ZESO_2-2017_ganz
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<strong>ZESO</strong><br />
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE<br />
02/17<br />
INTERVIEW<br />
Jean-Michel Bonvin<br />
über den Zustand<br />
des Sozialstaats<br />
INTEGRATION<br />
Studie klärt die<br />
Wirksamkeit der<br />
Programme ab<br />
IN-LIMBO<br />
Asylbewerber nutzen<br />
die Wartezeit zum<br />
Lernen und Arbeiten<br />
ARBEITEN IM<br />
SOZIALDIENST<br />
Hohe Anforderungen und immer<br />
breitere Aufgabenpalette – wie<br />
lässt sich das bewältigen?
SKOS-WEITERBILDUNG<br />
Einführung in die öffentliche Sozialhilfe<br />
Montag, 11. September <strong>2017</strong>, 13 bis 18 Uhr, Hotel Arte in Olten<br />
In der Praxis stellen sich Fachleuten und Behördenmitgliedern komplexe Fragen. Rechtliches Wissen<br />
ist ebenso gefragt wie methodisches Handeln und Kenntnisse des Systems der sozialen Sicherheit.<br />
Die Weiterbildung der SKOS nimmt diese Themen auf und vermittelt Grundlagen zur Ausgestaltung der Sozialhilfe<br />
und zur Umsetzung der SKOS-Richtlinien, zu Verfahrensgrundsätzen und zum Prinzip der<br />
Subsidiarität. Insbesondere werden auch die Änderungen der aktuellen Richtlinienrevision erläutert.<br />
Die Veranstaltung richtet sich an Mitglieder von Sozialbehörden und an Fachleute und Sachbearbeitende von<br />
Sozialdiensten, die neu in der Sozialhilfe tätig sind oder ihr Fachwissen auffrischen wollen.<br />
Programm und Anmeldung: www.skos.ch Veranstaltungen
Ingrid Hess<br />
Verantwortliche Redaktorin<br />
EDITORIAL<br />
HOHE ANFORDERUNGEN MEISTERN<br />
DANK PROFESSIONALITÄT<br />
Lehrer und Lehrerin, Pfarrer oder Pfarrerin, Arzt bzw. Ärztin<br />
oder auch Schreiner und Schreinerin sind Berufe, die von mehrheitlich<br />
positiven Bildern geprägt sind. Bei den Sozialarbeitenden<br />
ist das anders. Sozialarbeitende stehen vor allem in der Sozialhilfe<br />
immer wieder im rauen Wind öffentlicher Debatten, die<br />
zuweilen heftig und weniger positiv und konstruktiv geführt<br />
werden. Gleichzeitig ist der Berufsalltag von Sozialarbeitern<br />
sehr anforderungsreich. Eine steigende Zahl von Klientinnen<br />
und Klienten ist zu betreuen, oft ohne zusätzliche Kapazitäten.<br />
Sozialdienste müssen die Einhaltung rechtlich-administrativer<br />
Anforderungen sicherstellen, die Berechtigung hieb- und stichfest<br />
klären und zusätzlich noch die psychosoziale Beratung<br />
oder Begleitung von Menschen in schwierigen Lebensphasen<br />
übernehmen. Auch KESB-Mandate, Betreuung von Demenzkranken<br />
können zum Aufgaben-Portfolio gehören . Dass Sozialarbeitende<br />
gegenüber ihrem Beruf dennoch mehrheitlich positiv<br />
eingestellt sind, ist keine Selbstverständlichkeit und zeugt<br />
von einer in der Regel hohen Professionalität (Seite 12).<br />
Erwartet wird von den Sozialdiensten auch, dass sie möglichst<br />
viele Sozialhilfebeziehende rasch wieder in den Arbeitsmarkt<br />
zurückführen. Das Mittel dazu ist seit etwa 30 Jahren die Aktivierung.<br />
Das Konzept brachte gewisse positive Resultate, aber<br />
nicht immer und nicht in jedem Fall, wie der Genfer Soziologe<br />
Jean-Michel Bonvin im Interview sagt (Seite 8). In Zukunft sollen<br />
verstärkt Grundkompetenzen vermittelt werden, um die Sozialhilfebeziehenden<br />
fitter für Ausbildung und Arbeitsmarkt zu<br />
machen (Seite 6).<br />
2/17 <strong>ZESO</strong><br />
1
SCHWERPUNKT<br />
Sozialarbeit in der<br />
Sozialhilfe<br />
Die Anforderungen an<br />
Sozialarbeitende, die in der<br />
Sozialhilfe arbeiten, sind<br />
hoch, die Aufgabenpalette<br />
gross: Lassen sich wirtschaftliche<br />
und persönliche<br />
Unterstützung unter<br />
einen Hut bringen?<br />
Nicht nur für den einzelnen Sozialarbeitenden,<br />
sondern für die Sozialhilfe insgesamt<br />
kann es herausfordernd sein, wirtschaftliche<br />
Hilfe und psychosoziale Beratung<br />
gleichermassen zu gewährleisten, wie die<br />
Beiträge des Schwerpunktes zeigen. Sie<br />
machen aber auch deutlich, dass neue<br />
Konzepte in Gang gebracht werden und<br />
Sozialdienstmitarbeitende trotz allem mit<br />
ihrem Beruf im Durchschnitt relativ zufrieden<br />
sind.<br />
12–23<br />
12–25<br />
14 22<br />
<strong>ZESO</strong><br />
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE HERAUSGEBERIN Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS, www.skos.ch REDAKTIONSADRESSE<br />
Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS, Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch, Tel. 031 326 19 19<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN 1422-0636 / 114. Jahrgang<br />
Erscheinungsdatum: 5. Juni <strong>2017</strong><br />
Die nächste Ausgabe erscheint im September <strong>2017</strong>.<br />
REDAKTION Ingrid Hess, Regine Gerber AUTORINNEN UND AUTOREN IN DIESER AUSGABE Jeremias Amstutz,<br />
Catherine Arber, Barbara Beringer, Heinrich Dubacher, Ruth Gurny, Véréna Keller, David Kieffer, Stephan Kirchschlager,<br />
Carlo Knöpfel, Sarah Madörin, Patricia Max, Karin Meier, Peter Neuenschwander, Thomas Oesch, Caroline<br />
Pulver, Jan G. Scheibe, Ueli Teckblenburg, Nicole Wagner, Susanne Wenger, Daniel Weyermann, Peter Zängl,<br />
TITELBILD Rudolf Steiner LAYOUT Marco Bernet, mbdesign Zürich KORREKTORAT Karin Meier DRUCK<br />
UND ABOVERWALTUNG Rub Media, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 PREISE<br />
Jahresabonnement CHF 82.– (SKOS-Mitglieder CHF 69.–), Jahresabonnement Ausland CHF 120.–, Einzelnummer<br />
CHF 25.–.<br />
2 <strong>ZESO</strong> 2/17
6<br />
8<br />
INHALT<br />
5 KOMMENTAR<br />
Menschen motivieren, ein erfülltes Leben<br />
zu führen – Kommentar von Nicole Wagner<br />
6 THEMA SOZIALHILFE<br />
Pilotprojekt Grundkompetenzen bringt<br />
positive Resultate<br />
8 INTERVIEW<br />
«Man kann mit der Aktivierung allein<br />
nicht alle Probleme lösen» , sagt Soziologe<br />
Jean-Michel Bonvin<br />
11 Praxis<br />
Ab welchem Zeitpunkt besteht Anspruch<br />
auf Unterstützung?<br />
12–25 SCHWERPUNKT<br />
SOZIALARBEIT IN DER SOZIALHILFE<br />
14 Wie steht es um die Sozialarbeit in der<br />
Sozialhilfe?<br />
16 Sozialhilfe – ein Arbeitsfeld mit hohen<br />
Qualifikationsanforderungen<br />
18 «Der Verwaltungsaufwand nimmt nach<br />
Meinung vieler zu grossen Raum ein».<br />
Nachgefragt bei Roger Pfiffner<br />
20 Psychosoziale Beratung in der Sozialhilfe<br />
in den Fokus rücken<br />
22 Die Praxis muss sich an der Ausbildung<br />
der künftigen Mitarbeitenden beteiligen<br />
24 Die Arbeit in den Sozialdiensten erfordert<br />
Fachwissen und Allrounder-Qualitäten –<br />
zwei Sozialarbeitende erzählen<br />
30<br />
32<br />
36<br />
26 INTEGRATIONSPROGRAMME<br />
Die Wirkung ist schwer zu messen – jetzt<br />
liegt ein validiertes Messinstrument vor<br />
28 FACHBEITRAG<br />
Sekundäre Folgen der Fachkräfteinitiative<br />
30 REPORTAGE<br />
Asylbewerber lernen und Arbeiten<br />
während der langen Wartezeit<br />
32 PLATTFORM<br />
Zivis sind beliebte Hilfskräfte im<br />
Sozialwesen<br />
33 FORUM<br />
Neuorientierung in der Sozialhilfe ist nötig<br />
34 LESETIPPS UND<br />
VERANSTALTUNGEN<br />
36 PORTRÄT CHRISTINE HUNZIKER<br />
Unterstützung für Jugendliche mit<br />
Schwierigkeiten in der Lehre<br />
2/17 <strong>ZESO</strong><br />
3
NACHRICHTEN<br />
Martin Klöti folgt Peter<br />
Gomm als SODK-Präsident<br />
Nach sechsjähriger engagierter Tätigkeit<br />
gibt Regierungsrat Peter Gomm (SP) aus Solothurn<br />
per Ende Juli sein Amt als Präsident<br />
der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen<br />
und Sozialdirektoren (SODK) ab. Unter<br />
seiner Ägide wurden die Richtlinien der<br />
Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe<br />
(SKOS) angepasst. Zu seinem Nachfolger<br />
hat die Plenarversammlung der SODK Martin<br />
Klöti (FDP) – zurzeit Regierungspräsident<br />
von St. Gallen – bestimmt. Martin Klöti<br />
steht seit seiner Wahl in die St.Galler Regierung<br />
im Jahr 2012 dem Departement des Innern<br />
vor. Er wird das Präsidium der SODK per<br />
1. August <strong>2017</strong> übernehmen. (Red.)<br />
Sieben Prozent Arme<br />
Im Jahr 2015 waren in der Schweiz rund<br />
570 000 Personen von Einkommensarmut<br />
betroffen. Darunter waren auch knapp<br />
145 000 erwerbstätige Personen. Zu den<br />
am stärksten betroffenen Gruppen zählten<br />
Personen, die alleine oder in Einelternhaushalten<br />
mit minderjährigen Kindern lebten,<br />
Personen ohne nachobligatorische Schulbildung<br />
und Personen in Haushalten ohne<br />
Erwerbstätige. Im Vergleich zum Vorjahr hat<br />
sich die Armutsquote kaum verändert. Dies<br />
geht aus der Erhebung über die Einkommen<br />
und Lebensbedingungen (SILC) des Bundesamtes<br />
für Statistik (BFS) hervor. Personen<br />
ab 65 Jahren wiesen ebenfalls eine<br />
überdurchschnittlich hohe Armutsquote<br />
auf (13,9%), insbesondere, wenn sie alleine<br />
lebten (22,8%). Nicht berücksichtigt hierbei<br />
ist die Vermögenssituation. (Red.)<br />
Kosten in der Sozialhilfe<br />
kaum gestiegen<br />
Die Ausgaben für die Sozialhilfe sind 2015<br />
nominal um 2,1 Prozent auf 2,6 Mrd. Franken<br />
gestiegen. Im Vorjahr hatte die Zunahme<br />
bei 5,5 Prozent gelegen. Die Zahl der<br />
unterstützten Personen nahm im gleichen<br />
Zeitraum um 1,4 Prozent zu, was somit teilweise<br />
den Kostenanstieg erklärt. Die Ausgaben<br />
pro Sozialhilfeempfänger blieben weitgehend<br />
stabil, sie stiegen lediglich um 0,7<br />
Prozent, wie aus der vom BFS publizierten<br />
Erhebung hervorgeht. Die Ausgaben für die<br />
Sozialhilfe machen von den Gesamtausgaben<br />
für Sozialleistungen von insgesamt<br />
157 Mrd. Fr. 1,6 Prozent aus. (Red.)<br />
Studierende der sozialen Arbeit üben<br />
mit virtuellen Klienten<br />
Seit dem Frühjahrssemester trainieren<br />
angehende Fachkräfte der Sozialen Arbeit<br />
an der Berner Fachhochschule BFH ihre<br />
Beratungskompetenzen in einer virtuellen<br />
Situation. Dozierende des Fachbereichs<br />
Soziale Arbeit haben das avatarbasierte<br />
Training als didaktisches Mittel entwickelt.<br />
Damit ist die BFH eine der ersten<br />
Schweizer Hochschulen, die Virtual Reality<br />
in der Lehre anwendet. Zusätzlich zu<br />
den herkömmlichen didaktischen Formen<br />
wie dem Rollenspiel probieren die Studierenden<br />
im virtuellen Training verschiedene<br />
Beratungstechniken aus und üben<br />
besondere Gesprächssituationen.<br />
Die Studierenden tragen hierzu eine<br />
Virtual-Reality-Brille und befinden sich<br />
während des Trainings beispielsweise in<br />
einem virtuellen Büro, in dem sie einen<br />
Klienten treffen. Sie lernen, heikle Themen<br />
anzusprechen oder Sanktionen auszusprechen<br />
und weitere wichtige Fertigkeiten.<br />
Die Trainings werden gefilmt. Die Studierenden<br />
können dank der Aufnahmen ihr<br />
Handeln reflektieren und durch wiederholtes<br />
Eintauchen in die virtuelle Situation<br />
Virtuelle Trainings mit der Brille. <br />
Berner Studie stellt Wirkung von<br />
Anreizen in Frage<br />
Die Berner Fachhochschule Soziale Arbeit<br />
hat im Mai im Auftrag der Berner Konferenz<br />
für Sozialhilfe, Kindes- und Erwachsenenschutz<br />
(BKSE) eine wissenschaftlich<br />
basierte Einschätzung der Wirkungen der<br />
geplanten höheren Anreizleistungen in<br />
der Sozialhilfe verfasst. Der Bericht zeigt,<br />
dass die Erwerbstätigkeit von Sozialhilfebeziehenden<br />
nur begrenzt mit finanziellen<br />
Anreizen erklärt und beeinflusst werden<br />
kann. Laut den Autoren existieren nur<br />
wenige Studien über die Wirkung von Anreizsystemen.<br />
Wo Ergebnisse vorliegen,<br />
weisen sie entweder keine oder nur eine<br />
geringe Wirkung nach. Die grosse Mehrheit<br />
der erwerbslosen Klienten bemühe<br />
sich um Arbeit und sei bereit, «prekäre Erwerbstätigkeiten<br />
in Kauf zu nehmen».<br />
Gemäss der Studie ist davon auszugehen,<br />
dass nur ressourcenstarke Sozialhilfe-<br />
Bild: BFH<br />
perfektionieren. Das Projektteam ist überzeugt,<br />
dass Virtual Reality als didaktisches<br />
Mittel ein praxisnahes Werkzeug darstellt<br />
und die herkömmlichen Trainingsformen<br />
sinnvoll ergänzt. (Red.)<br />
•<br />
beziehende von einem veränderten System<br />
mit reduziertem Grundbedarf und höheren<br />
Anreizleistungen (wie im Kanton Bern vorgeschlagen)<br />
profitieren und eine deutliche<br />
Mehrheit der Sozialhilfebeziehenden finanzielle<br />
Einbussen erleiden wird.<br />
Besonders betroffen wären neben älteren<br />
Sozialhilfebeziehenden über 50<br />
Jahre in erster Linie Kinder und Jugendliche<br />
unter 18 Jahren, welche die geplante<br />
Kürzung des Grundbedarfs stark zu spüren<br />
bekämen. Ob die Integrationszulage<br />
mittelfristig zu höherer Erwerbsbeteiligung<br />
führt, kann nicht belegt werden.<br />
Von höheren Einkommensfreibeträgen<br />
seien «bestenfalls kleine Effekte» zu erwarten.<br />
Ferner könne dessen Erhöhung<br />
zu weiteren Schwelleneffekten zwischen<br />
Sozialhilfe und Niedriglohnbereich führen.<br />
(Red.)<br />
•<br />
4 <strong>ZESO</strong> 2/17
KOMMENTAR<br />
Menschen motivieren, ein erfülltes Leben zu führen<br />
In der Literatur und Forschung wird der<br />
Begriff Aktivierung im Zusammenhang mit<br />
der aktivierenden Sozialhilfe und damit<br />
mit dem Paradigmenwechsel vom Fürsorgestaat<br />
zum aktivierenden Sozialstaat<br />
verwendet. Der Begriff wird zwar als gesellschaftliche<br />
Teilhabe häufig umfassend verstanden,<br />
faktisch aber in den Sozialdiensten<br />
auf Bemühungen zur Eingliederung in<br />
den Arbeitsmarkt reduziert. Das ergibt sich<br />
hauptsächlich aus der Absicht, Sozialhilfebeziehende<br />
ökonomisch unabhängig von<br />
Unterstützung zu machen.<br />
Diese Reduktion hat aber auch damit zu<br />
tun, dass eine staatliche Institution, wie<br />
es die Sozialhilfe ist, ihrer Klientel nicht<br />
direkt zu sozialer Integration im Sinne von<br />
Einbindung in soziale Netze oder zu sozialer<br />
Wertschätzung verhelfen kann. Somit steht<br />
die Frage im Raum, ob der sozialpolitische<br />
Fokus auf «Arbeit um jeden Preis» die Ausgrenzung<br />
von Menschen, die nicht erwerbstätig<br />
sind, tatsächlich verhindert.<br />
Der Gedanke, Menschen zu befähigen,<br />
wieder selbständig Verantwortung für sich<br />
und ihr Leben zu übernehmen, ist und<br />
bleibt in der Sozialhilfe eine der wichtigsten<br />
Maximen. Weil ihr Blickwinkel auf den<br />
Menschen aber sehr stark auf den ökonomischen<br />
Aspekt fokussiert und damit recht<br />
eng ist, sind Anreize wohl ein Instrument,<br />
doch damit lediglich ein eingeschränkter<br />
Bestandteil.<br />
Aktivierende Sozialhilfe, im umfassenden<br />
Sinne, wie sie in den Sozialdiensten angewendet<br />
werden möchte und sollte, bedingt<br />
aber entsprechende Ressourcen der Sozialdienste.<br />
Wenn man ihnen diese verweigert,<br />
dann kann eine wirkungsvolle Aktivierung<br />
und damit eine geglückte Integration nicht<br />
gewährleistet werden.<br />
Nebst den notwendigen Ressourcen ist zudem<br />
auch wichtig, dass das Integra tionsziel<br />
realistisch ist. Für einen Teil der Klientinnen<br />
und Klienten ist das Ziel der erste Arbeitsmarkt.<br />
Für andere, insbesondere Menschen<br />
mit Mehrfachproblematiken, ist dieses<br />
Ziel nicht realistisch. Hier geht es um das<br />
Stabilisieren der Situation.<br />
Damit eröffnet sich aber eine neue Problematik:<br />
Die dauerhafte Existenzsicherung<br />
von Menschen, die nicht mehr erwerbsfähig<br />
sein können und dennoch nicht krank<br />
(genug für die IV) sind, ist nicht kohärent<br />
geregelt. Faktisch übernimmt die Sozialhilfe<br />
diese Aufgabe mehr und mehr, aber sie<br />
hat keinen klaren konzeptionellen Umgang<br />
damit und die neue Rolle ist politisch auch<br />
nicht akzeptiert. Im System klafft eine<br />
Lücke. Der Gesundheitsbegriff ist gesellschaftlich<br />
definiert, der Arbeitsmarkt hat<br />
seine eigene Dynamik, und was weder in<br />
das Eine noch das Andere passt, hat keinen<br />
Namen und damit auch keinen Platz. Und<br />
schliesslich: Auch die beste Aktivierungspolitik<br />
kann keine Arbeitsplätze im ersten<br />
Arbeitsmarkt erzeugen. Hierzu steht auch<br />
die zentrale Frage im Raum: Kann eine<br />
staatliche Einrichtung einen Menschen<br />
überhaupt aktivieren, ihn veranlassen,<br />
etwas zu tun, was er ohne diesen Einfluss<br />
gar nicht tun würde?<br />
Wir wissen alle, um gesund zu werden,<br />
muss man gesund werden wollen. In der<br />
Sozialhilfe gilt das Gleiche: Wenn Klientinnen<br />
und Klienten nicht an eine für sie<br />
bessere Zukunft glauben, vermag auch der<br />
wohlmeinende Einfluss von Sozialarbeitenden<br />
nichts daran zu ändern.<br />
Als Fazit daraus würde ich den Begriff<br />
der Aktivierung gerne auf seinen ursprünglichen<br />
Sinn in der Sozialen Arbeit<br />
zurückführen: Menschen zu motivieren, für<br />
sich Verantwortung zu übernehmen, ihre<br />
Wirksamkeit zu erfahren, ein erfülltes Leben<br />
zu führen und damit die Grundidee zu<br />
verwirklichen, Menschen am gesellschaftlichen<br />
Leben teilhaben zu lassen.<br />
Nicole Wagner<br />
Leiterin Sozialhilfe Basel<br />
2/17 <strong>ZESO</strong><br />
5
Grundkompetenzen verbessern und<br />
Selbständigkeit zurückgewinnen<br />
SOZIALHILFE Viele Klientinnen und Klienten der Sozialhilfe haben<br />
Mühe, administrative Aufgaben selbständig zu erledigen. Mit<br />
neuartigen Pilotprojekten hat das Sozialamt der Stadt Bern<br />
untersucht, wie die Alltags- und Grundkompetenzen unterstützter<br />
Personen verbessert werden können. Die Auswertung der Projekte<br />
zeigt, dass der gewählte Erwachsenenbildungs-Ansatz Potenzial<br />
für die Sozialhilfe hat.<br />
Krankenkasse, Steuererklärung, Stipendienantrag<br />
– nicht wenige Menschen sind<br />
mit alltäglichen administrativen Aufgaben<br />
überfordert, so auch viele Sozialhilfebeziehende.<br />
Im Sozialdienst der Stadt Bern zeigt<br />
sich dies unter anderem am Beispiel Krankenkasse:<br />
Gut die Hälfte der Klientel hat<br />
ihre Krankenkassen-Geschäfte an den Sozialdienst<br />
abgetreten, da sie diese nicht<br />
selbst ändig führen kann. Bei der anderen<br />
Hälfte nimmt die Krankenkassen-Administration<br />
in der Beratung oft einen prominenten<br />
Platz ein – auf Kosten anderer, vielleicht<br />
wichtigerer Themen. Insgesamt bindet<br />
das Thema Krankenkasse im Sozialdienst<br />
zu viele Ressourcen.<br />
Vor diesem Hintergrund lancierte das<br />
Sozialamt der Stadt Bern ein Projekt zur<br />
Befähigung der Klientel im Bereich Alltagsadministration.<br />
Ziel war es, durch Erwachsenenbildungsangebote<br />
die Selbständigkeit<br />
der Klientel im administrativen<br />
Bereich zu erhöhen. Dadurch sollte einerseits<br />
das Selbstvertrauen der betroffenen<br />
Personen gefördert werden, andererseits<br />
erhoffte sich das Sozialamt Entlastungseffekte.<br />
Im Pilotprojekt stand das Thema<br />
Krankenkasse im Zentrum, längerfristig<br />
sind aber Kursangebote zu weiteren Themenbereichen<br />
angedacht.<br />
Unterschiedliche Bedürfnisse – zwei<br />
unterschiedliche Angebote<br />
Bei der Entwicklung und Durchführung<br />
der Kursangebote konnte mit der Volkshochschule<br />
Bern eine Partnerin gewonnen<br />
werden, die über viel Erfahrung in der Arbeit<br />
mit bildungsfernen Personen und in<br />
der Grundkompetenz-Förderung verfügt.<br />
Rasch wurde klar, dass für eine Befähigung<br />
im Bereich Krankenkasse unterschiedliche<br />
Zielgruppen mit unterschiedlichem<br />
Unterstützungsbedarf bestehen.<br />
Bei einem Teil der Betroffenen sind wohl<br />
fehlende Informationen über die Funktionsweise<br />
der Krankenkassenadministration<br />
der Hauptgrund für ihre Probleme<br />
mit der Krankenkasse. Bei einem anderen<br />
Teil der Betroffenen liegt der Hauptgrund<br />
hingegen vielmehr bei fehlenden Grundund<br />
Schlüsselkompetenzen. Vor diesem<br />
Hintergrund wurden für das Projekt zwei<br />
unterschiedliche Kursangebote entwickelt:<br />
Im Kurs «Krankenkasse kurz erklärt»<br />
(Dauer: 5 mal 2 Stunden) wurden das<br />
Grundwissen für die Krankenkassen-Administration<br />
sowie Strategien zur Bewältigung<br />
administrativer Arbeiten vermittelt.<br />
Die Gruppengrösse lag bei 12 Personen,<br />
für die Teilnahme war ein Sprachniveau<br />
B1 erforderlich.<br />
Im Kurs «Den Papierkram im Griff»<br />
(Dauer: 20 mal 2 Stunden) erhielten die<br />
Teilnehmenden neben Informationen<br />
über die Krankenkasse zusätzlich die Möglichkeit,<br />
ihre Grundkompetenzen zu verbessern.<br />
Die Gruppengrösse lag hier bei<br />
10 Personen, das erforderliche Sprachniveau<br />
bei A2.<br />
Während beim kürzeren Kurs ein eher<br />
klassischer Ansatz der Erwachsenenbildung<br />
zum Zug kam, wurde beim längeren<br />
Kurs auf die Arbeit mit der Lernplattform<br />
leap.ch gesetzt. Die Lernplattform macht<br />
es möglich, mit einer sehr heterogenen<br />
Gruppe zu arbeiten. Jede Person wählt auf<br />
der Lernplattform die für sie relevanten<br />
und interessanten Aufgaben und kann<br />
diese in ihrem eigenen Tempo bearbeiten.<br />
Da die Lernplattform online erreichbar ist,<br />
können die Teilnehmenden zudem auch<br />
ausserhalb des Kurses auf sie zugreifen<br />
und weiterarbeiten. Die Kursleitung hat<br />
dabei weniger eine vermittelnde als vielmehr<br />
eine begleitende Rolle. Sie stellt auf<br />
der Plattform Aufgaben zur Verfügung,<br />
führt die Teilnehmenden in die Lernplattform<br />
ein und begleitet sie dann bei ihrem<br />
Lernprozess. Die Förderung der Grundkompetenzen<br />
erfolgt dabei en passant: Die<br />
Teilnehmenden setzen sich vordergründig<br />
mit einem Thema – in unserem Fall Krankenkasse<br />
– auseinander. Die Arbeit auf der<br />
Lernplattform führt aber beiläufig zu einer<br />
ständigen Auseinandersetzung mit Sprache,<br />
Alltagsmathematik sowie Informations-<br />
und Kommunikationstechnologien.<br />
Gleichzeitig fördert die Arbeit mit der<br />
6 <strong>ZESO</strong> 2/17
Die Erledigung alltäglicher<br />
administrativer Aufgaben muss<br />
häufig vom Sozialdienst erledigt<br />
werden.<br />
Bild: Keystone<br />
Lernplattform ein strukturiertes Denken<br />
und Arbeiten.<br />
Positive Rückmeldungen von Teilnehmenden<br />
und Sozialarbeitenden<br />
Im Herbst 2016 konnten im Rahmen des<br />
Projekts je zwei Pilotkurse mit insgesamt<br />
46 Teilnehmenden durchgeführt werden.<br />
Rund zwei Drittel der Teilnehmenden waren<br />
weiblich, fast drei Viertel wiesen einen<br />
Migrationshintergrund auf. Insgesamt haben<br />
35 Personen (76%) die Kurse regelmässig<br />
besucht und abgeschlossen. Vier<br />
Personen (9%) haben den Kurs nicht angetreten,<br />
sieben Personen (15%) haben den<br />
Kurs abgebrochen.<br />
Die Evaluation ergab eine hohe Zufriedenheit<br />
der Teilnehmenden mit den<br />
Kursen und der Kursleitung. Die grosse<br />
Mehrheit der Befragten gab an, dass sie<br />
gerne im Kurs war und sich nach dem<br />
Kurs bei der Krankenkassen-Administration<br />
sicherer fühlt. Auch seitens der<br />
Sozialarbeitenden erhielt das Projekt viel<br />
Zuspruch. Dass mit der Krankenkassen-<br />
Administration ein drängendes Problem<br />
aus ihrem Arbeitsalltag aufgenommen<br />
und gezielt zusätzliche Ressourcen in die<br />
Förderung der Klientel investiert wurden,<br />
wurde sehr positiv aufgenommen.<br />
Für Aussagen über die Wirkung des<br />
Projekts auf die Selbständigkeit der Klientel<br />
und allfällige Entlastungseffekte ist es<br />
noch zu früh. Aus dem Projekt können aber<br />
bereits folgende Schlüsse gezogen werden:<br />
• Beide Kursangebote haben sich bewährt,<br />
insbesondere auch der innovative<br />
Ansatz mit der Lernplattform. Die<br />
Teilnehmenden gaben grösstenteils<br />
positive Rückmeldungen zu dieser Me-<br />
thodik und würden die Arbeit an den<br />
Kursthemen gerne fortsetzen. Auch die<br />
lange Dauer von 40 Stunden war für<br />
die weiterbildungsferne Zielgruppe zu<br />
bewältigen.<br />
• Erwachsenenbildungsangebote sind<br />
eine wertvolle Ergänzung der Arbeit<br />
des Sozialdiensts. Der intensive gemeinsame<br />
Lernprozess und der Setting-<br />
Wechsel ermöglichen der Kursleitung<br />
einen anderen Zugang zur Klientel, was<br />
neue Impulse geben kann.<br />
• Die Zusammenarbeit mit einer externen<br />
Bildungspartnerin hat sich sehr bewährt<br />
– nicht zuletzt, weil die Angebote<br />
dadurch losgelöst waren vom oft negativ<br />
behafteten Kontext der wirtschaftlichen<br />
Sozialhilfe.<br />
• Die Möglichkeiten des Ansatzes werden<br />
durch die Sprachkenntnisse begrenzt:<br />
Ein Teil der Klientel des Sozialdiensts<br />
konnte mit den Angeboten trotz Förderbedarf<br />
nicht erreicht werden, da<br />
er nicht über das nötige Sprachniveau<br />
verfügte. Gleichzeitig stellen gerade Migrantinnen<br />
und Migranten die Hauptzielgruppe<br />
für solche Angebote dar.<br />
Insgesamt sind die Erfahrungen mit<br />
den Pilotangeboten sehr positiv. Das Sozialamt<br />
der Stadt Bern hat aus diesem<br />
Grund beschlossen, die Angebote in ein<br />
Regelangebot überzuführen und den Aufbau<br />
von Kursen zu zusätzlichen Themen<br />
zu prüfen.<br />
•<br />
David Kieffer<br />
Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter<br />
Sozialamt der Stadt Bern<br />
2/17 <strong>ZESO</strong><br />
7
«Man kann mit der Aktivierung allein<br />
nicht alle Probleme lösen»<br />
INTERVIEW Aktivierung und Bildungsprogramme sind Strategien für eine möglichst rasche Rückkehr<br />
von Sozialhilfebeziehenden in den Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Selbständigkeit. Jean-Michel<br />
Bonvin, Soziologe an der Universität Genf, fordert auch Massnahmen im Arbeitsmarkt.<br />
«<strong>ZESO</strong>»: Herr Bonvin, viel ist in den<br />
letzten Monaten die Rede vom Ende<br />
des Sozialstaats angesichts von Schuldenkrise,<br />
Alterung der Gesellschaft<br />
und Strukturwandel im Arbeitsmarkt<br />
– Wie strapazierfähig ist die soziale<br />
Kohäsion?<br />
Jean-Michel Bonvin: Ich denke nicht,<br />
dass der Sozialstaat wirklich gefährdet ist.<br />
Diese Entwicklungen – die Alterung der<br />
Gesellschaft, die Schwächung der Familienstruktur,<br />
die sich in der zunehmenden<br />
Zahl an Einelternfamilien zeigt, der Strukturwandel<br />
und die damit verbundenen<br />
neuen sozialen Risiken – zeigen im Gegenteil<br />
sehr deutlich, dass es nötig ist, den<br />
Sozialstaat zu erhalten. Gleichzeitig zwingen<br />
uns die unter Spardruck stehenden öffentlichen<br />
Finanzen, die Kosten des Sozialstaats<br />
stabil zu halten. Die Finanzierung<br />
des Sozialstaats stellt vor diesem Hintergrund<br />
natürlich langfristig eine wichtige<br />
Herausforderung dar.<br />
Vor allem für die gesellschaftliche Solidarität.<br />
Nimmt die Solidarität in der<br />
Gesellschaft ab?<br />
Es gibt zahlreiche Signale, die darauf<br />
hindeuten, dass das Gefühl der Solidarität<br />
bei vielen Menschen im Moment abnimmt.<br />
Es handelt sich aber nur um Signale<br />
und keine objektiven Grössen. Ein<br />
Beispiel ist die zunehmende Intensität, mit<br />
welcher die Debatte über den Missbrauch<br />
von Sozialleistungen geführt wird. Sie<br />
nährt das Vorurteil vom Sozialhilfeempfänger<br />
als faulem Menschen, der sich weigert<br />
zu arbeiten, und damit von der Grosszügigkeit<br />
der Allgemeinheit profitiert. Die<br />
Debatte über den Sozialhilfe-Missbrauch<br />
verbreitet die Auffassung, dass die arbeitende<br />
Bevölkerung bezahlen muss, während<br />
andere profitieren. Sie trägt auf diese<br />
Art dazu bei, dass die gesellschaftliche Solidarität<br />
in Frage gestellt wird. Es kommt<br />
hinzu, dass der Sozialhilfemissbrauch für<br />
die steigenden Kosten verantwortlich gemacht<br />
wird. In einem solchen Klima sucht<br />
man nach Schuldigen und findet diese in<br />
den Menschen, die sich angeblich nicht<br />
genügend anstrengen, um wieder alleine<br />
zurechtzukommen.<br />
Hat der Missbrauch real zugenommen?<br />
Die Zahlen, die uns zur Verfügung stehen,<br />
enthalten keine Hinweise, dass der<br />
Sozialhilfebetrug oder -missbrauch zugenommen<br />
hätte. Hingegen wurden die<br />
Bedingungen für den Bezug von Sozialleistungen<br />
erheblich verschärft. Wenn also jemand<br />
die jetzt deutlich strengeren Anforderungen<br />
nicht vollumfänglich erfüllt, ist<br />
schnell einmal von Missbrauch die Rede.<br />
Man kann von daher nicht sagen, dass sich<br />
die Mentalität der heutigen Sozialhilfeempfänger<br />
verschlechtert hat. Tatsache ist<br />
vielmehr, dass sie deutlich mehr Bedingungen<br />
erfüllen müssen.<br />
In der Öffentlichkeit ist die Meinung<br />
weit verbreitet, dass wer keine Arbeit<br />
hat, selbst schuld ist. Kann unser<br />
Arbeitsmarkt theoretisch allen Arbeit<br />
geben?<br />
Der Sozialstaat wurde während der<br />
Jahre des Wirtschaftswunders 1945 bis<br />
1973 massgeblich entwickelt. In einer<br />
Zeit also, in der es kaum Arbeitslosigkeit<br />
oder Menschen gab, die auf Sozialhilfe<br />
oder Leistungen der Invalidenversicherung<br />
angewiesen waren. Die grosse Veränderung<br />
kam dann in den meisten Staaten<br />
in den 70er Jahren mit dem Ende der<br />
Vollbeschäftigung. In Europa stiegen die<br />
Arbeitslosenzahlen plötzlich sehr stark an<br />
– in der Schweiz jedoch erst in den 90er<br />
Jahren. Dies hatte zur Folge, dass sich die<br />
Zahl der auf Leistungen des Sozialstaats<br />
angewiesenen Menschen ebenfalls stark<br />
erhöhte. Paradox daran ist, dass genau in<br />
dem Moment, als die Vollbeschäftigung<br />
nicht mehr garantiert war und die Arbeitslosigkeit<br />
anstieg, der Vorwurf des Missbrauchs<br />
laut wurde. In dem Moment also,<br />
in dem es viel schwieriger geworden war,<br />
eine Arbeit zu finden, wurden die Betroffenen<br />
beschuldigt, faul zu sein und den<br />
Sozialstaat zu missbrauchen.<br />
In der Konsequenz versuchte man mit<br />
Anreizen und Auflagen, mit Fördern<br />
und Fordern, Sozialhilfebeziehende<br />
möglichst rasch wieder in den Arbeitsmarkt<br />
zurückzuführen – wie beurteilen<br />
Sie vor diesem Hintergrund das<br />
Konzept der Aktivierung?<br />
Viele Studien zeigen deutlich, dass die<br />
Aktivierung durchaus erfolgreich war, aber<br />
sie konnte die Ursache des Problems nicht<br />
beseitigen: den Mangel an Arbeitsplätzen.<br />
Vor dem Hintergrund der Abwesenheit<br />
jeglicher staatlicher Massnahmen zur konkreten<br />
Schaffung von Arbeitsplätzen fokussierte<br />
man sich also auf die Arbeitslosen,<br />
Sozialhilfeempfänger, IV-Bezüger und so<br />
weiter und versuchte sie möglichst rasch zu<br />
befähigen, sich wieder in den Arbeitsmarkt<br />
zu integrieren. Das ist wichtig und auch<br />
wirksam. Wenn man sich jedoch darauf<br />
beschränkt, dann wird man dem Problem<br />
nicht gerecht. Denn die Wurzel des Problems<br />
liegt nicht nur beim Angebot – also<br />
den Arbeitsuchenden – sondern auch bei<br />
der Nachfrage – dem Arbeitsmarkt. Wenn<br />
eine Warteschlange von Arbeitssuchenden<br />
existiert und manche von ihnen Weiterbildungsprogramme<br />
absolvieren, dann<br />
rücken sie in der Warteschlange nach vorn<br />
und finden vielleicht schneller eine Stelle,<br />
doch die Länge der Warteschlang bleibt<br />
unverändert, weil ja die Zahl der Arbeitsplätze<br />
nicht wächst. Man ermöglicht also<br />
die Verbesserung individueller Problemlagen,<br />
löst aber das strukturelle Problem<br />
8 <strong>ZESO</strong> 2/17
nicht. In der Schweiz ist das Modell der<br />
Aktivierung dennoch etwas erfolgreicher<br />
als in anderen europäischen Ländern, da<br />
der Arbeitsmarkt hier sehr dynamisch ist<br />
und die Arbeitslosigkeit tief.<br />
Der Spardruck im Sozialwesen und<br />
damit auch im Bereich der Sozialhilfe<br />
wird in jedem Fall weiter steigen. Für<br />
die Sozialämter bedeutet das, sie müssen<br />
möglichst viele aus der Abhängigkeit<br />
von der Sozialhilfe führen. Was<br />
bleibt also zu tun?<br />
Es ist natürlich wichtig, diese Menschen<br />
auszubilden und in den Arbeitsmarkt<br />
zurückzubringen, das ist völlig<br />
unbestritten. Aber man muss auch bei<br />
der Nachfrage ansetzen. Ich erachte es im<br />
Übrigen als problematisch, diese Menschen<br />
zu zwingen, irgendeinen Job anzunehmen,<br />
nur um die Sozialhilfekosten<br />
zu dämpfen. Es ist umso fragwürdiger,<br />
als diese Menschen Gefahr laufen, rasch<br />
wieder arbeitslos zu werden und damit<br />
zudem das Entstehen von prekären Arbeitsplätzen<br />
gefördert wird. Man kann<br />
<br />
«Es gibt zahlreiche<br />
Signale, die darauf<br />
hindeuten, dass das<br />
Gefühl der Solidarität<br />
bei vielen Menschen<br />
im Moment<br />
abnimmt.»<br />
mit der Aktivierung allein nicht alle Probleme<br />
lösen. Die aktuelle Politik verfolgt<br />
in erster Linie das Ziel zu verhindern,<br />
dass es immer dieselben sind, die von der<br />
Arbeitswelt ausgeschlossen bleiben. Insgesamt<br />
sind etwa 12 bis 15 Prozent der<br />
Schweizer Bevölkerung nicht in den Arbeitsmarkt<br />
integriert. Sie werden von der<br />
ALV, IV oder Sozialhilfe unterstützt. Diese<br />
12 bis 15 Prozent, davon ist auszugehen,<br />
Bilder: Magali Girardin<br />
lassen sich allein mit den Massnahmen<br />
und Strategien der Aktivierung auf der<br />
Angebotsebene nicht reduzieren.<br />
Die Aktivierung ist also für den Einzelnen<br />
effektiv, aber nicht für die öffentlichen<br />
Finanzen?<br />
Es ist schwer zu sagen, ob sich die Aktivierung<br />
für die Allgemeinheit auszahlt<br />
oder nicht. Das sind komplexe Rechnungen.<br />
Sicherlich hat die symbolische<br />
Dimension der Aktivierung einen starken<br />
präventiven Effekt. Jeder weiss, wenn er<br />
Sozialhilfe beziehen will, muss er viel dafür<br />
tun. In diesem Sinne wirkt die Strategie<br />
der Aktivierung und ist, was die Kontrolle<br />
der Kostenentwicklung angeht, sicher<br />
wirksam. Dennoch gibt es Personen, die<br />
aus den verschiedensten Gründen kaum<br />
eine Chance haben, auf dem Arbeitsmarkt<br />
eine Stelle zu finden. Für diese Leute genügen<br />
die Massnahmen der Aktivierung<br />
nicht. Hier sind andere Lösungen gefragt.<br />
Es ist wichtig, dass der erste Arbeitsmarkt<br />
auch für die Bereitstellung geeigneter Arbeitsplätze<br />
vorbereitet ist. <br />
2/17 <strong>ZESO</strong><br />
9
Aber was müsste geschehen, damit der<br />
Arbeitsmarkt geeignete Arbeitsplätze<br />
bereitstellt?<br />
Das ist wohl die schwierigste Aufgabe.<br />
Der wettbewerbsorientierte Arbeitsmarkt<br />
bietet keinen Platz für alle. Wie sollen also<br />
diejenigen integriert werden, die nicht den<br />
gängigen Produktivitätskriterien eines globalisierten<br />
kompetitiven Marktes entsprechen?<br />
Man könnte sich mehrere Lösungen<br />
vorstellen. Man könnte versuchen, die Logik<br />
des Wettbewerbs im Arbeitsmarkt zu<br />
beeinflussen, indem man Unternehmen<br />
unterstützt, deren Ziele sich nicht allein<br />
nach Profitkriterien richten; eine weitere<br />
Möglichkeit wäre die Schaffung von nachhaltigen<br />
Arbeitsplätzen im sogenannten<br />
zweiten Arbeitsmarkt, der den sozialen<br />
Aspekten mehr Raum gibt; oder aber geschützte<br />
Strukturen auf Verbands- oder<br />
halbstaatlicher Ebene. Diese Arbeit müsste<br />
aber bezahlt sein, um eine Stigmatisierung<br />
zu vermeiden. Es gäbe also viele Optionen.<br />
Es handelt sich dabei nicht um Arbeit, die<br />
den gängigen Marktkriterien zuwiderläuft<br />
,sondern diese ergänzt. Deshalb muss<br />
diese komplementäre Arbeit auch nach<br />
denselben Ansätzen bewertet werden, wie<br />
die anderen Stellen auch.<br />
Der Hauptfokus liegt im Moment auf<br />
der Ausbildung. Mit Bildungsprogrammen<br />
sollen Bildungsdefizite von<br />
Langzeitarbeitslosen behoben werden.<br />
Kann die Bildung alle Probleme lösen?<br />
Das Problem ist die Qualität der Ausbildung.<br />
Wenn man die Leute nur einige<br />
Tage oder Wochen ausbildet, lernen<br />
sie auf diese Art vielleicht ein Motivationsschreiben<br />
oder einen Lebenslauf zu<br />
verfassen. Das ist sinnvoll und kann für<br />
Stellenlose, die bereits über eine gute Ausbildung<br />
verfügen, hilfreich sein. Doch für<br />
diejenigen, die keine Ausbildung haben,<br />
die vielleicht die Schule abgebrochen haben<br />
oder die das Lernen grundsätzlich<br />
ablehnen, sind Programme von derart<br />
kurzer Dauer nicht genug.<br />
Lange dauernde Arbeitslosigkeit, Armut<br />
und in der Folge Abhängigkeit von<br />
der Sozialhilfe gehen häufig einher<br />
mit einer fehlenden Berufsbildung.<br />
Wie kann man diese Defizite auch spät<br />
noch beheben?<br />
Es gibt drei zentrale Voraussetzungen<br />
für eine erfolgreiche Bildungslaufbahn:<br />
die Fähigkeit zu lernen sowie den Willen<br />
JEAN-MICHEL BONVIN<br />
Jean-Michel Bonvin ist Professor für Soziologie<br />
und Sozialpolitik am Institut für Demographie<br />
und Sozioökonomie an der Universität Genf.<br />
Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören<br />
der Wandel in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik<br />
sowie Innovationen in Organisationen des<br />
öffentlichen Sektors. Bonvin leitet derzeit den<br />
Schwerpunkt «welfare boundaries» im NCCR<br />
LIVES, einem Forschungsprogramm des Schweizerischen<br />
Nationalfonds, in dem es um prekäre<br />
Lebensverläufe und Vulnerabilität geht.<br />
und auch die Möglichkeit zu lernen. Es<br />
sind also drei Stufen von Massnahmen<br />
nötig. Zunächst muss das Basiswissen vermittelt<br />
werden, die Grundvoraussetzung<br />
für jede Berufsausbildung. Dann gilt es<br />
bei den Betroffenen die Freude am Lernen<br />
zu wecken, am besten mithilfe von wenig<br />
schulischen Ausbildungsformen, die viele<br />
Sozialhilfeempfänger abschrecken. Und<br />
schliesslich müssen die Rahmenbedingungen<br />
geschaffen werden, indem dafür<br />
gesorgt wird, dass der Betroffene über Zeit<br />
und finanzielle Ressourcen verfügt. Spät<br />
noch eine Lehre zu beginnen, bedeutet beispielsweise<br />
häufig zunächst mal einen im<br />
Vergleich mit der Sozialhilfe erheblichen<br />
Einkommensverlust. Mit einem Lehrlingsgehalt<br />
kann man keine Familie ernähren.<br />
Welche Massnahmen schlagen Sie vor?<br />
Das Programm Forjad zum Beispiel im<br />
Kanton Waadt. Es kommt diesem Ideal mit<br />
der Massnahme Scenic Adventure meiner<br />
Meinung nach am nächsten. In Genf entspricht<br />
das Programm «Scène active» der-<br />
selben Logik. Beide Programme unterstützen<br />
Jugendliche mit einer abgebrochenen<br />
Schullaufbahn, die in hohem Masse gefährdet<br />
sind. Es gilt diese dort abzuholen,<br />
wo sie stehen, ihnen die Freude an der Bildung<br />
zu vermitteln oder ihnen zu helfen,<br />
eine Vision von der Zukunft zu entwickeln.<br />
Jeder hat Freude sich zu bilden, aber nicht<br />
jeder schafft das in einem schulischen Umfeld.<br />
In Genf haben die Jugendlichen acht<br />
Monate lang an einem Theaterstück gearbeitet,<br />
das sie selbst kreiert haben, und es<br />
dann vor mehreren hundert Zuschauern<br />
aufgeführt. Das war eine wichtige Erfahrung,<br />
die in ihnen die Freude geweckt hat,<br />
etwas zu schaffen. Andere etwas konventionellere<br />
Programme zur Vorbereitung auf<br />
eine Lehre liefern ebenfalls sehr ermutigende<br />
Resultate. Dennoch bleibt das Problem<br />
der Nachfrage. Alle diese Programme<br />
haben zum Ziel, das Vertrauen der Betroffenen<br />
in ihre berufliche Zukunft, ihre<br />
Kompetenzen zu stärken, um damit ihre<br />
Attraktivität für potenzielle Arbeitgeber zu<br />
erhöhen. Alle diese Aktivitäten konzentrieren<br />
sich auf die Angebotsseite, die Arbeitnehmer.<br />
Aber nichts garantiert, dass die<br />
Nachfrage nach Arbeitskräften dem folgen<br />
wird, dass es Lehrstellen und Arbeitsplätze<br />
für diese Personen geben wird. Man muss<br />
daher auch auf der Nachfrageseite ansetzen,<br />
was natürlich nicht allein in der Kompetenz<br />
der Sozialdienste liegen kann.<br />
In Europa wird jetzt viel über Sozialinvestitionen<br />
diskutiert. Was bedeuten<br />
diese?<br />
Das Ziel von Sozialinvestitionen ist es,<br />
das produktive Potenzial aller im Sinne des<br />
kollektiven wirtschaftlichen Wohlstands zu<br />
erhöhen. Es geht daher darum, die Stellensuchenden<br />
besser zu qualifizieren und<br />
zwar mit Hilfe von langfristigen Massnahmen,<br />
also beispielsweise mit einer Lehre,<br />
dank der sich Betroffene neue Kompetenzen<br />
aneignen. Diese Strategie verfolgt<br />
eine ehrgeizige Vision der Aktivierung via<br />
die Entwicklung des Humankapitals und<br />
der Bildung. Doch es bleibt auch hier unklar:<br />
Wie kann sichergestellt werden, dass<br />
quantitativ und qualitativ ausreichend Arbeitsplätze<br />
auch für die Schwächsten und<br />
weniger Wettbewerbsfähigen existieren?<br />
Dies, so scheint mir, bleibt die derzeit<br />
wichtigste Herausforderung. •<br />
Das Gespräch führte<br />
Ingrid Hess<br />
10 <strong>ZESO</strong> 2/17
Ab welchem Zeitpunkt besteht<br />
Anspruch auf Unterstützung?<br />
PRAXIS Zwischen der Anmeldung von Frau Meisterhans auf dem Sozialdienst und dem<br />
Leistungsentscheid vergehen drei Wochen. Der Anspruch auf Unterstützung besteht rückwirkend ab<br />
dem Zeitpunkt der erstmaligen Vorsprache. Verfügt die Klientin nicht über genügend Mittel, um die<br />
Zeit bis zum Entscheid zu überbrücken, muss eine angemessene Hilfe geleistet werden.<br />
FRAGE<br />
Frau Meisterhans meldet sich am 15. September<br />
beim Sozialdienst, weil sie Ende Juli<br />
ihre Stelle verloren hat. Die Anspruchsklärung<br />
der Arbeitslosenversicherung wird<br />
einige Zeit in Anspruch nehmen. Die Septembermiete<br />
konnte sie gerade noch bezahlen,<br />
nun verfügt sie aber über keine Ersparnisse<br />
mehr. Deshalb ist sie bis zum<br />
Entscheid der Arbeitslosenversicherung<br />
auf Sozialhilfe angewiesen. Sie hat sich relativ<br />
spät gemeldet, weil sie bis dahin gehofft<br />
hatte, eine neue Stelle zu finden.<br />
Zwischen der Anmeldung von Frau<br />
Meisterhans auf dem Sozialdienst am 15.<br />
September und dem Leistungsentscheid<br />
der Behörde verstreichen drei Wochen.<br />
Ab welchem Datum besteht ein Anspruch<br />
auf Sozialhilfe und wie erfolgt die Berechnung?<br />
Muss für die Zeit zwischen Anmeldung<br />
und Leistungsentscheid allenfalls<br />
überbrückende Hilfe geleistet werden?<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />
und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />
Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />
(einloggen) SKOS-Line.<br />
GRUNDLAGEN<br />
Jeder Mensch, der seine Existenz nicht<br />
rechtzeitig oder hinreichend aus eigener<br />
Kraft sichern kann, hat Anspruch auf Sicherung<br />
einer menschenwürdigen Existenz<br />
und Hilfe in Notlagen durch den<br />
Staat. Dieser Anspruch wird im Kerngehalt<br />
durch Art. 12 der Bundesverfassung<br />
garantiert. Darüber hinaus garantieren die<br />
Kantone ihrer Bevölkerung ein soziales<br />
Existenzminimum in Form von Sozialhilfe.<br />
Für diese wird regelmässig explizit festgehalten,<br />
dass sie rechtzeitig erfolgen<br />
muss.<br />
Zum Grundsatz der Rechtzeitigkeit gehört,<br />
dass unaufschiebbare wirtschaftliche<br />
Hilfe in dringenden Fällen sofort geleistet<br />
werden muss. Unter Umständen besteht<br />
bereits ein Unterstützungsanspruch, wenn<br />
die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse<br />
noch nicht vollständig abgeklärt<br />
sind, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />
ein Sozialhilfeanspruch besteht.<br />
Die Organisation der Sozialhilfe in einer<br />
Gemeinde darf nicht dazu führen, dass<br />
notwendige Unterstützung aus formalen<br />
beziehungsweise terminlichen Gründen<br />
nicht rechtzeitig geleistet werden kann.<br />
Entsprechend muss das Verfahren so organisiert<br />
sein, dass die erforderliche Hilfe<br />
rechtzeitig festgesetzt und ausgerichtet<br />
werden kann. Die Gemeinden sind beispielsweise<br />
angehalten, die Entscheidungskompetenz<br />
für Notfälle an den Sozialdienst<br />
zu delegieren.<br />
Ein Gesuch um Sozialhilfe kann in den<br />
meisten Kantonen auch mündlich anhängig<br />
gemacht werden, womit das Verfahren<br />
eingeleitet wird. Kommt die antragstellende<br />
Person danach ihrer Mitwirkungspflicht<br />
nach, besteht ein Anspruch auf<br />
Unterstützung rückwirkend ab dem Zeitpunkt<br />
der erstmaligen Vorsprache. Dies<br />
gilt auch dann, wenn sich die Beschaffung<br />
der notwendigen Unterlagen aus nachvollziehbaren<br />
Gründen verzögert.<br />
Gemäss SKOS-Richtlinien, Kapitel<br />
A.6-2, sind Haushalte unterstützungsbedürftig,<br />
wenn das monatliche Nettoeinkommen<br />
für den Lebensunterhalt nicht<br />
ausreicht. In der Regel werden in der Sozialhilfe<br />
die Einnahmen des Vormonats den<br />
anrechenbaren Ausgaben des laufenden<br />
Monats gegenübergestellt. Dieser Grundsatz<br />
gilt auch bei Neuaufnahmen und zwar<br />
unabhängig davon, ob ein Antrag zu Beginn<br />
oder zum Ende eines Monats gestellt<br />
wird.<br />
ANTWORT<br />
Der Anspruch auf Ausrichtung von Sozialhilfe<br />
besteht grundsätzlich ab dem Zeitpunkt<br />
der Einreichung eines Gesuchs um<br />
wirtschaftliche Unterstützung. Im Fall von<br />
Frau Meisterhans ist dies der 15. September.<br />
Es besteht dabei kein Grund bei der<br />
Anspruchsberechnung von einer Monatsbetrachtung<br />
abzuweichen. Sofern sich eine<br />
Unterstützungsbedürftigkeit als gegeben<br />
erweist, muss der Lebensbedarf von Frau<br />
Meisterhans für den <strong>ganz</strong>en Monat September<br />
gesichert werden.<br />
Der Anspruch besteht rückwirkend<br />
auch in jenen Fällen, in denen zur Prüfung<br />
des Gesuchs von der Klientin noch<br />
zusätzliche Unterlagen erforderlich sind<br />
oder sich ein Unterstützungsentscheid aus<br />
anderen Gründen verzögert. Sollte Frau<br />
Meisterhans über keinerlei finanzielle<br />
Mittel oder Naturalien mehr verfügen, um<br />
die Zeit bis zum Unterstützungsentscheid<br />
beziehungsweise zur ersten Auszahlung<br />
zu überbrücken, muss bis zu diesem Zeitpunkt<br />
eine angemessene Hilfe geleistet<br />
werden.<br />
•<br />
Heinrich Dubacher und Patricia Max<br />
Kommission Richtlinien und Praxis der SKOS<br />
2/17 <strong>ZESO</strong><br />
11
12 <strong>ZESO</strong> 2/17 SCHWERPUNKT<br />
Bild: Rudolf Steiner
Wie steht es um die Sozialarbeit<br />
in der Sozialhilfe?<br />
Sozialhilfe wird nicht ausschliesslich von Sozialarbeitenden geleistet. Dennoch hat die Sozialarbeit<br />
heute in der Sozialhilfe eine grössere Rolle als früher. Die Trennung von wirtschaftlicher Hilfe und<br />
persönlicher Unterstützung, die vielerorts im Gang ist, könnte die Chance bieten, dass sich die<br />
Sozialarbeit auf freiwillige Beratung konzentrieren kann.<br />
Kann man heute in der Sozialhilfe noch Sozialarbeit leisten oder<br />
dominieren die materiellen und administrativen Aspekte? Es ist interessant,<br />
dass die Frage oft so gestellt wird: sie impliziert, dass<br />
«früher» «richtige» Sozialarbeit praktiziert wurde und dass materielle<br />
und administrative Aspekte nicht dazu gehören. Diese Sichtweise<br />
entspricht nicht den Tatsachen. Der Bereich Sozialhilfe ist<br />
hoch dynamisch und die Sozialarbeit ist vielleicht gerade und erstmalig<br />
dabei, in diesem Bereich einen gebührenden Platz zu erlangen.<br />
Sozialarbeit, ein junger, nicht geschützter Beruf<br />
Was heute als Sozialarbeit bezeichnet wird, ist in vielen Ländern<br />
des industrialisierten Nordens seit Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
entstanden. In der Schweiz hat sich Sozialarbeit ab den 1950er-<br />
Jahren im Zuge der Entwicklung des Sozialwesens langsam als Beruf<br />
durchgesetzt. Die entsprechenden Ausbildungen sind allerdings<br />
erst seit rund 20 Jahren bundesweit systematisiert und<br />
anerkannt, dies insbesondere im Kontext der neugeschaffenen<br />
Fachhochschulen. So ist Sozialarbeit ein noch junger Beruf, dessen<br />
Ausübung aber − im Gegensatz zu verwandten Berufen wie der<br />
Pflege, der Psychologie oder des Lehramts − nicht reglementiert<br />
ist. So können Personen ohne entsprechende Ausbildung als Sozialarbeitende<br />
angestellt werden, und es sind deren viele: Nur rund<br />
die Hälfte der in der Sozialen Arbeit Tätigen verfügen über eine<br />
entsprechende Ausbildung. Dieser Zustand ist nicht neu und kann<br />
nicht mit den aktuellen Sparprogrammen erklärt werden. Er ist<br />
hochproblematisch: Wie soll man denn Sozialarbeit ohne Sozialarbeitende<br />
leisten können? AvenirSocial, der Berufsverband der<br />
Fachpersonen der Sozialen Arbeit, lanciert deshalb ab Sommer<br />
<strong>2017</strong> die nationale Kampagne «Eine Ausbildung in Sozialer Arbeit<br />
bürgt für Qualität» und fordert 100 Prozent in Sozialer Arbeit<br />
ausgebildetes Fachpersonal.<br />
Sozialarbeit hat viele Formen und verschiedenste Aufgabenbereiche,<br />
die sich in zahlreichen organisationalen und politischen<br />
Kontexten stetig verändern. Es gibt nicht die eine Sozialarbeit.<br />
Was heute als Sozialarbeit gilt, war gestern vielleicht Aufgabe der<br />
Polizei und kann morgen vom Gesundheits- oder Bildungsbereich<br />
übernommen werden. Insofern ist jeder Bezug auf «wirkliche Sozialarbeit»<br />
problematisch und idealisierend. Ausserdem gehören<br />
materielle, wirtschaftliche und administrative Hilfen seit ihren ersten<br />
Anfängen zur Sozialarbeit. Sie werden heute zu oft abgewertet.<br />
Sozialarbeit war und ist zudem immer vielschichtig. Sie erfüllt gegensätzliche<br />
Mandate von Hilfe und Kontrolle. Sie steht zwischen<br />
der Ermächtigung von Einzelnen oder Gruppen und gesellschaft-<br />
licher Normalisierung, zwischen Emanzipation und Reproduktion<br />
− Verwaltung − von Ungleichheiten, insbesondere von Armut.<br />
Das gilt nicht nur in der Sozialhilfe, ist dort aber besonders deutlich<br />
sichtbar. Dies ist eigentlich ein Vorteil, denn ein benanntes<br />
Spannungsfeld kann angegangen werden. So viel zur Sozialarbeit<br />
allgemein. Wie steht es nun um die Sozialarbeit in der Sozialhilfe?<br />
Immer mehr Sozialarbeit in der Sozialhilfe<br />
Was heute als Sozialhilfe bezeichnet wird, geht auf jahrhundertealte,<br />
immer wieder erneuerte Formen des Umgangs mit Armut zurück.<br />
Alle Gesellschaften mussten Massnahmen finden für ihre<br />
Mitglieder, die nicht für sich sorgen konnten und Hilfe brauchten.<br />
Diese Hilfe ist unabdingbar für eine gewisse Stabilität und Sicherheit,<br />
denn zu grosse Armut bedroht die Gesellschaft insgesamt.<br />
Die Armenhilfe − Fürsorge nach der früheren Terminologie −<br />
wurde in der Schweiz bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts<br />
von verschiedensten Berufsgattungen wahrgenommen, teilweise<br />
auf ehrenamtlicher Basis. Kirchenleute, Verwaltungsangestellte,<br />
politische Mandatsträger, Behördenmitglieder, Lehrer und<br />
Juristen waren darunter – grossen teils Männer. Sozialarbeit kam<br />
14 <strong>ZESO</strong> 2/17 SCHWERPUNKT
SOZIALDIENSTE<br />
erst später dazu. In kleineren Gemeinden der <strong>ganz</strong>en Schweiz,<br />
aber auch etwa in der Stadt Basel wurde Sozialarbeit sogar erst im<br />
letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in der Sozialhilfe eingeführt.<br />
Auch heute noch sind vielerorts politisch gewählte Behördenmitglieder<br />
− also a priori keine Fachpersonen − in der Sozialhilfe tätig.<br />
Sozialhilfe alias Fürsorge ist demnach sehr viel älter als Sozialarbeit.<br />
Es gibt heute mehr Sozialarbeit in der Sozialhilfe als «früher».<br />
Allerdings wird Sozialhilfe nicht ausschliesslich von Sozialarbeitenden<br />
geleistet.<br />
Persönliche Hilfe ohne Zwang<br />
Der Typ der Fachpersonen, die eine sozialstaatliche Leistung erbringen,<br />
sagt etwas aus über die der Leistung zugrunde liegende<br />
Philosophie. So deutet eine Sozialhilfe, die von Sozialarbeitenden<br />
gewährt wird, auf das Prinzip Wohltätigkeit hin: Leistungen werden<br />
von Fall zu Fall abgeklärt und auf das Verhalten des Bezügers<br />
abgestimmt. Ein Rechtsanspruch hingegen kann von administrativen<br />
oder von juristischen Fachpersonen zugesprochen werden −<br />
wir kennen das von den Renten und anderen (Versicherungs-)Leistungen.<br />
Insofern ist die Einführung der Sozialarbeit nicht<br />
Persönliche Hilfe ist nötig, damit Klienten wieder<br />
aus der Armut herausfinden.<br />
Bild: Keystone<br />
zwingend, wenn es denn um den Rechtsanspruch auf finanzielle<br />
Leistungen des Sozialstaates geht. Nun besteht aber Sozialhilfe ja<br />
nicht nur aus finanziellen Leistungen. Persönliche Hilfe – Sozialarbeit<br />
– ist eine Notwendigkeit, wenn Sozialhilfe Menschen wirklich<br />
darin unterstützen soll, ihre Armutssituation zu überwinden<br />
beziehungsweise einigermassen in Würde damit fertig zu werden.<br />
Sozialarbeit ist massgeschneidert: Sie gründet auf einer sorgfältigen<br />
Analyse der Ressourcen der Klienten und unterstützt sie darin,<br />
ein für sie gutes Leben zu führen.<br />
Mehrere Kantone und grosse Städte (z.B. Waadt, Genf, Zürich,<br />
Basel) haben in den letzten Jahren eine vollständige oder<br />
teilweise Trennung von wirtschaftlicher Hilfe und persönlicher<br />
Unterstützung vollzogen, indem erstere von Sachbearbeitenden<br />
und letztere von Sozialarbeitenden wahrgenommen wird. Grund<br />
dieser Reorganisationen war vorab der Druck zunehmender<br />
Fallzahlen, gleichzeitig waren sie Gelegenheit dafür, die Arbeitsteilung<br />
in der Sozialhilfe neu zu denken. Oft braucht es weitere<br />
Spezialisierungen, um die breite Spanne von Bedürfnissen der<br />
Adressatinnen und Adressaten abzudecken, beispielsweise in den<br />
Bereichen beruflicher Wiedereinstieg, Ausbildung, Kinderbetreuung,<br />
Schuldensanierung oder Wohnfragen.<br />
Diese neuen Modelle werden von Weiterbildungen begleitet,<br />
in welchen die Rollen und Aufgaben der jeweiligen Fachpersonen<br />
reflektiert werden. Sie müssen sorgfältiger evaluiert werden. Es<br />
kann sein, dass damit Leistungen abgebaut werden und den Sozialhilfebeziehenden<br />
weniger gut geholfen wird. Es mag aber auch<br />
sein, dass so eine Sozialarbeit ermöglicht wird, die sich auf freiwillige<br />
Beratung konzentrieren kann. Selbige ist respektvoller und<br />
nachhaltiger als Sanktionen und Zwang. Bedingung dafür ist, dass<br />
qualifizierte Fachpersonen in leicht zugänglichen Sozialdiensten<br />
genügend Zeit zur Verfügung stellen können. Diese Bedingung ist<br />
heute nicht überall erfüllt: Eine Vollzeit angestellte Sozialarbeiterin<br />
mit einer angenommenen Fallbelastung von 60 Dossiers kann<br />
jedem Dossier im Jahr 16 Stunden widmen. Da in vielen Sozialdiensten<br />
wesentlich höhere Fallbelastungen üblich sind, besteht<br />
dringender Handlungsbedarf, um wirksame Hilfe zu ermöglichen.<br />
<br />
•<br />
Véréna Keller<br />
Emeritierte Professorin der Haute Ecole de Travail Social et de la Santé<br />
(EESP) in Lausanne & Vizepräsidentin von AvenirSocial<br />
SCHWERPUNKT 2/17 <strong>ZESO</strong><br />
1.5% 1.5% 3%<br />
Sozialhilfe – ein Arbeitsfeld mit hohen<br />
Qualifikationsanforderungen<br />
Im Rahmen des Monitoring-Projekts des Vereins sozialinfo.ch und der Hochschule für Soziale<br />
Arbeit FHNW werden Stellenangebote im Sozialwesen der Schweiz kontinuierlich ausgewertet. Die<br />
Stelleninserate im Arbeitsfeld Sozialhilfe zeigen, welche Anforderungen in diesem Bereich gestellt<br />
werden, welche Funktionen gesucht und welche Ausbildungen gefragt sind.<br />
Im Jahr 2016 wurden auf der Stellenplattform des Vereins<br />
sozialinfo.ch insgesamt 5925 Stelleninserate publiziert. 731 Inserate<br />
betreffen Stellen, die von den ausschreibenden Organisationen<br />
dem Arbeitsfeld Sozialhilfe zugeordnet werden. Dies entspricht<br />
einem Anteil von 12,3 Prozent aller Stelleninserate. Dieser<br />
Anteil blieb zwischen 2011 und 2016 mehr oder weniger konstant:<br />
Er variierte in diesem Zeitraum lediglich zwischen 11,8 und<br />
13,0 Prozent. Am Anteil der Stelleninserate gemessen, stellt die<br />
Sozialhilfe das viertgrösste Arbeitsfeld im Sozialwesen dar: Sie<br />
folgt nach dem Behindertenbereich, der Erziehung/Bildung und<br />
der Jugendarbeit.<br />
Im Jahr 2016 wurden mit Abstand die meisten Stelleninserate<br />
des Arbeitsfeldes Sozialhilfe in den Kantonen Zürich (191<br />
Inserate; 26 Prozent) und Bern (179 Inserate; 25 Prozent) ausgeschrieben.<br />
Es folgten die Kantone Aargau (57 Inserate; 8 Prozent),<br />
Solothurn (52 Inserate; 7 Prozent) und Luzern (46 Inserate;<br />
6 Prozent).<br />
Qualifizierte Fachmitarbeitende gesucht<br />
Stelleninserate für qualifizierte Fachmitarbeit machten im Jahr<br />
2016 in der Sozialhilfe mit Abstand den grössten Teil aus (78 Prozent).<br />
11 Prozent der Inserate betreffen Kader- oder Leitungsstellen,<br />
5 Prozent Gruppen- oder Teamleitungsstellen. Auffällig klein<br />
ist der Anteil an Praktikums- und Zivildienststellen (1 Prozent).<br />
Zum Vergleich: Betrachtet man alle Arbeitsfelder des Sozialwesens<br />
zusammen, haben Praktika und Zivildienststellen einen Anteil von<br />
13 Prozent. Die Anteile der Kaderstellen und diejenigen der qualifizierten<br />
Fachmitarbeit sind hingegen in der Sozialhilfe, verglichen<br />
mit anderen Arbeitsfeldern des Sozialwesens, höher. Dementsprechend<br />
handelt es sich auch bei den meisten<br />
ausgeschriebenen Stellen um Festanstellungen (86 Prozent), lediglich<br />
14 Prozent sind befristet.<br />
Hochschulabschluss gefragt<br />
Die Mindestanforderungen, die in den Stelleninseraten in Bezug<br />
auf die Ausbildung gestellt werden, sind im Bereich der Sozialhilfe,<br />
verglichen mit anderen Arbeitsfeldern des Sozialwesens, sehr<br />
hoch: So gibt es beispielsweise in der Sozialhilfe einen hohen Anteil<br />
an Stelleninseraten, die einen Hochschulabschluss verlangen<br />
(50 Prozent). Zum Vergleich: Im Arbeitsfeld Erziehung/Bildung<br />
wird lediglich in 12 Prozent der Inserate ein Hochschulabschluss<br />
gefordert, im Behindertenbereich sogar nur in 4 Prozent der Fälle.<br />
Ebenfalls wird in der Sozialhilfe oft die Anforderung gestellt,<br />
mindestens eine höhere Berufsbildung abgeschlossen zu haben<br />
(29 Prozent). Nur wenige der ausgeschriebenen Stellen richten<br />
sich an Personen mit einer beruflichen Grundbildung (9 Pro-<br />
AUSGESCHRIEBENE STELLEN IM ARBEITSFELD<br />
SOZIALHILFE NACH KANTON<br />
AUSGESCHRIEBENE FUNKTIONEN IN DEN<br />
STELLENINSERATEN DER SOZIALHILFE<br />
11%<br />
5%<br />
78%<br />
16 <strong>ZESO</strong> 2/17 SCHWERPUNKT
«Der Verwaltungsaufwand nimmt nach<br />
Meinung vieler zu grossen Raum ein»<br />
NACHGEFRAGT Die Arbeitszufriedenheit in Sozialen Diensten ist im Durchschnitt<br />
relativ hoch. Zu schaffen machen den Sozialdienstmitarbeitenden aber die fehlende<br />
gesellschaftliche Anerkennung ihres Berufes, der grosse Verwaltungsaufwand und fehlende<br />
Aufstiegsmöglichkeiten, sagt Roger Pfiffner, Dozent an der Berner Fachhochschule. Er hat eine<br />
Studie zum Thema verfasst.<br />
Herr Pfiffner, was zeichnet eine zufriedene Mitarbeiterin oder einen<br />
zufriedenen Mitarbeiter aus?<br />
Zufrieden ist ein Mitarbeiter meistens dann, wenn er seine<br />
Arbeitsstelle als erfüllend wahrnimmt. Dies ist der Fall, wenn<br />
er das Gefühl hat, durch die Arbeit seine Ziele, Bedürfnisse und<br />
Werte verfolgen und erreichen zu können. Zufriedene Mitarbeiter<br />
sind durch die Erfahrungen, die sie im Arbeitsalltag machen,<br />
in einem positiven emotionalen Zustand. Die Folge sind<br />
hohe Motivation und Leistungsbereitschaft.<br />
Wie zufrieden sind Personen, die in der öffentlichen Sozialhilfe tätig<br />
sind?<br />
Unsere Studie zeigt, dass sich die durchschnittliche Arbeitszufriedenheit<br />
von Sozialdienstmitarbeitenden im mittleren bis<br />
positiven Bereich bewegt. Auffällig ist, dass sich die Zufriedenheit<br />
individuell stark unterscheidet. Bei drei Viertel der Personen<br />
ist die Arbeitszufriedenheit relativ hoch. Auf der anderen<br />
Seite sind rund ein Viertel der Mitarbeitenden unzufrieden mit<br />
ihrer Arbeitsstelle.<br />
Was gefällt Sozialdienstmitarbeitenden an ihrem Beruf?<br />
Sie bewerten vor allem ihre Tätigkeit positiv: Diese wird als<br />
interessant, herausfordernd und vielseitig beschrieben. Und<br />
sie empfinden ihre Arbeit als sinnvoll. Weitere positive Aspekte<br />
sind für viele Selbstbestimmtheit und Entscheidungsautonomie.<br />
Auch die Weiterbildungsmöglichkeiten und die Zusammenarbeit<br />
mit dem Team und den Vorgesetzten werden positiv<br />
bewertet.<br />
Welche Faktoren werden negativ bewertet?<br />
In erster Linie sind das organisatorische Aspekte. Mit den<br />
Aufstiegsmöglichkeiten und dem Gehalt ist man nur teilweise<br />
zufrieden. Der Verwaltungsaufwand nimmt nach Meinung vieler<br />
einen zu grossen Raum ein und auch die Work-Life-Balance<br />
wird eher kritisch bewertet. Am wenigsten zufrieden sind die<br />
Sozialdienstmitarbeitenden mit der gesellschaftlichen Anerkennung<br />
ihres Berufes.<br />
Wie wird die Arbeitsbelastung eingeschätzt?<br />
Die subjektiv empfundene Arbeitsbelastung ist sehr unterschiedlich.<br />
Fast die Hälfte der befragten Personen findet die<br />
Arbeitsbelastung hoch oder sehr hoch. Da ist aber die Sozialhilfe<br />
kein Spezialfall, ähnliche Werte findet man in vielen Berufen.<br />
Was aber in der Sozialhilfe dazu kommt: Es arbeiten viele<br />
Personen mit eher wenig Berufserfahrung in diesem Bereich.<br />
Auch Berufsanfänger müssen jedoch rasch die übliche Anzahl<br />
an Dossiers übernehmen. Dieser Einstieg wird von vielen als<br />
nicht einfach empfunden.<br />
Sind Mitarbeitende in grossen oder kleinen Diensten zufriedener?<br />
Um dies genau beantworten zu können, wäre weitere Forschung<br />
notwendig. Sowohl grosse wie kleine Dienste haben<br />
Vor- und Nachteile. In der Tendenz lässt sich sagen: Administrative<br />
Mitarbeitende fühlen sich eher in kleinen Organisationen<br />
wohl. Es ist persönlicher und das Ergebnis der eigenen<br />
Arbeit ist sichtbarer. Bei Sozialarbeitenden zeigt die Tendenz<br />
hingegen eher in die andere Richtung. Vermutlich weil in städtischen<br />
und stadtnahen Diensten die Vermittlungsmöglichkeiten<br />
von Klienten in Beschäftigungsprogramme etc. besser<br />
sind. Das kann die Arbeit erleichtern und die Selbstwirksamkeit<br />
wird als besser wahrgenommen.<br />
Führen die negativ bewerteten Faktoren zu Kündigungen?<br />
Arbeitszufriedenheit und Fluktuation haben einen starken<br />
Zusammenhang. Der Teil der Personen, der unzufrieden ist,<br />
wird wahrscheinlich früher oder später kündigen. Die negativ<br />
bewerteten Aspekte wie Aufstiegsmöglichkeiten, administrativer<br />
Aufwand, Work-Life-Balance und fehlende gesellschaftliche<br />
Anerkennung haben dabei sicher einen Einfluss.<br />
Es können im Einzelfall aber auch andere Faktoren sein. Auch<br />
die Personalstruktur führt zu Kündigungen: In der Sozialhilfe<br />
arbeiten viele Personen, die zwischen 30 und 39 Jahren Jahre<br />
alt sind. Diese sind auf dem Arbeitsmarkt gesucht und befinden<br />
sich gleichzeitig in einer Lebensphase, in der man sich<br />
häufig noch umorientiert.<br />
Was bedeutet das für die Sozialdienste? Ist das Ausmass der<br />
Fluktuation belastend?<br />
Die Fluktuationsquote ist nicht dramatisch hoch. Kündigungen<br />
gibt es überall. Die Sozialhilfe ist aber ein Bereich, in<br />
dem ein Fachkräftemangel herrscht und es gerade in ländlichen<br />
Diensten nicht immer einfach ist, Stellen zu besetzen.<br />
18 <strong>ZESO</strong> 2/17 SCHWERPUNKT
SOZIALDIENSTE<br />
Auffällig ist auch, dass Sozialdienstmitarbeitende im Vergleich<br />
zu Arbeitnehmenden in anderen Bereichen, bedeutend weniger<br />
lang an einer Arbeitsstelle bleiben. Zudem suchen diejenigen,<br />
die gehen, mehrheitlich nicht eine Stelle in einem anderen<br />
Sozialdienst, sondern wollen ausserhalb der Sozialhilfe arbeiten.<br />
Das macht die Situation anspruchsvoll.<br />
ROGER PFIFFNER<br />
Bild: zvg<br />
Roger Pfiffner ist Dozent an der Berner Fachhochschule. Er forscht<br />
und lehrt vor allem in den Bereichen Organisation und Management<br />
Sozialer Dienste und Schulsozialarbeit.<br />
Im Rahmen der Studie «Soziale Dienste – Attraktivität als Arbeitgebende<br />
und Arbeitsbedingungen für die Mitarbeitenden» hat Roger<br />
Pffiffner zwischen Sommer und Herbst 2015 insgesamt 942 Sozialarbeitende,<br />
Berufsbeistände und Sachbearbeitende online befragt.<br />
Wie liesse sich die Fluktuation vermindern?<br />
Entwicklungspotenzial gibt es beispielsweise bei der Zusammenarbeit<br />
zwischen Sozial- und Sachbearbeitenden. Manche<br />
Gemeinden investieren bereits in zusätzliche Administrationsstellen,<br />
um die Sozialarbeitenden zu entlasten. Auch<br />
wenn die Führungspersonen durchschnittlich positiv bewertet<br />
werden, sind auch sie ein entscheidender Faktor. Deshalb ist<br />
die Schulung von Kaderpersonen sehr wichtig. Einen weiteren<br />
Ansatzpunkt sehe ich in der Grösse der Sozialdienste. Bei<br />
einem Sozialdienst mit nur drei Mitarbeitenden kann es schnell<br />
zu Problemen mit Ferienvertretungen kommen oder es wird<br />
äusserst schwierig, wenn Stellen nicht fristgerecht besetzt<br />
werden können. Auch Aufstiegsmöglichkeiten gibt es in kleinen<br />
Diensten kaum. Und schliesslich müsste die Attraktivität<br />
des Tätigkeitfelds insgesamt erhöht werden, was nicht zuletzt<br />
eine Verbesserung der öffentliche Wahrnehmung der Sozialhilfe<br />
voraussetzt.<br />
Identifizieren sich Sozialdienstmitarbeitende zu wenig mit ihrem<br />
Arbeitgeber und dem Tätigkeitsfeld?<br />
Etwa die Hälfte der befragten Personen identifiziert sich<br />
mit dem Arbeitgeber und die andere Hälfte nur teilweise oder<br />
gar nicht. Bei rund 25 Prozent sind sogar Anzeichen einer Resignation<br />
zu erkennen. Diese Personen haben bei ihrer Arbeit<br />
keine grossen Ziele oder Erwartungen mehr. Die Identifikation<br />
mit dem rechtlichen und politischen Kontext der Sozialhilfe ist<br />
noch tiefer. Beispielsweise haben wir untersucht, ob Sozialdienstmitarbeitende<br />
die aktuellen Reformen in der Sozialhilfe<br />
befürworten. Etwa die Hälfte findet, dass durch die Reformen<br />
die Wirksamkeit der Sozialhilfe für die Klienten, aber auch für<br />
die Gesellschaft verschlechtert wird. <br />
•<br />
SCHWERPUNKT 2/17 <strong>ZESO</strong><br />
Das Gespräch führte<br />
Regine Gerber<br />
19<br />
Gelingende Beratung setzt Kooperation beider Parteien voraus. Bild: Keystone<br />
Psychosoziale Beratung in der<br />
Sozialhilfe in den Fokus rücken<br />
Beratung in der Sozialhilfe stellt an die Fachpersonen hohe Anforderungen. Viele Gespräche werden<br />
jedoch wenig methodisch geführt. Sozialarbeitende in der Sozialhilfe entwickeln stattdessen eigene<br />
Gesprächsführungsstile. Psychosoziale Methoden in der Beratung stärker zu verankern, ist das Ziel<br />
eines von der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit entwickelten Schulungskonzepts.<br />
Dass in der Sozialhilfe Sozialarbeitende arbeiten, kommt nicht von<br />
ungefähr. Ihre Fähigkeit, Beratung auch psychosozial zu gestalten,<br />
also im Gespräch den Fokus mitunter auf psychologische und soziale<br />
Aspekte der Klienten zu lenken, ist hier gefragt. Mit dieser Fähigkeit<br />
fungieren sie als Übersetzungsposition zwischen der individuellen<br />
Lebenswelt von Menschen und den rechtlich-admi nis<br />
trativen Strukturen einer öffentlich finanzierten Sozialhilfe. Beratung<br />
in der Sozialhilfe erfordert von Fachpersonen deshalb eine<br />
besondere Vielseitigkeit: Sie müssen Gehörtes einschätzen und<br />
hinsichtlich psychosozialer Aspekte intervenieren; müssen rechtlich-administrative<br />
Anforderungen einfordern und kontrollieren<br />
sowie Übersetzungsdienstleistungen zwischen beiden Seiten erbringen.<br />
Auch Momente des Abwägens zwischen Sanktionieren<br />
und psychosozialer Hilfestellung gehören dazu.<br />
Studierende der Sozialen Arbeit lernen Beratung zumeist auf<br />
Basis einer Kombination verschiedener Modelle kennen. Dabei<br />
werden üblicherweise systemtheoretische Modelle mit dem nondirektiven<br />
Ansatz nach Rogers kombiniert. Vermittelt wird zudem<br />
lösungs-, ressourcen- und kompetenzorientiertes Denken.<br />
Schaut man Sozialarbeitenden der Sozialhilfe bei ihrer Beratungstätigkeit<br />
zu, ist festzustellen, dass sie diesen Modellen kaum<br />
bis gar nicht folgen. Die Art der Begrüssung, das Wertschätzen von<br />
Klienten für deren Erfolge und die eine oder andere Frage lassen<br />
hin und wieder Elemente von Beratungsmodellen erkennen, die<br />
Gespräche werden jedoch keineswegs entsprechend der Beratungsmodelle<br />
strukturiert. Gestellte Fragen dienen selten als Technik<br />
zur Anregung von Lösungsprozessen. Hauptsächlich werden<br />
sie zur Informationsgewinnung genutzt oder sind verschleierte<br />
20 <strong>ZESO</strong> 2/17 SCHWERPUNKT
SOZIALDIENSTE<br />
Versuche, Klientinnen und Klienten von etwas zu überzeugen.<br />
Der folgende Ausschnitt vom Beginn einer realen Gesprächssituation<br />
stammt aus einem Forschungsprojekt, bei dem Beratungssituationen<br />
beobachtet und für ein Schulungskonzept in der Sozialhilfe<br />
ausgewertet wurden.<br />
Sozialarbeiter (SA): «Also, Frau (…), was hat sich verändert, seit<br />
Sie das letzten Mal bei mir gewesen sind?»<br />
Klientin (KL): «Mhm.» (unbestimmte Aussage)<br />
SA: «Hat sich irgendetwas ergeben oder ist etwas anders?»<br />
KL: «Nein.»<br />
SA: «Gar nichts?»<br />
KL: «E-he, e-he.» (verneinende Aussage)<br />
SA: «Ist alles beim Alten geblieben?»<br />
KL: «Alles, ja.»<br />
SA: «Okay, Sie arbeiten immer noch auf Ihrer Arbeitsstelle?»<br />
KL: «Mhm.» (zustimmende Aussage)<br />
SA: «Das ist … Was haben Sie da, etwa sechzig Prozent, oder?»<br />
KL: «Sechzig, ja.»<br />
SA: «Und das geht gut für Sie dort?»<br />
KL: «Es geht, ja, gut.»<br />
SA: «Okay.»<br />
Die Klientin verneint hier die Frage nach Veränderungen und signalisiert<br />
damit, dass für sie dort kein Gesprächsbedarf besteht. Das<br />
ist insofern ein Problem für das Gespräch, da es sich überspitzt formuliert<br />
weitgehend erübrigt. Die Lösung des Sozialarbeiters besteht<br />
nun darin, dass er diejenigen Informationen durchgeht, die<br />
er von der Klientin bereits hat. Er hält mit dieser Fragetechnik<br />
gleichzeitig die Gesprächssituation aufrecht, kontrolliert, inwiefern<br />
ein Handlungsbedarf seitens der Behörde besteht, und begibt<br />
sich auf die Suche nach einem Beratungsgegenstand.<br />
Standardmodelle der Beratung böten hier alternative Vorgehensweisen:<br />
Das Stellen offener Fragen, die nicht mit Ja oder Nein zu<br />
beantworten sind, eine ausführliche Auftragsklärung bis hin zu einer<br />
Auseinandersetzung des Für und Wider dieser Sechzig-Prozent-Stelle.<br />
Dies ist ein Beispiel für viele Gespräche gesetzlicher Sozialarbeit,<br />
welche wenig methodisch geführt werden. Es liesse sich mutmassen,<br />
dass Sozialarbeitende die in Aus- und Weiterbildungen<br />
vermittelten Herangehensweisen an Beratungen mit der Zeit vergessen.<br />
Dem ist aber nicht so, wie die im Forschungsprojekt durchgeführten<br />
Reflexionsgespräche zeigen.<br />
Gute Gründe, weniger methodisch zu beraten<br />
Die Gründe dafür, warum Sozialarbeitende Beratungsmodellen<br />
nur sehr eingeschränkt folgen, sind sowohl in der notwendigen<br />
Übersetzung der Modelle in die Praxis als auch auf der Interaktions-<br />
und Organisationsebene zu suchen.<br />
Theoretisches Wissen und modellhaftes Handeln müssen in<br />
konkrete Praxissituationen hinein vermittelt werden. Sie können<br />
nie eins zu eins umgesetzt werden, da die Komplexität eines Einzelfalls<br />
und das sich von Moment zu Moment entfaltende Interaktionsgeschehen<br />
jegliche modellhafte Handlungsvorgabe überfordert.<br />
Hinzu kommt, dass die Beratungsmodelle Kooperation<br />
voraussetzen und weitgehend kontextfrei verfasst sind. Das Forschungsprojekt<br />
konnte zeigen, dass Sozialarbeitende stattdessen<br />
eigene Gesprächsführungsstile entwickeln, die sie wiederum an<br />
die jeweilige Situation anpassen.<br />
Gelingende Beratung setzt eine Kooperationsbereitschaft beider<br />
Parteien voraus, da das Produkt der Beratung im Beratungsprozess<br />
selbst erzeugt wird. In der Sozialhilfe kommt es aber immer<br />
wieder zu Situationen, in denen eine Kooperation erschwert<br />
wird. Aktuelle Studien weisen nach, dass insbesondere die Herstellung<br />
einer gemeinsamen Problemsicht und das Erfüllen von<br />
rechtlich-administrativen Auflagen sowie Sanktionen für den Beratungsprozess<br />
eine grosse Herausforderung sind.<br />
Systembedingte Ansprüche an die Fallarbeit, wie beispielsweise<br />
finanzielle und rechtliche Aspekte, erzeugen zudem einen Legitimationsdruck<br />
gegen aussen (politische Entscheidungsträger,<br />
Gesellschaft), nach innen (Kollegium) und auf Organisationsebene<br />
(Leitungsebene). Wird darüber hinaus die zum Teil hohe Arbeitsbelastung<br />
betrachtet, verwundert es nicht, dass methodische<br />
Aspekte der Fallführung im Arbeitsalltag schnell in den Hintergrund<br />
treten.<br />
Auseinandersetzung mit Spannungsfeldern<br />
Wie können Beratungsansätze im Kontext der Sozialhilfe dennoch<br />
hilfreich sein und was braucht es dafür? Die Sozialhilfe der Stadt<br />
Basel hat unlängst ein Konzept eingeführt, das vorsieht, dass neben<br />
dem rechtlich-administrativen Fokus die psychosozialen Anteile<br />
in jedem Fall eine gewichtige Rolle spielen. Dazu gehört auch,<br />
Begründungen für ein bestimmtes Vorgehen nicht nur rechtlich<br />
zu legitimieren, sondern auch auf der Basis von Fachwissen zu psychosozialen<br />
Prozessen. Dies gilt es auch intern zu leben: Mit einer<br />
Teamkultur, in der in Teamsitzungen und anderen Gesprächen<br />
das psychosoziale Wohl der Klientinnen und Klienten wie auch der<br />
Mitarbeitenden in den Fokus rückt.<br />
Das von der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit entwickelte<br />
Schulungskonzept beinhaltet Herangehensweisen auf zwei Ebenen:<br />
Der Leitungs- sowie der operativen Ebene. Auf Leitungsebene<br />
gilt es, die Arbeitsweise nach innen und aussen über ein<br />
Sozialhilfekonzept so zu transportieren, dass professionelle Beratung<br />
ausdrücklich Raum erhält. In den Schulungen beschäftigen<br />
sich Sozialarbeitende mit ihren verschiedenen Rollen, dem<br />
Spannungsfeld (rechtlich-administrativ versus psychosozial), der<br />
Tätigkeit in einem Zwangs-/Pflichtkontext und dem konkreten<br />
methodischen Handeln. Besonders hilfreich sind hier Modelle<br />
zur Motivationsförderung und Veränderungsentwicklung. Sie<br />
geben Anleitung, wann, welche Beratungsmethode zum Einsatz<br />
gebracht werden kann.<br />
Diese Voraussetzungen und die Beschäftigung mit Beratung<br />
im Rahmen der entwickelten Schulung tragen mit dazu bei, dass<br />
Sozialarbeitende ihr professionelles Wissen in Gesprächsführung,<br />
Beziehungsaufbau und Gestaltung sowie Wertschätzung in kompetenter<br />
Weise in die konkrete Fallarbeit hinein vermitteln können.<br />
<br />
•<br />
Jan G. Scheibe<br />
Institut für Sozialarbeit und Recht, Hochschule Luzern<br />
Stephan Kirchschlager<br />
Institut für Soziokulturelle Entwicklung, Hochschule Luzern<br />
SCHWERPUNKT 2/17 <strong>ZESO</strong><br />
Die Praxis muss sich an der Ausbildung<br />
der künftigen Mitarbeitenden beteiligen<br />
Praxisstellen auf Sozialdiensten sind bei Studierenden der Sozialen Arbeit sehr beliebt. Diese<br />
werden im Studium auf die Tätigkeit in der Sozialhilfe gut vorbereitet. Es ist aber auch Aufgabe der<br />
Praxis, frisch Diplomierte weiter zu qualifizieren und sich so an der Praxisausbildung des eigenen<br />
Nachwuchses zu beteiligen.<br />
Mit dem Bachelor-Studiengang «Soziale Arbeit» an der Berner<br />
Fachhochschule sollen die Studierenden die nötigen Kompetenzen<br />
erwerben, um in unterschiedlichen Feldern der Sozialen Arbeit<br />
in die Berufspraxis einsteigen zu können. Mit anderen Worten<br />
ist der Studiengang generalistisch ausgerichtet. Ein generalistischer<br />
Studiengang zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Studierenden<br />
Orientierungswissen erarbeiten und thematische Schwerpunkte<br />
selber setzen können.<br />
Die Praxisorientierung im Studiengang erfolgt in drei Dimensionen:<br />
der Erarbeitung von theoretischem Wissen, dem Transfer<br />
von thematischem Wissen in die Praxisfelder sowie in der theorieund<br />
reflexionsgeleiteten praktischen Tätigkeit in Praxisfeldern im<br />
Rahmen von zwei halbjährigen Praxismodulen. Selbstverständlich<br />
kann ein Studium keine erfahrenen Berufsleute hervorbringen,<br />
sondern Berufsanfänger mit grossem Potenzial, Neugier und Engagement<br />
für das Berufsfeld.<br />
Vielfältige Themen im Modul Sozialhilfe<br />
Die Sozialhilfe ist in den Pflichtmodulen «Schweizerisches Sozialwesen»<br />
und «Einführung Recht» fest verankert. Auch in anderen<br />
Modulen wie «Armut» steht sie als Praxisfeld der Sozialen Arbeit<br />
im Fokus. Zentraler Gegenstand ist sie selbstredend im Modul «Sozialhilfe».<br />
In diesem Modul wird der <strong>ganz</strong>en Komplexität des Themas<br />
nachgegangen, damit die Studierenden auf das professionelle<br />
Handeln im spezifischen Kontext der Sozialhilfe vorbereitet werden.<br />
Das geschieht, indem einerseits rechtliche und verwaltungsorganisatorische<br />
Inhalte, andererseits gesellschafts- und professionsrelevante<br />
Diskurse wie Armut und Soziale Arbeit behandelt<br />
werden. Die folgende Abbildung gibt einen Überblick über die behandelten<br />
Themen im Modul «Sozialhilfe» in deren gegenseitigen<br />
Abhängigkeit und Durchdringung.<br />
ÜBERBLICK ÜBER DIE BEHANDELTEN THEMEN IM MODUL SOZIALHILFE<br />
Recht<br />
Meth.<br />
Handeln<br />
in der<br />
Verwaltung<br />
Sozialhilfe<br />
Soziale Arbeit<br />
Forschung<br />
Armut<br />
Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Sozialhilfe sowohl<br />
auf der Ebene der Richtlinien als auch auf der Ebene von Vorgaben<br />
zur Organisation sozialer Dienste nehmen in der Ausbildung<br />
einen besonderen Stellenwert ein. Herausfordernd wird es<br />
für die Studierenden dann, wenn sie in der Arbeit mit Fallbeispielen<br />
die meso- und makroorganisatorischen Rahmenbedingungen<br />
mit dem Handeln auf Fallebene in Verbindung bringen<br />
sollen. Die meisten Studierenden haben vor dem Besuch des<br />
Moduls noch keine Erfahrung in der Praxis der Sozialhilfe. Die<br />
Anwendung der Richtlinien auf den Einzelfall kann daher ausschliesslich<br />
mit theoretischen Kenntnissen erfolgen. Dies kann<br />
schwierig sein, beispielsweise wenn es um die Berechnung der<br />
Höhe der Sozialhilfe geht oder um konkrete Anforderungen an<br />
ein Sozialhilfebudget.<br />
Gerade die rechtlichen Rahmenbedingungen der Sozialhilfe<br />
haben auf Studierende eine teilweise fast einschüchternde Wirkung.<br />
Durch die herausfordernde Auseinandersetzung mit unterschiedlichen<br />
Rechtsbezügen der Praxis der Sozialhilfe drohen<br />
Wissensbestände zu anderen zentralen Themen wie der Beratung<br />
oder dem methodischen Handeln in den Hintergrund zu geraten.<br />
Deshalb wird im Rahmen des Moduls auf die Themen «Zielvereinbarungen<br />
aushandeln», «Situationsanalyse» und «Budgetberechnung»<br />
speziell eingegangen. Anhand von konkreten Beratungsaufgaben<br />
der Sozialhilfe werden die Studierenden für den<br />
Ermessensspielraum und dessen Bedeutung für das methodische<br />
Handeln sensibilisiert. Neben den bereits dargestellten Themen<br />
haben auch Diskussionen zu tagesaktuellen Themen der Sozialhilfe<br />
Platz. Aufgrund der umfangreichen Berichterstattung bringen<br />
Studierende gegenwärtig etwa Fragen und Meinungen zu der im<br />
Kanton Bern geplanten Sozialhilfegesetzrevision per 01.01.2018<br />
in das Modul ein.<br />
Sozialhilfe wird auch kritisch hinterfragt<br />
Die Studierenden haben auch die Möglichkeit,<br />
die Sozialhilfe in der Praxisausbildung kennenzulernen.<br />
Pro Semester werden im Stellenportal<br />
der BFH, Soziale Arbeit im Durchschnitt 20 Praxisplätze<br />
von Sozialdiensten ausgeschrieben. Das<br />
entspricht einem Anteil von rund einem Sechstel<br />
aller Stellen pro Semester. Gerade die Praxisstellen<br />
auf Sozialdiensten sind aus mehreren Gründen<br />
bei den Studierenden sehr beliebt. Es ist etwa<br />
zu hören, dass man «dort seine Sporen abverdienen<br />
kann» oder dass dies «eine vielseitige Arbeit<br />
wie sonst nirgends» sei. Es hält sich bei den Studierenden<br />
zudem die Idee, dass ein Praxismodul<br />
22 <strong>ZESO</strong> 2/17 SCHWERPUNKT
SOZIALDIENSTE<br />
Der Transfer von theoretischem Wissen in die Praxis ist für die Studierenden eine Herausforderung. <br />
Bild: Berner Fachhochschule<br />
«Selbstverständlich<br />
kann ein Studium keine<br />
erfahrenen Berufsleute<br />
hervorbringen»<br />
in der Sozialhilfe «der beste Einstieg ins Sozialwesen Schweiz» sei,<br />
«aufgrund des zentralen Stellenwerts der Sozialhilfe in der Armutsbekämpfung».<br />
Und doch werden gerade unter Studierenden der Sozialen Arbeit<br />
auch viele kritische Stimmen zur Sozialhilfe laut. Die Frage,<br />
ob auf Sozialdiensten aufgrund der fehlenden Ressourcen und des<br />
hohen öffentlichen Drucks auf alle Beteiligten überhaupt noch<br />
sozialarbeiterisch gearbeitet werden kann, ist eine Frage, die im<br />
Modul «Sozialhilfe» fast jedes Semester aufs Neue diskutiert wird<br />
und die Studierenden sehr beschäftigt. Es entstehen viele Bachelorthesen<br />
zu den unterschiedlichsten Themen der Sozialhilfe, die<br />
Ausdruck der Fragen sind, welche die Studierenden im Verlaufe<br />
des Studiums beschäftigen.<br />
Qualifikationen nachverlangen<br />
Von der Praxis wird immer stark kritisiert, dass bestimmte Inhalte<br />
zur Sozialhilfe nicht obligatorisch für alle Studierenden sind. Es ist<br />
aber ebenfalls Aufgabe der Praxis, sich bei der Anstellung frisch diplomierter<br />
Professioneller der Sozialen Arbeit mit deren erarbeitetem<br />
Profil auseinanderzusetzen und gewisse Qualifikationen nachzuverlangen,<br />
wenn diese während des Studiums noch nicht<br />
erarbeitet wurden. Dies kann zum Beispiel durch die Ermöglichung<br />
von Besuchen bestimmter Fachkurse oder durch die Berücksichtigung<br />
einer verlängerten Einarbeitungszeit erfolgen. Zudem<br />
sind Sozialdienste aufgefordert, in der Praxisausbildung der Studierenden<br />
mitzuwirken, damit sie an der Ausbildung des eigenen<br />
Nachwuchses direkt beteiligt sind und diese auch beeinflussen<br />
können.<br />
Es darf zudem nicht vergessen werden, dass die Sozialhilfe in<br />
den letzten Jahren stark an Komplexität zugenommen hat. Es stellt<br />
sich daher die Frage, ob die Verankerung von deren Inhalten allein<br />
auf Stufe der Bachelor-Ausbildung noch ausreicht. Es sollte bei<br />
der Rekrutierung und Besetzung bestimmter Stellen in der Praxis<br />
mitbedacht werden, ob Absolventinnen einer Master-Ausbildung,<br />
die sich vertiefter mit der Sozialhilfe auseinandergesetzt haben,<br />
die hohen Erwartungen und breiten Ausbildungsanforderungen<br />
nicht besser erfüllen können.<br />
Die Sozialhilfe als Handlungsfeld Sozialer Arbeit kann nicht<br />
ausschliesslich durch die Studiengänge in Sozialer Arbeit gelehrt<br />
werden. Um die Ausbildung für das anspruchsvolle Handlungsfeld<br />
weiterentwickeln und gewährleisten zu können, ist die konsequente<br />
Zusammenarbeit von Hochschulen, Praxisorganisationen<br />
und Studierenden erforderlich. <br />
•<br />
Caroline Pulver<br />
Wissenschaftliche Mitarbeiterin Soziale Arbeit und Modulverantwortliche<br />
«Sozialhilfe», Berner Fachhochschule<br />
SCHWERPUNKT 2/17 <strong>ZESO</strong><br />
Die Arbeit in Sozialdiensten erfordert<br />
Fachwissen und Allrounder-Qualitäten<br />
Im Sozialzentrum Selnau der Stadt Zürich muss Sozialarbeiter Christoph Mosimann viele Aufgaben<br />
unter einen Hut bringen. Reicht das Know-how einmal nicht aus, helfen interne Experten weiter. Anders<br />
im ländlichen Alpnach: Sozialarbeiterin Marion Hasler muss sich oft selbst zu helfen wissen.<br />
Der ausgebildete Sozialarbeiter Christoph Mosimann ist seit einem<br />
knappen Jahr Gruppenleiter Sozialarbeit des Familienprofils<br />
im Quartierteam Zürichberg des Sozialzentrums Selnau der Stadt<br />
Zürich. Sein Team besteht aus vier Sozialarbeitenden, die wie er<br />
für Familien sowie Kinder und Jugendliche zuständig sind, sowie<br />
aus fünf Schulsozialarbeitenden. Knapp die Hälfte seines Pensums<br />
steht Christoph Mosimann für die Fallarbeit zur Verfügung.<br />
Familien in allen Lebensbereichen<br />
Ein Teil seiner rund 30 Klientinnen und Klienten bezieht wirtschaftliche<br />
Sozialhilfe. Hier liegt der Schwerpunkt von Christoph<br />
Mosimanns Arbeit auf der jährlichen Kontrolle der Mittellosigkeit.<br />
Zu diesem Zweck fordert er alle nötigen Unterlagen, wie Bankauszüge<br />
und Mietvertrag, von seinen Klientinnen und Klienten ein. Daraufhin<br />
prüft er, ob weiterhin ein Anspruch auf Sozialhilfe besteht.<br />
Bei einem Treffen mit den Klientinnen und Klienten bespricht er<br />
zudem, ob sie Unterstützung bei der Arbeits- oder Wohnungssuche<br />
benötigen. «Die jährliche Kontrolle ist intensiv. Sie folgt einem genau<br />
vorgegebenen Ablauf, bei dem kein Punkt ausgelassen werden<br />
darf. Gleichzeitig will ich ein wertschätzendes und konstruktives Gespräch<br />
mit meinem Gegenüber führen. Diese beiden Aspekte zu vereinen,<br />
ist anspruchsvoll», sagt Christoph Mosimann.<br />
Weiter betreut er Mandate der KESB. Dazu gehören Beistandund<br />
Vormundschaften sowie ambulante oder stationäre erzieherische<br />
Massnahmen, was eine Zusammenarbeit mit den Eltern,<br />
Schulen, Institutionen und mit weiteren Fachpersonen beinhaltet.<br />
«Dieser Teil meiner Arbeit kann kurzfristig sehr viele Ressourcen<br />
binden. Ist ein Kind daheim gefährdet, muss der Pflegeplatz<br />
möglichst schnell gefunden werden», sagt<br />
Christoph Mosimann. Dringlich sind auch die Abklärungen<br />
für die KESB, die er und sein Team aufgrund<br />
von Drittmeldungen oder Gefährdungsmeldungen<br />
jeweils zu zweit vornehmen. Christoph Mosimann unterstützt<br />
zudem Menschen, die sich freiwillig beraten<br />
lassen. Dabei begleitet er beispielsweise Familien bei Krisengesprächen<br />
in der Schule oder organisiert unterstützende Massnahmen<br />
und klärt deren Finanzierung. Die breitgefächerten Aufgaben<br />
erfordern viel Know-how. Wo es einmal nicht ausreicht, stehen mit<br />
dem internen Fachstab Expertinnen und Experten bereit, die bei<br />
Fachfragen weiterhelfen.<br />
Fälle werden laufend überprüft<br />
Trotz aller Verschiedenheit der Aufgaben gibt es gemeinsame Nenner:<br />
Sie erfordern ein proaktives Mitdenken. «Oft sind wir die Einzigen,<br />
die mit allen involvierten Stellen zusammenarbeiten. Deshalb<br />
liegt es in unserer Verantwortung, jeden Fall <strong>ganz</strong>heitlich<br />
anzuschauen und in die Zukunft zu denken», sagt Christoph Mosimann.<br />
Allen Arbeiten ist ausserdem ein hoher Reglementierungsund<br />
Kontrollgrad gemein: Sie müssen genau dokumentiert werden,<br />
damit sämtliche Schritte eines Falls nachvollziehbar sind.<br />
Eine Kompetenzordnung hält fest, welche Stellen für welche Entscheide<br />
zu involvieren sind. In laufenden Fallrevisionen wird in<br />
der wirtschaftlichen Hilfe überprüft, ob ein Sozialarbeiter sich an<br />
alle Vorgaben hält. «Die Ansprüche an Sozialarbeiter sind hoch. Es<br />
gehört zu unserem Job, eine grosse Zahl Klientinnen und Klienten<br />
auf einem gleichbleibend hohen Niveau zu betreuen und stets die<br />
richtigen Prioritäten zu setzen. Gleichzeitig ist mein Aufgabengebiet<br />
so spannend und vielfältig, dass es mir grosse Freude macht»,<br />
sagt Christoph Mosimann. <br />
•<br />
Karin Meier<br />
24 <strong>ZESO</strong> 2/17 SCHWERPUNKT<br />
CHRISTOPH MOSIMANN:<br />
«Es liegt in unserer<br />
Verantwortung, jeden<br />
Fall <strong>ganz</strong>heitlich<br />
anzuschauen»
SOZIALDIENSTE<br />
MARION HASLER:<br />
«Manchmal komme ich<br />
mir vor wie ein Crash-Test-<br />
Dummy»<br />
KESB-Mandate sind arbeitsintensiv<br />
Einen beträchtlichen Teil ihrer Arbeit machen die KESB-Mandate<br />
aus. 2016 kamen so viele hinzu wie in den Jahren 2013-2015 zusammen.<br />
«Diese Mandate sind zu Beginn sehr arbeitsintensiv:<br />
Man muss den Fall administrativ einfädeln und viel Beziehungsarbeit<br />
leisten, damit ein Vertrauensverhältnis zur Klientin oder zum<br />
Klienten aufgebaut werden kann», sagt Marion Hasler. Müssen<br />
Kinder fremdplatziert werden, was 2016 sieben Mal der Fall war,<br />
ist der Aufwand noch höher, da mehr Stellen involviert sind. «Da<br />
bleibt für andere Aufgaben vorübergehend keine Zeit», meint Marion<br />
Hasler. Fordernd seien weiter die Mandate für alleinstehende<br />
Menschen mit einer Demenzerkrankung. Die Betreuung sei zeitaufwändig,<br />
da die Menschen sich aufgrund ihrer Krankheit nicht<br />
an Abmachungen erinnern könnten oder ihr Geld verlegten. Sind<br />
sie vermögend oder besitzen sie Liegenschaften, kommen zur Finanzverwaltung<br />
und Heimplatzierung die Liegenschaftsverwaltung,<br />
das Sichten und Sichern der Wertsachen sowie die Räumung,<br />
Reinigung und der Verkauf der Liegenschaften dazu.<br />
Bilder: Ursula Markus<br />
«Wir sind ein Gemischtwarenladen: Nebst den Klientinnen und<br />
Klienten, die wir im Rahmen der Sozialhilfe betreuen, übernehmen<br />
wir die Mandate der KESB und beaufsichtigen beispielsweise<br />
Pflegefamilien und Kindertagesstätten», sagt Marion Hasler.<br />
Die gelernte Sozialarbeiterin ist Co-Leiterin des sechsköpfigen,<br />
330-Stellenprozente umfassenden Sozialdienstes der Obwaldner<br />
Gemeinde Alpnach, die rund 6000 Einwohnerinnen und Einwohner<br />
zählt. Zudem ist Marion Hasler Mitglied der Geschäftsleitung<br />
der Gemeindeverwaltung. Die Nähe zur Politik ist in Alpnach<br />
gross: Marion Haslers direkter Vorgesetzter ist der Gemeinderat,<br />
der das Departement Soziales und Gesundheit leitet. «Die Zusammenarbeit<br />
verläuft zwar sehr konstruktiv, aber ich muss etliche<br />
Entscheide begründen und viel Aufklärungsarbeit leisten.»<br />
Politik und Verwaltung reden mit<br />
Die 42-Jährige hat ihre Stelle 2014 angetreten, nachdem sie zwölf<br />
Jahre im wirtschaftlichen Sozialdienst der Stadt Luzern tätig gewesen<br />
war. Der Stellenwechsel brachte eine grosse Veränderung der<br />
Aufgaben und damit der Anforderungen mit sich: Statt Fachwissen<br />
in einem Bereich waren nun Allrounder-Fähigkeiten und ein<br />
breiteres Wissen gefragt. «Anders als in Luzern gibt es in Alpnach<br />
weder einen Rechtsdienst noch eine interne Revision, an die man<br />
sich im Zweifelsfall wenden kann. Man muss sich selbst zu helfen<br />
wissen», so Marion Hasler. Auch wenn sie sich die nötigen Kenntnisse<br />
rasch angeeignet hat, fehlen ihr für seltene Fälle wie etwa die<br />
Restkostenfinanzierung für einen ausserkantonalen Pflegeplatz jedoch<br />
die Routine: «In solchen Situationen habe ich das Gefühl, mit<br />
Halbwissen an eine Sache heranzugehen. Das ist unbefriedigend.»<br />
Ebenfalls nicht immer einfach sei der Umgang mit der relativ<br />
schwerfälligen Administration: «Manchmal komme ich mir vor<br />
wie ein Crash-Test-Dummy: Ich bin voll in Fahrt und sause plötzlich<br />
in eine Wand. Beispielsweise kann ich ein Stelleninserat nicht<br />
einfach mehr selbst aufgeben, sondern muss es erst in die Geschäftsleitung<br />
bringen», so Marion Hasler. Dies seien jedoch kleinere<br />
Unstimmigkeiten, die nichts daran änderten, dass sie ihre Arbeitszufriedenheit<br />
als sehr hoch einschätze: Marion Hasler gefällt<br />
die grosse Vielfalt ihrer Arbeit, die etliche Ausseneinsätze mit sich<br />
bringt. Und das Team – alles Frauen – sei schlicht toll: «Das ist für<br />
mich der wichtigste Faktor überhaupt», sagt Marion Hasler. •<br />
Karin Meier<br />
Wirkungen von Integrationsprogrammen<br />
in der Sozialhilfe<br />
FACHBEITRAG Wie wirken Integrationsprogramme in der Sozialhilfe? Und welche Faktoren spielen<br />
für die Wirkung eine Rolle? In einer Studie der Berner Fachhochschule wird diesen Fragen seit<br />
2014 intensiv nachgegangen. Nun liegt ein validiertes Messinstrument vor, das die Wirkungen von<br />
Integrationsprogrammen sowie die Einflussfaktoren erfasst und zuverlässig misst.<br />
Die Berner Fachhochschule (BFH) hat in<br />
einer Studie die Wirkungen von Integrationsprogrammen<br />
in der Sozialhilfe systematisch<br />
untersucht. Für die Studie wurde eine<br />
Online-Befragung von Programmteilnehmenden<br />
in drei Befragungswellen durchgeführt.<br />
Die Studie zeigte in der ers ten Befragungswelle,<br />
wie sich Teilnehmende von<br />
Integrationsprogrammen in der Sozialhilfe<br />
in vielen Dimensionen deutlich von anderen<br />
Bevölkerungsgruppen unterscheiden.<br />
Bei den Auswertungen wurde zwischen<br />
Teilnehmenden mit dem Ziel der sozialen<br />
Integration (SI) und solchen, die mittelfristig<br />
eine berufliche Integration im ersten Arbeitsmarkt<br />
anstreben (BIP), unterschieden.<br />
Das Profil der befragten Programmteilnehmenden<br />
Personen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit<br />
sind bei den befragten Programmteilnehmenden<br />
mit einem Anteil<br />
von 38 Prozent gegenüber einem Ausländeranteil<br />
von rund 25 Prozent in der ständigen<br />
Wohnbevölkerung (BFS <strong>2017</strong>a)<br />
deutlich übervertreten. Die Hälfte der Teilnehmenden<br />
von Integrationsprogrammen<br />
wurde entweder im Ausland geboren oder<br />
besitzt eine ausländische Staatsangehörigkeit.<br />
47 Prozent haben weder eine Lehre<br />
abgeschlossen noch eine weiterführende<br />
Schule (z.B. Gymnasium) absolviert. Bei<br />
den 25- bis 64-Jährigen in der Schweiz beträgt<br />
der gleiche Anteil 12 Prozent (BFS<br />
<strong>2017</strong>b). Die Hälfte der Teilnehmenden<br />
hat Schulden. Die Teilnehmenden beziehen<br />
im Durchschnitt seit 28 Monaten Sozialhilfe<br />
und sind seit 20 Monaten keiner<br />
Arbeit mehr nachgegangen. Ein Drittel der<br />
Teilnehmenden hat bereits früher an einem<br />
Integrationsprogramm teilgenommen.<br />
Bei den SI-Teilnehmenden ist es die<br />
Hälfte, die bereits Erfahrungen in Integrationsprogrammen<br />
sammelte.<br />
Neben diesen soziodemografischen<br />
und ökonomischen Indikatoren zeigt sich,<br />
dass es den Teilnehmenden der Integrationsprogramme<br />
gesundheitlich deutlich<br />
schlechter geht als Personen der ständigen<br />
Wohnbevölkerung, insbesondere auch<br />
als armutsbetroffenen Personen (vgl. Abbildung<br />
1). Der eigene Gesundheitszustand<br />
wird von den 18- bis 64-Jährigen<br />
in der Schweiz auf einer Skala von 1 (sehr<br />
schlecht) bis 5 (sehr gut) mit gut bis sehr<br />
gut bewertet (ø = 4.3). Dies zeigen Aus-<br />
wertungen der Schweizerischen Gesundheitsbefragung<br />
für das Jahr 2012. Armutsbetroffene<br />
Personen, d.h. Personen,<br />
deren Haushaltseinkommen kleiner ist<br />
als 50 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens<br />
(Median), stufen ihren Gesundheitszustand<br />
mit 4.0 etwas schlechter<br />
ein als die Schweizerische Bevölkerung.<br />
Ein Vergleich mit den durchschnittlichen<br />
Werten der Teilnehmenden zu Beginn des<br />
Integrationsprogramms zeigt, dass sie ihren<br />
Gesundheitszustand noch schlechter<br />
einstufen als armutsbetroffene Personen.<br />
Die Auswertungen machen weiter deutlich,<br />
dass die Teilnehmenden auch weniger<br />
zufrieden sind mit ihrem Gesundheitszustand<br />
als die Durchschnittsbevölkerung.<br />
Die Programmteilnehmenden erzielen auf<br />
einer Skala von 0 (gar nicht zufrieden) bis<br />
10 (vollständig zufrieden) durchschnittliche<br />
Werte von 5.7 (SI) respektive 7.4<br />
(BIP). Zusätzlich fühlen sie sich stärker<br />
durch gesundheitliche Probleme eingeschränkt.<br />
Weiter zeigen die Ergebnisse, dass<br />
die Teilnehmenden der Integrationsprogramme<br />
in der Sozialhilfe einer hohen<br />
psychischen Belastung ausgesetzt sind.<br />
ABB. 1: GESUNDHEITSRELEVANTE INDIKATOREN DER PROGRAMMTEILNEHMENDEN ZU BEGINN DES PRO-<br />
GRAMMS IM VERGLEICH MIT DURCHSCHNITTSWERTEN FÜR DIE SCHWEIZERISCHE BEVÖLKERUNG<br />
Gesundheitszustand<br />
Zufriedenheit mit der Gesundheit<br />
Energie und Vitalität (EVI)<br />
Psychische Belastung (DET PSY)<br />
3.5<br />
5.7<br />
51.0<br />
63.4<br />
3.9<br />
7.4<br />
62.4<br />
61.2<br />
4.0<br />
7.8<br />
66.4<br />
78.0<br />
4.3<br />
8.1<br />
71.6<br />
83.1<br />
1.0 2.0 3.0 4.0 5.0<br />
1 = sehr schlecht, 2 = eher schlecht,<br />
3 = mittelmäsig, 4 = gut, 5 = sehr gut<br />
0.0 2.0 4.0 6.0 8.0<br />
0 = gar nicht zufrieden bis<br />
10 = vollständig zufrieden<br />
Quelle: Online-Befragung der Programmteilnehmenden<br />
(2015/2016), BFS (SGB/SILC 2012); Berechnungen BFH<br />
10.0 0.0 20.0 40.0 60.0 80.0 100.0 0.0 20.0 40.0 60.0 80.0 100.0<br />
0 = sehr tief bis 100 = sehr hoch 0 = sehr hoch bis 100 = sehr tief<br />
SI-Teilnehmende<br />
Armutsbetroffene CH-Bevölkerung (18- bis 64-Jährige)<br />
BIP-Teilnehmende CH-Bevölkerung (18- bis 64-Jährige)<br />
26 <strong>ZESO</strong> 2/17
Dies kommt durch durchschnittliche Indexwerte<br />
von 63.4 respektive 61.2 als<br />
Mass für die psychische Belastung (DET<br />
PSY) zum Ausdruck. Aus einer klinischen<br />
Sicht besteht ein starker Zusammenhang<br />
zwischen psychischen Störungen und<br />
Werten kleiner oder gleich 52. Bei Werten<br />
zwischen 53 und 72 sind psychische Störungen<br />
wahrscheinlich. Höhere Werte verweisen<br />
auf eine gute psychische Gesundheit<br />
(BFS 2014). Ein weiterer Index zeigt<br />
zudem, dass die Programmteilnehmenden<br />
bei Programmbeginn über weniger Energie<br />
und Vitalität verfügen als Armutsbetroffene<br />
und Durchschnittsschweizer.<br />
Die Wirkungen der Integrationsprogramme<br />
Die Wirkungen der Integrationsprogramme<br />
bei den Programmteilnehmenden wurden<br />
mit Hilfe von 40 Indikatoren erhoben.<br />
Der Fokus des Indikatorensets liegt neben<br />
Schlüsselindikatoren zur beruflichen und<br />
materiellen Situation auf weichen Faktoren<br />
wie zum Beispiel der Grad der sozialen Integration<br />
oder der psychischen Stabilität einer<br />
Person.<br />
Nach der Datenbereinigung konnten<br />
die Angaben von 101 Programmteilnehmenden<br />
ausgewertet werden. Davon haben<br />
94 Personen die Programme vollständig<br />
absolviert. Sieben Personen haben die<br />
Programme aus unterschiedlichen Gründen<br />
vorzeitig verlassen. Ob diese Personen<br />
als Vergleichsgruppe verwendet werden,<br />
um die mögliche Entwicklung der Teilnehmenden<br />
zu beschreiben, falls sie nicht<br />
am Programm teilgenommen hätten, wird<br />
nach Abschluss der Fokusgespräche entschieden.<br />
Bei den vorliegenden Ergebnissen<br />
wird die Veränderung in den Indikatoren<br />
zwischen der Erhebung am Ende des<br />
Programms und der Befragung zu Beginn<br />
des Programms als Wirkung interpretiert.<br />
Bei den BIP-Teilnehmenden sind die<br />
grössten Veränderungen im Bereich der<br />
harten Faktoren, der beruflichen und materiellen<br />
Situation, eingetreten. 26 Prozent<br />
haben eine Lehrstelle oder eine Arbeitsstelle<br />
gefunden, weitere 26 Prozent ein<br />
Praktikum. Bei rund der Hälfte der Teilnehmenden<br />
findet keine berufliche Veränderung<br />
statt. Rund 9 Prozent konnten sich<br />
nach Beendigung des Programms von der<br />
Sozialhilfe ablösen und die Schuldenhöhe<br />
ist im Durchschnitt um 3900 Franken gesunken.<br />
Die Zahl der Bewerbungen stieg<br />
im Durchschnitt nur unwesentlich von 23<br />
Bewerbungen in sechs Monaten auf 25.<br />
Die Zahl der Vorstellungsgespräche blieb<br />
praktisch unverändert. Neben diesen Wirkungen<br />
bei den harten Faktoren zeigen<br />
sich die grössten Veränderungen in der<br />
Gruppe der BIP-Teilnehmenden bei der<br />
Tagesstruktur. Die Teilnehmenden stehen<br />
während des Programms im Durchschnitt<br />
eine Stunde früher auf als zuvor. Sie nehmen<br />
auch mehr Mahlzeiten zu sich als<br />
vor dem Programm. Der Indikator zu den<br />
Zukunftsaussichten zeigt zudem, dass die<br />
Unsicherheit bei den BIP-Teilnehmenden<br />
tendenziell abnimmt.<br />
Die grössten Veränderungen sind bei<br />
den SI-Teilnehmenden im Bereich der<br />
Gesundheit auszumachen. Sie fühlen sich<br />
durch gesundheitliche Probleme weniger<br />
stark eingeschränkt und ihre Zufriedenheit<br />
mit der Gesundheit steigt. Der<br />
durchschnittliche Wert dieses Indikators<br />
erhöht sich von 5.7 auf 6.9 Punkte. Die<br />
Teilnehmenden erreichen damit ein mit<br />
den BIP-Teilnehmenden vergleichbares<br />
Niveau. Diese gesundheitliche Verbesserung<br />
schlägt sich auch in der Anzahl der<br />
Arztbesuche nieder. Vor dem Programm<br />
suchten die SI-Teilnehmenden in einem<br />
halben Jahr 7 Mal eine Ärztin oder einen<br />
Arzt (ohne Zahnarzt) auf. Während des Programms<br />
senkt sich dieser Durchschnittswert<br />
auf fünf Arztbesuche. Die SI-Teilnehmenden<br />
fühlen sich bei Programm ende<br />
zudem weniger häufig einsam, was darauf<br />
hinweist, dass auch in der Dimension der<br />
sozialen Integration Veränderungen ausgelöst<br />
werden. Die Auswertungen zeigen<br />
auch, dass sich die Zukunftsaussichten der<br />
Teilnehmenden mit dem Ziel der sozialen<br />
Integration verbessern.<br />
Die Veränderungen in den einzelnen<br />
Indikatoren können standardisiert und<br />
zusammengefasst auf der Ebene von sechs<br />
Wirkungsdimensionen ausgewiesen werden<br />
(vgl. Abb.2). Die Netzdiagramme für<br />
die zwei Untersuchungsgruppen zeigen,<br />
dass bei den BIP-Teilnehmenden die<br />
grössten Wirkungen in der Dimension «Berufliche<br />
und materielle Situation» auszumachen<br />
sind. Bei den SI-Teilnehmenden<br />
ist es die Dimension «Physische und psychische<br />
Gesundheit». Dabei handelt es<br />
sich mit durchschnittlichen Werten nach<br />
Cohens d von 0.37 (BIP) respektive 0.26<br />
(SI) um eher kleine Veränderungen. An<br />
zweiter Stelle im Hinblick auf positive Veränderungen<br />
folgt in beiden Gruppen die<br />
Wirkungsdimension Gesundheitsverhalten<br />
und Tagesstruktur. Aus Abbildung 2<br />
wird auch deutlich, in welchen Dimensionen<br />
kaum Veränderungen eingetreten<br />
sind. So konnten weder die BIP- noch die<br />
SI-Teilnehmenden ihre Sprach- und Ar- <br />
ABB. 2: EFFEKTSTÄRKE AUF EBENE DER DIMENSIONEN<br />
FÜR SI- UND BIP-TEILNEHMENDE<br />
Ein Cohens d zwischen 0.2<br />
und 0.5 bedeutet einen<br />
kleinen, zwischen 0.5 und 0.8<br />
einen mittleren Effekt. d grösser<br />
als 0.8 bedeutet einen<br />
starken Effekt. Quelle: Online-<br />
Befragung der Programmteilnehmenden<br />
(2015/2016);<br />
Berechnungen BFH<br />
Motivation und<br />
Zukunftsperspektiven<br />
Sprach- und<br />
Arbeitskompetenzen<br />
Berufliche und<br />
materielle Situation<br />
Soziale Integration<br />
BIP<br />
SI<br />
Nulllinie<br />
Physische und<br />
psychische<br />
Gesundheit<br />
Gesundheitsverhalten<br />
und Tagesstruktur<br />
2/17 <strong>ZESO</strong><br />
27
eitskompetenzen markant verbessern.<br />
Auch in der Dimension «Motivation und<br />
Zukunftsperspektiven» lassen sich keine<br />
bedeutenden Veränderungen feststellen.<br />
In der Dimension «Soziale Integration» ist<br />
bei den SI-Teilnehmenden ein positiver<br />
Ausschlag zu verzeichnen.<br />
Die Programme<br />
wirken vor allem<br />
im physischen<br />
und psychischen<br />
Bereich positiv<br />
Multivariate Auswertungen<br />
Welche individuellen Faktoren beeinflussen<br />
die Wirkungen der Integrationsprogramme?<br />
Dieser Frage wurde mit Hilfe<br />
von multivariaten Analysen nachgegangen.<br />
Mit Blick auf die berufliche Integration<br />
kann festgehalten werden, dass sich bei<br />
den BIP-Teilnehmenden Migranten weniger<br />
gut integrieren als Schweizerinnen<br />
und Schweizer. Hingegen spielt bei den<br />
BIP- Teil neh menden weder das Alter, das<br />
Geschlecht, der Zivilstand noch die Dauer<br />
des Sozialhilfebezugs sowie die frühere<br />
Teilnahme an Integrationsprogrammen<br />
eine Rolle dabei, ob sie eine Anschlusslösung<br />
finden. SI-Teilnehmende mit einem<br />
Abschluss der Tertiärstufe finden häufiger<br />
eine Praktikumsstelle als Personen mit einer<br />
Berufsbildung. SI-Teilnehmende, die<br />
während der Programmlaufzeit heiraten,<br />
treten weniger häufig nach Programmende<br />
eine Praktikumsstelle an. Neben diesen<br />
Zusammenhängen lassen sich vereinzelt<br />
Geschlechter- und Alterseffekte feststellen.<br />
Beispielsweise steigt die Zufriedenheit<br />
mit der Gesundheit bei den älteren<br />
Teilnehmenden im SI-Programm stärker,<br />
während dieser Effekt bei den BIP-Teilnehmenden<br />
ein negatives Vorzeichen hat.<br />
In der Gruppe der BIP-Teilnehmenden<br />
kann festgestellt werden, dass sich Frauen<br />
gegenüber Männern in zwei Indikatoren<br />
zur Tagesstruktur (Mahlzeiten, Verlassen<br />
des Hauses) stärker verbessern.<br />
Die multivariaten Auswertungen zeigen,<br />
dass sich biografische Ereignisse<br />
während des Programmbesuchs auf die<br />
Gesundheit auswirken können. So hat<br />
zum Beispiel sowohl bei den SI- wie auch<br />
bei den BIP-Teilnehmenden der Tod eines<br />
Haustiers einen negativen Einfluss auf die<br />
Zufriedenheit mit der Gesundheit. Lassen<br />
sich BIP-Teilnehmende scheiden, fühlen<br />
sie sich stärker durch gesundheitliche Probleme<br />
eingeschränkt. BIP-Teilnehmende,<br />
die heiraten, reduzieren ihren Alkoholkonsum<br />
stärker und SI-Teilnehmende<br />
verlassen im Fall einer Heirat häufiger<br />
das Haus, stehen aber im Durchschnitt<br />
später auf. Diese Ergebnisse zeigen, dass<br />
Veränderungen in den gemessenen Wirkungsdimensionen<br />
nicht nur durch den<br />
Programmbesuch, sondern auch durch<br />
biografische Ereignisse ausgelöst werden<br />
können. Umso wichtiger ist es, solche negativen<br />
oder positiven Lebensereignisse<br />
mithilfe des Messinstruments zu erfassen.<br />
Positive Wirkungen<br />
Die vorliegenden Ergebnisse weisen darauf<br />
hin, dass die Integrationsprogramme positive<br />
Wirkungen entfalten. Am deutlichsten<br />
sind diese Effekte in der Dimension «Physische<br />
und psychische Gesundheit» bei den<br />
SI-Teilnehmenden nachzuweisen. Bei den<br />
BIP-Teilnehmenden treten die deutlichsten<br />
Effekte in der Dimension «Berufliche<br />
und materielle Situation» auf. Die weiteren<br />
Auswertungen der dritten Befragungswelle<br />
und der Fokusgruppen werden zusätzliche<br />
Informationen zur Wirkung von Integrationsprogrammen<br />
beisteuern und das hier<br />
skizzierte Wirkungsprofil von SI- und BIP-<br />
Programmen vervollständigen. •<br />
Thomas Oesch<br />
Berner Fachhochschule,<br />
Fachbereich Soziale Arbeit<br />
Peter Neuenschwander<br />
Berner Fachhochschule,<br />
Fachbereich Soziale Arbeit<br />
DIE STUDIE<br />
Die BFH führte die Untersuchung in Zusammenarbeit<br />
mit der Beratungsfirma socialdesign sowie<br />
fünf bernischen Programmanbietern durch. An<br />
der Studie beteiligten sich AMI-Aktive Integration,<br />
die GAD-Stiftung, das Kompetenzzentrum Arbeit,<br />
der Verein maxi.mumm sowie das Schweizerische<br />
Arbeiterhilfswerk. Die Ergebnisse beruhen auf<br />
einer Online-Befragung von Programmteilnehmenden<br />
in diesen fünf Institutionen: 290 wurden<br />
in einer ersten Befragungswelle bei Programmeintritt<br />
zwischen März bis Ende November 2015<br />
befragt und 137 zum Zeitpunkt des Programmaustritts<br />
zwischen Juni 2015 und Ende Mai 2016<br />
(2. Befragungswelle). Zudem konnte ein Teil der<br />
Befragten zirka ein Jahr nach Programmaustritt<br />
telefonisch befragt werden (3. Befragungswelle).<br />
Diese Nachbefragung soll zeigen, ob die Wirkungen<br />
der Integrationsprogramme nachhaltig<br />
sind. Zusätzlich wurden vier Fokusgruppen mit<br />
Teilnehmenden von Integrationsprogrammen<br />
durchgeführt, um die quantitativen Umfrageergebnisse<br />
mit qualitativen Aussagen von<br />
Programmteilnehmenden zu vertiefen.<br />
In der von der Kommission für Technologie und<br />
Innovation (KTI) geförderten Untersuchung<br />
wurde zwischen zwei Teilnehmergruppen<br />
unterschieden. Bei Teilnehmenden mit dem Ziel<br />
der sozialen Integration (SI) steht die soziale<br />
Stabilisierung im Vordergrund. Die berufliche<br />
Integration ist bei ihnen kein explizites Ziel. BIP-<br />
Teilnehmende hingegen streben mittelfristig eine<br />
berufliche Integration im ersten Arbeitsmarkt an.<br />
Um die Wirkungen von Integrationsprogrammen<br />
in der Sozialhilfe systematisch zu untersuchen,<br />
hat die BFH in Zusammenarbeit mit socialdesign<br />
ein umfassendes Wirkungsmodell erarbeitet.<br />
Darin werden sämtliche relevanten Faktoren, die<br />
einen Einfluss auf die beabsichtigten Wirkungen<br />
haben, abgebildet. Neben den Voraussetzungen,<br />
welche die Teilnehmenden beim Eintritt in das<br />
Programm mitbringen (Income), wurden die eingesetzten<br />
Ressourcen (Input) sowie verschiedene<br />
Leistungselemente wie Coachings und<br />
Beratungsgespräche (Output) bei den Anbietern<br />
erfasst. Der Schwerpunkt der Erhebung lag auf<br />
der Erfassung der Wirkungen der Programme<br />
bei den Teilnehmenden (Outcome). Auf dieser<br />
Ebene wurden zum Beispiel Informationen<br />
zur beruflichen und materiellen Situation, zur<br />
sozialen Integration, zur Gesundheit und zu Arbeitskompetenzen<br />
der Teilnehmenden erhoben.<br />
Ob Integrationsprogramme Wirkungen entfalten<br />
oder nicht, hängt nicht zuletzt auch von<br />
programmexternen Bedingungen ab. Einschneidende<br />
biografische Ereignisse während der<br />
Laufzeit des Programms (zum Beispiel der Tod<br />
einer nahestehenden Person oder eine Heirat)<br />
wurden aus diesem Grund ebenfalls erfasst, um<br />
allfällige Zusammenhänge mit Wirkungsindikatoren<br />
abbilden zu können.<br />
28 <strong>ZESO</strong> 2/17
Sekundäre Folge<br />
der Fachkräfteinitiative<br />
FACHBEITRAG Mit der Fachkräfteinitiative sollen mehr gut qualifizierte Frauen mehr arbeiten. Sind<br />
die Massnahmen erfolgreich, wird dies Auswirkungen auf die Nachfrage nach haushaltsnahen<br />
Dienstleistungen und damit auch Sans-Papiers-Hausarbeiterinnen haben. Dies zeigt ein Gutachten,<br />
das die Anlaufstelle für Sans-Papiers Basel bei der Fachhochschule Nordwestschweiz in Auftrag<br />
gegeben hat.<br />
In der Schweiz soll das Potenzial von einheimischen<br />
Fachkräften besser ausgeschöpft<br />
werden. Die Fachkräfteinitiative<br />
des Bundesrates von 2011 (FKI) verlangt,<br />
dass Frauen und ältere Arbeitnehmende<br />
vermehrt in den Arbeitsmarkt integriert<br />
werden. Sie sollen ihre Arbeitspensen erhöhen<br />
und länger erwerbstätig bleiben. Neben<br />
wirtschaftlichen und gleichstellungspolitischen<br />
Zwecken wird mit dieser<br />
Initiative auch die Absicht verfolgt, die Zuwanderung<br />
zu reduzieren – dies vor allem<br />
seit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative<br />
im Februar 2014.<br />
Unbezahlte Arbeit im Haushalt<br />
In der Schweiz arbeiten sehr viele, gerade<br />
auch gut ausgebildete Frauen mit niedrigen<br />
Teilzeitpensen. Diese sollen nun im<br />
Rahmen der FKI ihr Arbeitspensum erhöhen.<br />
Dabei geht jedoch vergessen, dass viele<br />
Frauen neben ihrer Erwerbsarbeit zusätzlich<br />
unbezahlte Arbeit im Haushalt, in der<br />
Kinderbetreuung und in der Pflege von älteren<br />
oder beeinträchtigten Familienangehörigen<br />
leisten. Bei diesen Aufgaben handelt<br />
es sich um Arbeiten, die immer noch<br />
grösstenteils von Frauen verrichtet werden<br />
(was sich, wie verschiedene Studien zeigen,<br />
auch bei zunehmender Erwerbstätigkeit<br />
von Frauen nicht ändert). Wenn die Frauen<br />
nun ihr Arbeitspensum erhöhen, bleibt ihnen<br />
weniger Zeit, um diese Haus- und Betreuungsarbeiten<br />
selbst auszuführen. Und<br />
da Fragen zur Verteilung der Haus- und Betreuungsarbeit<br />
und zum Zugang zu Betreuung<br />
und Pflege bei den Massnahmen der<br />
FKI nicht genügend berücksichtigt werden,<br />
müssten die familienbezogenen Arbeiten<br />
vermehrt auf dem Dienstleistungsmarkt<br />
eingekauft werden – zum Beispiel<br />
bei Sans-Papiers-Hausarbeiterinnen.<br />
Die Analysen des Schweizerischen<br />
Haushaltspanels zeigen, dass das Arbeitspensum<br />
der Frau – neben dem Haushaltseinkommen,<br />
dem Ausbildungsgrad<br />
der Frau und dem Haushaltstyp (mit/<br />
ohne Kinder) – einen sehr grossen Einfluss<br />
auf die Nachfrage nach haushaltsnahen<br />
Dienstleistungen hat. Besonders deutlich<br />
wird dies bei Paarhaushalten mit Kindern:<br />
Haushalte mit Müttern, die ein hohes Teilzeitpensum<br />
haben, nehmen eher Hilfe in<br />
Anspruch (44%), als wenn die Mutter mit<br />
einem niedrigen Teilzeitpensum arbeitet<br />
(28%).<br />
Anstieg der Nachfrage<br />
Schätzungsweise generieren bereits vier<br />
Haushalte, in denen die FKI wirkt, die<br />
Nachfrage nach mindestens einer zusätzlichen<br />
Arbeitskraft im Privathaushalt. Haus-<br />
EXTERNE HILFE NACH<br />
TEILZEITPENSUM DER FRAU<br />
(Paarhaushalte mit Kindern)<br />
Quelle: Fachhochschule Nordwestschweiz 1<br />
1<br />
Knöpfel, Carlo/Zängl, Peter/Madörin, Sarah (2016):<br />
Gutachten: Abschätzung der Folgen der Umsetzung<br />
der Fachkräfteinitiative auf den bezahlten Niedriglohnbereich<br />
in privaten Haushalten, insbesondere<br />
für niedrigqualifizierte Migrantinnen und Migranten<br />
und Sans-Papiers. Im Auftrag der Anlaufstelle für<br />
Sans-Papiers.<br />
28%<br />
44%<br />
unter 50% 50–95%<br />
haltsnahe Dienstleistungen können zwar<br />
auch durch Personen aus dem Verwandten-<br />
oder Bekanntenkreis oder von spezialisierten<br />
Diensten (z.B. Kinderhorte) erbracht<br />
werden, häufig werden diese<br />
Aufgaben jedoch von wenig qualifizierten<br />
Migrantinnen und Migranten übernommen.<br />
Bei wachsender Beschränkung der Arbeitsmigration<br />
ist davon auszugehen, dass<br />
vermehrt Sans-Papiers, also Migrantinnen<br />
und Migranten ohne Aufenthaltsbewilligung,<br />
in den betroffenen Privathaushalten<br />
angestellt werden. Von den 100 000 Personen,<br />
die heute bereits in privaten Haushalten<br />
tätig sind, sind laut der Anlaufstelle<br />
für Sans-Papiers Basel mindestens 40 000<br />
Sans-Papiers. Wie verschiedene Studien<br />
zeigen, zeichnen sich Sans-Papiers-Hausarbeiterinnen<br />
häufig durch eine sehr hohe<br />
Arbeitsmoral, vielseitige Kompetenzen<br />
und eine gute Bildung aus – und unterscheiden<br />
sich damit massgebend von<br />
einem grossen Teil der legalen Arbeitskräfte<br />
im Hauswirtschaftssektor. Zudem bieten<br />
sie oftmals flexiblere Lösungen als spezialisierte<br />
Dienste (wie z.B. Kinderhorte) und<br />
stellen für viele Familien den besten Weg<br />
dar, die Doppelbelastung von Familie und<br />
Beruf befriedigend abzufedern.<br />
Vor dem Hintergrund der Verknüpfung<br />
der FKI mit der Masseneinwanderungsinitiative<br />
ist die beschriebene Entwicklung<br />
politisch so nicht gewünscht. Sie wirft zumindest<br />
die Frage auf, wie arbeitsmarktpolitisch<br />
mit der Nachfrage nach Hilfskräften,<br />
die durch die Umsetzung der FKI in<br />
Privathaushalten entstehen würde, umgegangen<br />
werden soll.<br />
•<br />
Carlo Knöpfel, Professor FHNW Soziale Arbeit<br />
Sarah Madörin, Wissenschaftl. Assistentin<br />
2/17 <strong>ZESO</strong><br />
29
Zeit der Schwebe sinnvoll nutzen<br />
REPORTAGE Während der Wartezeit im Asylverfahren lernen und arbeiten: Das ist die Devise<br />
des neuen Beschäftigungsprogramms In-Limbo, das von Büren an der Aare aus in den<br />
Kollektivunterkünften des Seelands derzeit eingeführt wird. Die Asylsuchenden machen durch das<br />
Programm einen ersten Integrationsschritt in den Schweizer Arbeitsmarkt, können ihre erworbenen<br />
Kenntnisse aber auch bei einer allfälligen Rückkehr in die Heimat brauchen.<br />
Es ist unüblich ruhig an diesem Donnerstag<br />
vor Ostern. In der Kollektivunterkunft<br />
Lyss, wo viele Familien leben und ansonsten<br />
ein reges Gewusel im und um das Haus<br />
herrscht, sind heute viele Asylsuchende am<br />
Fasten und bleiben ruhig in ihren Zimmern.<br />
Auf dem Gelände um das Haus im<br />
Lysser Industrieviertel befinden sich ein<br />
Volleyballfeld, begrünte Hochbeete und<br />
ein Sandkasten. Das Besondere daran ist:<br />
Die Asylsuchenden haben sich all dies selber<br />
gebaut − aus Material, das nicht mehr<br />
gebraucht wurde. So fertigten sie aus alten<br />
Holzpalletten die Hochbeete und benutzten<br />
die Holzplatten eines nicht mehr benutzten<br />
Gartenhauses für den Sandkasten.<br />
Auch die Gartenplatten haben sie selber<br />
verlegt. Sie haben dies im Rahmen des Beschäftigungsprogrammes<br />
In-Limbo getan.<br />
Dieses wurde zunächst im vergangenen<br />
Jahr in der Kollektivunterkunft Büren a.A.<br />
angeboten und wird nun nach und nach<br />
auf die anderen von Asyl Biel & Region<br />
(ABR) betriebenen Unterkünften im Seeland<br />
und in Enggistein eingeführt.<br />
Bereits ab dem zweiten Tag<br />
In-Limbo ist in seiner Art neu. Das Programm<br />
bietet Flüchtlingen nicht nur Beschäftigungsmöglichkeiten,<br />
sondern beinhaltet<br />
auch Bildung. Speziell daran ist,<br />
dass die Asylsuchenden bereits ab dem<br />
zweiten Tag nach ihrer Ankunft in der Kollektivunterkunft<br />
mitmachen können − unabhängig<br />
davon, ob sie in der Schweiz bleiben<br />
oder in ihr Heimatland zurückkehren.<br />
Dabei ist der Name Programm: Die Teilnehmer<br />
sollen die ungewisse Zeit der<br />
Schwebe während ihres hängigen Asylverfahrens<br />
sinnstiftend nutzen können. Sei es<br />
als erster Integrationsschritt in den Schweizer<br />
Arbeitsmarkt oder als Basis für eine<br />
existenzsichernde Tätigkeit in der Heimat.<br />
Jonas Beer hat ein erstes Programm zusammen<br />
mit anderen von der unkonventionellen<br />
Business-schule Kaospilots entwickelt.<br />
Ein Zivildienstleistender, der in der<br />
Kollektivunterkunft Büren a.A. arbeitete,<br />
hatte sie dazu geholt, um einen Business<br />
Plan zu entwickeln, wie mit Asylsuchenden<br />
Produkte hergestellt werden könnten. Daraus<br />
haben Markaus Schneider, Leiter der<br />
Kollektivunterkunft Büren a.A., und Jonas<br />
Beer das In-Limbo-Konzept entwickelt.<br />
Sie dachten dabei vor allem darüber nach,<br />
welchen Mehrwert es für alle bringen würde,<br />
wenn die teils lange Zeit des Wartens<br />
mit Arbeit und Bildung verbracht werden<br />
könnte.<br />
Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit<br />
Heute ist Jonas Beer Verantwortlicher Organisationsentwicklung<br />
bei In-Limbo. Das<br />
Programm kommt gut an: In Büren a.A.,<br />
wo 90 Menschen wohnen, machen drei<br />
Viertel bei In-Limbo mit. Das ist nicht<br />
selbstverständlich, wird doch von den Asylsuchenden<br />
auch so einiges verlangt. Sagen<br />
sie nach einer kurzen Probezeit zu, ist ihre<br />
Teilnahme verbindlich. Das Programm ist<br />
in drei Phasen aufgeteilt: In einer ersten,<br />
drei Monate dauernden Phase kommen<br />
die Asylsuchenden in Berührung mit der<br />
hiesigen Sprache und besuchen Workshops<br />
zum Leben in der Schweiz. «Sie lernen<br />
nebst Geografie und Ähnlichem auch<br />
Praktisches zum alltäglichen Leben in der<br />
Schweiz, etwa wie man ein Billett am Automaten<br />
löst», erklärt Jonas Beer. In dieser<br />
ersten Zeit sind die Asylsuchenden unter<br />
anderem mit dem Putzen der Asylunterkunft<br />
beschäftigt. Ihnen werden wichtige<br />
Grundwerte des schweizerischen Arbeitsmarktes<br />
vermittelt, wie Pünktlichkeit und<br />
Zuverlässigkeit. Zu Beginn habe er diese<br />
erste Phase als nicht so wichtig erachtet, erinnert<br />
sich Beer. «Doch das Gegenteil ist<br />
der Fall.» In diesen ersten Wochen klären<br />
die In-Limbo-Mitarbeitenden auch das Potential<br />
der Asylsuchenden ab. Nach diesen<br />
Lernen statt warten − die Asylsuchenden<br />
erwerben in der Manufaktur praktische<br />
Kompetenzen. <br />
Bilder: Annette Boutellier<br />
30 <strong>ZESO</strong> 2/17
STEIGENDE SOZIALHILFE-<br />
KOSTEN IM ASYLBEREICH<br />
Bund, Kantone und Gemeinden sind mit<br />
wachsenden Sozialhilfekosten im Asylbereich<br />
konfrontiert. Nach Auslaufen der Pauschalabgeltung<br />
des Bundes nach fünf respektive sieben<br />
Jahren müssen die Kantone und Gemeinden die<br />
Sozialhilfe übernehmen. Die SKOS geht in ihren<br />
Berechnungen mittelfristig von einer jährlichen<br />
Steigerung von 4 Prozent der Sozialhilfeaufwendungen<br />
von Kantonen und Gemeinden aus, allein<br />
aufgrund der Entwicklungen im Asylwesen. Oft<br />
entsprechen die Kenntnisse der Landessprache<br />
und die beruflichen Qualifikationen von Personen<br />
aus dem Asylbereich nicht den Anforderungen<br />
des Arbeitsmarktes. Denn gesucht sind fast<br />
ausschliesslich Fachkräfte, zu integrieren sind<br />
jedoch meist junge Asylsuchende, vorläufig Aufgenommene<br />
oder Flüchtlinge mit wenig Schulbildung<br />
und Arbeitserfahrung. Zahlen zeigen, dass<br />
nach fünf Jahren in der Schweiz die Erwerbstätigenquote<br />
von Flüchtlingen bei 31 Prozent und bei<br />
vorläufig Aufgenommenen bei 16 Prozent liegt.<br />
Trotzdem sind viele auf ergänzende Sozialhilfe<br />
angewiesen. Das Beschäftigungsprogramm<br />
In-Limbo hat deshalb zum Ziel, die Erwerbstätigenquote<br />
bei Personen aus dem Asylbereich zu<br />
erhöhen und damit längerfristig die Sozialhilfeausgaben<br />
zu reduzieren. (car)<br />
Einführungswochen können die Asylsuchenden<br />
ihre Arbeit in einer der diversen<br />
Projektgruppen aufnehmen, beispielsweise<br />
in der Velowerkstatt, Gärtnerei, Näherei,<br />
Imkerei oder der Manufaktur. In einer dritten<br />
Phase können die Personen individuell<br />
für externe Arbeitseinsätze vermittelt werden.<br />
«Da sehen wir ein grosses Potenzial»,<br />
sagt Jonas Beer. Indes ist dies aus rechtlichen<br />
Gründen her schwierig umzusetzen,<br />
da viele Asylsuchende den N-Ausweis besitzen<br />
und deshalb noch nicht als reguläre Arbeitskraft<br />
eingesetzt werden dürfen.<br />
Arbeit motiviert<br />
«Tu was du liebst», steht auf dem kleinen<br />
Block geschrieben, der in die Hülle aus<br />
Kaffeesackstoff gelegt werden kann. Die<br />
Asylsuchenden aus Eritrea, Syrien und<br />
Äthiopien stehen in der Manufaktur um einen<br />
Tisch. Sie stellen Umschläge für Agenden<br />
oder Blöcke her und scheinen ihre Arbeit<br />
zu mögen. Konzentriert schneiden sie<br />
den Stoff nach der Vorlage des Schnittmusters<br />
zu, kleben eine Verstärkung auf. Der<br />
33-jährige Ibrahim Agri, der vor zweieinhalb<br />
Jahren aus Syrien in die Schweiz floh,<br />
kennt das Leben in der Asylunterkunft nur<br />
zu gut. «Früher gab es keine Kurse», erinnert<br />
er sich. «Viele Menschen langweilten<br />
sich und verbrachten zwölf Stunden am<br />
Tag mit Schlafen.» Dank In-Limbo hätten<br />
sie nun die Möglichkeit, etwas zu tun und<br />
zu lernen, Erfahrungen zu sammeln. Das<br />
sei gut für die Motivation. Er selber bekam<br />
vor einem Jahr einen positiven Asylent-<br />
scheid und kann nun als Praktikant in der<br />
Kollektivunterkunft in Büren arbeiten.<br />
Ibrahim Agri, der nebst Deutsch auch Kurdisch,<br />
Arabisch, Türkisch, Englisch und<br />
Französisch spricht, träumt davon, eines<br />
Tages als Sozialarbeiter in der Schweiz arbeiten<br />
zu können. Auch die 23-jährige Hamida<br />
aus Afghanistan ist sehr motiviert. Ihre<br />
beiden Kinder spielen unweit des<br />
Arbeitstisches mit Legos. Sie selber ist in<br />
die Arbeit vertieft und möchte noch rasch<br />
ihren Arbeitsschritt beenden, bevor sie sich<br />
mit den andern in die Pause begibt. •<br />
Catherine Arber<br />
www.in-limbo.ch<br />
2/17 <strong>ZESO</strong><br />
31
Der Zivildienst: Helfende Hände<br />
für das Gemeinwohl<br />
PLATTFORM Zivildienstleistende – oder «Zivis» – unterstützen seit 1996 gemeinnützige Institutionen<br />
dort, wo ihnen Ressourcen fehlen. Das Sozialwesen ist seit der Einführung des Zivildienstes das<br />
wichtigste Aufgabenfeld für Zivis. Ein Kurzporträt.<br />
Wer in der Schweiz den obligatorischen<br />
Militärdienst nicht mit seinem Gewissen<br />
vereinbaren kann, hat das Recht, einen zivilen<br />
Ersatzdienst zu leisten. Dieser Dienst<br />
dauert 1,5 Mal so lange, wie der Militärdienst<br />
dauern würde, und wird in öffentlichen<br />
oder gemeinnützigen privaten Institutionen<br />
geleistet. Tätigkeitsbereiche des<br />
Zivildienstes sind das Gesundheits- und<br />
Sozialwesen, das Schulwesen (seit Juli<br />
2016), der Umwelt- und Naturschutz, die<br />
Kulturgütererhaltung, die Landwirtschaft,<br />
die Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre<br />
Hilfe sowie Einsätze im Zusammenhang<br />
mit Katastrophen und Notlagen.<br />
4500 Zivis im Einsatz<br />
Die Vollzugsstelle für den Zivildienst (ZI-<br />
VI) – Teil des Eidgenössischen Departements<br />
für Wirtschaft, Bildung und Forschung<br />
(WBF) – ist für die Zulassung,<br />
Einsätze und Ausbildung von Zivis sowie<br />
die Anerkennung, Betreuung und Inspektion<br />
von Einsatzbetrieben zuständig. Täglich<br />
sind über 4500 Zivis im Einsatz, im<br />
Jahr 2016 leisteten sie rund 1,7 Millionen<br />
Diensttage.<br />
Das Sozialwesen ist seit der Einführung<br />
des Zivildienstes der bedeutendste<br />
Tätigkeitsbereich für Zivis. 2016 wurden<br />
dort 57 % aller Diensttage geleistet. Dieser<br />
Tätigkeitsbereich ist sehr vielfältig. Zivis<br />
können ihre Einsätze insbesondere in Institutionen<br />
für Betagte oder Menschen mit<br />
einer Beeinträchtigung, im Kinder- oder<br />
Jugendbereich, in der Arbeit mit Süchtigen<br />
oder Arbeitslosen sowie im Asylbereich<br />
leisten. Dabei stehen Aufgaben in<br />
der Betreuung und dem Austausch «von<br />
Mensch zu Mensch» im Vordergrund. Mit<br />
ihren Einsätzen im Sozialwesen leisten<br />
Zivis einen wertvollen Beitrag zur Lebensqualität<br />
der Betreuten und zur Entlastung<br />
des Fachpersonals.<br />
Einsatz wo Bedarf besteht<br />
Die Einsätze im Sozialwesen dienen dem<br />
Ziel, den sozialen Zusammenhalt zu stärken<br />
und die Situation von Betreuungsbedürftigen<br />
zu verbessern. Zu diesem Zweck<br />
werden Zivis dort eingesetzt, wo gesellschaftlicher<br />
Bedarf besteht und Ressourcen<br />
fehlen. Ein solcher Bedarf besteht etwa<br />
im Asylbereich. Ein Schwerpunkt der<br />
Massnahmen von Bund und Kantonen im<br />
Rahmen der Fachkräfteinitiative Plus (FKIplus)<br />
liegt bei der verbesserten Integration<br />
von Flüchtlingen und vorläufig aufgenommenen<br />
Personen in den Schweizer Arbeitsmarkt.<br />
Die Zivis leisten mit ihren Einsätzen<br />
im Asylbereich einen Beitrag zur Erreichung<br />
dieses Ziels.<br />
Zivis unterstützen Flüchtlinge und vorläufig<br />
Aufgenommene etwa beim Erlernen<br />
der Sprache, in Beschäftigungsprogrammen<br />
oder in der Berufsvorbereitung. Durch<br />
solche Angebote werden Flüchtlinge und<br />
vorläufig Aufgenommene frühzeitig auf ein<br />
eigenständiges Leben in der Schweiz vorbereitet<br />
oder es wird ihnen eine Perspektive<br />
für die Zeit nach einer allfälligen Rückkehr<br />
in ihr Herkunftsland gegeben.<br />
Im Jahr 2016 wurden 3,4% der<br />
Diensttage von Zivis im Asylbereich geleistet,<br />
viele davon in der Alltagsbetreuung<br />
von Asylsuchenden oder bei Unterhaltsarbeiten<br />
in Durchgangszentren. Für solche<br />
Einsätze standen rund 80 anerkannte Einsatzbetriebe<br />
mit 275 verfügten Einsatzplätzen<br />
zur Verfügung.<br />
Im Vergleich zur Zahl der von Freiwilligen<br />
geleisteten Betreuungsstunden oder<br />
der täglichen Arbeit von Betreuungsfachpersonen<br />
mag der Beitrag von Zivis klein<br />
sein. Klein aber fein: Er erlaubt es gemeinnützigen<br />
Institutionen helfende Hände gezielt<br />
einzusetzen, wo Bedarf besteht.<br />
Zivildienstleistende arbeiten vorwiegend im Sozialwesen, bei der Betreuung von Betagten oder<br />
Kindern zum Beispiel.<br />
Bild: ZIVI<br />
Daniel Weyermann<br />
Wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />
Vollzugsstelle für den Zivildienst ZIVI<br />
www.zivi.admin.ch<br />
32 <strong>ZESO</strong> 2/17
FORUM<br />
Ruth Gurny,<br />
Soziologin (ehem. ZHAW)<br />
Bild: zvg<br />
Ueli Tecklenburg,<br />
Soziologe und Historiker<br />
(ehem. GL SKOS)<br />
Bild: zvg<br />
Eine Neuorientierung der Sozialhilfe ist dringend<br />
Der sozialkritische Thinktank Denknetz<br />
setzt sich für eine gerechte, soziale und<br />
freiheitliche Schweiz ein. Er fordert eine<br />
Sozialpolitik, die diesen Anforderungen<br />
gerecht wird. Dazu gehört eine grundlegende<br />
Neujustierung der Sozialhilfe.<br />
Während langer Zeit stand die Sozialhilfe<br />
in der Schweiz im Schatten der<br />
politischen Aufmerksamkeit. Im Zuge<br />
der wirtschaftlichen Entwicklung gegen<br />
Ende des letzten Jahrhunderts wuchsen<br />
jedoch die Fallzahlen rapide an. Seither<br />
stellt die Sozialhilfe eines der beliebtesten<br />
Angriffsziele im öffentlichen politischen<br />
Diskurs dar.<br />
Die Sozialhilfe, die ursprünglich gedacht<br />
war als vorübergehende Hilfe in individuellen<br />
Notlagen, wurde mehr und<br />
mehr zum Instrument der Absicherung<br />
struktureller Risiken. Dafür eignen sich<br />
aber weder ihre Organisationsform noch<br />
die Bemessung ihrer Unterstützungsleistungen.<br />
Laut Sozialhilfestatistik 2015<br />
ist die Hälfte aller Sozialhilfebeziehenden<br />
schweizweit zwei Jahre und mehr<br />
auf diese Unterstützung angewiesen. Es<br />
kann also schwerlich von einer Unterstützung<br />
in einer vorübergehenden Notlage<br />
gesprochen werden.<br />
fälligsten sind die Unterschiede bei den<br />
Pro-Kopf-Aufwendungen für die Sozialhilfe.<br />
Die massiven Differenzen zwischen<br />
den Kantonen können mit Sicherheit<br />
nicht einfach auf die unterschiedliche<br />
Zusammensetzung der jeweiligen Sozialhilfepopulation<br />
zurückgeführt werden,<br />
sondern widerspiegeln die sehr unterschiedlichen<br />
Praktiken in der Gewährung<br />
der Sozialhilfe. Die SKOS-Studie<br />
aus dem Jahr 2007 zeigte damals auf,<br />
dass das jährlich frei verfügbare Einkommen<br />
von einem Kantonshauptort zum<br />
anderen um 6000 Franken variieren<br />
kann. Die absoluten Zahlen dürften sich<br />
Fast die Hälfte der<br />
rund 13 000 Neurentner<br />
pro Jahr<br />
werden der IV aus<br />
den RAV oder der<br />
Sozialhilfe zugespielt.<br />
Die kantonale Zuständigkeit für die Sozialhilfe<br />
führt zu grossen Unterschieden<br />
auf verschiedensten Ebenen. Am augenseit<br />
2007 verändert haben, die grossen<br />
Differenzen sind aber mit Sicherheit geblieben.<br />
Auch Rechte und Pflichten der<br />
Sozialhilfebeziehenden und die Gewährung<br />
von Zulagen variieren im interkantonalen<br />
Vergleich beträchtlich. Während<br />
beispielsweise das Tessiner Gesetz zur<br />
Sozialhilfe ein Recht der Bezügerinnen<br />
und Bezüger auf soziale Integrationsmassnahmen<br />
festschreibt, ist im Neuenburger<br />
Gesetz genau das Gegenteil zu<br />
finden: Sozialhilfebeziehende haben dort<br />
kein Anrecht auf Teilnahme an einem<br />
Integrationsprojekt, können aber dazu<br />
verpflichtet werden. Gemäss einer anderen<br />
von der SKOS in Auftrag gegebenen<br />
Studie variiert zudem im interkantonalen<br />
Vergleich die Vergabequote von Zulagen<br />
in der Sozialhilfe von 30%-40% bis<br />
hin zu 70%-90%. Ob sich die kantonalen<br />
Unterschiede mit den vor Kurzem<br />
revidierten SKOS-Richtlinien verkleinern<br />
werden, ist mehr als zweifelhaft, wie die<br />
neuen, noch tieferen Unterstützungsleistungen<br />
für junge Erwachsene in verschiedenen<br />
Kantonen zeigen.<br />
Ein weiteres Thema betrifft die Höhe<br />
der Unterstützungsleistungen. Im Jahre<br />
1963 hat die SKOS erstmals zahlenmässig<br />
bezifferte «Richtsätze» herausgegeben.<br />
Sie bemerkte dazu, dass die Unterstützungsleistungen<br />
sowohl der Teuerung<br />
als auch dem steigenden Realeinkommen<br />
angepasst werden sollen. Wäre die-<br />
<br />
2/17 <strong>ZESO</strong><br />
33
FORUM<br />
<br />
sen Prinzipen nach gelebt worden, so<br />
müsste heute der Grundbedarf bei voller<br />
Anpassung an die Lohnentwicklung seit<br />
Einführung der Pauschalisierung der<br />
Richtlinien im Jahre 1998 um 20%<br />
höher sein. Die letzten Entwicklungen im<br />
Kanton Bern, wo eine 10%ige Absenkung<br />
des Grundbedarfs gefordert wird, lassen<br />
schliesslich die schweizweite Anerkennung<br />
der SKOS-Richtlinien als eher<br />
unwahrscheinliche Entwicklung erahnen.<br />
Die gegenwärtige politische Auseinandersetzung<br />
führt die Sozialhilfe in eine<br />
Sackgasse. Deshalb schlägt das Denknetz<br />
eine grundlegende Justierung vor, die<br />
folgende Elemente enthält:<br />
- Schliessen der Löcher in den heutigen<br />
Sozialversicherungen durch<br />
Realisierung der Allgemeinen Erwerbsversicherung<br />
(AEV), welche die<br />
bestehenden Sozialversicherungen<br />
(ohne AHV, BVG) zusammenschliesst.<br />
Dazu gehören auch das Risiko des<br />
Erwerbsausfalls im Krankheitsfall<br />
und der Miteinbezug der selbständig<br />
Erwerbenden.<br />
- Wer trotz zumutbarer Bemühungen<br />
keine würdige Arbeit findet, hat<br />
Anrecht auf Taggelder ohne zeitliche<br />
Beschränkung. Leute, die dauerhaft<br />
leistungsvermindert sind, erhalten<br />
eine (Teil-)Rente.<br />
- Wenn das Total der anrechenbaren<br />
Einkommen eines Haushaltes die<br />
anerkannten Ausgaben nicht deckt,<br />
wird das Haushaltseinkommen auf die<br />
Höhe einer garantierten, bundesweiten<br />
Grundsicherung ergänzt, unabhängig<br />
vom Grund für das unzureichende<br />
Einkommen. Eine solche Grundsicherung<br />
muss mindestens die Höhe<br />
der Ergänzungsleistungen AHV /IV<br />
erreichen.<br />
- Die heutige persönliche Sozialhilfe<br />
wird durch eine integrierte Lebensund<br />
Karriereunterstützung abgelöst.<br />
Die entsprechenden Integrations- und<br />
Beratungsangebote werden auf die<br />
Situation und die Bedürfnisse der Betroffenen<br />
abgestimmt. Es ist auf jede<br />
Form von Zwangsarbeit zu verzichten,<br />
und alle Formen diesbezüglicher Sanktionen<br />
sind abzuschaffen.<br />
- Betroffene, die in eine berufliche<br />
Sackgasse geraten sind und deshalb<br />
arbeitslos werden, müssen berufliche<br />
Um- und Weiterbildungen absolvieren<br />
können, ohne deshalb die Unterstützung<br />
der Sozialversicherung zu verlieren.<br />
Es ist absurd, dass dieser Weg<br />
nur denjenigen offen steht, die auf<br />
ein beträchtliches Vermögen zurückgreifen<br />
können, während alle anderen<br />
von beruflichen Perspektiven abgeschnitten<br />
bleiben. Wir brauchen ein<br />
Stipendienwesen, das auch Erwachsenen<br />
eine berufliche Neuorientierung<br />
ermöglicht.<br />
- Die Arbeitgebenden müssen verpflichtet<br />
werden, eine genügende Anzahl<br />
von Arbeitsplätzen für Menschen mit<br />
verminderter Leistung oder anderen<br />
Einschränkungen zu schaffen. Die<br />
Sozialwerke müssen ihnen in Form<br />
von professioneller Unterstützung,<br />
mit Begleitung und Beratung zur Seite<br />
stehen.<br />
- Die öffentliche Hand hat dafür zu<br />
sorgen, dass in der Pflege, Betreuung<br />
und Gesundheitsversorgung genügend<br />
Ausbildungsplätze und Stellen<br />
geschaffen werden. Zudem sollen<br />
die Arbeitszeiten auf sinnvolle Weise<br />
gesenkt werden, zum Beispiel durch<br />
die Schaffung eines bedingungslosen<br />
Sabbaticals für alle. Damit wird<br />
erreicht, dass sich die Lage auf dem<br />
Erwerbsarbeitsmarkt entspannt und<br />
die Perspektiven für alle jene verbessern,<br />
die heute keine Stelle finden.<br />
- Mindestlöhne sorgen dafür, dass sich<br />
«Arbeit lohnt» und dass die Zahl der<br />
Working poor gesenkt werden kann.<br />
- Schliesslich ist ein Elternurlaub («Elternzeit»)<br />
einzuführen, wie ihn die Eidgenössische<br />
Koordinationskommission<br />
für Familienfragen vorschlägt. •<br />
DAS DENKNETZ<br />
Das Denknetz ist ein sozialkritischer<br />
Thinktank, der gesellschaftstheoretische<br />
und politische Grundlagenarbeit leistet.<br />
Sein Credo ist die Universalität der<br />
Menschenrechte und die Unteilbarkeit der<br />
Grundwerte Freiheit, Gleichheit und Solidarität.<br />
Es erarbeitet Analysen, Thesen und<br />
Reformvorschläge, die diesen Grundwerten<br />
verpflichtet sind.<br />
Das Denknetz ist ein Verein mit rund 1200<br />
Einzelmitgliedern und einer Reihe von Kollektivmitgliedern.<br />
Es finanziert sich ausschliesslich<br />
über Mitgliederbeiträge. Die<br />
Arbeit im Denknetz, ausser der Geschäftsstelle,<br />
wird ehrenamtlich geleistet. Seine<br />
Fachgruppen sind in folgenden Bereichen<br />
tätig: Politische Ökonomie/Steuerpolitik,<br />
Sozialpolitik/Care/Arbeit, Bildungspolitik,<br />
Langzeitpflege, Big Pharma und Prekarität.<br />
Eine ausführliche Darstellung findet sich<br />
auf der Webpage des Denknetzes: www.<br />
denknetz.ch/sites/default/files/denknetz_<br />
grundlagen_sozialhilfe_april_16.pdf<br />
In dieser Rubrik schafft die <strong>ZESO</strong> Raum für Debatten<br />
und Meinungen. Der Inhalt gibt die Meinung des<br />
Autors resp. der Autorin wieder.<br />
34 <strong>ZESO</strong> 2/17
LESETIPPS<br />
Reformieren durch Investieren<br />
Der sozialinvestive Umbau des Wohlfahrtsstaats<br />
verspricht Antworten auf demografische<br />
und ökonomische Herausforderungen des<br />
Wohlfahrtstaats. Investitionen in Humankapital,<br />
etwa in Kinder oder in die Verbesserung des Zugangs<br />
zu Beschäftigung, und eine konsequente<br />
Neubestimmung der Sozialpolitik ermöglichen<br />
es, soziale Ungleichheiten zu reduzieren. Das<br />
Buch untersucht, welche Ausprägungen das Sozialinvestitionsparadigma<br />
in der Schweiz angenommen hat und welche Auswirkungen sich aus<br />
dem sozialinvestiven Umbau des Sozialstaates ergeben.<br />
Bonvin Jean-Michel, Dahmen Stephan (Hrsg.), Reformieren durch Investieren? Chancen<br />
und Grenzen des Sozialinvestitionsstaats in der Schweiz, Seismo, <strong>2017</strong>,<br />
144 Seiten, CHF 28.−. ISBN 978-3-03777-148-8<br />
Familien in der Falle?<br />
Zur Ergründung des sozialen Phänomens Familienarmut<br />
werden familiale Wege in die und aus<br />
der Armut und armutsverweisende Mechanismen<br />
sozialer Wandlungsprozesse untersucht.<br />
In Auseinandersetzung mit den Paradigmen<br />
individualisierter Erwerbsgesellschaften<br />
werden Lockerungen und Verhärtungen des<br />
Zusammenhangs von Familienarmut und individuellen<br />
Lebenschancen aus verschiedenen Perspektiven geprüft. Dabei<br />
wird der These nachgegangen, dass Familien durch Wirkungskräfte der<br />
Armut in eine Falle sozialer Exklusion geraten, aus der ihre Mitglieder<br />
keinen Ausweg finden.<br />
Fehr Sonja, Familien in der Falle? Dynamik familialer Armut in der individualisierten<br />
Erwerbsgesellschaft, Beltz, <strong>2017</strong>, 470 Seiten, CHF 53.−<br />
ISBN:978-3-7799-3646-6<br />
Arbeitsmarktchancen von<br />
Migranten in Europa<br />
Umgang mit schwierigen<br />
Klienten<br />
Das Buch analysiert die Arbeitsmarktchancen<br />
von Einwanderern in 18 westeuropäischen<br />
Ländern. Es untersucht, ob eher die Herkunft<br />
der Personen oder die Herkunft ihrer Bildung<br />
relevant für eine erfolgreiche Arbeitsmarktintegration<br />
ist. Und es geht der Frage nach,<br />
inwieweit landes- und gruppenspezifische<br />
Bildungsverwertungschancen durch die Bildungssysteme der Aufnahmeländer<br />
geprägt werden. Die Ergebnisse liefern Erklärungen für<br />
ethnische Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt und bieten einen Beitrag<br />
zur Diskussion um den Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen<br />
auf Arbeitsmarktchancen.<br />
Herwig Andreas, Arbeitsmarktchancen von Migranten in Europa<br />
Analysen zur Bedeutung von Bildungsherkunft und Bildungssystemen, Springer VS,<br />
<strong>2017</strong>, 342 Seiten, CHF 65.−. ISBN 978-3-658-17117-9<br />
Innovation gegen Armut<br />
Armutsprävention kann nicht durch punktuelle<br />
Massnahmen erreicht werden, sondern erfordert<br />
verschiedene aufeinander abgestimmte Angebote<br />
vom Kleinkind- bis ins Erwachsenenalter. Dazu<br />
sind eine gute Zusammenarbeit der verschiedenen<br />
Akteure sowie eine Koordination der Massnahmen<br />
nötig. Die Tagung des Nationalen Programms gegen<br />
Armut hat das Ziel, Impulse für innovative Ansätze<br />
in der Armutsprävention im Bereich Bildungschancen<br />
zu geben.<br />
Fachtagung des Nationalen Programms gegen Armut<br />
Montag, 4. September <strong>2017</strong>, Aarau<br />
www.gegenarmut.ch<br />
Digitale Arbeitswelt<br />
Die Digitalisierung schreitet voran. Immer mehr Arbeiten<br />
für Menschen mit niedrigen Qualifikationen<br />
fallen weg. Kenntnisse in Informations- und Kommunikationstechnologien<br />
gewinnen an Bedeutung.<br />
Traditionelle Firmen werden von Firmen mit<br />
neuen Organisations-und Beschäftigungsformen<br />
überholt, bevor entsprechende arbeits- und<br />
sozialrechtliche Fragen geklärt sind. Die Tagung<br />
der Schweizerischen Vereinigung für Sozialpolitik<br />
thematisiert diesbezüglich relevante Fragen des<br />
Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherheit.<br />
SVSP-Jahrestagung <strong>2017</strong><br />
Mittwoch, 25. Oktober <strong>2017</strong>, Bern<br />
www.svsp.ch<br />
Wie schützt man sich und seine Mitarbeiter an<br />
Arbeitsplätzen in sozialen Einrichtungen, Behörden<br />
und Ämtern, in denen Einschüchterungen,<br />
Drohungen, Beschimpfungen, körperliche und<br />
sexuelle Übergriffe immer wieder vorkommen?<br />
Die praxiserfahrenen Autoren stellen wirksame<br />
Strategien der Kommunikation und Deeskalation<br />
vor. Sie schildern typische Konfliktsituationen, die sich leicht auf die eigene<br />
Umwelt übertragen lassen. Dabei verbinden sie Wissen aus der Psychologie<br />
über Wahrnehmung, Kommunikation, Stress und Lernen mit polizeilichen<br />
Erfahrungen in Bedrohungssituationen.<br />
Rösch Stefanie, Linsenmayr Rainer, Vom Umgang mit schwierigen und<br />
gewaltbereiten Klienten, Psychiatrie-Verlag, <strong>2017</strong>, 168 Seiten, CHF 36.−<br />
ISBN 978-3-86739-158-0<br />
VERANSTALTUNGEN<br />
Armutsbekämpfung durch<br />
Schuldenprävention<br />
Wie muss die Schuldenprävention gestaltet und<br />
organisiert sein, damit sie einen Beitrag zur Armutsbekämpfung<br />
leisten kann? Mit dieser Frage<br />
beschäftigt sich die Fachtagung des Forums<br />
Schulden. Die Veranstaltung, die in Kooperation<br />
mit der SKOS durchgeführt wird, ist dieses Jahr<br />
international ausgerichtet.<br />
Internationale Fachtagung zur Schuldenberatung<br />
Donnerstag und Freitag, 9.-10. November <strong>2017</strong>, Olten<br />
www.forum-schulden.ch<br />
2/17 <strong>ZESO</strong><br />
35
Den Wechsel vom geldgetriebenen Geschäft ins Sozialwesen erlebte Christine Hunziker (li.) als «Kulturschock». Bild: Palma Fiacco<br />
Das Beste aus zwei Welten<br />
PORTRÄT Christine Hunziker, 47, war Managerin in der Modebranche. Dann hatte sie genug davon,<br />
Umsatz zu bolzen, und wechselte ins Sozialwesen. Heute unterstützt sie in Basel Jugendliche mit<br />
Beeinträchtigungen auf dem Weg ins Erwerbsleben.<br />
tet sie eng mit dem Lehrbetrieb zusammen,<br />
im Fall von Jugendlichen mit psychischer<br />
Erkrankung auch mit dem Therapeuten.<br />
Schon rund fünfzig Jugendliche in dreissig<br />
Berufen hat Hunzikers Beratungsfirma<br />
nach diesem Konzept begleitet, von der<br />
Pflege über Polybauer – Fachspezialisten<br />
für Gebäudehüllen – bis zum Detailhandel.<br />
«Kulturschock» überwunden<br />
Die Mehrheit schafft die Ausbildung und<br />
findet eine Stelle, auch wenn die Lehrzeit<br />
ein Auf und Ab sein kann. Für viele ist der<br />
Schulstoff die Knacknuss, bei Jugendlichen<br />
mit psychischen Erkrankungen können<br />
Krisen auftreten. «Eine Garantie, dass<br />
das Lehrverhältnis klappt, gibt es aber<br />
auch bei Jugendlichen ohne Beeinträchtigung<br />
nicht», stellt Hunziker fest. Bei ihrer<br />
Aufgabe kommt ihr zugute, dass sie die Privatwirtschaft<br />
kennt. Zuletzt war sie Key-Account-Managerin<br />
in einem internationalen<br />
Accessoires-Unternehmen. Dort leitete sie<br />
ein Team und verkaufte Grosskunden Uhren,<br />
Schmuck, Handtaschen, Sonnenbrillen.<br />
Nach ihrem 30. Geburtstag verspürte<br />
sie das Bedürfnis, noch etwas <strong>ganz</strong> anderes<br />
zu machen. Weniger Gewinn, mehr Sinn.<br />
Auch der Werdegang ihres behinderten<br />
Bruders beeinflusste den Entscheid: «Mich<br />
beeindruckte es, wie er sich eine Stelle im<br />
ersten Arbeitsmarkt erkämpfte und wie<br />
Stadt Basel, Aeschengraben 18, nahe dem<br />
Bahnhof. Die Büroräume von Christine<br />
Hunzikers Coachingunternehmen «lehrundmehr»<br />
werden derzeit von Strassenbaulärm<br />
beschallt. «Gar nicht so einfach<br />
für die Jugendlichen, die hierherkommen,<br />
um zu lernen», stellt die Geschäftsinhaberin<br />
fest. Doch Christine Hunziker liebt Herausforderungen.<br />
Sie hat früher mal in den<br />
USA gelebt und mit ihrem Ehemann den<br />
Regenwald von Madagaskar durchwandert.<br />
Die jungen Frauen und Männer zwischen<br />
16 und 26, die sie betreut, sind sich<br />
noch <strong>ganz</strong> andere Hindernisse gewöhnt.<br />
Sie haben eine Lernschwierigkeit, ein<br />
ADHS mit Konzentrationsproblemen, eine<br />
Persönlichkeitsstörung oder eine psychische<br />
Erkrankung, wie zum Beispiel Depressionen<br />
oder Schizophrenie.<br />
Hunziker glaubt an sie: «Es sind alles<br />
Lernende mit dem Potenzial, trotz ihrer<br />
Einschränkung in der freien Wirtschaft<br />
zu bestehen.» Damit sie aber die Fähigkeiten<br />
für den gewählten Beruf erreichen<br />
könnten, benötigten sie Unterstützung.<br />
«Supported Education» heisst das Konzept,<br />
nach dem die gebürtige Aargauerin arbeitet.<br />
Sie begleitet als «Job Coach» die Jungen<br />
bei der Lehrstellensuche im ersten Arbeitsmarkt,<br />
während der Lehre, bei der Vorbereitung<br />
auf die Abschlussprüfung und bei<br />
der Bewerbung für eine Stelle. Dabei arbeiglücklich<br />
er dort war.» Sie fing in einer Basler<br />
Sozialeinrichtung an zu arbeiten und<br />
absolvierte berufsbegleitend ein Sozialpädagogik-Studium<br />
an einer Fachhochschule.<br />
Den Wechsel vom geldgetriebenen<br />
Geschäft ins Sozialwesen erlebte sie als<br />
«Kulturschock». Seit sechs Jahren ist sie<br />
nun selbständige Coachin und kann das<br />
Beste aus zwei Welten vereinen: die Menschenzentriertheit<br />
der Sozialarbeit und das<br />
Kostenbewusstsein der Marktwirtschaft.<br />
Ihr Hauptauftraggeber ist die Invalidenversicherung,<br />
auch die Arbeitslosenversicherung<br />
und die Sozialhilfe können Beiträge<br />
leisten. Die Investition lohnt sich laut<br />
Hunziker: «Wenn Jugendliche eine volle<br />
IV-Rente beziehen oder in der Sozialhilfe<br />
bleiben, ohne die Chance auf eine Arbeitsstelle,<br />
kommt das die Gesellschaft viel<br />
teurer.» Jungen, die es sich in der sozialen<br />
Hängematte gemütlich machen wollen, ist<br />
sie nie begegnet. Ganz im Gegenteil: «Sie<br />
sind hochmotiviert.» Dabei sporne es sie<br />
an, nicht zu Spezialfällen gemacht zu werden,<br />
sondern dort eine Lehre zu absolvieren,<br />
wo auch ihre Kollegen seien. Kürzlich<br />
erfuhr Hunziker, dass eine von ihr betreute<br />
junge Frau eine Praxis im gesundheitlichen<br />
Dienstleistungsbereich eröffnet hat:<br />
«Ich bin so stolz auf sie!» <br />
•<br />
Susanne Wenger<br />
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