<br />

Montag, 4. September <strong>2017</strong>, Aarau<br />

www.gegenarmut.ch<br />

Digitale Arbeitswelt<br />

Die Digitalisierung schreitet voran. Immer mehr Arbeiten<br />

für Menschen mit niedrigen Qualifikationen<br />

fallen weg. Kenntnisse in Informations- und Kommunikationstechnologien<br />

gewinnen an Bedeutung.<br />

Traditionelle Firmen werden von Firmen mit<br />

neuen Organisations-und Beschäftigungsformen<br />

überholt, bevor entsprechende arbeits- und<br />

sozialrechtliche Fragen geklärt sind. Die Tagung<br />

der Schweizerischen Vereinigung für Sozialpolitik<br />

thematisiert diesbezüglich relevante Fragen des<br />

Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherheit.<br />

SVSP-Jahrestagung <strong>2017</strong><br />

Mittwoch, 25. Oktober <strong>2017</strong>, Bern<br />

www.svsp.ch<br />

Wie schützt man sich und seine Mitarbeiter an<br />

Arbeitsplätzen in sozialen Einrichtungen, Behörden<br />

und Ämtern, in denen Einschüchterungen,<br />

Drohungen, Beschimpfungen, körperliche und<br />

sexuelle Übergriffe immer wieder vorkommen?<br />

Die praxiserfahrenen Autoren stellen wirksame<br />

Strategien der Kommunikation und Deeskalation<br />

vor. Sie schildern typische Konfliktsituationen, die sich leicht auf die eigene<br />

Umwelt übertragen lassen. Dabei verbinden sie Wissen aus der Psychologie<br />

über Wahrnehmung, Kommunikation, Stress und Lernen mit polizeilichen<br />

Erfahrungen in Bedrohungssituationen.<br />

Rösch Stefanie, Linsenmayr Rainer, Vom Umgang mit schwierigen und<br />

gewaltbereiten Klienten, Psychiatrie-Verlag, <strong>2017</strong>, 168 Seiten, CHF 36.−<br />

ISBN 978-3-86739-158-0<br />

VERANSTALTUNGEN<br />

Armutsbekämpfung durch<br />

Schuldenprävention<br />

Wie muss die Schuldenprävention gestaltet und<br />

organisiert sein, damit sie einen Beitrag zur Armutsbekämpfung<br />

leisten kann? Mit dieser Frage<br />

beschäftigt sich die Fachtagung des Forums<br />

Schulden. Die Veranstaltung, die in Kooperation<br />

mit der SKOS durchgeführt wird, ist dieses Jahr<br />

international ausgerichtet.<br />

Internationale Fachtagung zur Schuldenberatung<br />

Donnerstag und Freitag, 9.-10. November <strong>2017</strong>, Olten<br />

www.forum-schulden.ch<br />

2/17 <strong>ZESO</strong><br />

35


Den Wechsel vom geldgetriebenen Geschäft ins Sozialwesen erlebte Christine Hunziker (li.) als «Kulturschock». Bild: Palma Fiacco<br />

Das Beste aus zwei Welten<br />

PORTRÄT Christine Hunziker, 47, war Managerin in der Modebranche. Dann hatte sie genug davon,<br />

Umsatz zu bolzen, und wechselte ins Sozialwesen. Heute unterstützt sie in Basel Jugendliche mit<br />

Beeinträchtigungen auf dem Weg ins Erwerbsleben.<br />

tet sie eng mit dem Lehrbetrieb zusammen,<br />

im Fall von Jugendlichen mit psychischer<br />

Erkrankung auch mit dem Therapeuten.<br />

Schon rund fünfzig Jugendliche in dreissig<br />

Berufen hat Hunzikers Beratungsfirma<br />

nach diesem Konzept begleitet, von der<br />

Pflege über Polybauer – Fachspezialisten<br />

für Gebäudehüllen – bis zum Detailhandel.<br />

«Kulturschock» überwunden<br />

Die Mehrheit schafft die Ausbildung und<br />

findet eine Stelle, auch wenn die Lehrzeit<br />

ein Auf und Ab sein kann. Für viele ist der<br />

Schulstoff die Knacknuss, bei Jugendlichen<br />

mit psychischen Erkrankungen können<br />

Krisen auftreten. «Eine Garantie, dass<br />

das Lehrverhältnis klappt, gibt es aber<br />

auch bei Jugendlichen ohne Beeinträchtigung<br />

nicht», stellt Hunziker fest. Bei ihrer<br />

Aufgabe kommt ihr zugute, dass sie die Privatwirtschaft<br />

kennt. Zuletzt war sie Key-Account-Managerin<br />

in einem internationalen<br />

Accessoires-Unternehmen. Dort leitete sie<br />

ein Team und verkaufte Grosskunden Uhren,<br />

Schmuck, Handtaschen, Sonnenbrillen.<br />

Nach ihrem 30. Geburtstag verspürte<br />

sie das Bedürfnis, noch etwas <strong>ganz</strong> anderes<br />

zu machen. Weniger Gewinn, mehr Sinn.<br />

Auch der Werdegang ihres behinderten<br />

Bruders beeinflusste den Entscheid: «Mich<br />

beeindruckte es, wie er sich eine Stelle im<br />

ersten Arbeitsmarkt erkämpfte und wie<br />

Stadt Basel, Aeschengraben 18, nahe dem<br />

Bahnhof. Die Büroräume von Christine<br />

Hunzikers Coachingunternehmen «lehrundmehr»<br />

werden derzeit von Strassenbaulärm<br />

beschallt. «Gar nicht so einfach<br />

für die Jugendlichen, die hierherkommen,<br />

um zu lernen», stellt die Geschäftsinhaberin<br />

fest. Doch Christine Hunziker liebt Herausforderungen.<br />

Sie hat früher mal in den<br />

USA gelebt und mit ihrem Ehemann den<br />

Regenwald von Madagaskar durchwandert.<br />

Die jungen Frauen und Männer zwischen<br />

16 und 26, die sie betreut, sind sich<br />

noch <strong>ganz</strong> andere Hindernisse gewöhnt.<br />

Sie haben eine Lernschwierigkeit, ein<br />

ADHS mit Konzentrationsproblemen, eine<br />

Persönlichkeitsstörung oder eine psychische<br />

Erkrankung, wie zum Beispiel Depressionen<br />

oder Schizophrenie.<br />

Hunziker glaubt an sie: «Es sind alles<br />

Lernende mit dem Potenzial, trotz ihrer<br />

Einschränkung in der freien Wirtschaft<br />

zu bestehen.» Damit sie aber die Fähigkeiten<br />

für den gewählten Beruf erreichen<br />

könnten, benötigten sie Unterstützung.<br />

«Supported Education» heisst das Konzept,<br />

nach dem die gebürtige Aargauerin arbeitet.<br />

Sie begleitet als «Job Coach» die Jungen<br />

bei der Lehrstellensuche im ersten Arbeitsmarkt,<br />

während der Lehre, bei der Vorbereitung<br />

auf die Abschlussprüfung und bei<br />

der Bewerbung für eine Stelle. Dabei arbeiglücklich<br />

er dort war.» Sie fing in einer Basler<br />

Sozialeinrichtung an zu arbeiten und<br />

absolvierte berufsbegleitend ein Sozialpädagogik-Studium<br />

an einer Fachhochschule.<br />

Den Wechsel vom geldgetriebenen<br />

Geschäft ins Sozialwesen erlebte sie als<br />

«Kulturschock». Seit sechs Jahren ist sie<br />

nun selbständige Coachin und kann das<br />

Beste aus zwei Welten vereinen: die Menschenzentriertheit<br />

der Sozialarbeit und das<br />

Kostenbewusstsein der Marktwirtschaft.<br />

Ihr Hauptauftraggeber ist die Invalidenversicherung,<br />

auch die Arbeitslosenversicherung<br />

und die Sozialhilfe können Beiträge<br />

leisten. Die Investition lohnt sich laut<br />

Hunziker: «Wenn Jugendliche eine volle<br />

IV-Rente beziehen oder in der Sozialhilfe<br />

bleiben, ohne die Chance auf eine Arbeitsstelle,<br />

kommt das die Gesellschaft viel<br />

teurer.» Jungen, die es sich in der sozialen<br />

Hängematte gemütlich machen wollen, ist<br />

sie nie begegnet. Ganz im Gegenteil: «Sie<br />

sind hochmotiviert.» Dabei sporne es sie<br />

an, nicht zu Spezialfällen gemacht zu werden,<br />

sondern dort eine Lehre zu absolvieren,<br />

wo auch ihre Kollegen seien. Kürzlich<br />

erfuhr Hunziker, dass eine von ihr betreute<br />

junge Frau eine Praxis im gesundheitlichen<br />

Dienstleistungsbereich eröffnet hat:<br />

«Ich bin so stolz auf sie!» <br />

•<br />

Susanne Wenger<br />

36 <strong>ZESO</strong> 2/17

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