ZESO_1-2017_ganz
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SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
ZeSo<br />
Zeitschrift für Sozialhilfe<br />
01/17<br />
Unicef<br />
Elsbeth Müller zur<br />
Kinderarmut in der<br />
Schweiz<br />
Mütter<br />
Auch Alleinerziehende<br />
sollen rasch wieder<br />
arbeiten<br />
Porträt<br />
Eine Modedesignerin<br />
lehrt Sexarbeiterinnen<br />
das Schneidern<br />
Neue<br />
Arbeitswelt<br />
Digitalisierung und Robotik<br />
bedrohen oder verändern viele<br />
Berufe und die Art, wie wir arbeiten
SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
SKOS-MITGLIEDERVERSAMMLUNG<br />
Aktivierungspolitik in der Sozialhilfe<br />
Notwendig oder unsinnig?<br />
Donnerstag, 18. Mai <strong>2017</strong>, NH Hotel Freiburg<br />
Seit rund 20 Jahren prägt das Paradigma der Aktivierung die Sozialpolitik. Mit der Revision der SKOS-<br />
Richtlinien von 1998 wurde die berufliche Integration zum Ziel und zur Aufgabe der Sozialhilfe erklärt. Mit<br />
der Revision 2005 wurden die Instrumente zur Umsetzung des Leitgedankens «Fördern und Fordern»<br />
geschaffen. Mit materiellen Anreizen soll seither die Motivation der Sozialhilfebeziehenden gefördert werden.<br />
Wie sind die Vor- und Nachteile des heutigen Systems aus Sicht der Sozialpolitik, der Sozialwissenschaften<br />
und der Sozialhilfepraxis zu beurteilen? Läuft die Aktivierung aufgrund der fehlenden Übereinstimmung von<br />
Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften auf dem Markt ins Leere, stellt sich die Frage: Ist Aktivierung<br />
noch zielführend?<br />
Programm und Anmeldung unter www.skos.ch Veranstaltungen<br />
Soziale Arbeit<br />
Infoabend:<br />
5. April <strong>2017</strong><br />
Jetzt anmelden!<br />
Die Zukunft<br />
stellt Fragen.<br />
Bildung ist<br />
die Antwort.<br />
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Inserat_<strong>ZESO</strong>_01.indd 1 07.02.<strong>2017</strong> 13:16:35
Ingrid Hess<br />
Verantwortliche Redaktorin<br />
EDITORIAL<br />
Bildung ist der Schlüssel –<br />
auch für den Arbeitsmarkt der<br />
Zukunft<br />
Als ich noch studierte, die Computer sozusagen in den Kinderschuhen<br />
steckten, und wir im absoluten Steinzeitalter der digitalen<br />
Vernetzung lebten (sehr utopisch muteten damals noch<br />
die Spekulationen über das Swissnet an), da hiess es doch<br />
schon: «Übersetzer wird es bald nicht mehr brauchen, das machen<br />
bald Computer.» Doch auch 25 Jahre später, im Zeitalter<br />
der rasant fortschreitenden Digitalisierung, sind wir noch nicht<br />
soweit. Übersetzer – jedenfalls die gut qualifizierten – finden<br />
auch heute immer noch Arbeit – dem Google-Übersetzungsdienst<br />
zum Trotz – vielleicht immer öfter via eine spezialisierte<br />
digitale Plattform. Wer mal einen Beruf erlernt hat, ist zwar<br />
nicht vor Arbeitslosigkeit gefeit, aber er oder sie hat viel eher<br />
die Chance, sich den verändernden Anforderungen anzupassen<br />
und von den neuen Möglichkeiten auch zu profitieren. Schwierig<br />
wird es in Zukunft vor allem wohl für Arbeitssuchende ohne<br />
Berufsausbildung(Seite 12).<br />
Um die Chancengleichheit in der Bildung für Kinder geht es im<br />
Interview mit Elsbeth Müller, Geschäftsführerin von Unicef<br />
Schweiz. In der Schweiz sei es immer noch so, dass der sozioökonomische<br />
Status in der Schule determinierend für die Bildungschancen<br />
der Kinder ist, sagt die Expertin für globale Kinderarmut.<br />
Müller fordert deshalb Massnahmen, die helfen, die<br />
schlechteren Startchancen im Schulsystem zu egalisieren<br />
(Seite 8).<br />
Wie Sie vielleicht gemerkt haben, oder gleich merken werden,<br />
haben wir kleine Retouchen an der <strong>ZESO</strong> angebracht. Mit dem<br />
Ziel die Leserfreundlichkeit etwas zu verbessern, haben wir<br />
zum Beispiel die Titelseite und das Inhaltsverzeichnis grafisch<br />
sanft umgestaltet. Neu finden Sie zudem statt den 13 Fragen<br />
an… innerhalb des Schwerpunkts unter dem Stichwort «Nachgefragt»<br />
ein Interview zum Thema. Ich wünsche Ihnen eine interessante<br />
Lektüre und freue mich über Rückmeldungen, Anregungen<br />
oder Ihre Meinung zur aktuellen Ausgabe der <strong>ZESO</strong>.<br />
1/17 ZeSo<br />
1
SCHWERPUNKT<br />
Arbeit der<br />
Zukunft<br />
Die Veränderungen auf<br />
dem Arbeitsmarkt infolge<br />
der Digitalisierung und<br />
Roboterisierung sind rasant<br />
und umfassend – wer<br />
kann sie nützen – wem<br />
werden sie gefährlich?<br />
Work Smart, Home-Office, Crowdworking,<br />
Uber, UpWork oder MTurk. Die rasante<br />
Entwicklung auf dem Gebiet der Informations-<br />
und Kommunikationstechnologien<br />
zeigt sich auch am Entstehen unzähliger<br />
neuer Namen und Begriffe. Dahinter<br />
stecken grosse Veränderungen in der<br />
Arbeitswelt. Welche neuen Anforderungen<br />
stellt der Arbeitsmarkt der Zukunft? Welche<br />
Konsequenzen wird er für die weniger fitten<br />
Arbeitnehmenden haben?<br />
12–23<br />
14 22<br />
<strong>ZESO</strong><br />
zeitschrift für sozialhilfe Herausgeberin Schweizerische konferenz für Sozialhilfe SKOS, www.skos.ch Redaktionsadresse<br />
Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS, Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch, Tel. 031 326 19 19<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN 1422-0636 / 113. Jahrgang<br />
Erscheinungsdatum: 6. März <strong>2017</strong><br />
Die nächste Ausgabe erscheint im Juni <strong>2017</strong>.<br />
Redaktion Ingrid Hess, Regine Gerber Autorinnen und Autoren in dieser Ausgabe Thea Bächler, Gabriel<br />
Fischer, Markus Kaufmann, Ute Klotz, Paula Lanfranconi, Jens O. Meissner, Antonello Spagnolo, Angelika<br />
Spiess, Yvan Stauffacher, Alexander Suter, Susanne Wenger<br />
Titelbild Rudolf Steiner layout Marco Bernet, mbdesign Zürich Korrektorat Karin Meier Druck<br />
und Aboverwaltung Rub Media, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 preise<br />
Jahresabonnement CHF 82.– (SKOS-Mitglieder CHF 69.–), Jahresabonnement ausland CHF 120.–, Einzelnummer<br />
CHF 25.–.<br />
2 ZeSo 1/17
30<br />
8<br />
inhalt<br />
5 Kommentar<br />
der Grundbedarf bei der Sozialhilfe sollte<br />
in der Schweiz für alle gleich sein.<br />
Kommentar von Markus Kaufmann<br />
6 Praxis<br />
Was gilt bei der Integration von alleinerziehenden<br />
Müttern?<br />
7 Thema Sozialhilfe<br />
neue SKOS-Richtlinien sind in den<br />
Kantonen weitgehend umgesetzt<br />
8 Interview<br />
«Der sozioökonomische Status wirkt sich<br />
direkt auf die Chancen der Kinder aus».<br />
Interview mit Elsbeth Müller, Unicef<br />
Schweiz<br />
26<br />
12–23 schwerpunkt<br />
Arbeit der Zukunft<br />
14 Science-Fiction auf dem Arbeitsmarkt<br />
16 Die flexible Arbeitswelt für sich nutzen –<br />
Chancen und Stolpersteine<br />
18 «Die Anforderungen an die Arbeitskräfte<br />
sind hoch» sagt Ursina Jud vom Seco<br />
21 Crowdworking – wie muss man sich die<br />
neue Beschäftigungsform vorstellen?<br />
22 Arbeitszeit in der digitalen<br />
Arbeitswelt<br />
32<br />
36<br />
24 Steuerschulden<br />
Automatisierter freiwilliger Direktabzug<br />
als Mittel gegen Verschuldung<br />
26 Föderalismus<br />
Behindert der Föderalisumus eine<br />
wirksame Armutsbekämpfung?<br />
28 Fachbeitrag<br />
Das Projekt Forjad im Kanton Waadt hilft<br />
jungen Erwachsenen in den Arbeitsmarkt<br />
30 Reportage<br />
die Fraisa AG ermöglicht Nachholbildung<br />
und macht damit Angestellte fit für den<br />
Arbeitsmarkt – zu beider Seiten Wohl<br />
32 Plattform<br />
der Kanton Glarus bietet anerkannten<br />
Flüchtlingen Programme zur Vorbereitung<br />
einer Ausbildung an<br />
34 Lesetipps und<br />
Veranstaltungen<br />
36 Porträt<br />
marianna Piciuccio unterrichtet<br />
Sexarbeiterinnen in Nähen<br />
1/17 ZeSo<br />
3
NACHRICHTEN<br />
SKOS: Neuer Fachbereich<br />
Recht und Beratung<br />
Die Geschäftsstelle der SKOS hat per 1. März<br />
<strong>2017</strong> den neuen Fachbereich Recht und Beratung<br />
geschaffen. In dem Bereich zusammengefasst<br />
werden die Angebote der SKOS in<br />
Sachen Rechtsberatung (SKOS-Line) und Weiterbildung.<br />
In Ergänzung zu den SKOS-Kommissionen<br />
«Rechtsfragen» und «Richtlinien<br />
und Praxis» dient der neue Fachbereich als<br />
Kompetenzstelle für rechtliche und fachliche<br />
Fragen aus dem Bereich der Sozialhilfe. Geleitet<br />
wird der neue Fachbereich von Alexander<br />
Suter, der zuvor als Mitarbeitender im Fachbereich<br />
Grundlagen der SKOS tätig war.<br />
Positive Bilanz zu den<br />
Integrationsprogrammen<br />
Die kantonalen Integrationsprogramme (KIP)<br />
zur Förderung der beruflichen und sprachlichen<br />
Integration von Migranten/-innen sollen<br />
in der Periode 2018-2021 fortgesetzt werden.<br />
In den beiden letzten Jahren haben Bund<br />
und Kantone 175 Millionen Franken in die KIP<br />
investiert. Dieser Betrag schliesst auch die<br />
Integrationspauschale für Flüchtlinge ein,<br />
zum Beispiel zum Ausbau von Sprachkursen.<br />
Ab 2018 wird der Bund den Kantonen jährlich<br />
einen Beitrag von 32,4 Millionen Franken<br />
zukommen lassen mit der Bedingung, dass<br />
sich diese in gleicher Höhe an der Umsetzung<br />
beteiligen. Darüber hinaus richtet er eine Integrationspauschale<br />
aus. Vorgesehen ist auch,<br />
die Angebote zur beruflichen Qualifizierung<br />
für vorläufig Aufgenommene und anerkannte<br />
Flüchtlinge auszubauen, um deren Chancen<br />
auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.<br />
Kanton Bern will<br />
Sozialhilfe senken<br />
Der Regierungsrat des Kantons Bern hat Kürzungen<br />
im Bereich der Sozialhilfe festgelegt.<br />
Bis im Sommer soll ein entsprechender Gesetzesvorschlag<br />
vorliegen. Der Regierungsrat<br />
will den Grundbedarf in der Sozialhilfe um<br />
10 Prozent unter die in den SKOS-Richtlinien<br />
festgehaltenen Sätze kürzen. Der Regierungsrat<br />
geht von jährlich wiederkehrenden<br />
Entlastungen von 15 bis 25 Millionen Franken<br />
aus, die je hälftig dem Kanton und den<br />
Gemeinden zugutekommen sollen. Sanktionen<br />
sollen verhängt werden, wenn junge Erwachsene<br />
nicht arbeiten oder Migrantinnen<br />
und Migranten die Sprache nicht lernen.<br />
Nicht alle Ärzte schätzen die Arbeitsfähigkeit ihrer Patienten gleich ein. <br />
Arbeitsunfähigkeit: Medizinische<br />
Gutachter sind sich oft uneinig<br />
Um Invaliditätsansprüche zu beurteilen,<br />
werden meistens unabhängige medizinische<br />
Gutachten verwendet. Doch oft sind<br />
sich Ärzte, die dieselben Patienten begutachten,<br />
nicht einig, ob jemand arbeitsfähig<br />
ist oder nicht, wie eine Übersichtsstudie<br />
der Universität Basel und des Universitätsspitals<br />
Basel zeigt. Dass medizinische<br />
Fachleute die Arbeitsfähigkeit so unterschiedlich<br />
einschätzen, sei vermutlich auf<br />
das Fehlen gültiger Standards zurückzuführen,<br />
sagt Regina Kunz, Professorin für<br />
In der Schweiz pflegen und betreuen pro<br />
Jahr mindestens 140‘000 Personen im<br />
Erwerbsalter regelmässig Angehörige, darunter<br />
über 800 verunfallte oder schwer<br />
erkrankte Kinder. Die Zahl der älteren<br />
Personen, die auf Pflege oder andere Unterstützung<br />
angewiesen sind, wird in den<br />
kommenden Jahren stark zunehmen. Um<br />
die Situation für betreuende Pflegende<br />
so zu verbessern, dass sie sich engagieren<br />
können, ohne sich zu überfordern oder in<br />
finanzielle Engpässe zu geraten, will der<br />
Bundesrat bis <strong>2017</strong> eine entsprechende<br />
Vernehmlassungvorlage ausarbeiten lassen.<br />
Arbeitnehmende sollen etwa das Recht<br />
haben, sich an ihrem Arbeitsplatz kurzfristig<br />
freistellen zu lassen, um ein krankes<br />
Familienmitglied zu pflegen. Für Eltern<br />
mit schwer kranken oder verunfallten Kinden<br />
soll zudem ein länger dauernder Betreuungsurlaub<br />
eingeführt werden. Damit<br />
Bild:Pixelio<br />
Versicherungsmedizin und Studienverantwortliche.<br />
Es sollten dringend Instrumente<br />
und strukturierte Ansätze entwickelt und<br />
erprobt werden, die die Bewertung der Arbeitsunfähigkeit<br />
verbessern. Im Rahmen<br />
einer vom Schweizerischen Nationalfonds,<br />
dem Bundesamt für Sozialversicherungen<br />
und der Schweizerischen Unfallversicherung<br />
SUVA finanzierten Studie entwickelt<br />
ein Forscherteam um Professorin Kunz<br />
daher eine neue Methodik zur «funktionsorientierten<br />
Begutachtung». (Red.) •<br />
Der Bund will pflegende und betreuende<br />
Angehörige entlasten<br />
sollen sie während der Pflege der Kinder im<br />
Erwerbsleben bleiben können. Weiter will<br />
der Bundesrat die Betreuungsarbeit besser<br />
anerkennen. Dazu soll das Gesetz über die<br />
Alters- und Hinterlassenen-Versicherung<br />
ergänzt werden. Es sieht bereits heute<br />
Betreuungsgutschriften vor, wenn eine<br />
Person mit Anspruch auf mindestens eine<br />
mittlere Hilflosigkeit betreut wird. Künftig<br />
sollen Betreuungsgutschriften auch jenen<br />
Personen gewährt werden, die Verwandte<br />
mit leichter Hilflosigkeit betreuen oder<br />
pflegen. Zudem soll geprüft werden, den<br />
Anspruch auch auf Konkubinatspaare auszuweiten.<br />
Neben den gesetzlichen Massnahmen<br />
sollen auch Entlastungsangebote<br />
ausgebaut werden, wie etwa die Unterstützung<br />
der pflegenden Angehörigen durch<br />
Freiwillige oder das Bereitstellen von Ferienbetten<br />
in Alters- und Pflegeheimen.<br />
(Red.)<br />
•<br />
4 ZeSo 1/17
KOMMENTAR<br />
Der Grundbedarf sollte für alle gleich sein<br />
In den letzten zwei Jahren wurden die<br />
Richtlinien ein weiteres Mal überarbeitet<br />
und den sich ändernden politischen und gesellschaftlichen<br />
Rahmenbedingungen angepasst.<br />
In zwei Studien und eingehenden<br />
Diskussionen wurden viele Fragen erörtert,<br />
die sich auch schon in früheren Etappen<br />
der SKOS-Geschichte gestellt hatten. Wie<br />
lässt sich die Höhe des Grundbedarfs berechnen?<br />
Welche Ansätze gelten für grosse<br />
Familien? Welche Anreize können gesetzt<br />
werden, insbesondere bei jungen Erwachsenen?<br />
Wie sollen die Sanktionsmöglichkeiten<br />
ausgestaltet werden?<br />
Bereits Anfang der 1910-er Jahre führten<br />
Bund, Kantone und Gemeinden Gespräche<br />
zur damaligen Armenpflege. Anfänglich<br />
ging es vor allem darum, zu klären, wer für<br />
die Bedürftigen zuständig ist. Je länger, je<br />
mehr setzte sich der Konsens bei Kantonen<br />
und Städten durch, dass eine Harmonisierung<br />
der Sozialhilfe in der Schweiz sinnvoll<br />
ist und dass neben der materiellen auch der<br />
persönlichen Hilfe eine grosse Bedeutung<br />
zukommt. 1963 erschienen die SKOS-<br />
Richtlinien zur Bemessung von materiellen<br />
Sozialhilfeleistungen zum ersten Mal<br />
in gedruckter Form. Nachzulesen in der<br />
über 100-jährigen Geschichte der SKOS,<br />
die in der Dissertation von Claudia Hänzi,<br />
RiP-Präsidentin und Geschäftsleitungsmitglied<br />
seit 2011 eindrücklich und spannend<br />
festgehalten ist. Seither haben sich diese<br />
Richtlinien zu einem ausführlichen und<br />
systematischen Regelwerk entwickelt, das<br />
Fachleute und Laienbehörden in der Praxis<br />
tagtäglich nutzen.<br />
Die Entscheide, die in der letzten Revision<br />
getroffen wurden, stellen einen Kompromiss<br />
dar, der hart erarbeitet, am Ende aber<br />
von allen Beteiligten mitgetragen und von<br />
der SODK genehmigt wurde. Die Kernelemente<br />
bleiben unverändert: die Garantie<br />
des sozialen Existenzminimums und<br />
der Grundprinzipien der Sozialhilfe,<br />
wie sie unter Punkt A.4 der Richtlinien<br />
festgehalten sind. Prävention,<br />
Integration, Existenzsicherung und<br />
Missbrauchsbekämpfung<br />
bilden nach wie vor die<br />
Säulen für eine wirksame<br />
Sozialhilfe.<br />
Die Kantone haben die neuen Richtlinien<br />
weitgehend umgesetzt, die Sozialhilfe ist<br />
nach der Revision einheitlicher als vorher.<br />
Das Monitoring der SKOS anfangs <strong>2017</strong><br />
zeigt dies deutlich. Fast gleichzeitig mit der<br />
Umsetzung der zweiten Revisionsetappe<br />
hat der Regierungsrat des Kantons Bern<br />
jedoch angekündigt, den Grundbedarf generell<br />
um 10% kürzen zu wollen. Begründet<br />
wird dieses Vorhaben mit Sparvorgaben<br />
des Kantons sowie fehlenden Anreizen. Für<br />
die SKOS ist dieser Vorschlag ein Schritt zurück,<br />
weg vom gemeinsamen Kompromiss<br />
der Kantone und weg von einer ausgewogenen<br />
Bemessung des Grundbedarfs,<br />
der sich am sozialen<br />
Existenzminimum<br />
orientiert. Die SKOS<br />
wird Bund und<br />
Kantone daran erinnern,<br />
dass eine<br />
Harmonisierung<br />
der Sozialhilfe<br />
im Interesse aller<br />
liegt. Was bei der<br />
AHV und den Ergänzungsleistungen<br />
gilt, muss auch in der<br />
Sozialhilfe gelten: Es gibt keinen<br />
Grund, Bedürftige in einem Kanton<br />
schlechter zu stellen als in<br />
anderen Kantonen. Der Grundbedarf<br />
soll für alle gleich sein, Milch<br />
und Brot kosten ja auch überall<br />
gleich viel.<br />
Markus Kaufmann<br />
1/17 ZeSo<br />
5
Was gilt bei der Arbeitsintegration<br />
von Alleinerziehenden?<br />
PRAXIS Laura Sommer ist kürzlich Mutter geworden und bezieht Sozialhilfe. Auch als<br />
Alleinerziehende wird von ihr spätestens, wenn das Kind das erste Lebensjahr vollendet hat,<br />
eine Erwerbstätigkeit oder die Teilnahme an einer Integrationsmassnahme erwartet.<br />
Frage<br />
Laura Sommer hat gerade ihr erstes Kind<br />
geboren. Sie hat eine Erstausbildung abgeschlossen,<br />
ist jedoch seit ein paar Monaten<br />
auf Sozialhilfe angewiesen. Sie lebt vom<br />
Vater des Kindes getrennt und es ist absehbar,<br />
dass sie sich vorerst alleine um das<br />
Kind kümmern wird. Auf dem zuständigen<br />
Sozialdienst fragt man sich, wie Laura<br />
Sommer in der Zeit nach der Geburt unterstützt<br />
werden soll. Wie soll ihre Arbeitsintegration<br />
geplant werden und welche Rechte<br />
und Pflichten hat Laura Sommer gemäss<br />
den SKOS-Richtlinien, die auf den 1. Januar<br />
<strong>2017</strong> in Kraft getreten sind?<br />
Grundlagen<br />
Die Geburt eines Kindes entbindet die Eltern<br />
nicht von der Pflicht zur Arbeitsintegration<br />
oder – soweit möglich – dem Erhalt<br />
einer bestehenden Stelle (SKOS-Richtlinien,<br />
A.5.2). Dies gilt für Paare ebenso wie<br />
für Alleinerziehende. Als alleinerziehend<br />
gilt, wer mit einem Kind oder mehreren<br />
Kindern ohne den anderen Elternteil<br />
wohnt und hauptbetreuend ist. Wie alle<br />
Personen mit Betreuungspflichten, die auf<br />
Leistungen der Sozialhilfe angewiesen<br />
sind, sollen auch Alleinerziehende möglichst<br />
rasch zur Arbeitsintegration verpflichtet,<br />
dabei aber auch unterstützt werden.<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />
und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />
Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />
(einloggen) SKOS-Line.<br />
Nach der Geburt hat der betreuende Elternteil<br />
gemeinsam mit dem Sozialdienst<br />
den Wiedereinstieg ins Arbeitsleben zu<br />
planen. Massgebend bei dieser Planung<br />
sind eine Abwägung von Integrations- und<br />
Familienpflichten, das Kindeswohl und<br />
die Sicherstellung einer angemessenen<br />
Kinderbetreuung. Bei einer Person mit Betreuungspflichten<br />
wird eine Erwerbstätigkeit<br />
oder die Teilnahme an einer Integrationsmassnahme<br />
spätestens dann erwartet,<br />
wenn das Kind das erste Lebensjahr vollendet<br />
hat (SKOS-Richtlinie, C.1.3).<br />
Die SKOS anerkennt die Bedeutung<br />
der Betreuung eines Kindes während des<br />
ersten Lebensjahrs durch einen Elternteil.<br />
Es ist daher angemessen, einen alleinerziehenden<br />
Elternteil nicht gleich rasch<br />
zur Arbeitsintegration zu verpflichten wie<br />
jemanden, der in einer Paarbeziehung mit<br />
dem anderen Elternteil zusammenlebt.<br />
Die Arbeitsintegration muss individualisiert<br />
erfolgen (SKOS-Richtlinien, A.4), das<br />
heisst, die individuellen Ressourcen und<br />
Rahmenbedingungen müssen berücksichtigt<br />
werden. Sie entscheiden über den Zeitpunkt<br />
der Arbeitsintegration wie auch über<br />
das anzustrebende Pensum.<br />
Für die Kinderbetreuung kann keine<br />
Integrationszulage (IZU) entrichtet werden<br />
(SKOS-Richtlinien, C.2). Mit einer<br />
IZU werden Leistungen nicht erwerbstätiger<br />
Personen für ihre soziale und berufliche<br />
Integration finanziell anerkannt. Unterstützt<br />
werden nur Leistungen, welche<br />
die Chance auf eine erfolgreiche Integration<br />
erhöhen beziehungsweise erhalten. Die<br />
Kinderbetreuung erfüllt diese Voraussetzungen<br />
nicht.<br />
Damit die Arbeitsintegration gelingen<br />
kann, müssen betroffene Personen beim<br />
Wiedereinstieg bedarfsgerecht unterstützt<br />
werden. Wenn ein junger Elternteil betroffen<br />
ist, sind ergänzend die Richtlinien<br />
für junge Erwachsene zu berücksichtigen<br />
(SKOS-Richtlinien, B.4 und H.11). Insbesondere<br />
ist sicherzustellen, dass trotz elterlichen<br />
Sorgepflichten eine Erstausbildung<br />
(wieder-)aufgenommen und abgeschlossen<br />
werden kann.<br />
Antwort<br />
Bei Personen, die Sozialhilfe beziehen, ist<br />
der Arbeitsintegration eine vorrangige Bedeutung<br />
beizumessen. Klientinnen und<br />
Klienten haben trotz bestehender Erziehungspflichten<br />
nach ihren Kräften zur<br />
Minderung ihrer Bedürftigkeit beizutragen.<br />
Sozialdienste müssen auch alleinerziehende<br />
Eltern frühzeitig auf ihre Pflichten<br />
hinweisen und sie zur Arbeitsintegration<br />
motivieren. Damit die Arbeitsintegration<br />
gelingen kann, hat der Sozialdienst für<br />
zielgerichtete Hilfe und enge Betreuung zu<br />
sorgen. Eltern sind bei der Suche nach Ausbildungs-,<br />
Weiterbildungs- und Arbeitsangeboten<br />
zu unterstützten, aber auch bei der<br />
Suche von familienergänzenden Betreuungsmöglichkeiten.<br />
Im Fall von Laura Sommer ist zu berücksichtigen,<br />
dass sie sich voraussichtlich<br />
alleine um das Kind kümmern wird. Mit<br />
Blick auf das Kindswohl ist es daher nicht<br />
angemessen, sie so früh wie möglich zur<br />
Aufnahme eines hohen Tätigkeitspensums<br />
zu verpflichten. Wenn aber eine angemessene<br />
Kinderbetreuung sichergestellt werden<br />
kann, verfügt Laura Sommer dank<br />
ihrer abgeschlossenen Erstausbildung über<br />
ausreichende individuelle Ressourcen und<br />
gute Rahmenbedingungen, um spätestens<br />
nach Ablauf eines Jahres zur Aufnahme einer<br />
möglichst existenzsichernden Tätigkeit<br />
verpflichtet zu werden.<br />
•<br />
Alexander Suter<br />
Leiter Fachbereich Recht & Beratung der SKOS<br />
Kommission Richtlinien und Praxishilfen der SKOS<br />
6 ZeSo 1/17
Neue SKOS-Richtlinien sind in den<br />
Kantonen weitgehend umgesetzt<br />
SOZIALHILFE In den letzten zwei Jahren hat die SKOS ihre Richtlinien einer Revision unterzogen.<br />
Die Neuerungen sind seit Anfang <strong>2017</strong> in den Kantonen weitgehend umgesetzt. Die Revision hat<br />
dazu beigetragen, dass die Sozialhilfe in der Schweiz heute einheitlicher ausgestaltet ist.<br />
Auf Antrag der Schweizerischen Konferenz<br />
für Sozialhilfe SKOS hat die Konferenz der<br />
kantonalen Sozialdirektoren SODK die<br />
SKOS-Richtlinien in zwei Etappen (2015<br />
und 2016) revidiert. Beschlossen wurden<br />
verschiedene Leistungseinschränkungen<br />
und weitere Anpassungen des SKOS-Regelwerks,<br />
welches für die Ausgestaltung<br />
der Sozialhilfe in allen Kantonen wegleitend<br />
ist. Die neuen Regelungen der ersten<br />
Revisionsetappe gelten heute fast ausnahmslos<br />
in allen Kantonen.<br />
Ein Schwerpunkt der ersten Etappe waren<br />
tiefere Leistungen für junge Erwachsene<br />
unter 25 Jahren. Eine Auswertung<br />
der SKOS zeigt, dass heute alle Kantone<br />
für diese Personengruppe reduzierte Leistungen<br />
kennen. Beim ebenfalls gesenkten<br />
Grundbedarf für kinderreiche Familien<br />
ergibt sich ein weniger einheitliches Bild:<br />
22 Kantone haben die neuen Regeln übernommen,<br />
vier Kantone (BS, GE, NE, VD)<br />
verzichten auf eine Kürzung. Alle Kantone<br />
haben zudem den Sanktionsrahmen erweitert<br />
und sehen vor, dass der Grundbedarf<br />
in der Sozialhilfe bei Pflichtverletzungen<br />
um bis zu 30 Prozent gekürzt werden<br />
kann. Sämtliche Kantone haben zudem die<br />
Minimale Integrationszulage abgeschafft,<br />
welche 2005 eingeführt worden war, um<br />
eine Leistungskürzung abzufedern.<br />
Die per 1. Januar <strong>2017</strong> in Kraft getretene<br />
zweite Etappe der Richtlinien ist in<br />
20 Kantonen bereits vollständig umgesetzt,<br />
per 1. März folgte mit dem Kanton<br />
Jura der 21. Kanton. Fünf Kantone haben<br />
auf eine Umsetzung der zweiten Revisionsetappe<br />
verzichtet, weil die neuen Regelungen<br />
nur zu geringfügigen Veränderungen<br />
geführt hätten.<br />
Die Revision der SKOS-Richtlinien hat<br />
somit dazu beigetragen, die Sozialhilfe in<br />
den Kantonen weiter zu harmonisieren<br />
und die Akzeptanz der SKOS-Richtlinien<br />
zu stärken. Entscheidend hierfür war die<br />
Tatsache, dass die wesentlichen Kritikpunkte<br />
von Kantonen und Gemeinden<br />
in der Revision berücksichtigt wurden.<br />
Weil ein Bundesgesetz für die Sozialhilfe<br />
fehlt, füllen die SKOS-Richtlinien das<br />
gesetzliche Vakuum zumindest teilweise<br />
aus. Die SKOS erachtet die Ergebnisse der<br />
beiden Revisionsetappen als befriedigend.<br />
Zugleich weist sie aber mit Nachdruck darauf<br />
hin, dass es Sache von Bund und Kantonen<br />
ist, die verbesserte Harmonisierung<br />
abzusichern und darauf hinzuwirken,<br />
dass sich die Kantone auch an die gemeinsam<br />
verabschiedeten neuen Richtlinien<br />
halten. (HI)<br />
•<br />
Die neuen<br />
SKOS-Richtlinien<br />
Mit der ersten Revisionsetappe wurden<br />
der Grundbedarf bei Haushalten ab 6<br />
Personen um 76 Franken pro Person/<br />
Monat und die Ansätze für junge<br />
Erwachsene bis 25 Jahren mit eigenem<br />
Haushalt um 20% auf Fr. 789 reduziert.<br />
Neu wurde es den Behörden ermöglicht,<br />
Pflichtverletzungen mit einer Reduktion<br />
des Grundbedarfs um 5-30% zu sanktionieren.<br />
Die zweite Revisionsetappe präzisiert<br />
u.a. die situationsbedingten Leistungen<br />
(SIL): Sie verringert Schwelleneffekte,<br />
die zu negativen Anreizen bei der<br />
Arbeitsintegration führen können.<br />
Weiter enthält sie Empfehlungen<br />
zur früheren Arbeitsintegration von<br />
Müttern.<br />
1/17 ZeSo<br />
7
«Der sozioökonomische Status wirkt<br />
sich auf die Chancen der Kinder aus»<br />
INTERVIEW Als Geschäftsführerin von Unicef Schweiz beschäftigt sich Elsbeth Müller mit globaler<br />
Kinderarmut. Im Interview spricht sie über Frühförderung und die Arbeit von Unicef entlang der<br />
Fluchtrouten. Und sie fordert kinderrechtliche Standards in Schweizer Aufnahmezentren.<br />
«<strong>ZESO</strong>»: Frau Müller, in der Schweiz<br />
gilt jedes zehnte bis zwanzigste Kind<br />
als arm. Ist Kinderarmut hierzulande<br />
ein unterschätztes Phänomen?<br />
Elsbeth Müller: Ich glaube, Armut<br />
wird insgesamt unterschätzt. Vor allem,<br />
weil häufig im Hinterkopf die Vorstellung<br />
herrscht, dass Armut selbst verschuldet ist.<br />
Aber sie hat viel mit Lebenssituationen zu<br />
tun, auf die man keinen Einfluss hat, beispielsweise<br />
Krankheit und Behinderung,<br />
Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld<br />
oder Verlust von Arbeit. Für Kinder,<br />
die eigentlich in der aufstrebenden Zeit<br />
ihres Lebens sind und erst in die Gesellschaft<br />
hineinwachsen, ist Armut besonders<br />
gravierend. Auch in der Schweiz lebt ein zu<br />
grosser Anteil von Kindern unter problematischen<br />
Bedingungen.<br />
Wie zeigt sich die Armut im Alltag der<br />
betroffenen Kinder?<br />
Kinder, die aufgrund des sozioökonomischen<br />
Status der Eltern unter erschwerten<br />
Bedingungen aufwachsen, können sich<br />
häufig nicht vollumfänglich in die Gesellschaft<br />
integrieren. Denn viele Angebote in<br />
unserer Gesellschaft sind kostenpflichtig.<br />
Armutsbetroffene Familien können beispielsweise<br />
nicht ins Museum gehen und<br />
vor allem können sie es nicht jeden Monat<br />
tun. Und auch in der Schule gibt es Zusatzelemente,<br />
die Eltern schnell finanziell<br />
überlasten. Ein Kind, das Schwierigkeiten<br />
in der Schule hat, kann dann nicht einfach<br />
in die Nachhilfe geschickt werden.<br />
Armutsbetroffene Kinder haben<br />
schlechtere Chancen.<br />
Ja, der tiefere sozioökonomische Status<br />
der Eltern wirkt sich direkt auf die<br />
Entwicklungschancen der Kinder aus. Er<br />
geht vielfach einher mit grösseren Schulschwierigkeiten,<br />
schlechterer Gesundheit<br />
etc. Es ist aber nicht nur eine familiäre<br />
Verantwortung, Kindern einen möglichst<br />
guten Lebensstart zu bieten, sondern eine<br />
gesellschaftliche. Da verweise ich auf die<br />
Kinderrechtskonvention, die die Schweiz<br />
unterzeichnet hat, und laut dieser hat jedes<br />
Kind das Recht auf gleiche Chancen.<br />
Was schützt Kinder besser vor Armut?<br />
Wenn Familien insgesamt unterstützt<br />
werden oder wenn man an spezifischen<br />
Punkten beim Kind ansetzt?<br />
Sicherlich müssen armutsbetroffene<br />
Familien insgesamt unterstützt und aufgefangen<br />
werden. Bei gewissen Leistungen<br />
stellt sich aber schon die Frage, ob sie auf<br />
die Kinder ausgerichtet sind oder einfach<br />
eine Zugabe an eine Familie sind, die für<br />
das Kind nicht automatisch eine Verbesserung<br />
bedeutet. Es gibt Länder, die Unterstützungsleistungen<br />
viel zielgerichteter auf<br />
Kinder ausrichten: Kostenlose Krippenplätze<br />
für Armutsbetroffene oder kostenlose<br />
Nachhilfe sind da nur zwei Beispiele.<br />
In diesem Zusammenhang ist die soziale<br />
Vererbung von Armut ein grosses<br />
Thema. Wie kann sie durchbrochen<br />
werden?<br />
Es ist entscheidend, Kinder möglichst<br />
früh in die Gesellschaft zu integrieren. Darum<br />
bin ich überzeugt, dass frühkindliche<br />
Förderung ein <strong>ganz</strong> wichtiges Element ist.<br />
Auch frühe aufsuchende Arbeit ist wichtig.<br />
Diese muss erfolgen, bevor sich die Familie<br />
selbst als Risikofamilie wahrnimmt.<br />
Wo kann diese Früherkennung und<br />
Triage stattfinden?<br />
Meiner Meinung nach sollte die Mütterund<br />
Väterberatung eine viel stärkere Rolle<br />
haben und auch die Ressourcen, die aufsuchende<br />
Arbeit wahrnehmen zu können.<br />
Ein zweites Schlüsselelement ist, dass betroffene<br />
Kinder früh Teil einer grösseren<br />
Gruppe sein können. Eine Kinderkrippe<br />
mit guter Durchmischung fördert diejenigen<br />
Kinder mit Belastungsfaktoren. Das<br />
Ziel muss sein, dass alle Kinder, wenn sie<br />
in die Schule kommen, die gleichen Startchancen<br />
haben. Es ist in der Schweiz aber<br />
immer noch so, dass der sozioökonomische<br />
Status in der Schule determinierend ist.<br />
Ist das der Grund, warum die Schweiz<br />
im Bereich der Förderung und Bildung<br />
im aktuellen Unicef-Ländervergleich<br />
unterdurchschnittlich abschneidet?<br />
Im Schweizer Schulsystem fehlen Massnahmen,<br />
die helfen, schlechtere Startchancen<br />
zu egalisieren. Es gibt schon Angebote<br />
oder Zuschüsse, die sind aber vom Wohnkanton<br />
oder der Gemeinde abhängig. Der<br />
Staat wäre aber verpflichtet, für die meist<br />
verletzlichen Kinder bessere Startchancen<br />
zu ermöglichen und dies über die Kantonsgrenzen<br />
hinweg sicherzustellen.<br />
Was machen die Länder anders, die in<br />
diesem Bereich besser dastehen?<br />
Das sind vor allem die nordischen Länder,<br />
in denen die Frühförderung früher<br />
anfängt und es für die meisten Kinder Betreuungsplätze<br />
gibt. Die Schweiz ist auch<br />
auf gutem Weg. Aber man muss auch<br />
festhalten: Sie ist das reichste Land und<br />
erlaubt es sich dennoch, bei den Kindern<br />
zurückzufallen.<br />
Die Revision der SKOS-Richtlinien<br />
betraf auch die Arbeitsintegration<br />
von Alleinerziehenden. Sie sollen<br />
früher wieder arbeiten oder an einer<br />
Integrationsmassnahme teilnehmen.<br />
Als Befürworterin der frühkindlichen<br />
Förderung werden Sie diese Massnahme<br />
begrüssen.<br />
Alle Studien weisen darauf hin, dass<br />
stabile Bezugspersonen im frühkindlichen<br />
Alter wichtig sind. Das familiäre Umfeld<br />
ist in den ersten zwei Lebensjahren beson-<br />
8 ZeSo 1/17
Elsbeth Müller<br />
Nach einer Ausbildung zur Primarlehrerin und<br />
der Weiterbildung zur Heilpädagogin arbeitete<br />
Elsbeth Müller als Dozentin am Heilpädagogischen<br />
Seminar der Universität Zürich. 1996<br />
übernahm sie die Leitung der Geschäftsstelle<br />
der Unicef Schweiz. Unicef ist das Kinderhilfswerk<br />
der Vereinten Nationen, mit Hauptsitz<br />
in New York. Es wurde 1946 gegründet, die<br />
Schweizer Sektion gibt es seit 1959. Elsbeth<br />
Müller ist 61 und wohnt in Zürich.<br />
ders wichtig. Aber ein Kind kann mehrere<br />
Bezugspersonen haben. In der Schweiz<br />
tun wir uns häufig schwer damit zu glauben,<br />
dass auch Bezugspersonen in den<br />
Kitas Kontinuität bieten. Gerade wenn in<br />
einer Familie Belastungsfaktoren vorhanden<br />
sind, kann es für ein Kind entlastender<br />
sein, eine gewisse Zeit des Tages in einem<br />
anderen Milieu zu verbringen Auch für<br />
eine Mutter kann es ein Entlastungsfaktor<br />
sein, einer Erwerbsarbeit nachzugehen<br />
und dadurch Aussenkontakte zu haben.<br />
Das klingt, als käme noch ein «Aber»…<br />
Wenn der Staat Mütter früher in den<br />
Arbeitsmarkt integrieren will, muss er<br />
«Im Schweizer<br />
Schulsystem fehlen<br />
Massnahmen, die<br />
helfen, schlechtere<br />
Startchancen zu<br />
egalisieren.»<br />
auch sicherstellen, dass es genügend und<br />
qualitativ gute Krippenplätze gibt. Heute<br />
kann man nicht mehr erwarten, dass die<br />
Kinderbetreuung ausschliesslich privat<br />
geregelt wird. Und die Arbeit muss für die<br />
Mutter einen Mehrwert bieten. Der Lohn<br />
sollte nicht gleich wieder für Kinderbetreuung<br />
weggehen. Da stellt sich wieder die<br />
Frage, ob es nicht besser wäre, direkt den<br />
Krippenplatz zu finanzieren, statt die Mutter<br />
zu unterstützen, damit sie eine Krippe<br />
bezahlen kann.<br />
Wo in der Schweizer Familienpolitik<br />
gibt es dringenden Handlungsbedarf?<br />
Ein Problem ist die ungenügende Datenlage<br />
über belastete Kinder. Wir brauchen<br />
bessere Daten, um klarere Aussagen<br />
zu treffen und zielgerichtete politische<br />
Massnahmen daraus abzuleiten. Aktuell<br />
gibt es ja keine Kinderpolitik, sondern nur<br />
Familienpolitik. Das Kind wird immer als<br />
Teil der Familie angeschaut. Aber gemäss<br />
der Kinderrechtskonvention ist das Kind<br />
selbst der Rechtsträger. In vielen anderen<br />
Ländern gibt es eigene Kinder- und Jugendministerien.<br />
Bei uns kommen Kinder<br />
auf Bundesebene nicht wirklich vor, nur<br />
im Rahmen des Bundesamts für Sozialversicherungen.<br />
Wir müssten eine gezielte<br />
Kinderpolitik entwickeln.<br />
Sprechen wir über den internationalen<br />
Kontext, in dem Unicef hauptsächlich<br />
tätig ist und in dem Armut ein <strong>ganz</strong><br />
<br />
1/17 ZeSo<br />
9
anderes Gesicht hat. Wie leicht ist es,<br />
diese unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche<br />
unter einen Hut zu bringen?<br />
Das ist eine Herausforderung. Klar, ein<br />
armutsbetroffenes Kind in einem armen<br />
Land hat andere Schwierigkeiten als ein armutsbetroffenes<br />
Kind in einem Industrieland.<br />
Aber beide sind betroffen von Belastungsfaktoren,<br />
die dazu führen, dass ihre<br />
Chancen gemindert werden. Die Armutsfrage<br />
ist kontextabhängig und stellt sich<br />
international in jedem Land wieder neu.<br />
Das ist der Ansatz, mit dem wir arbeiten.<br />
Wie hat sich die Kinderarmut in Entwicklungsländern<br />
entwickelt?<br />
Im Rahmen der Millenniumsziele, die<br />
sich die UNO gegeben hat, hat sich die<br />
Armut weltweit halbiert. Gemessen an der<br />
Anzahl betroffener Kinder ist das ein grosser<br />
Fortschritt. Aber es bestehen nach wie<br />
vor grosse Herausforderungen. In vielen<br />
Ländern ist chronische Mangelernährung<br />
ein grosses Problem, das zu einem Teufelskreis<br />
führt: Mangelernährte Kinder sind<br />
häufiger krank. Den Eltern fehlt das Geld<br />
für Medikamente, wodurch sich bestehende<br />
Krankheitsaspekte verstärken. Wenn<br />
die Kinder in die Schule kommen, können<br />
sie ihr Potenzial aufgrund ihres Gesundheitszustands<br />
nicht entfalten, obwohl die<br />
Bildung ja ein Weg aus der Armut sein<br />
könnte.<br />
«Wir müssen eine gezielte Kinderpolitik entwickeln», fordert Elsbeth Müller. <br />
Bilder: Meinrad Schade<br />
Wie sieht es grundsätzlich im Bereich<br />
Schule und Bildung aus?<br />
Wir können sagen, dass Kinder heute<br />
weltweit in die Schule gehen. Die Anzahl<br />
der Kinder, die nicht in die Schule gehen,<br />
hat sich in den letzten 20 Jahren von 240<br />
auf 70 Mio. gesenkt. Das ist beachtlich!<br />
Nur ist es so, dass Kinder nun zwar eingeschult<br />
werden, aber die Qualität des Schulunterrichts<br />
dann wieder ungenügend ist.<br />
Und auch hier bleiben wieder die belasteten<br />
Kinder zurück.<br />
Was können wir tun, um global die<br />
Kinderarmut zu bekämpfen? Welche<br />
Haltung müssen wir einnehmen?<br />
Es gibt verschiedene Aspekte. Ein Anteil<br />
ist, dass man sich bewusst sein muss,<br />
dass ein globales Vorwärtskommen Solidarität<br />
erfordert. Das ist vielleicht ein alter<br />
Spruch, aber Solidarität ist nötig, um einen<br />
Ausgleich erreichen zu können. Auf der Regierungsebene<br />
ist es nötig, allen Ländern<br />
Zugang zu Märkten zu geben und Protektionismus<br />
geplant aufzulösen. Und dann<br />
gibt es ein drittes Thema. Multinationale<br />
Unternehmen haben eine viel grössere<br />
Wirkung auf das Leben des Einzelnen, als<br />
wir annehmen. Sie müssen Verantwortung<br />
für ihre Standorte und ihre Arbeitnehmer<br />
übernehmen und dürfen sich dieser Verantwortlichkeit<br />
nicht entziehen.<br />
Aber diese Verantwortlichkeit fordert<br />
niemand verbindlich ein.<br />
Doch, beispielsweise die UNO im<br />
Rahmen ihrer Armutsdebatte. Aber es ist<br />
ein langer Weg. Und während dieser Zeit<br />
wachsen viele Kindergenerationen auf.<br />
Diese Kinder werden junge Erwachsene.<br />
Und wenn sie keine Chance auf Bildung<br />
und Arbeit haben, ist das frustrierend. Wir<br />
müssen verhindern, dass Generationen<br />
von Jugendlichen heranwachsen, die Aggressionen<br />
in sich tragen, mit denen wir<br />
als Gesellschaft wieder umgehen müssen.<br />
In Ländern, in denen gleichzeitig noch<br />
Krisen und Katastrophen herrschen, potenziert<br />
sich dieses Problem.<br />
Was leistet Unicef in Bezug auf die<br />
Flüchtlingssituation weltweit?<br />
Unicef hat weltweit die Verantwortung<br />
im Bereich «Wash». Wenn es eine Krise<br />
gibt, sorgt Unicef für Wasser und sanitäre<br />
10 ZeSo 1/17
«Auch in Schweizer Aufnahmezentren fehlt<br />
es häufig an kinderrechtlichen Standards.»<br />
Anlagen und stellt die Hygiene sicher. Zusätzlich<br />
haben wir Aufgaben im Bildungsund<br />
Kinderschutzbereich. In Bezug auf<br />
Syrien sind wir beispielsweise in allen<br />
betroffenen Ländern auf der Fluchtroute<br />
aktiv: In der Türkei in den Flüchtlingszentren,<br />
im Libanon, in Jordanien und im Irak<br />
auch in den Flüchtlingslagern oder betreffend<br />
der Gastfamilien, in denen einige<br />
Kinder leben. Und wir schaffen Schulmöglichkeiten.<br />
Wie muss man sich das vorstellen?<br />
Wir sorgen dafür, das Schulen errichtet<br />
und die Kinder eingeschult werden. Dann<br />
gibt es spezifische Aufgaben. Ein kleines<br />
Beispiel: Kinder aus Syrien sind in einem<br />
Schulsystem grossgeworden, das sich vom<br />
jordanischen unterscheidet. Die Befürchtung<br />
ist, dass ein jordanischer Schulnachweis<br />
für syrische Flüchtlingskinder bei<br />
einer allfälligen Rückkehr in die Heimat<br />
nutzlos oder sogar zu ihren Ungunsten<br />
ausgelegt werden könnte. Um die Familien<br />
nicht zu gefährden, haben wir in jordanischen<br />
Flüchtlingszentren eine Curriculumsentwicklung<br />
gemacht, so dass die<br />
Kinder einen Nachweis bekommen, bei<br />
dem man nicht merkt, von wo er stammt.<br />
So könnten sie auch wieder im syrischen<br />
Schulsystem weitergeschult werden.<br />
Gibt es Aktivitäten von Unicef Schweiz<br />
für die Flüchtlingskinder in der<br />
Schweiz?<br />
Ein grosses Thema ist die Festlegung<br />
von kinderrechtlichen Standards. Daran<br />
fehlt es häufig auch in Schweizer Aufnahmezentren,<br />
beispielsweise in Bezug auf<br />
Unterbringung, Anhörung im Asylverfahren<br />
etc. Unicef versucht solche Standards<br />
mit zu entwickeln und einzufordern. Wir<br />
haben auch einen Runden Tisch einberufen<br />
mit allen Stakeholdern, die in diesem<br />
Bereich für Kinder tätig sind. Ein<br />
Problem, das sich in diesem Rahmen<br />
herauskristallisiert hat, ist, dass die Sozialhilfe,<br />
wenn sie in den Gemeinden für<br />
Kinder aus dem Asylbereich zum Tragen<br />
käme, zunehmend Leistungen nicht<br />
übernehmen will und solche Kinder an<br />
die KESB weiterleitet. Aber die KESB ist<br />
ein zivilrechtliches Organ, das in dieser<br />
Fragestellung keine Rolle zu spielen hätte.<br />
Diesem Umstand versuchen wir nun<br />
nachzugehen.<br />
Unicef Schweiz vergibt das Label<br />
«kinderfreundliche Gemeinde». Was<br />
macht eine kinderfreundliche Gemeinde<br />
aus?<br />
Kurz gesag, setzt eine kinderfreundliche<br />
Gemeinde sehr umfassend und auf<br />
eine systematische Weise die Kinderrechte<br />
um. Das ist nicht selbstverständlich, weil<br />
die Kinderrechtskonvention ja auf nationaler<br />
Ebene unterzeichnet worden ist, während<br />
die Kinder in den Gemeinden leben.<br />
Sie machen also quasi die Übersetzungsarbeit.<br />
Ja, das ist richtig. Am Anfang steht ein<br />
Assessment für alle Massnahmen der Gemeinden,<br />
die Kinder betreffen. Was wird<br />
in den Bereichen Freizeit, Gesundheit etc.<br />
getan? Gibt es ein Kinderleitbild und Legislaturziele<br />
in Bezug auf Kinder? Werden<br />
die Massnahmen koordiniert? In einem<br />
zweiten Schritt muss die Gemeinde mit<br />
Kindern zusammensitzen und ihre Sicht<br />
erfahren. Daraus entstehen ein Aktionsplan<br />
und die Verpflichtung, gewisse Massnahmen<br />
zu Gunsten von Kindern umzusetzen.<br />
Ein vorbildliches Beispiel für den<br />
Einbezug von Kindern ist die Stadt Basel<br />
mit ihrer Verkehrsplanung. Werden ein<br />
Kreisel gebaut oder Kreuzungen verändert,<br />
werden Kinder systematisch miteinbezogen.<br />
Sie besichtigen mit Experten die Orte<br />
und geben ihre Einschätzung ab, wo für<br />
Kinder Probleme bestehen, was gefährlich<br />
ist etc. Damit fliesst eine zusätzliche und<br />
wertvolle Perspektive mit ein.<br />
Wie kinderfreundlich ist die Schweiz<br />
grundsätzlich?<br />
Ich glaube, im Vergleich mit vielen Ländern<br />
ist die Schweiz ein kinderfreundliches<br />
Land. Aber wir müssen aufpassen, dass wir<br />
den Kindern den nötigen Raum geben, damit<br />
sie sich autonom entwickeln können.<br />
Sie sollten nicht darauf angewiesen sein,<br />
dass die Eltern sie auf die Spielplätze führen<br />
und in die Schule fahren. Sie müssen<br />
den Raum selbst- und eigenständig entdecken<br />
können. Wir müssen beispielsweise<br />
sichere Schulwege ermöglichen und Plätze<br />
schaffen, wo Kinder sich auch unbeaufsichtigt<br />
treffen können. Wissen Sie, Kinder<br />
müssen miteinander auch einmal den<br />
Hosenlupf wagen, um ihre Stärken und<br />
Schwächen ausloten zu können. Sie brauchen<br />
Zeit, Dinge untereinander auszuhandeln<br />
und zwar unabhängig von Erwachsenen.<br />
Das macht sie widerstandsfähig. Und<br />
diese Widerstandsfähigkeit brauchen sie,<br />
um später in ein Erwachsenenleben zu gehen.<br />
•<br />
Das Gespräch führte:<br />
Regine Gerber<br />
1/17 ZeSo<br />
11
12 ZeSo 1/17 SCHWERPUNKT<br />
Bild: Rudolf Steiner
Science-Fiction auf dem Arbeitsmarkt<br />
Work Smart, Home-Office, Crowdworking. Die Digitalisierung verändert den Arbeitsmarkt in immer<br />
schnellerem Tempo und tiefgreifend. Neue Arbeitsformen, Flexibilisierung, neue Anforderungsprofile<br />
für viele Berufe können für Arbeitnehmer eine Chance – oder auch ein Risiko sein.<br />
Wie einst die Nutzbarmachung der Elektrizität und die Automatisierung,<br />
ist die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien<br />
dabei, die Gesellschaft und Wirtschaft tiefgreifend<br />
umzugestalten. Neue Arbeitsanforderungen, Flexibilisierung<br />
von Ort, Zeit und Organisation – die Arbeitswelt verändert sich<br />
stark und für viele zunehmend spürbar. Betrachtet man Bilder von<br />
arbeitenden Robotern, glaubt man sich in einem Science-Fiction-<br />
Film und doch sind sie Realität. «Taxifahrer, Kassierer und Buchhalter<br />
wird es in 20 Jahren als Beruf nicht mehr geben.» So war<br />
2016 in einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung zu lesen. Andere<br />
sehen die Callcenter-Telefonisten vor dem Verschwinden.<br />
Aber auch Apotheker sind auf der Suche nach neuen Aufgaben, da<br />
der Medikamentenverkauf mehr und mehr auf Online-Plattformen<br />
abwandert; auch Aufgaben von Ärzten, Ökonomen und Juristen<br />
werden von Online-Plattformen und anderen digitalen Anbietern<br />
übernommen – zumindest einzelne. Und auch die klassische<br />
Büroarbeit ist immer weniger gefragt und wandelt sich im Zuge<br />
der digitalen Möglichkeiten stark.<br />
Wir werden seit wenigen Jahren und auch das in immer kürzeren<br />
Abständen von Studien aufgeschreckt, fast täglich können wir<br />
in den Medien Artikel zum Thema lesen, auch sie versuchen all die<br />
laufenden Veränderungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Arbeitswelt<br />
zu erfassen und suchen Antworten auf die vielen Fragen, die<br />
sich stellen: Wird die klassische Arbeit, wie wir sie kennen, schon<br />
bald nicht mehr existieren? Welche Stellen gehen verloren, welche<br />
neuen Arbeitsplätze und Berufe werden geschaffen? Wie werden<br />
wir arbeiten? Was sind das für «Arbeiter», die in der Zukunft top<br />
qualifiziert sein werden? Wer sind die Verlierer der schönen neuen<br />
Arbeitswelt? Welche Chancen bietet die Arbeit der Zukunft für<br />
Menschen ohne Berufsausbildung oder ohne profunde Computerkenntnisse?<br />
Welche Chancen haben ältere Arbeitnehmer, die «digital<br />
immigrants», die erst im Erwachsenenalter mit der digitalen<br />
Welt in Berührung kamen und nun von den Jungen, den «digital<br />
natives», links überholt werden?<br />
Die Arbeitsmaschinen ersetzen längst nicht mehr nur schlichte<br />
Routine-Jobs und Fabrikarbeit. Eine weltweit vielzitierte Studie<br />
der Oxford-Universität nahm vor drei Jahren den Arbeitsmarkt der<br />
USA unter die Lupe. Sie stellte in Aussicht, dass nahezu jeder zweite<br />
Job innerhalb der nächsten 20 Jahre der Automatisierung zum<br />
Opfer fallen könnte. Auch wenn die Prognosen in anderen Studien<br />
(9 Prozent gemäss OECD, «Automation and independent work in<br />
a digital economy» 2016) weit weniger drastisch tönen, die Veränderungen<br />
in vielen Berufen infolge von Digitalisierung und Roboterisierung<br />
sind fundamental. Auch wenn die Entwicklungen<br />
in Wirtschaft und Arbeitsmarkt langsam fortschreiten. Plötzlich<br />
könnte es dann <strong>ganz</strong> schnell gehen, glaubt man dem Studienautor<br />
aus Oxford, Michael Osborne. Werden die technischen Hindernisse<br />
mit den neuen digitalen Technologien dereinst gelöst,<br />
könnten sehr viele Jobs sehr schnell verschwinden.<br />
Auch wenn man diesen Extremszenarien nicht glaubt, auch die<br />
OECD-Studie geht zumindest davon aus, dass die Berufe sich sehr<br />
stark wandeln und für jeden vierten Beruf die Hälfte der Tätigkeiten<br />
komplett neu sein wird.<br />
Kernaufgabe Bildung<br />
Auch hierzulande sind viele Fragen noch unbeantwortet. Die<br />
Schweiz sei gut vorbereitet auf die Entwicklungen, stellt der Bundesrat<br />
in seinem Bericht zu den Rahmenbedingungen der digitalen<br />
Wirtschaft fest. Klar ist, auch in Zukunft gilt, wer gut ausgebildet<br />
ist und sich im Berufsleben weiterbildet, hat auf dem<br />
Arbeitsmarkt deutlich bessere Chancen als Stellensuchende ohne<br />
Berufsausbildung. Die Qualifikationen der Arbeitnehmer müssen<br />
möglichst mit den Anforderungen einer zunehmend digitalen<br />
Welt übereinstimmen, so die Haltung im Seco. Mit der Plattform<br />
«Berufsbildung 2030» werden zur Zeit deshalb die gängigen Berufsbilder<br />
auf ihre Zukunftsfähigkeit überprüft. Damit die Grundierung<br />
gemalt beziehungsweise eine Vision 2030 formuliert<br />
werden kann, müssen entsprechende Megatrends – im Speziellen<br />
bezüglich der Gesellschaft und des Arbeitsmarktes – identifiziert<br />
und deren Implikationen auf die Berufsbildung diskutiert werden.<br />
Da Megatrends erfahrungsgemäss häufig auch gegensätzliche<br />
Tendenzen ausweisen können, können im Grundsatz unterschied-<br />
14 ZeSo 1/17 SCHWERPUNKT
ARBEIT der zukunft<br />
liche Visionen 2030 erarbeitet werden. Im Rahmen des Prozesses<br />
sollen jedoch mögliche strategische Handlungsoptionen identifiziert,<br />
priorisiert und konsolidiert werden, um der Vision 2030 eine<br />
einheitliche Ausrichtung geben zu können.<br />
Flexibilisierung = Entrechtlichung?<br />
Vorteile der digitalen Arbeitswelt bietet die Flexibilisierung. Sie ermöglicht<br />
es beispielsweise Müttern und Vätern, Familie und Arbeit<br />
besser unter einen Hut zu bringen, und Angestellten, zusätzliche<br />
Jobs zu übernehmen (vgl. Seite 16). Bereits 38 Prozent der<br />
Erwerbstätigen arbeiten in der Schweiz schon jetzt zeitweise mobil.<br />
Dies geht aus einer im vergangenen Sommer publizierten Studie<br />
der Hochschule für Angewandte Psychologie der FHNW hervor.<br />
«Gezielt und systematisch gestaltete mobil-flexible<br />
Arbeitsformen bieten ein grosses Potenzial, gleichzeitig gesundheits-,<br />
leistungs- und wettbewerbsförderliche Arbeitsverhältnisse<br />
zu schaffen. Diese Chance sollten wir gemeinsam und in Kooperation<br />
zwischen Wissenschaft und Praxis nutzen», sagt Prof. Dr.<br />
Hartmut Schulze, Hochschule für Angewandte Psychologie<br />
FHNW. «Mobil-flexibles Arbeiten ermöglicht es Arbeitnehmenden,<br />
über eine freiere Arbeitszeit- und Arbeitsortgestaltung berufliche<br />
und private Bedürfnisse besser miteinander zu vereinbaren.<br />
Dafür braucht es aber ein Minimum an unternehmensinternen<br />
Die Bilder im Kopf von den am Fliessband<br />
stehenden Fabrikangestellten, die Teil für Teil ein<br />
Auto zusammenbauen, sind definitiv veraltet.<br />
Bilder: Kia, Keystone<br />
Guidelines sowie an Unterstützung für Mitarbeitende und Führungskräfte»,<br />
sagte Manuel Keller, Leiter Beruf und Beratung,<br />
Kaufmännischer Verband Schweiz.<br />
Das mobil-flexible Arbeiten ist als Kernphänomen der künftigen<br />
Arbeitswelt eine komplizierte und komplexe Herausforderung<br />
für die Gesellschaft. Zum Beispiel das amerikanische Dienstleistungsunternehmen<br />
Uber in San Francisco, das inzwischen in fast<br />
500 Städten vertreten ist. Es macht die traditionellen Taxidienste<br />
zwar noch nicht überflüssig aber bedrängt diese doch erheblich.<br />
Da stellen sich rasch arbeits- und sozialversicherungsrechtliche<br />
Fragen. «Die Herausforderung für die Gesetzgebung besteht grob<br />
gesagt darin, einen Rahmen zu setzen, welcher sowohl technologische<br />
Entwicklungen ermöglicht als auch die Arbeitnehmenden<br />
gezielt schützt», wie Ursina Jud Huwiler, Leiterin Ressort Arbeitsmarktanalyse<br />
und Sozialpolitik im Staatssekretariat für Wirtschaft<br />
(Seco) in einem Artikel in «Die Volkswirtschaft» schreibt. •<br />
SCHWERPUNKT 4/16 ZeSo<br />
Ingrid Hess<br />
Die flexible Arbeitswelt für sich nutzen –<br />
Chancen und Stolpersteine<br />
Die technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und dabei insbesondere die Digitalisierung<br />
führen zu tief greifenden Umwälzungen in der Arbeitswelt. Geringqualifizierte Arbeitende werden<br />
sich mit den neuen Anforderungen schwer tun.<br />
Die neuen Umwälzungen in der Arbeitswelt erlauben insbesondere<br />
ein zunehmend flexibles Arbeiten – und das gleich in mehrerer<br />
Hinsicht:<br />
• Zeitliche Flexibilität: Anstelle fester Bürozeiten treten Modelle<br />
für Jahres- oder Vertrauensarbeitszeit. Rund 37 Prozent der<br />
Schweizer arbeiten Teilzeit, rund 61 Prozent in einem Gleitzeitsystem.<br />
Dies bringt oft eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit<br />
und Privatleben mit sich.<br />
• Örtliche Flexibilität: Dank Internet und Handy können Angestellte<br />
auch von zu Hause oder von einem anderen Standort aus<br />
auf Firmendaten zugreifen und mobil tätig sein. 25 Prozent<br />
der Erwerbstätigen können das Heimbüro nutzen, das mobile<br />
Arbeiten jederzeit und überall hat sich mittlerweile etabliert.<br />
Darüber hinaus setzen Betriebe vermehrt auch auf Desk-Sharing<br />
und sind damit innerhalb der Firmeninfrastruktur flexibel.<br />
Unter der Bedingung, dass das Arbeiten im Home-Office<br />
auf Wunsch der Angestellten und nicht zusätzlich zur regulären<br />
Arbeit im Büro stattfindet, gehen mit dieser Form der Arbeitsflexibilität<br />
viele Vorteile wie höhere Produktivität, Zufriedenheit<br />
und bessere Life-Domain-Balance einher.<br />
• Organisatorische Flexibilität: Statt auf der über Jahrzehnte<br />
gleich bleibenden Arbeitsstelle engagiert man sich vermehrt<br />
in wechselnden Teams an Projekten von kürzerer Dauer. Der<br />
Trend zur Hierarchieverflachung in Organisationen setzt sich<br />
fort. Statt genaue Weisungen der Vorgesetzten zu befolgen,<br />
wird Arbeitnehmenden ein erweiterter Handlungsspielraum<br />
zugestanden. Vorgängig vereinbarte Ziele sollen so in eigener<br />
Verantwortung erreicht werden und sind häufig relevant für<br />
die variablen Lohnanteile. Auf diese Weise wird unternehmerisches<br />
Risiko auf Angestellte übertragen. In der sozialwissenschaftlichen<br />
Literatur wurde für diese Vermischung der<br />
klassischen Rollen zum einen der Begriff «Arbeitskraftunternehmer/in»<br />
geschaffen, andernorts wird auch von der Subjektivierung<br />
der Arbeit gesprochen. Für Mitarbeitende kann diese<br />
Zunahme an Handlungsspielraum ein Gewinn darstellen. Es<br />
besteht aber auch die Gefahr der Selbstausbeutung, wenn sich<br />
die Life-Domain-Balance zunehmend mehr zu Gunsten der Arbeit<br />
verschiebt.<br />
• Numerische Flexibilität: Auch passen Betriebe ihre Belegschaft<br />
an das Arbeitsvolumen an und lagern Aufgaben gegebenenfalls<br />
aus, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Dies zeigt sich beispielsweise<br />
durch befristete Arbeitsverhältnisse, Honorarprojekte<br />
oder neue Formen der Auftragsvergabe wie etwa das Crowdsourcing<br />
auf Internetplattformen. Etwa 7 Prozent der Schweizer<br />
Arbeitsverträge sind befristet. Das «klassische» Arbeiten auf<br />
Abruf ist in den letzten 15 Jahren relativ stabil bei 5 Prozent<br />
Platz für Co-Worker im Kaffee Effinger in Bern. <br />
Bild: Ingrid Hess<br />
16 ZeSo 1/17 SCHWERPUNKT
ARBEIT der zukunft<br />
geblieben. Für die relativ junge Erscheinung des Crowdsourcing<br />
bzw. Crowdworking gibt es dagegen keine verlässlichen<br />
Daten, doch dürfte diese Art der Auftragsvermittlung künftig<br />
an Bedeutung gewinnen: Insbesondere in der Informatik- und<br />
Kommunikationsbranche ist es denkbar, dass Unternehmen<br />
in den nächsten Jahren Teile ihrer festen Belegschaft abbauen.<br />
Die zusätzlich nötigen Arbeitskräfte bezieht man dann als «Liquid<br />
Talents» aus der «Human Cloud» – den über das Internet<br />
rekrutierbaren Fachleuten. Generell lässt sich bei diesen neuen<br />
Arbeitsformen vermuten, dass Arbeitende mit höherer Qualifikation<br />
Vorteile eher nutzen können und geringqualifizierte<br />
Arbeitende mit starken Nachteilen zu rechnen haben.<br />
Neben der Zunahme der Arbeitskraftunternehmenden ist künftig<br />
zu erwarten, dass Erwerbstätige eine oder mehrere Teilzeitanstellungen<br />
mit Einzelaufträgen kombinieren. Diese Form der<br />
(Teil-)Selbständigkeit kann berufliche Alternativen eröffnen und<br />
auch zu einer besseren Entfaltung der eigenen Interessen und Potenziale<br />
beitragen. Es zeigen sich aber auch grosse Tücken dieser<br />
hochflexiblen Arbeit. Insbesondere besteht die Gefahr, dass die<br />
Beschäftigten in prekäre Verhältnisse abgleiten. Sind Teilzeitangestellte<br />
befristet beschäftigt und schwankt das Arbeitsvolumen,<br />
so sind Einkommen und Beschäftigungslage nicht mehr verlässlich<br />
kalkulierbar. Bei der Vermittlung über Crowdworking-Plattformen<br />
können Auftragssuchende Einkünfte und Belastung sehr<br />
schlecht planen. Zudem erfordert diese Art der Selbständigkeit<br />
viel Eigenverantwortung und z.B. auch Verhandlungskompetenz.<br />
Hier hängt die Entwicklung daher in erster Linie von der Qualifikation<br />
ab: Gut ausgebildete und selbständig Handelnde vermögen<br />
aufgrund ihres gesuchten Profils ihre finanziellen Ansprüche und<br />
Arbeitsbedingungen gegenüber Mandanten durchaus durchzusetzen.<br />
Geringqualifizierte können hier in eine prekäre Abwärtsspirale<br />
aus beruflicher Unsicherheit und einbrechendem Einkommen<br />
geraten.<br />
Unter dem Strich muss man für eine erhöhte Arbeitsmarktfähigkeit<br />
als Mitarbeiter folgende Stolpersteine beachten:<br />
• Sich nicht auf den Betrieb verlassen; ein Wechsel kann immer<br />
passieren und die Gründe lassen sich häufig nicht ermitteln.<br />
Da sich die Produktlebenszyklen im globalisierten Wettbewerb<br />
stark verkürzen nimmt auch die soziale Zuverlässigkeit von Unternehmen<br />
als Arbeitgeber ab. Ein Unternehmen kann Arbeitgeber<br />
für ein Leben sein, aber erwarten darf man dies nicht.<br />
• Sich ständig weiterqualifizieren und dies auch finanzieren.<br />
Wer vom Lohn nichts über hat, um in sich selber zu investieren,<br />
sollte sich auf Dauer eine neue Beschäftigung suchen. Ohne<br />
Weiterbildung verkürzt sich die Arbeitsmarktfähigkeit drastisch.<br />
«Flexible neue Arbeitswelt»<br />
Jüngst erschien die Studie «Flexible neue Arbeitswelt» im vdf-Verlag<br />
(http://vdf.ch/flexible-neue-arbeitswelt.html). Die Studie hat zum<br />
Gegenstand, die Folgen der Entwicklungen für den Stellenwert der<br />
Erwerbsarbeit im gesellschaftlichen Leben zu untersuchen und zu<br />
analysieren, inwiefern die Eigenarten der neuen Arbeitsformen mit<br />
der aktuellen Rechtslage kompatibel sind bzw. welche volkswirtschaftlichen<br />
Konsequenzen sich daraus ergeben.<br />
• Virtuelle Arbeit nicht als Haupterwerbsquelle angehen. Wer<br />
sich über Uber und Airbnb noch etwas dazu verdienen möchte,<br />
soll dies tun. Zur Sicherung eines Lebensunterhalts reichen<br />
diese Quellen aber in der Regel nicht aus. Daher sollte die Zeit<br />
besser in Weiterbildung investiert werden.<br />
• Sozialen Rückhalt in der Familie sichern. Die neuen, flexiblen<br />
Jobs fordern <strong>ganz</strong> besonders, dass man «sein Leben unter einen<br />
Hut bekommt». Wer durch familiären Stress blockiert ist, wird<br />
im Beruf nicht sonderlich effektiv sein. Bei aller Pflege unserer<br />
beruflichen Fähigkeiten leiden oft die privaten Verhältnisse.<br />
Dabei sind sie es doch, die im Beruf Rückhalt geben.<br />
• Nicht (immer) aufs Recht pochen. Viele Rahmengesetze und<br />
Verordnungen sind nicht aktuell oder passen nicht zur neuen<br />
Arbeitswelt. Das Arbeitsrecht hinkt in vielen Bereichen hinterher.<br />
Wer bei kleinen rechtlichen Unstimmigkeiten schnell zum<br />
Anwalt läuft, wird am Ende meist mehr bezahlen, als eine alternative<br />
Lösung kosten würde. Unterstützung gibt es beispielsweise<br />
bei den Gewerkschaften. <br />
•<br />
Jens O. Meissner<br />
Professor für Organisation, Innovation und<br />
Risikomanagement an der Hochschule Luzern<br />
SCHWERPUNKT 4/16 ZeSo<br />
«Die Anforderungen an<br />
die Arbeitskräfte sind hoch»<br />
NACHGEFRAGT Auch im Staatssekretrariat für Wirtschaft (Seco) beschäftigt man sich<br />
intensiv mit dem Arbeitsmarkt der Zukunft. Dort geht man laut der Leiterin des Ressorts<br />
Arbeitsmarktanalyse und Sozialpolitik Ursina Jud Huwiler davon aus, dass die Schweiz gut auf<br />
die mit der Digitalisierung verbundenen Veränderungen vorbereitet ist. Die Beschäftigung in<br />
der Schweiz wächst jedenfalls weiterhin – trotz Digitalisierung, sagt Ursina Jud Huwiler.<br />
<strong>ZESO</strong>: Sehr geehrte Frau Jud Huwiler, alle sprechen von der<br />
Digitalisierung beziehungsweise der Wirtschaft und dem<br />
Arbeitsmarkt 4.0. Für was stehen diese Begriffe?<br />
Ursina Jud Huwiler: In der Tat, die Digitalisierung hat sich<br />
ihren Weg ins öffentliche Bewusstsein gebahnt. Es handelt<br />
sich dabei jedoch nicht um ein gänzlich neues Phänomen. Die<br />
laufend breitere Verwendung der Informationstechnologien ist<br />
seit zwei Jahrzehnten in Gang. In den letzten Jahren wurden<br />
grosse Fortschritte in den Bereichen der Robotik, der Verwendung<br />
von Big Data und neuen Fertigungstechniken wie 3-D-<br />
Druckern erzielt.<br />
Verschiedene in den letzten Jahren und Monaten publizierte Studien<br />
versuchen den zu erwartenden Stellenverlust zu beziffern. Da ist von<br />
Zahlen von 50 oder nur 9 Prozent die Rede. Was dürfte eher zutreffen?<br />
Die technologischen Fortschritte führen dazu, dass zusätzliche<br />
Tätigkeiten automatisiert werden können. Während<br />
bisher vor allem Routinearbeiten automatisiert wurden, sind<br />
jetzt auch komplexere Tätigkeiten betroffen. Man darf dabei<br />
nicht vergessen, dass vor 150 Jahren 70 Prozent der Erwerbsbevölkerung<br />
in der Landwirtschaft arbeiteten, heute sind es<br />
noch drei Prozent. Vor 40 Jahren machte die industrielle Produktion<br />
noch 40 Prozent des Stellenmarktes aus, heute sind<br />
es 20 Prozent. Solche Entwicklungen gehören zum normalen<br />
Strukturwandel. Dieser hängt im Übrigen auch mit anderen<br />
Einflussfaktoren wie der Globalisierung, gesellschaftlichem<br />
und kulturellem Wandel sowie verändertem Konsumverhalten<br />
zusammen.<br />
Damit sich der Arbeitsmarkt anpassen kann, braucht er in der<br />
Regel etwas Zeit. Nun ist aber gerade die Digitalisierung durch ein<br />
zunehmend hohes Entwicklungstempo gekennzeichnet. Studien<br />
mutmassen, dass Weiterbildungsanstrengungen nicht ausreichen<br />
werden, um das «Wettrennen gegen die Maschinen» zu gewinnen.<br />
Mit Blick auf die Entwicklung des Arbeitsmarktes ist nicht<br />
nur die Geschwindigkeit des technischen Fortschrittes relevant,<br />
sondern die Frage, wie und wie rasch dieser letztlich die<br />
Märkte durchdringen. Die Erfahrung zeigt, dass die bisherigen<br />
Prognosen hinsichtlich Durchdringung der neuen Technologien<br />
jeweils unzuverlässig waren. Deshalb wäre ich mit Prognosen<br />
eher zurückhaltend. Aktuell ist jedenfalls keine generelle disruptive<br />
Entwicklung zu beobachten. Dies heisst aber nicht,<br />
dass in einzelnen Märkten nicht durchaus tiefgreifende Veränderungen<br />
zu verzeichnen waren. Denken Sie beispielsweise<br />
an den ehemaligen Grosskonzern Kodak, der den Aufstieg<br />
von Instagram nicht überlebt hat. Gleichzeitig konnte sich sein<br />
Konkurrent Fuji erfolgreich neupositionieren, indem er sein<br />
chemisches Know-how fortan auch in der Medizinaltechnik<br />
einbrachte. Dieses Beispiel zeigt schön, dass die Digitalisierung<br />
– wie jeder technische Fortschritt – Chancen bereithält,<br />
die es zu packen gilt.<br />
Im Zuge des technologischen Fortschritts haben jeweils Maschinen,<br />
Automaten oder Computer mehr Aufgaben übernommen, die<br />
bis dahin von Menschen erledigt wurden. Damit wurde jedoch<br />
Wirtschaftswachstum erzielt, das wiederum zu Stellenwachstum<br />
führte. Wird es bei der Digitalisierung auch so sein?<br />
Aktuell gehen wir von diesem Szenario aus. Dies bedeutet<br />
konkret, dass der Stellenabbau in einigen Bereichen durch<br />
einen Stellenaufbau in anderen Berufen und Tätigkeiten kompensiert<br />
wird. Es ist also mit einer Verlagerung zu rechnen –<br />
die auch gewisse Herausforderungen mit sich bringen wird,<br />
etwa für die Bildungspolitik. Jedenfalls wächst die Beschäftigung<br />
in der Schweiz weiterhin, auch wenn sich das Wachstum<br />
mit der Frankenaufwertung seit Januar 2015 etwas verlangsamt<br />
hat.<br />
Bei jedem Strukturwandel gibt es Gewinner und Verlierer. Wen trifft<br />
die Digitalisierung am stärksten?<br />
In den letzten Jahren verzeichneten wir Rückgänge beispielsweise<br />
in der Industrie und bei den Bürojobs, gleichzeitig<br />
entstehen Stellen in verschiedenen Dienstleistungsbereichen,<br />
beispielsweise in der Unternehmensberatung und IT oder auch<br />
im Gesundheits- und Sozialwesen. Das heisst, Stellen wurden<br />
vor allem in hochqualifizierten Bereichen geschaffen. Bei<br />
niedrig- oder unqualifizierten Tätigkeiten haben wir eher Ter-<br />
18 ZeSo 1/17 SCHWERPUNKT
ARBEIT der zukunft<br />
rain verloren. Aber es gehen nicht nur die unqualifizierten Arbeitsplätze,<br />
sondern auch die Zahl der Arbeitnehmenden ohne<br />
nachobligatorische Ausbildung, also sprich ohne Berufs- oder<br />
Uniabschluss, zurück. Und zwar ungefähr um ca. 20‘000 pro<br />
Jahr. Die jüngere Generation ist tendenziell besser ausgebildet<br />
als die ältere. 88 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen<br />
Alter hat einen nachobligatorischen Abschluss. Unter den<br />
25-34-jährigen sind es hingegen 92 Prozent.<br />
Ursina Jud Huwiler<br />
Bild: zvg<br />
Dr. phil. Ursina Jud Huwiler ist Leiterin des Ressorts Arbeitsmarktanalyse<br />
und Sozialpolitik in der Direktion für Wirtschaftspolitik des<br />
Staatssekretariates für Wirtschaft (Seco).<br />
Auch wenn viel orakelt wird, wie viele Stellen bald von Robotern<br />
übernommen werden, bedeutsamer ist doch, dass viele Stellenprofile<br />
sich <strong>ganz</strong> stark verändern werden und viel neues digitales Know-how<br />
erfordern.<br />
Ja, die Jobs verändern sich. Verschiedene Tätigkeiten in<br />
den Berufen fallen weg, andere kommen dazu. Das heisst<br />
nicht, dass das gesamte Berufsprofil verloren geht. Natürlich<br />
müssen Büroangestellte heute keine Stenogramme mehr<br />
abtippen. Dennoch fallen weiterhin klassische Büroarbeiten<br />
an, wie beispielsweise Meetings organisieren. Neue technologische<br />
Entwicklungen bedeuten primär, dass man seine<br />
Kompetenzen entsprechend erweitert. Auch in Zukunft wird es<br />
nicht nur IT-Skills brauchen, sondern eine weite Bandbreite an<br />
zwischenmenschlichen Kompetenzen wie Verhandlungs- und<br />
Analysekompetenzen.<br />
Werden ältere Arbeitnehmer oder Langzeitarbeitslose noch mehr<br />
Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben?<br />
Es gibt immer Subgruppen von Arbeitnehmenden, die aus<br />
verschiedenen Gründen Schwierigkeiten haben, eine Stelle zu<br />
finden. Der Schlüssel zu einer nachhaltigen Arbeitsmarktintegration<br />
ist die Qualifikation, welche sich aus Grund- und Fachkompetenzen<br />
zusammensetzt. Die Schweiz verfügt über einen<br />
Hochleistungsarbeitsmarkt, entsprechend hoch sind die Anforderungen<br />
an die Arbeitskräfte. Dies ist nicht neu. Natürlich<br />
ist es wichtig, mit unserer Arbeitsmarktpolitik die Rahmenbedingungen<br />
zu schaffen, dass möglichst alle Menschen im erwerbsfähigen<br />
Alter einer existenzsichernden Arbeit nachgehen<br />
können. Die Schweiz ist diesbezüglich sehr gut aufgestellt.<br />
SCHWERPUNKT 1/17 ZeSo<br />
<br />
19<br />
Und wie gesagt: Wir gehen nicht davon aus, dass von einem<br />
Tag auf den anderen grosse Zahlen von Angestellten ihre Stelle<br />
verlieren. Wir haben keine Hinweise, dass die Arbeitslosigkeit<br />
in nächster Zeit infolge des technischen Fortschritts massiv<br />
zunimmt.<br />
Einer der viel beschworenen Vorteile der Digitalisierung ist die<br />
Flexibilisierung der Arbeit. Sie bietet auch neue Möglichkeiten.<br />
Die Arbeitswelt ist sehr vielfältig geworden. Dies ist aber<br />
nicht alleine ein Ausdruck der neuen technischen Möglichkeiten.<br />
Die Flexibilisierung spiegelt auch den gesellschaftlichen<br />
Wertewandel. Örtliche und zeitliche Flexibilisierung der<br />
Arbeit ermöglicht namentlich eine bessere Vereinbarkeit von<br />
Familie und Arbeit. Aber es stellen sich natürlich – wie bei allen<br />
neuen Entwicklungen – auch Fragen, beispielsweise im Bereich<br />
des Arbeitsrechts.<br />
Seit einigen Jahren spriessen Plattformen des Crowdworking. Werden<br />
wir bald nur noch via solche Plattformen angestellt?<br />
Nein. Das glaube ich nicht. Die ersten Plattformen sind in<br />
den letzten fünf bis zehn Jahren entstanden. In den USA, wo<br />
die Entwicklung international am weitesten fortgeschritten ist,<br />
arbeiten 0.5 Prozent der Beschäftigten via solche Plattformen<br />
wie Uber, UpWork oder MTurk. Es handelt sich bisher um ein<br />
bescheidenes Phänomen. Auch hier gibt es Chancen sowie<br />
Herausforderungen. Die Plattformen bieten ausgesprochen<br />
flexible Arbeit an. Das kann für manche sehr attraktiv sein,<br />
beispielsweise wenn jemand aus familiären Gründen nur am<br />
Abend arbeiten kann. Ferner bestehen oft tiefe Einstiegshürden.<br />
Es gibt in diesen Plattformen ein breites Spektrum von<br />
einfachen bis komplexen Arbeiten sowie <strong>ganz</strong> unterschiedlichen<br />
Angeboten und Arbeitsweisen.<br />
«In den USA, wo die<br />
Entwicklung international<br />
am weitesten<br />
fortgeschritten ist,<br />
arbeiten 0.5 Prozent<br />
der Beschäftigten via<br />
solche Plattformen<br />
wie Uber, UpWork oder<br />
MTurk.»<br />
Wo sehen Sie die Risiken für die Arbeitnehmer?<br />
Ein Szenario geht davon aus, dass durch solche Plattformen<br />
eine Erosion der Arbeitsbedingungen droht, dass ein Heer von<br />
Soloselbständigen entsteht, die über keine soziale Absicherung<br />
verfügen. All diese Fragen beschäftigen nicht nur die<br />
Schweiz, sondern viele Länder. Aktuell stellen sich bei uns vor<br />
allem rechtliche Fragen. Sind die Uber-Taxifahrer selbständig<br />
oder Arbeitnehmer? Ist Uber ein Arbeitgeber? Allerdings ist<br />
die Frage der Abgrenzung von Selbständigen und Unselbständigen<br />
nicht neu. Sie stellt sich jetzt einfach wieder verstärkt<br />
respektive unter neuen Vorzeichen. Aktuell sind verschiedene<br />
Gerichtsverfahren hängig. Das Seco verfolgt die Arbeitsmarktentwicklung,<br />
insbesondere die Jobqualität und auch die Lohnentwicklung<br />
sehr eng. Derzeit haben wir keine Hinweise auf<br />
einen flächendeckenden Lohndruck.<br />
Um auf die Veränderungen optimal vorbereitet zu sein, muss vor<br />
allem die Bildung auf dem neuesten Stand sein.<br />
Ja genau. Der Hauptschlüssel zur erfolgreichen Transformation<br />
ist auch aktuell die Bildung und Weiterbildung. Die Schweiz<br />
ist hier sehr gut aufgestellt. Die duale Berufsbildung ist ausgesprochen<br />
arbeitsmarktnah. Das ist ein grosser Vorteil. Die<br />
Schweiz wird deshalb auch die digitale Transformation gut<br />
meistern. <br />
•<br />
Das Gespräch führte<br />
Ingrid Hess<br />
20 ZeSo 1/17 SCHWERPUNKT
ARBEIT der zukunft<br />
Crowdworking – wie muss man sich die<br />
neue Beschäftigungsform vorstellen?<br />
Crowdworking ist eine Beschäftigungsform, bei der meistens kleinteilige Arbeiten öffentlich oder<br />
auch unternehmensintern auf einer Internetplattform ausgeschrieben werden.<br />
Briefe schreiben und übersetzen, Websites auf Fehler überprüfen,<br />
Interviews durchführen, aber auch Installationen von Telefon und<br />
Internet vor Ort, all das sind Beispiele für diese kleinteiligen Arbeiten,<br />
die nach dem Konzept des Crowdworking erledigt werden<br />
können. Die Zuteilung der Arbeiten an die Crowdworker auf den<br />
Internetplattformen ist unterschiedlich und kann u.a. aufgrund<br />
von Qualifikationsanforderungen oder nach dem First-come-firstserve-Prinzip<br />
erfolgen. Auch die Bezahlung kann sehr stark variieren.<br />
Der Extremfall, nämlich keine Bezahlung, ist auch möglich,<br />
weil der Auftraggeber mit der Arbeit nicht zufrieden ist oder nur<br />
die beste, prämierte Arbeit bezahlt wird. Die meisten Crowdworking-Plattformen<br />
haben ein Qualitätssicherungssystem. Das bedeutet,<br />
die von den Crowdworkern erledigten Arbeiten werden jeweils<br />
beurteilt und bewertet, entweder vom Auftraggeber selbst<br />
oder von anderen Crowdworkern. Diese Bewertungen können weitere<br />
Auftragsvergaben beeinflussen oder auch bei Nichteinhaltung<br />
von Terminen langfristig zum Ausschluss von der Internetplattform<br />
führen. Die Betreiber der Crowdworking-Plattformen erheben<br />
Kommissionen in Höhe von ca. 10% bis 25% der Auftragssumme.<br />
Crowdworking wird oftmals als kurzfristige, lose Zusammenarbeit<br />
angesehen, aus der keine Arbeitgeberpflichten für den Auftraggeber<br />
entstehen, d.h. AHV und Sozialversicherung, Steuer sowie<br />
Pensionskasse sind in der Verantwortung des Crowdworkers.<br />
Das bekannte, traditionelle Arbeitsverhältnis gibt es hier nicht<br />
mehr. Man kann es so beschreiben: Während man früher sechs<br />
Arbeitgeber im gesamten Arbeitsleben hatte, sind es jetzt sechs<br />
Auftraggeber zur gleichen Zeit.<br />
Aber nicht alles ist schlecht an Crowdworking. Manche schätzen<br />
das kompetitive Umfeld sowie die Zeit- und Ortsflexibilität.<br />
Crowdworking gibt auch jenen Personen eine Chance, die geografisch<br />
benachteiligt sind oder in ihrem Berufsleben am Anfang<br />
stehen.<br />
Verlässliche und umfassende Daten zum Thema Crowdworking<br />
in der Schweiz fehlen weitgehend, so dass die gesellschaftlichen,<br />
sozialen und auch rechtlichen Auswirkungen noch nicht<br />
abschätzbar sind. Man darf aber nicht vergessen, dass Internetplattformen<br />
nicht an den Ländergrenzen halt machen. Das bedeutet,<br />
dass ein Schweizer Auftragnehmer auf einer amerikanischen<br />
Internetplattform Aufgaben für einen indischen Auftraggeber zu<br />
dessen Konditionen erledigen kann und die Konkurrenz um diese<br />
Tätigkeit eine gut ausgebildete singhalesische Crowdworkerin ist.<br />
Die Freiheit, Arbeiten zu bestimmten Konditionen nicht annehmen<br />
zu müssen, hat man, so lange genügend Arbeit vorhanden ist.<br />
Es ist aber unklar, inwiefern dies heute noch und auch zukünftig<br />
zutrifft. Dies lässt die Frage nach dem bedingungslosen Grundeinkommen<br />
wieder aufkommen.<br />
Die Plattformen ermöglichen flexibles Arbeiten - auch von zu Hause aus.<br />
Bild: Andreas Morlok, Pixelio<br />
Es gibt Plattformbetreiber, die sich selbst regulieren und beispielsweise<br />
Arbeiten zum Mindestlohn anbieten. Das ist aber nicht<br />
die Regel. Das Gegeneinander-Ausspielen auf diesen Internetplattformen<br />
ist sehr leicht möglich. Es sind deshalb weitere Untersuchungen<br />
notwendig, um für die Zukunft relevante und praxisnahe<br />
Empfehlungen an die Politik zur Verbesserung der Situation<br />
der Crowdworker abgeben zu können. Thomas Klebe (IG Metall)<br />
sagte dazu in einem Interview: «Schlechte Arbeitsbedingungen<br />
sind keine Privatsache!» und Johannes Warter (österreichischer<br />
Jurist) ergänzt: «Und das Internet ist kein rechtsfreier Raum.» •<br />
Ute Klotz<br />
Professor Ute Klotz ist Dozentin für Informatik an der HSLU<br />
sowie Mitautorin der TA-Swiss-Studie «Flexible neue Arbeitswelt»<br />
SCHWERPUNKT 1/17 ZeSo<br />
Die Arbeitszeiten im Wandel<br />
Die zunehmende Flexibilisierung der Arbeitszeiten bringt die Arbeitnehmenden in ein Spannungsfeld<br />
zwischen verbesserter Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben einerseits und weniger<br />
Planbarkeit sowie einer Zunahme von Stress und psychosozialen Risiken andererseits.<br />
Die Arbeitszeit und die Regelungen dazu sind für die Arbeitnehmenden<br />
von zentraler Wichtigkeit. Während langer Zeit stand für<br />
Gewerkschaften als Interessenvertreter die Verkürzung der Arbeitszeit<br />
im Zentrum. Zunächst war das Ziel der 8-Stunden-Tag respektive<br />
die 48-Stunden-Woche; später die Einführung der 5-Tage-Woche<br />
und damit die 40-Stunden-Woche. Für die<br />
Gewerkschaften ging es dabei um den Schutz der Gesundheit der<br />
Beschäftigten, verbesserte Lebensqualität und – in Zeiten verbreiteter<br />
Erwerbslosigkeit – um die Sicherung von Arbeitsplätzen. Es<br />
gelang in den industrialisierten Ländern im Verlauf des letzten<br />
Jahrhunderts, die Zahl der effektiv geleisteten Erwerbsarbeitsstunden<br />
pro Kopf der Bevölkerung um rund die Hälfte zu verkürzen.<br />
Die Entwicklung zu immer kürzeren Arbeitszeiten hielt bis in die<br />
90er Jahre des letzten Jahrhunderts an. Frankreich führte die<br />
35-Stunden-Woche 1998 ein.<br />
Schweiz: lange Arbeitstage, zunehmende Arbeitswege<br />
In der Schweiz verlief diese Entwicklung weniger ausgeprägt. Seit<br />
1967 beträgt die gesetzliche Wochenarbeitszeit für die meisten<br />
Arbeitnehmenden 45 Stunden und hat sich kaum mehr verändert.<br />
So weisen die Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BfS) für die<br />
Schweiz zwischen 1990 und 2009 nur noch eine geringfügige<br />
Reduktion der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit von<br />
0.5 Stunden aus. Im europäischen Vergleich sind die Wochenarbeitszeiten<br />
in der Schweiz überdurchschnittlich lang. In einer europaweiten<br />
Studie wird die Wochenarbeitszeit (nur Vollzeitstellen)<br />
im Jahr 2010 in der Schweiz mit durchschnittlich 44.3 Stunden<br />
ausgewiesen, während das europäische Mittel bei 42.5 Stunden<br />
Grafik 1: Entwicklung der Beschäftigung nach<br />
Beschäftigungsgrad 1991–2016 (Index 1991=1)<br />
3.0<br />
2.5<br />
2.0<br />
1.5<br />
1.0<br />
0.5<br />
0.0<br />
1991 1996 2001 2006 2011 2016<br />
Vollzeit (> 89%)<br />
Teilzeit I (50–89%) Teilzeit II (< 50%)<br />
Quelle: BfS, SAKE. Eigene Darstellung.<br />
und in den direkten Nachbarländern der Schweiz noch einmal darunter<br />
liegt.<br />
Nicht zuletzt als Folge davon hat die Verbreitung von Teilzeitarbeit<br />
in der Schweiz stark zugenommen und liegt heute im europäischen<br />
Vergleich mit an der Spitze. Im Ausmass der Teilzeitarbeit<br />
sind aber grosse Unterschiede zwischen den Geschlechtern<br />
feststellbar. Während bei den Frauen eine Mehrheit von 57.3 %<br />
Teilzeit arbeitet, ist der Anteil der Männer mit 16.8 % deutlich<br />
geringer.<br />
Nicht nur die vermehrten Teilzeitbeschäftigungen liessen die<br />
klassischen Arbeitszeiten erodieren, auch der Übergang zu einer<br />
Dienstleistungsgesellschaft in den letzten Jahrzehnten förderte<br />
zunehmend individualisierte und flexibilisierte Arbeitseinsätze.<br />
Die Arbeitnehmenden in der Schweiz arbeiten deutlich flexibler<br />
als jene in den Nachbarländern. So gibt weniger als ein Drittel der<br />
Arbeitnehmenden in der Schweiz an, dass ihre Arbeitszeiten vom<br />
Betrieb festgelegt werden, im Durchschnitt der europäischen Länder<br />
ist dies für fast 70% der Beschäftigten der Fall. Und insgesamt<br />
arbeiten rund 60% der Schweizerinnen und Schweizer flexibel, in<br />
der EU sind dies nur 22%. Ausserdem verzeichnete die Schweiz<br />
zwischen 2005 und 2010 einen wahren Flexibilisierungsboom<br />
(Anstieg der flexiblen Arbeitsverhältnisse von 48% auf 60%),<br />
während sich in den EU-Betrieben in dieser Hinsicht nur wenig<br />
änderte.<br />
Die Daten der europäischen Erhebung über die Arbeitsbedingungen<br />
zeigen, dass in der Schweiz fast die Hälfte der Arbeitnehmenden<br />
zumindest ab und zu länger als 10 Stunden am Tag arbeitet,<br />
während es im europäischen Durchschnitt weniger als ein<br />
Drittel der Arbeitnehmenden sind. Ausserdem hat der Anteil der<br />
Betroffenen zwischen 2005 und 2010 deutlich zugenommen<br />
(+14%). Eine weitere Studie weist gar für 61% der abhängig Beschäftigten<br />
mit einem Vollzeitpensum überlange Arbeitstage aus.<br />
Im Durchschnitt werden im Monat über 4 Tage mit mehr als 10<br />
Stunden Arbeitszeit geleistet. In der Wissenschaft ist der Zusammenhang<br />
zwischen zeitlicher Belastung durch lange Arbeitstätigkeit<br />
und abnehmender Produktivität, resp. zunehmendem Fehlerund<br />
Unfallrisiko gut dokumentiert. Neben langen Arbeitstagen<br />
sind auch sehr lange Arbeitswege (mehr als 60 Minuten) für mehr<br />
und mehr Arbeitnehmende Realität. Während im Jahr 2000 lediglich<br />
17.8 Prozent der Arbeitnehmenden mehr als 30 Minuten<br />
für den Arbeitsweg benötigten, waren es 2013 bereits 32 %.<br />
Mehr Stress – weniger Zeitautonomie<br />
Dass sich die zeitliche Belastung durch lange Arbeitstage und weite<br />
Arbeitswege erhöht und damit einen Beitrag zu zunehmendem<br />
Stress leistet, scheint unbestritten. Ebenso, dass Stress längst keine<br />
Randerscheinung, sondern ein weit verbreitetes Phänomen ist. So<br />
geht nicht zuletzt die Suva davon aus, dass stressbedingte psychische<br />
und neurologische Erkrankungen bis 2030 für mehr ausge-<br />
22 ZeSo 1/17 SCHWERPUNKT
ARBEIT der zukunft<br />
Grafik 2: Veränderung der Dauer für den Arbeitsweg 2000–2013<br />
> 60 Minuten<br />
31–60 Minuten<br />
0–30 Minuten<br />
0% 20% 40% 60% 80% 100%<br />
2013 2000<br />
Quelle: BfS, Qualität der Beschäftigung. Eigene Darstellung.<br />
fallene Arbeitsstunden verantwortlich sein werden als physische<br />
Erkrankungen. Gemäss einer vom Staatssekretariat für Wirtschaft<br />
(Seco) in Auftrag gegebenen Studie fühlte sich 2010 knapp ein<br />
Drittel der Erwerbstätigen in der Schweiz häufig oder sehr häufig<br />
gestresst. Es ist dies bereits 30 % mehr als in einer vergleichbaren<br />
Studie aus dem Jahr 2000. Und im «Barometer Gute Arbeit», in<br />
welchem Travail.Suisse seit 2015 jährlich die Qualität der Arbeitsbedingungen<br />
auf Basis einer repräsentativen Umfrage misst, gaben<br />
bereits 37.8 % der Arbeitnehmenden an, sich oft oder sehr<br />
häufig durch die Arbeit gestresst zu fühlen und lediglich für 6.9 %<br />
ist dies nie der Fall. Als weitere Haupterkenntnis aus dieser Studie<br />
zeigt sich eine Tendenz zu weniger Zeitautonomie durch die Arbeitnehmenden.<br />
So hat der Anteil der Arbeitnehmenden, welche<br />
keinen oder nur geringen Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitszeiten<br />
haben, signifikant zugenommen und beträgt heute beinahe<br />
50 %.<br />
Die Auswirkungen von sich wandelnden Arbeitszeiten und insbesondere<br />
einer zunehmenden Flexibilisierung derselben werden<br />
in den kommenden Jahren zentral bleiben. Die Frage, ob flexibilisierte<br />
Arbeitszeiten für die Arbeitnehmenden durch einen Verlust<br />
an Autonomie und Planbarkeit und einer Zunahme von Stress eher<br />
ein Fluch oder durch bessere Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von<br />
Beruf, Familie und Privatleben eher ein Segen sind, wird sich erst<br />
in Zukunft definitiv beantworten lassen. <br />
•<br />
Gabriel Fischer<br />
Leiter Wirtschaftspolitik<br />
Travail.Suisse<br />
Flexibilisierte Arbeitszeiten für die Arbeitnehmenden: Fluch oder Segen? Bild: Ivista, Pixelio<br />
Schuldenprävention durch<br />
Direktabzug der Einkommenssteuer<br />
FACHBEITRAG Gut zehn Prozent der Schweizer Haushalte sind im Verzug mit der Bezahlung der<br />
Steuern. Die Steuerverwaltung von Bund oder Kantonen ist bei rund jeder dritten Betreibung die<br />
Gläubigerin. Der Kanton Basel-Stadt will jetzt den automatisierten freiwilligen Direktabzug einführen.<br />
Wer ein enges Haushaltsbudget hat, dem<br />
bleibt am Ende häufig nichts oder zu wenig<br />
auf dem Konto, um die Steuerrechnung zu<br />
bezahlen. Aber auch viele Personen, die gut<br />
verdienen und keine Geldsorgen haben,<br />
zahlen ihre Steuern nicht gerne im Nachhinein.<br />
In einer im Juli 2016 publizierten<br />
Umfrage von Tages-Anzeiger online gaben<br />
75 Prozent der Befragten an, sie würden einem<br />
Direktabzug der Steuern vom Lohn<br />
zustimmen. Denn oft vergehen bis zu zwei<br />
Jahre zwischen Verdienst und dem Bezahlen<br />
der Steuern. Wer inzwischen den Job<br />
verliert und dann keinen oder nur einen<br />
schlechter bezahlten findet, gerät häufig<br />
bei der Bezahlung der Steuerschuld in<br />
Schwierigkeiten. Das kann auch Gutverdienende<br />
betreffen. Wenn sich deren Einkommenssituation<br />
ändert, rutschen auch sie zuweilen<br />
in die Schuldenfalle. Daraus lässt<br />
sich schliessen, dass das heutige Inkassosystem<br />
der Steuern für breite Bevölkerungsgruppen<br />
nicht wirklich funktioniert. Die<br />
Steuerrechnungen können in Höhe und<br />
Termin von vielen Haushalten schlecht antizipiert<br />
werden und eine Nichtbezahlung<br />
führt nicht zu einem Leistungsverlust.<br />
Auch die SKOS ist daher überzeugt, dass eine<br />
Systemanpassung dringend nötig wäre.<br />
Der Direktabzug der Einkommenssteuer ist<br />
eine effektive Möglichkeit, um das Risiko<br />
von Verschuldung zu senken.<br />
Kanton Basel-Stadt als Vorreiter<br />
Der Kanton Basel-Stadt bietet bereits heute<br />
seinen Staatsangestellten die Möglichkeit<br />
des freiwilligen Direktabzugs. Gemäss Vorschlag<br />
der Regierung sollen jetzt auch alle<br />
anderen Angestellten diese Möglichkeit erhalten.<br />
In Basel soll der Arbeitgeber in Zukunft<br />
die Einkommenssteuer direkt jeden<br />
Die Frist zur Bezahlung der Steuern<br />
verstreicht oft ungenutzt.<br />
Bild: Keystone<br />
Monat vom Lohn abziehen. Der Abzug<br />
wird anschliessend vom Arbeitgeber an die<br />
Steuerbehörden überwiesen. Der überwiesene<br />
Betrag gilt als Vorauszahlung an die<br />
Steuern und wird entsprechend verzinst.<br />
Für Arbeitgeber ist dieses Direktabzugsverfahren<br />
verpflichtend. Für Arbeitnehmer<br />
hingegen nicht. Sie können wählen, ob sie<br />
davon Gebrauch machen möchten oder<br />
nicht. Vorgesehen ist hier ein sogenanntes<br />
Opt-out-Verfahren – entscheidet sich der<br />
Arbeitnehmer nicht aktiv gegen den Direktabzug,<br />
kommt dieser zur Anwendung.<br />
Diese Teilrevision des Steuergesetzes<br />
führt zu einigen grundlegenden Änderungen<br />
in der Logik, wie im Kanton Basel-<br />
Stadt Steuern bezahlt werden. Arbeitnehmer<br />
müssten neu nicht mehr selbst über<br />
24 ZeSo 1/17
das Jahr einen entsprechenden Betrag zurücklegen,<br />
um die Steuerrechnung bezahlen<br />
zu können. Das Direktabzugsverfahren<br />
regelt das für sie. Die Vermögenssteuern<br />
werden wie bis anhin in Rechnung gestellt.<br />
Ebenso die Steuern der anderen beiden<br />
Staatsebenen Bund und Gemeinden.<br />
Aktuell ist auch in Zürich ein entsprechender<br />
Vorstoss hängig. Die Kantone Bern<br />
und Luzern haben Vorstösse für einen freiwilligen<br />
Steuerabzug abgelehnt. Klar ist,<br />
dass die Breitenwirkung der Massnahme<br />
fehlt, wenn sie nur auf kantonaler Ebene<br />
umgesetzt ist und die anderen beiden Ebenen<br />
nicht erfasst. Die Einführung des Vorhabens<br />
auf kantonaler Ebene könnte dem<br />
nationalen Projekt aber Vorschub geben.<br />
Eine Einführung des Direktabzugs auf nationaler<br />
Ebene würde eine effizientere und<br />
hinsichtlich des Ziels effektivere Umsetzung<br />
ermöglichen.<br />
Gutachten bestätigt Wirksamkeit<br />
Die hohe Verschuldungsquote der Schweizer<br />
Haushalte lässt in jedem Fall aufhorchen.<br />
Der Direktabzug der Steuern durch<br />
die Arbeitgeber wäre eine effiziente Gegenmassnahme.<br />
Ein Gutachten von FehrAdvice<br />
& Partners, («Der freiwillige Direktabzug<br />
der Einkommenssteuer im Kanton<br />
Basel-Stadt – ein verhaltensökonomisches<br />
Gutachten»), beurteilt die Wirksamkeit einer<br />
solchen Intervention positiv. Es kommt<br />
zu dem Schluss, dass mit dieser Massnahme<br />
Steuerschulden und private Verschuldung<br />
reduziert werden können. Dieser positive<br />
Effekt des Direktabzugs läuft<br />
allerdings Gefahr, dadurch limitiert zu<br />
werden, dass sich gerade Risikogruppen<br />
eher weniger gern für den Direktabzug entscheiden,<br />
wenn sie die Wahl haben. Grundvoraussetzung<br />
für eine hohe Wirksamkeit<br />
ist deshalb laut FehrAdvice das Opt-out-<br />
System, das den ausdrücklichen Verzicht<br />
auf den direkten Steuerabzug verlangt. •<br />
Podiumsveranstaltung<br />
3. Mai <strong>2017</strong>, 19.15 Uhr<br />
Papiermühle, St. Alban-Tal 37, 4052 Basel<br />
Automatisierter freiwilliger Direktabzug<br />
der Steuern vom Lohn<br />
Eva Herzog<br />
Finanzdirektorin<br />
Kanton Basel-Stadt<br />
Samuel T. Holzach UBS Regionaldirektor<br />
Basel<br />
Ruedi Rechsteiner SP-Grossrat<br />
und Motionär<br />
Unter der Gesprächsleitung von Joe Schelbert,<br />
Journalist SRF.<br />
Anschliessend: Apéro<br />
Ingrid Hess<br />
Weitere Informationen<br />
www.skos.ch /grundlagen-und-positionen<br />
www.schulden.ch/steuerschulden<br />
www.fehradvice.com/direktabzug<br />
1/17 ZeSo<br />
25
Föderalismus: Auslauf- oder<br />
Zukunftsmodell für die Sozialhilfe?<br />
FACHBEITRAG Das Institut für Föderalismus der Universität Freiburg lancierte im vergangenen Herbst<br />
eine Vortrags- und Diskussionsreihe zu aktuellen Fragen rund um den Föderalismus. Auch Fragen<br />
zur Organisation der Sozialhilfe waren Thema in der Expertenrunde.<br />
Behindern die kantonalen und kommunalen<br />
Zuständigkeiten und die unterschiedlichen<br />
Leistungen eine wirksame und<br />
nachhaltige Armutsbekämpfung in der<br />
Schweiz? Was gilt, wenn einzelne Gemeinden<br />
für sehr viel mehr bedürftige Personen<br />
aufzukommen haben als andere oder wenn<br />
sie Arme in andere Gemeinden abzuschieben<br />
versuchen? Sollte der Bund ein Rahmengesetz<br />
zur Sozialhilfe erlassen? Diese<br />
und weitere Fragen diskutierten im vergangenen<br />
November Experten anlässlich des<br />
4. Moduls zum Föderalismus in Freiburg.<br />
Im Gefüge der sozialen Sicherheit<br />
Die Unterstützung Bedürftiger liegt grundsätzlich<br />
in der Kompetenz der Kantone.<br />
Die Sozialhilfe ist folglich in 26 kantonalen<br />
Sacherlassen, die sehr heterogen ausgestaltet<br />
und kaum durch Judikatur oder<br />
Leitfäden erschlossen sind, geregelt. Auf<br />
Bundesebene existieren zudem spezifische<br />
Regelungen für Auslandschweizerinnen<br />
und Auslandschweizer sowie Asylsuchende.<br />
Für die Ausgestaltung der kantonalen<br />
Sozialhilfeleistungen existieren kaum Vorgaben<br />
aus übergeordnetem Recht. Art. 9<br />
und 11 UNO Pakt I8 sähe zwar ein Recht<br />
auf soziale Sicherheit vor, das sei aber nach<br />
herrschender Lehre und Rechtsprechung<br />
nicht justiziabel, sagte Thomas Gächter,<br />
Rechtsprofessor an der Universität Zürich.<br />
Art. 12 BV9, welcher das Recht auf Hilfe in<br />
Notlagen statuiert, garantiere ausserdem<br />
nur die Sicherung des zum menschenwürdigen<br />
Überleben Notwendige. Die Sozialhilfe<br />
solle im Gegensatz dazu ein soziales<br />
Existenzminimum gewähren, wobei die<br />
Leistungen im interkantonalen und interkommunalen<br />
Vergleich aufgrund des<br />
grossen Ermessensspielraums teilweise<br />
weit auseinandergehen würden. Gemäss<br />
Gächter bestehen aber nicht nur grosse<br />
Unterschiede bei den finanziellen Leistungen,<br />
sondern auch ein zunehmendes «race<br />
to the bottom» im Umgang mit den anspruchsberechtigten<br />
Personen. Diese teilweise<br />
zu beobachtende «Garstigkeit» der<br />
Behörden sei insbesondere dort anzutreffen,<br />
wo Gemeinden für die Sozialhilfekosten<br />
aufzukommen hätten.<br />
Aufgrund der Zuwanderung und infolge<br />
der Sanierung der Sozialwerke durch<br />
den Bund, die auch eine restriktivere Gewährung<br />
von IV-Renten mit sich brachte,<br />
steige der Kostendruck in der Sozialhilfe<br />
stetig an. Vor diesem Hintergrund plädiert<br />
Gächter für eine finanzielle Entlastung der<br />
Gemeinden, eine Professionalisierung der<br />
Sozialämter sowie eine Vereinheitlichung<br />
des Verfahrens.<br />
Zum Missbrauch der Sozialhilfe stellte<br />
Gächter klar, dass nur wenige eigentliche<br />
Betrugsfälle dokumentiert seien. Die<br />
Wahrnehmung von Missbrauch sei unterschiedlich,<br />
so dass bereits eine verhaltene<br />
Mitwirkung des Sozialhilfebezügers den<br />
Verdacht auf Missbrauch schüren könne.<br />
Die Missbrauchsdiskussion in der Sozi-<br />
«Für die Ausgestaltung<br />
der Sozialhilfe<br />
existieren<br />
kaum Vorgaben aus<br />
übergeordnetem<br />
Recht.»<br />
alhilfe werde sich vermutungsgemäss –<br />
gleich wie zuvor bei Arbeitslosen – mit der<br />
zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz<br />
legen.<br />
Mindeststandards für Sozialdienste<br />
Zu den Rahmenbedingungen für eine optimale<br />
Aufgabenerfüllung durch die Sozialämter<br />
hält die Direktorin der Sozialen<br />
Dienste der Stadt Zürich Mirjam Schlup<br />
fest, dass mit der Vorgabe von einheitlichen<br />
Eckwerten – im Gegensatz zu einer<br />
zentralisierten Regelung – weiterhin lokale<br />
und regionale Projekte realisierbar wären.<br />
Durch gesetzliche Mindestanforderungen<br />
an Sozialdienste wie beispielsweise vorgegebene<br />
Einzugsgebietsgrössen oder die<br />
Pflicht, ausgebildete Fachleute statt Laien<br />
einzustellen, könnte ein entsprechendes<br />
Rahmengesetz bereits die notwendige Professionalisierung<br />
in der Umsetzung der Sozialhilfe<br />
herbeiführen.<br />
Fragen der Verbindlichkeit<br />
Für die Harmonisierung spricht laut Felix<br />
Wolffers, SKOS-Co-Präsident und Leiter<br />
des Sozialamtes der Stadt Bern, dass die<br />
Sozialhilfekosten nur 1,6 Prozent der Ausgaben<br />
für alle Sozialleistungen ausmachen<br />
würden. Gerade angesichts dieses relativ<br />
geringen finanziellen Betrages sei die Aufrechterhaltung<br />
von 26 unterschiedlichen<br />
kantonalen Regelungen ein viel zu hoher<br />
Aufwand. Daher befürwortet die SKOS eine<br />
bundesrechtliche Mindestregelung, von<br />
der die Kantone – analog zu den Familienzulagen<br />
oder Ergänzungsleistungen –<br />
nach oben abweichen könnten. Damit<br />
wäre zumindest eine Grundsicherung garantiert,<br />
zumal künftige plötzliche Anstiege<br />
von Flüchtlingszahlen die Diskussion<br />
um Leistungskürzungen in der Sozialhilfe<br />
und die Dynamik des negativen Wettbewerbs<br />
unter den Kantonen noch verschärfen<br />
würden.<br />
26 ZeSo 1/17
Die Aufrechterhaltung von 26 unterschiedlichen kantonalen Sozialhilfe-Regelungen ist ein grosser Aufwand.<br />
<br />
Bild: Keystone<br />
Wolffers führte weiter aus, dass der<br />
Bundesrat in einem Bericht die fehlende<br />
Verbindlichkeit der SKOS-Richtlinien als<br />
nicht mehr zeitgemäss erachtet. Dennoch<br />
sei der Bund nicht aktiv geworden, sondern<br />
habe die Konferenz der kantonalen<br />
Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren<br />
(SODK) zum Handeln aufgefordert. Mit<br />
dem Ziel, die politische Legitimation der<br />
SKOS-Richtlinien zu stärken, werden die<br />
Richtlinien seit 2015 von der SODK verabschiedet.<br />
Eine rechtlich verbindliche<br />
Regelung zur Existenzsicherung wäre der<br />
aktuellen Lage allerdings vorzuziehen,<br />
so wie sie beispielsweise auch für Ergänzungsleistungen<br />
oder landwirtschaftliche<br />
Subventionen gelte. Dies insbesondere<br />
angesichts der Tatsache, dass in einer liberalen<br />
Wirtschaft der Arbeitsmarkt nur<br />
für kompetitive und ausgebildete Menschen<br />
eine Beschäftigungsmöglichkeit<br />
bereithalte. Für unqualifizierte Arbeitnehmende<br />
blieben – wenn überhaupt – nur<br />
unsichere, schlecht bezahlte Stellen. Die<br />
sogenannte Sockelarbeitslosigkeit werde<br />
daher bestehen bleiben. Das Phänomen<br />
der Langzeitarbeitslosigkeit – und damit<br />
auch der Sozialhilfeabhängigkeit – sei eine<br />
Realität und müsse gesellschaftlich akzeptiert<br />
werden.<br />
Analog zum Benchmarking in der Arbeitslosenverischerung<br />
wäre auch in der<br />
Sozialhilfe eine dezentrale Steuerung mit<br />
einer zentralen Finanzierung denkbar.<br />
Derzeit seien nur grosse Städte finanziell<br />
in der Lage, innovative Projekte durchzuführen.<br />
Bundessubventionen für Innovationen<br />
würden für Projekte in der Sozialhilfe<br />
nicht erteilt. Der Entwicklung, die die Sozialhilfe<br />
in den letzten Jahren durchlaufen<br />
hat, muss mit neuen Ideen entgegengetreten<br />
werden. Insbesondere die Tatsache,<br />
dass die Sozialhilfe heutzutage in vielen<br />
Fällen nicht mehr eine Überbrückungshilfe<br />
darstellt, sondern eine länger anhaltende<br />
Unterstützung, stellt eine grosse Herausforderung<br />
dar. Im Zentrum der aktuellen<br />
Diskussion stünden die Finanzierung und<br />
damit verbunden die Tendenz zu einem<br />
negativen Wettbewerb um Betroffene, der<br />
in einigen Regionen der Schweiz zugenommen<br />
habe.<br />
Die Expertenrunde war sich einig darüber,<br />
dass die Sozialhilfe und die entsprechenden<br />
Akteure die anstehenden<br />
Probleme nicht isoliert lösen können.<br />
Vielmehr muss die Sozialhilfe als Teil des<br />
Gefüges rund um die veränderten Bedürfnisse<br />
des Arbeitsmarktes, die Sozialversicherungen,<br />
die ausländerrechtlichen Vorgaben<br />
und Integrationsmöglichkeiten, die<br />
ausserfamiliäre Betreuungssituation etc.<br />
betrachtet werden.<br />
•<br />
Thea Bächler<br />
Angelika Spiess<br />
Institut für Föderalismus der<br />
Universität Freiburg<br />
1/17 ZeSo<br />
27
Forjad: Programm für junge<br />
Erwachsene in Schwierigkeiten<br />
FACHBEITRAG Die Waadtländer<br />
Kantonsregierung hat<br />
2006 das Programm<br />
Forjad für jugendliche<br />
Sozialhilfeempfänger<br />
lanciert. Denn man hatte eine<br />
besorgniserregende Zahl junger<br />
Menschen registriert, die sich<br />
nicht auf dem Arbeitsmarkt<br />
zu halten vermochten. <strong>2017</strong><br />
wurden die Massnahmen, um<br />
jungen Sozialhilfebeziehenden<br />
die Berufsausbildung zu<br />
ermöglichen, erneut verstärkt.<br />
Die Verschlechterung der Situation junger<br />
Erwachsener zwischen 18 und 25 Jahren,<br />
die sich in wachsender Zahl bei der Sozialhilfe<br />
meldeten, schreckte vor einigen Jahren<br />
die zuständigen Waadtländer Behörden<br />
auf. Sie stellten als Ursachen für diese<br />
Entwicklung eine Reihe von unterschiedlichen<br />
Faktoren fest. Zu den strukturellen<br />
Ursachen zählen der Arbeitsmarkt, der immer<br />
strengere Selektionskriterien anwendet,<br />
sowie eine limitierte Zahl Lehrstellen.<br />
Auch wenn diese wächst, kann sie mit der<br />
demografischen Entwicklung nicht mithalten.<br />
Zu den individuellen Ursachen<br />
zählt eine für die meisten dieser jungen Erwachsenen<br />
charakteristische Vielzahl an<br />
beruflichen, schulischen, gesundheitlichen<br />
und sozialen Problemen als Folge eines<br />
meist chaotischen Lebenslaufs mit<br />
zahlreichen Brüchen.<br />
Forjad unterstützt junge Erwachsene auf dem Weg in den Arbeitsmarkt.<br />
Bild: Ville de Lausanne H. Siegenthaler<br />
ursache für Arbeitslosigkeit führt häufig irgenwann<br />
zu Sozialhilfeabhängigkeit der<br />
Jugendlichen. Bildung hingegen erhöht<br />
die Chancen auf dem Stellenmarkt und sichert<br />
damit die nachhaltige wirtschaftliche<br />
Unabhängigkeit erheblich, auch wenn sie<br />
Arbeitslosigkeit nicht in jedem Fall verhindern<br />
kann.<br />
2005 beschlossen drei der insgesamt<br />
sieben Waadtländer Departemente, ihre<br />
Zusammenarbeit vor dem Hintergrund<br />
der wachsenden Zahl jugendlicher Sozialhilfeempfänger<br />
zu intensivieren: Das<br />
Gesundheits- und Sozialdepartement,<br />
das Bildungsdepartement sowie das Wirtschaftsdepartement.<br />
Der Austausch mündete<br />
schliesslich in einer gemeinsamen<br />
Politik zur Verbesserung der Situation von<br />
Fehlende berufliche Ausbildung<br />
Die fehlende Berufsausbildung ist einer<br />
der wesentlichen Faktoren für die Zunahme<br />
der sozialhilfeempfangenden jungen<br />
Erwachsenen zwischen 18 und 25 Jahren<br />
(70 Prozent der jungen Sozialhilfebeziehenden<br />
haben keine Berufsausbildung).<br />
Die fehlende Berufsausbildung als Hauptjungen<br />
Erwachsenen mit erhöhtem Risiko,<br />
den Anschluss an die Gesellschaft und<br />
Arbeitswelt zu verlieren. Das gemeinsame<br />
Handeln unterschiedlicher politischer<br />
Kräfte aus dem linken wie aus dem rechten<br />
Spektrum ermöglichte die Annahme der<br />
nötigen Finanzierungsbeschlüsse durch<br />
das Parlament.<br />
Ein Jahr später wurde eine Koordinationsgruppe<br />
für das Projekt Forjad ins<br />
Leben gerufen. Die Gruppe, bestehend<br />
aus Vertreterinnen und Vertretern der drei<br />
betroffenen Departemente, Arbeitgebern<br />
und Verbänden, spielte eine wichtige Rolle<br />
bei der Vorbereitung des Projekts sowie<br />
dessen politischer Akzeptanz. Sie trug auch<br />
entscheidend zur erfolgreichen Lancierung<br />
von Forjad (formation professionelle<br />
28 ZeSo 1/17
des jeunes adultes en difficulté) bei, als<br />
innert Kürze über 60 Lehr- und Berufsbildungsplätze<br />
benötigt wurden.<br />
Zu Beginn waren die Beträge für Stipendien<br />
im Kanton Waadt deutlich tiefer<br />
als die Sozialhilfesätze (ersteres Fr. 120.-<br />
zweiteres Fr. 1600.- pro Monat). Diese Differenz<br />
demotivierte viele Junge, eine Ausbildung<br />
anzufangen, vor allem diejenigen,<br />
die von ihrer Familie keine Unterstützung<br />
erhielten. Das Pilotprojekt sah deshalb vor,<br />
dass die Sozialämter vorläufig auch jungen<br />
Erwachsenen während der Ausbildung<br />
Sozialhilfebeiträge bezahlen. Die ersten<br />
ermutigenden Resultate des Programms<br />
veranlassten die Waadtländer Regierung<br />
schliesslich, eine Gesetzesänderung vorzubereiten,<br />
mit der Stipendien- und Sozialhilferecht<br />
harmonisiert werden. Dies mit<br />
dem Ziel, negative Schwelleneffekte beim<br />
Eintritt in eine Ausbildung zu vermeiden.<br />
Die Gesetzesänderung wurde 2009 verabschiedet<br />
und ermöglicht seither allen jungen<br />
Waadtländern vorteilhaftere Bedingungen<br />
beim Eintritt oder Wiedereinstieg<br />
in die Lehre oder Ausbildung.<br />
Die Platzierung in einem Lehrbetrieb<br />
ermöglicht es den Betroffenen, mit potenziellen<br />
Arbeitgebern, die möglicherweise<br />
Ausbildungsplätze bieten, direkte<br />
Kontakte aufzubauen. Mit dem Ziel, Praktikumsplätze<br />
oder Lehrstellen für diese<br />
jungen Erwachsenen zu finden, hat das<br />
Gesundheits- und Sozialhilfedepartement<br />
des Kantons Waadt (DSAS) zahlreiche Interventionen<br />
bei Vertretern des Privatsektors<br />
und des halbstaatlichen Sektors sowie<br />
der Gemeinden unternommen. Manche<br />
medizinische Pflegedienste im Kanton<br />
Waadt entschlossen sich, mitzumachen<br />
und Praktikumsplätze und Lehrstellen für<br />
verschiedene Berufe zur Verfügung zu stellen.<br />
Um diese äusserst wertvolle Unterstützung<br />
zu fördern, beschloss das DSAS, bis<br />
zu 20 Prozent der Anstellungskosten zu<br />
übernehmen.<br />
Programm mit hoher Erfolgsquote<br />
Im Prinzip wird jedem jungen Sozialhilfebewerber<br />
vorgeschlagen, an Vorbereitungsmassnahmen<br />
für die Berufsausbildung<br />
teilzunehmen. Vom DSAS<br />
mandatierte Organisationen bieten Kurse<br />
verteilt über das <strong>ganz</strong>e Kantonsgebiet an.<br />
Die Massnahmen haben drei Hauptpfeiler:<br />
die Konkretisierung eines Berufsprojekts,<br />
die schulische Vorbereitung; und die psychosoziale<br />
Begleitung der Jungen. Sobald<br />
das Berufsprojekt validiert und mittels<br />
Praktika im Unternehmen getestet ist, haben<br />
die Massnahmen zum Ziel, den jungen<br />
Erwachsenen im selben Unternehmen eine<br />
Lehrstelle zu ermöglichen. Augenblicklich<br />
kann der Kanton Waadt rund 600 Vorbereitungssplätze<br />
für die Berufsausbildung<br />
anbieten mit jährlichen Folgekosten von<br />
Fr. 13,5 Mio.<br />
Sobald der Lehrvertrag unterzeichnet<br />
ist, wird der Lernende von einem spezialisierten<br />
Coach begleitet. Damit möglichst<br />
viele der jungen Erwachsenen den Einstieg<br />
ins Berufsleben schaffen, stellt die DSAS<br />
als zentrales Element ihres Konzepts eine<br />
spezielle Begleitung während der gesamten<br />
Dauer der Ausbildung zur Verfügung.<br />
Dies mit dem Ziel Lehrabbrüche zu vermeiden.<br />
Die Begleitung sichert Unterstützung<br />
für die schulischen, beruflichen,<br />
sozialadministrativen und persönlichen<br />
Aspekte.<br />
Anstellung am Ende der Lehre<br />
Hat der Lernende seinen Lehrabschluss<br />
schliesslich in der Tasche, kann die Begleitung<br />
noch weitere drei Monate bei der Integration<br />
in eine neue Firma oder bei der<br />
Stellensuche behilflich sein. Die DSAS arbeitet<br />
im Übrigen mit einem Team zusammen,<br />
das darauf spezialisiert ist, den jungen<br />
Erwachsenen bei der Stellensuche<br />
Unterstützung zu liefern. Alle diplomierten<br />
Lehrabgänger, die dann noch auf Stellensuche<br />
sind, werden bei der Regionalen<br />
Arbeitsvermittlung angemeldet.<br />
2967 junge Erwachsene haben das<br />
Programm seit 2006 durchlaufen. 1018<br />
schlossen die Ausbildung mit Erfolg ab.<br />
893 befanden sich noch in Ausbildung.<br />
Die Erfolgsquote des Programms beträgt<br />
also 65 Prozent (inklusive denjenigen, die<br />
die Ausbildung noch nicht abgeschlossen<br />
84 Prozent der<br />
Teilnehmer des<br />
Programms Forjad<br />
beziehen keine<br />
Sozialhilfe mehr.<br />
haben). Eine 2016 durchgeführte Studie<br />
zeigte, dass 84 Prozent der Teilnehmer des<br />
Programms Forjad keine Sozialhilfe mehr<br />
beziehen.<br />
Ein Programm für Erwachsene<br />
Nachdem sich rasch zeigte, dass das Programm<br />
erfolgreich ist, beschloss die<br />
Waadtländer Regierung 2013, es auf die<br />
26- bis 40-jährigen Erwachsenen ohne Berufsabschluss<br />
zu erweitern (Formad). Mehr<br />
als 300 Erwachsene haben seither ebenfalls<br />
eine Berufsausbildung begonnen.<br />
Verstärkung im Jahr <strong>2017</strong><br />
Der Waadtländer Staatsrat beschloss zudem<br />
eine weitere Modalität in das Berufsbildungsprogramm<br />
für junge Sozialhilfeempfänger<br />
aufzunehmen. Die<br />
Anstrengungen, jungen Sozialhilfeempfängern<br />
die Berufsausbildung zu ermöglichen,<br />
werden seit Anfang des Jahres noch<br />
verstärkt. Den jungen Erwachsenen wird<br />
gleich am Anfang vorgeschlagen, die Vorbereitungen<br />
für den Beginn einer Berufsausbildung<br />
sofort in Angriff zu nehmen.<br />
Diese Phase wird des Weiteren dafür genützt,<br />
um den jungen Erwachsenen dabei<br />
behilflich zu sein, ein Gesuch um ein Stipendium<br />
einzureichen und damit den<br />
Weg zum Sozialamt zu vermeiden. Die<br />
Massnahmen berücksichtigen inzwischen<br />
auch die im neuen Gesetz über die Unterstützung<br />
von Studien und Berufsbildung<br />
festgehaltenen Kriterien, damit die Betroffenen<br />
den Anforderungen für die Gewährung<br />
von Stipendien genügen.<br />
Die Sozialhilfeabhängigkeit zahlreicher<br />
junger Erwachsener ist eine Realität.<br />
Aber es existieren Lösungen. Dies vorallem<br />
dann, wenn es gelingt, einen starken<br />
politischen Willen, einen ausreichenden<br />
finanziellen Rahmen und Begleitung für<br />
die Jungen sowie die Unterstützung wirtschaftlicher<br />
Kreise zu vereinen.<br />
Das Programm Forjad erlaubt, die Augen<br />
vor dieser neuen sozialen Realität nicht<br />
zu verschliessen und ihr mit einem für die<br />
Allgemeinheit vertretbaren finanziellen<br />
Aufwand etwas entgegenzusetzen. Die<br />
Zahl der jungen Erwachsenen, die es im<br />
Rahmen des Programms geschafft haben,<br />
sich eine von der Sozialhilfe unabhängige<br />
Existenz aufzubauen, ermöglicht es, diese<br />
Kosten als Investition zu betrachten. •<br />
Antonello Spagnolo<br />
Sektionschef im DSAS<br />
1/17 ZeSo<br />
29
Ausbilden statt entlassen<br />
REPORTAGE Der Solothurner Werkzeuge-Hersteller Fraisa schickt ungelernte Mitarbeitende in die<br />
berufliche Nachholbildung. Das nützt nicht nur den Angestellten, sondern auch dem Unternehmen.<br />
Am 15. September 2008 ging die Investmentbank<br />
Lehmann Brothers in New York<br />
Konkurs. Die Pleite des Finanzinstituts bildete<br />
den Höhepunkt einer weltweiten Wirtschafts-<br />
und Finanzkrise. Die Folgen waren<br />
bis in die Industriezone von Bellach im<br />
Kanton Solothurn zu spüren. Dort steht der<br />
Hauptsitz der international tätigen Fraisa-<br />
Gruppe, die Werkzeuge zur Metallbearbeitung<br />
herstellt. Der Umsatz brach innert<br />
kurzer Zeit dramatisch ein, und im Herbst<br />
2009 sah sich das 1934 gegründete Familienunternehmen<br />
gezwungen, zwei seiner<br />
Werke in der Schweiz zu schliessen. Weit<br />
über 100 Mitarbeitende verloren ihre Stelle.<br />
Heute beschäftigt das Unternehmen<br />
noch 536 Mitarbeitende. Die Entlassungen<br />
wurden mit einem fairen Sozialplan abgefedert,<br />
jetzt geht es der Fraisa wieder gut.<br />
«Es war ein Schock für uns alle», erinnert<br />
sich der Konzernchef und Verwaltungsratspräsident<br />
Josef Maushart.<br />
Bis zur Krise habe gegolten: Eine Stelle<br />
bei der Fraisa ist eine Stelle fürs Leben,<br />
sagt der 52-Jährige. Doch dann musste<br />
massiv restrukturiert werden, und die Philosophie<br />
veränderte sich laut Maushart<br />
grundlegend: «Das alte Denken, wonach<br />
der Patron für seine Angestellten sorgt,<br />
konnte nach den Entlassungen nicht mehr<br />
wiederbelebt werden.» Die Fraisa setzt seither<br />
auf Qualifizierung. «Wir wollen unsere<br />
Mitarbeitenden befähigen, sich am Arbeitsmarkt<br />
positionieren zu können – im<br />
Notfall auch unabhängig von der Fraisa»,<br />
sagt der Chef.<br />
Den Abschluss nachholen<br />
Ein wichtiges Mittel ist die Nachholbildung,<br />
eine verkürzte Erwachsenenlehre.<br />
Personen mit reichlich Erfahrung, aber ohne<br />
Berufsabschluss, können diesen nachholen.<br />
2012 begannen zwölf ungelernte<br />
Fraisa-Mitarbeitende – viele von ihnen mit<br />
Migrationshintergrund – eine Nachholbildung.<br />
Während zwei Jahren bildeten sie<br />
sich berufsbegleitend zum Produktionsmechaniker<br />
oder Logistiker aus. Zur Bildungsoffensive<br />
kam es bei der Fraisa nicht allein<br />
aus sozialer Verantwortung. Das Unternehmen<br />
verfolgt damit auch betriebliche Interessen.<br />
Um im hart umkämpften Industriemarkt<br />
– erst recht unter dem Druck des<br />
2015 erstarkten Frankens – konkurrenzfähig<br />
zu bleiben, rationalisiert und automatisiert<br />
die Fraisa immer mehr Abläufe. Sie reduziert<br />
so die Produktionskosten. Es<br />
braucht weniger Personal, um die Fräs-,<br />
Bohr- und Gewindewerkzeuge zu fertigen.<br />
Doch das verbleibende Personal muss qualifiziert<br />
sein.<br />
«Wir setzen hochmoderne, sehr produktive<br />
Systeme ein», erklärt Maushart.<br />
Früher wurde in der Fraisa im Zwei- und<br />
Dreischichtbetrieb gearbeitet, die Arbeiter<br />
überwachten die Produktion rund um<br />
die Uhr. Stellten sie einen Massfehler fest,<br />
justierten sie sofort nach. Heute können<br />
computergesteuerte Maschinen bis zu<br />
fünfzig Stunden selbständig funktionieren<br />
– auf den Tausendstelmillimeter genau.<br />
Bedienung und Wartung sind komplexer<br />
geworden. Auch die Verantwortung der<br />
Mitarbeitenden ist gestiegen, Fehler gehen<br />
stärker ins Geld. «Das alles erfordert eine<br />
höhere Qualifikation als vorher im alten<br />
System», sagt Maushart. Deshalb dient<br />
die Nachholbildung nicht nur den Ungelernten,<br />
sondern auch dem Unternehmen.<br />
Der Lohn liegt jetzt im Tagbetrieb bei 97<br />
Prozent des alten Schichtlohnes, obwohl<br />
die Zulage von bis zu 1200 Franken im<br />
Monat wegfiel. Die Geschäftsleitung wollte<br />
vermeiden, dass die Nachholbildung an<br />
finanziellen Überlegungen scheiterte. Zudem<br />
wurde ein Teil des Produktivitätsgewinns<br />
bei den Löhnen weitergegeben.<br />
Vorausschauende Personalplanung<br />
Michel Morand war einer der ersten Fraisa-<br />
Arbeiter, die eine Nachholbildung absolvierten.<br />
Obwohl erst 35, arbeitet er schon<br />
seit fast zwanzig Jahren beim Unternehmen.<br />
Morand war lediglich angelernt.<br />
Dann drückte er zwei Jahre lang in seiner<br />
Freizeit die Schulbank. Er besuchte eine<br />
spezielle Berufsschulklasse für Erwachsene,<br />
die auf seine Schichteinsätze Rücksicht<br />
nahm. Seit 2014 hat er das Eidgenössische<br />
Fähigkeitszeugnis (EFZ) als Produkti-<br />
Konzernchef Josef Maushart (oben<br />
li.) ermöglicht es jüngeren und älteren<br />
Angestellten, versäumte Berufsabschlüsse<br />
nachzuholen. Das nützt auch dem 35-jährigen<br />
Michel Morand (oben re.). Die Fraisa in Bellach<br />
– ein Betrieb mit sozialem Engagement.<br />
Bilder: Palma Fiacco<br />
30 ZeSo 1/17
Armutsrisiko<br />
bei Ungelernten<br />
Rund 30 Prozent der 18- bis 65-Jährigen in der<br />
Schweiz haben keinen Beruf erlernt. Sie haben<br />
ein erhöhtes Armutsrisiko und machen über die<br />
Hälfte der Sozialhilfeabhängigen aus. Das zeigte<br />
der Bundesrat 2010 auf. Ausbildung hilft, Armut<br />
langfristig zu vermeiden. Die Nachholbildung<br />
ist einer von mehreren Wegen, wie Erwachsene<br />
einen anerkannten Berufsabschluss erwerben<br />
können – sei es ein Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis<br />
oder ein Eidgenössisches Berufsattest.<br />
Im Bildungsraum Nordwestschweiz ist das in 16<br />
Berufen möglich, von der Produktionsmechanikerin<br />
bis zum Fachmann Gesundheit. Der Kanton<br />
Solothurn ist schweizweit ein Vorreiter. Dort<br />
stehen derzeit 300 Erwachsene in einer Nachholbildung,<br />
weiss Fraisa-Chef Josef Maushart. Er<br />
präsidiert den Industrieverband Solothurn und<br />
Umgebung, der das Modell fördert. (swe)<br />
onsmechaniker. «Es war streng», sagt Morand<br />
in den Maschinenlärm hinein, doch<br />
er habe die Chance packen wollen. Der Familienvater<br />
erhofft sich nun eine bessere<br />
Ausgangslage, sollte er selbst einmal von<br />
einem Stellenabbau betroffen sein. Von<br />
sich aus gehen will er nicht: «Mir gefällt es<br />
in der Fraisa.»<br />
Wie Morand blieben bisher alle Mitarbeitenden<br />
mit Nachholbildung der Fraisa<br />
treu. Diese konnte den Anteil der Ungelernten<br />
auf 15 Prozent reduzieren. Die<br />
Zahl soll weiter sinken. Derzeit stecken<br />
wieder ein Dutzend Fraisa-Leute in der<br />
Nachholbildung, unter anderem auch zur<br />
Anlageführerin EFZ. Um die Motivation zu<br />
erhöhen, stellt ihnen der Arbeitgeber neu<br />
Arbeitszeit fürs Lernen zur Verfügung. Eine<br />
Altersguillotine gibt es nicht. Der älteste<br />
Mitarbeiter schloss die Nachholbildung<br />
mit 58 ab. Unter den erwachsenen Azubis<br />
befinden sich Mitarbeiterinnen der Verpackungsabteilung,<br />
die bald von Handarbeit<br />
auf Automatisierung umgestellt wird. Auch<br />
Logistik-Angestellte absolvieren die Nachholbildung,<br />
denn ihren Bereich lagert die<br />
Fraisa Anfang 2018 nach Deutschland<br />
aus. Stellen gehen zwar verloren, doch voraussichtlich<br />
können alle Betroffenen dank<br />
Nachholbildung intern umplatziert werden.<br />
Maushart selbst, ursprünglich Ingenieur<br />
und Firmenchef seit 1995, ist seit 2005<br />
auch Mehrheitsbesitzer der Fraisa. Technologischen<br />
Wandel und soziale Verantwortung<br />
gelte es zu versöhnen, das sei machbar:<br />
«Wir müssen zukunftsfähige, rentable<br />
Arbeitsplätze schaffen und die Menschen<br />
mitnehmen auf diesem Weg». •<br />
Susanne Wenger<br />
1/17 ZeSo<br />
31
Berufseinführungsprogramm erhöht<br />
die Chancen auf dem Arbeitsmarkt<br />
PLATTFORM Der Kanton Glarus bietet für anerkannte und vorläufig aufgenommene Flüchtlinge<br />
ein Berufseinführungsprogramm an. Die erste Klasse ist im Oktober 2016 gestartet. Die<br />
Koordinationsstelle Integration Flüchtlinge (KIF) zieht trotz Hindernissen eine positive Zwischenbilanz.<br />
Der Kanton Glarus hat analog zur Flüchtlingsvorlehre<br />
des Bundes ein Programm<br />
ins Leben gerufen, um anerkannten und<br />
vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen<br />
eine echte Chance zu bieten, in der Arbeitswelt<br />
Fuss zu fassen. Das Berufseinführungsprogramm<br />
(BEP) hat das Ziel, das<br />
Potenzial anerkannter und vorläufig aufgenommener<br />
Flüchtlinge aller Altersstufen<br />
zu fördern und sie nachhaltig in den Arbeitsmarkt<br />
zu integrieren. Die Teilnehmenden<br />
absolvieren in geeigneten Branchen<br />
eine einjährige Ausbildung, die mit<br />
einem Kompetenznachweis abgeschlossen<br />
wird. Den schulischen Teil des BEP übernimmt<br />
die gewerblich-industrielle Berufsfachschule<br />
(GIBGL) Ziegelbrücke mit einem<br />
halben Tag massgeschneidertem<br />
Unterricht. Die Lernenden sollen sich die<br />
Grundkompetenzen ihres Berufes, berufsbezogenes<br />
Deutsch sowie Grundkenntnisse<br />
in Mathematik und Geometrie aneignen.<br />
Nach der Absolvierung des BEP<br />
können die Teilnehmenden bei Eignung<br />
in eine zweijährige Lehre mit eidgenössischem<br />
Berufsattest (EBA) einsteigen oder<br />
als kompetente Mitarbeiter mit grundlegenden<br />
Berufskenntnissen angestellt werden.<br />
Für viele Migrantinnen und Migranten<br />
kann so eine solide Basis für eine vom<br />
Staat finanziell unabhängige Zukunft geschaffen<br />
werden und die Sozialhilfe wird<br />
langfristig entlastet.<br />
Gute Gründe für das Programm<br />
Vor einigen Jahren wurde die frühere Anlehre<br />
durch die EBA-Lehre ersetzt. Damit<br />
PLATTFORM<br />
Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />
diese Rubrik als Plattform an, auf der sie sich<br />
und ihre Tätigkeit vorstellen können: in dieser<br />
Ausgabe der Koordinationsstelle Integration<br />
Flüchtlinge des Kantons Glarus (KIF).<br />
einher gingen höhere schulische Anforderungen<br />
an die Auszubildenden. Einige<br />
junge Erwachsene − vor allem solche mit<br />
Migrationshintergrund und einer ungenügenden<br />
Schulbildung − können diese Anforderungen<br />
nicht mehr erfüllen und sind<br />
von einer Berufsbildung ausgeschlossen.<br />
Ziel ist es, dass 95 Prozent der Jugendlichen,<br />
welche die Volksschule absolvieren,<br />
eine berufliche Grundbildung, also ein<br />
EBA oder ein Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis<br />
(EFZ), abschliessen. Für diejenigen,<br />
die dazu nicht in der Lage sind, kann<br />
ein Kompetenznachweis sinnvoll sein.<br />
Aus dieser Erfahrung heraus und angesichts<br />
der wachsenden Anzahl von Flüchtlingen<br />
erarbeitete die Hauptabteilung für<br />
höheres Schulwesen und Berufsbildung<br />
gemeinsam mit der Hauptabteilung Soziales<br />
des Kantons Glarus ein Konzept für<br />
ein Berufseinführungsprogramm. Für die<br />
Umsetzung und Betreuung ist die 2014<br />
geschaffene Koordinationsstelle Integration<br />
Flüchtlinge (KIF) zuständig (s. Kasten).<br />
Das BEP verbessert die Chancen seiner<br />
Absolventen auf dem Arbeitsmarkt, wie es<br />
etwa auch der Lehrgang Pflegehelfer/-in<br />
SRK tut. Aus diesem Grund hat auch der<br />
Bundesrat ein Pilotprogramm mit Vorlehren<br />
für Flüchtlinge lanciert. Dessen Umsetzung<br />
wird jedoch noch einige Zeit in<br />
Anspruch nehmen, weshalb der Kanton<br />
Glarus nicht zuwarten und erste Erfahrungen<br />
sammeln wollte.<br />
Das Konzept Berufseinführungsprogramm<br />
wird auch vom kantonalen Amt für<br />
Wirtschaft und Arbeit (AWA) als eine wirksame<br />
Massnahme zur Integration von anerkannten<br />
Flüchtlingen (Status B, VA FL)<br />
in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt<br />
und als sinnvolle Ergänzung zu den bisherigen<br />
Praktika anerkannt. Gleichzeitig<br />
macht das AWA darauf aufmerksam, dass<br />
der Arbeitsmarkt aktuell sehr angespannt<br />
ist und vor grossen Herausforderungen<br />
steht. Die Beschäftigung aller Anspruchsgruppen<br />
(Asyl, Drittstaaten, EU, CH) soll<br />
daher ausgewogen erfolgen und in einem<br />
gesunden Verhältnis zueinander stehen.<br />
Speziell betont das AWA, dass der Bedarf<br />
an niedrigqualifizierten Arbeitskräften im<br />
Industriesektor auch in Zukunft weiter<br />
abnehmen dürfte. Es sei wichtig, die Lage<br />
stetig zu beobachten, um frühzeitig Veränderungen<br />
und Chancen in der Arbeitswelt<br />
feststellen zu können. Das BEP wird deshalb<br />
jährlich durch die Arbeitsmarktbehörde<br />
beurteilt und bewilligt.<br />
Bereitschaft von Betrieben nötig<br />
Entscheidend für den Erfolg des BEP ist<br />
die Bereitschaft von geeigneten Betrieben,<br />
jungen Erwachsenen aus dem Flüchtlingsbereich<br />
eine Chance für eine praxisorientierte<br />
Ausbildung zu geben. Deshalb wurde<br />
in einem ersten Schritt das Konzept in<br />
den in Frage kommenden Branchen vorgestellt.<br />
Es stellte sich als nicht einfach heraus,<br />
Arbeitgeber für die Ausbildung zu gewinnen,<br />
wohl weil das Angebot neu war<br />
und sie noch keine Erfahrungen sammeln<br />
konnten. Das BEP ist selbsttragend und<br />
belastet die Sozialhilfe nur für die Lebensunterhaltskosten<br />
gemäss spezieller Regelung<br />
für junge Erwachsene. Der Betrieb<br />
zahlt den Auszubildenden einen Lohn von<br />
400 Franken und übernimmt die Berufsschulkosten<br />
wie bei einem regulären Lehrverhältnis,<br />
da er ja auch von motivierten<br />
Mitarbeitenden profitiert. Die KIF übernimmt<br />
die Lehrmittel sowie die Reisespesen<br />
zur Schule und zum Ausbildungsbetrieb<br />
und gewährleistet den Support und<br />
das Job-Coaching.<br />
Verschiedene Kulturen und Branchen<br />
Im Oktober 2016 konnte mit Verspätung<br />
die erste BEP-Pilotklasse starten. Bisher<br />
sind alle zwölf Teilnehmenden dabei geblieben,<br />
auch wenn es einige Stolpersteine<br />
32 ZeSo 1/17
Die Teilnehmer der ersten BEP-Klasse bringen unterschiedlichste Voraussetzungen für den Unterricht mit. <br />
Bild: zVg<br />
zu beseitigen gab. Die Voraussetzungen<br />
der Teilnehmenden könnten unterschiedlicher<br />
nicht sein. Das unterschiedliche<br />
Deutsch-Niveau, das sich zwischen A1 und<br />
B1 bewegt, und die Altersunterschiede<br />
sind eine Realität, die für das Ausbildungsprogramm<br />
eine grosse Herausforderung<br />
darstellt. Zudem dürfen auch die kulturellen<br />
Unterschiede (Eritrea, Tibet, Syrien)<br />
und die unterschiedlichen Einstellungen<br />
der Teilnehmenden zur Arbeitswelt nicht<br />
unterschätzt werden.<br />
In der Pilotklasse sind fünf Branchen<br />
vertreten: Systemgastronomie, Haustechnik,<br />
Bau, Automobil und Detailhandel.<br />
Zentrale Inhalte der schulischen Ausbildung<br />
sind beispielsweise Wortschatz,<br />
Grammatik, Sprechen, Hören und Schreiben.<br />
Mathematik, Zahlen, Grössen umwandeln,<br />
Allgemeinbildung, die Schweiz<br />
und ihre kulturellen Gegebenheiten. Für<br />
Teilnehmende aus Tibet ist zum Beispiel<br />
Mathematik ein unbekanntes Gebiet, das<br />
in ihrer Heimat kein Thema war. Für eine<br />
schulgewohnte syrische Teilnehmerin<br />
stellt dies hingegen weniger ein Problem<br />
dar, da sie in ihrer Heimat bereits in der<br />
Primarschule mit Mathematik in Berührung<br />
kam.<br />
Die Teilnehmenden haben auch unterschiedliche<br />
Haltungen bezüglich des<br />
Nutzens des BEP. So brachten einzelne<br />
Teilnehmende an einem Informationsabend<br />
offen zum Ausdruck, dass sie lieber<br />
für 3500 Franken einer Hilfstätigkeit<br />
nachgehen wollen, statt Zeit mit Bildung<br />
zu vergeuden. Es sind Teilnehmende, welche<br />
ihre Möglichkeiten überschätzen und<br />
Koordinationsstelle<br />
Integration Flüchtlinge<br />
DES Kantons Glarus<br />
Im Kanton Glarus wurde 2013 ein Konzept zur<br />
Förderung der beruflichen und sprachlichen<br />
Integration von anerkannten Flüchtlingen und<br />
vorläufig aufgenommenen Personen ausgearbeitet,<br />
das vorsah, eine Koordinationsstelle<br />
für die Integration von Flüchtlingen (KIF)<br />
einzusetzen. Diese nahm im Mai 2014 ihren<br />
Betrieb auf. Aufgrund der grossen Fallzahlen<br />
beschloss der Regierungsrat 2015 einen Ausbau<br />
der KIF von 60 auf 180 Stellenprozente.<br />
Derzeit betreut die KIF über 160 Dossiers.<br />
Das Sprachangebot und die Stützkurse<br />
wurden ausgebaut und werden in Zusammenarbeit<br />
mit externen Partnern geplant und<br />
durchgeführt. Beim BEP fungiert die KIF als<br />
Koordinatorin und als Brücke zum Arbeitsamt.<br />
Sie übernimmt zudem das Job-Coaching der<br />
Teilnehmenden und akquiriert und betreut die<br />
Arbeitgebenden.<br />
eine Arbeit verrichten wollen, die aus Sicht<br />
des Arbeitgebers von ihren Fähigkeiten her<br />
für sie nicht in Frage kommt. Dieser Erfahrung<br />
stehen die überaus positiven Einschätzungen<br />
der Arbeitgeber gegenüber.<br />
Fast alle BEP-Teilnehmenden machen in<br />
ihrem gewählten Ausbildungsberuf grosse<br />
Fortschritte und haben sich in die bestehenden<br />
Teams sehr gut integriert. Alle involvierten<br />
Arbeitgeber sind dankbar, diese<br />
Erfahrungen machen zu dürfen, und unterstützen<br />
das Programm engagiert.<br />
Die erste Zwischenbilanz zeigt, dass<br />
das Programm nicht allen Teilnehmenden<br />
gerecht werden kann und für die nächste<br />
Klasse eine differenzierte Auswahl erfolgen<br />
muss, da die Heterogenität ihre Grenzen<br />
hat. Voraussetzung muss ein Grundwissen<br />
in Deutsch sein. Weiter wurde festgestellt,<br />
dass ein halber Tag Berufsschule zu wenig<br />
ist. Es muss folglich für die nächste Klasse<br />
ein <strong>ganz</strong>er Tag zur Verfügung gestellt<br />
werden. Eine weitere Massnahme wird die<br />
Aufteilung auf zwei Klassen sein: eine Klasse<br />
im Bereich Dienstleistung und eine im<br />
Bereich Handwerk. Die mit der BEP-Pilotklasse<br />
gemachten Erfahrungen werden in<br />
die zweite Durchführung einfliessen. •<br />
Yvan Stauffacher<br />
Leiter Koordinationsstelle Integration Flüchtlinge<br />
des Kantons Glarus<br />
1/17 ZeSo<br />
33
ends<br />
ziale und wirtschaftliche Entwicklung in der Schweiz 2015/2016<br />
Einblicke<br />
sgeht<br />
Strafe<br />
ich die Arbeitsgesellschaft Schweiz?<br />
as schützt uns vor Armut?<br />
arkt – eine Erfolgsgeschichte mit Zukunft<br />
de Sozialpolitik das Recht auf menschenwürdige Arbeit?<br />
ration gelingen kann<br />
fen: Das Modell der Dock-Gruppe<br />
Flüchtlinge Gastgeber sind<br />
nd Menschenwürde: Caritas-Märkte in der Schweiz<br />
gung schaffen: «Carrefour-Rue» in Genf<br />
tze einer investiven Arbeitsmarktpolitik<br />
tenzsichernde, würdevolle Arbeit<br />
stet mit dem Sozialalmanach<br />
en zuverlässige Sozialbericht-<br />
-146-1<br />
Medienstimme<br />
«Einen wesentlichen Beitrag an eine gesamtschweizerische<br />
Armutsberichterstattung liefert das<br />
Hilfswerk Caritas. Seit 1999 veröffentlicht es ein<br />
Jahrbuch zur sozialen Lage in der Schweiz, den<br />
sogenannten ‹Sozialalmanach›, in dem der<br />
Besprechung von Armut und Massnahmen zu<br />
deren Bekämpfung und Prävention ein wichtiger<br />
Platz eingeräumt wird. […]<br />
Bezeichnend für die Berichterstattung der Caritas<br />
ist neben ihrem qualitativen Charakter ein mehrdimensionales<br />
Armutsverständnis, das neben dem<br />
materiellen weitere armutsrelevante Lebensbereiche<br />
berücksichtigt und der subjektiven Betroffenheit<br />
Bedeutung zumisst.»<br />
«Soziale Sicherheit»<br />
24.01.17 10:43<br />
Sozialalmanach <strong>2017</strong><br />
<strong>2017</strong><br />
Recht auf Arbeit<br />
Der Sozialalmanach beobachtet und kommentiert<br />
die soziale und wirtschaftliche Entwicklung<br />
in der Schweiz. Der Schwerpunktteil des<br />
Sozialalmanach<br />
diesjährigen Almanachs nimmt sich dem<br />
Recht auf Arbeit<br />
Thema «Recht auf Arbeit» an. In Essays und<br />
Fachartikeln geht er aktuellen Entwicklungen<br />
Das Caritas-Jahrbuch<br />
zur sozialen Lage der Schweiz<br />
auf dem Arbeitsmarkt nach und lotet die Potenziale<br />
und Grenzen beruflicher und sozialer<br />
Trends, Analysen, Zahlen<br />
Integration in der Arbeitsgesellschaft Schweiz aus. Beleuchtet werden<br />
etwa die Wirkung von aktivierender Sozialpolitik, Schweizer Sozialfirmen<br />
oder Ansätze europäischer Arbeitsmarktpolitik. Darüber hinaus<br />
geben Fallbeispiele Einblicke in verschiedene Berufsleben.<br />
Caritas Schweiz, Sozialalmanach <strong>2017</strong>: Recht auf Arbeit, Caritas-Verlag Luzern, <strong>2017</strong>,<br />
240 Seiten, CHF 36.−<br />
ISBN: 978-3-85592-146-1<br />
Aktivierender Sozialstaat<br />
Die strategische Ausrichtung der Sozialpolitik<br />
hat nicht mehr die Kompromissfindung<br />
zwischen Arbeit und Kapital zum Ziel, sondern<br />
die Mobilisierung des verfügbaren Humankapitals<br />
und die ökonomische Verschlankung des<br />
Sozialstaates. Betrachtet werden der Umbau<br />
zum aktivierenden Sozialstaat und die dabei<br />
entstandenen Probleme der sozial Schwächsten.<br />
Der aktivierende Sozialstaat birgt den Widerspruch in sich, dass er,<br />
um aktivierend wirken zu können, eine Vielzahl von Unterstützungsangeboten<br />
bereitstellen muss. Er orientiert sich dabei aber nicht am<br />
Bedarf, sondern an knapper werdenden öffentlichen Budgets.<br />
Michael Büschken, Soziale Arbeit unter den Bedingungen des «aktivierenden<br />
Sozialstaates», Beltz Juventa, <strong>2017</strong>, 256 Seiten, CHF 48.−<br />
ISBN: 978-3-7799-3450-9<br />
Praktische Intelligenz in der<br />
Berufsbildung<br />
Solange Berufsbildnerinnen und Berufsbildner<br />
die Potenziale der Lernenden nicht erkennen,<br />
wertschätzen und fördern, bleiben vorhandene<br />
Begabungs- und Talentreserven ungenutzt.<br />
Eine Neuausrichtung des Blicks weg von der<br />
alleinigen Konzentration auf Defizite und<br />
Schwächen hin zur Integration von Potenzialen<br />
und Stärken würde die praktische Intelligenz junger Menschen mehr<br />
in den Vordergrund rücken. Dies könnte den Lernenden, aber auch<br />
der Berufsbildung selbst, neue Chancen eröffnen. Gelingen kann dies<br />
durch ein gezieltes Talentmanagement im Sinne eines systematischen<br />
Aufbaus von Können.<br />
Margrit Stamm, Goldene Hände, Praktische Intelligenz als Chance für die Berufsbildung,<br />
hep, 2016, 152 Seiten, CHF 33.−<br />
ISBN: 978-3-0355-0427-9<br />
Unbezahlt und dennoch Arbeit<br />
Monica Budowski, Ulrike Knobloch<br />
und Michael Nollert (Hrsg.)<br />
D I F F E R E N Z E N<br />
Unbezahlt und dennoch Arbeit<br />
Unbezahlte Arbeit umfasst alle Formen von<br />
Tätigkeiten, die unentgeltlich in Familien,<br />
informellen Netzwerken und Organisationen<br />
geleistet werden. Sie ist sozialpolitisch und<br />
volkswirtschaftlich enorm bedeutsam. Dass<br />
sich die Sozialpolitik auf die Risiken der<br />
Lohnarbeit konzentriert und damit jene der<br />
unbezahlten Arbeit vernachlässigt, ist ein<br />
gleichstellungspolitisches Problem: Frauen leisten den Grossteil der unbezahlten<br />
Tätigkeiten, insbesondere Care-Arbeit. Der Sammelband gibt<br />
einen Überblick über zentrale Themenfelder und sozialpolitisch relevante<br />
Fragestellungen zu unbezahlter Arbeit.<br />
Monica Budowski, Ulrike Knobloch, Michael Nollert (Hrsg.), Unbezahlt und dennoch<br />
Arbeit, Seismo, 2016, 296 Seiten, CHF 38.−<br />
ISBN: 978-3-03777-150-1<br />
Inklusion, ja!<br />
Perspektive Berufsbildung<br />
Erst Schule, dann Ausbildung, dann Arbeit und<br />
lebenslanges Lernen – ein <strong>ganz</strong> normaler Weg,<br />
scheint es. Junge Menschen mit besonderem<br />
Unterstützungsbedarf werden heute im Regelfall<br />
integrativ geschult, anschliessend folgt die<br />
inklusive Berufsausbildung und es öffnet sich ein<br />
inklusiver Arbeitsmarkt, oder doch (noch) nicht?<br />
Der Fachverband Integras beleuchtet unterschiedliche<br />
Perspektiven und beschäftigt sich<br />
mit künftigen Chancen und Herausforderungen.<br />
Integras-Tagung Sonderpädagogik<br />
Freitag, 24. März <strong>2017</strong>, Kulturcasino Bern<br />
www.integras.ch<br />
SKOS-Mitgliederversammlung:<br />
Aktivierung in der Sozialhilfe<br />
Seit rund 20 Jahren prägt das Paradigma der<br />
Aktivierung die Schweizer Sozialpolitik. Wie<br />
aktuell ist das Paradigma heute? Wo sind Vorteile<br />
des aktivierenden Sozialstaates aus sozialpolitischer<br />
Sicht zu verorten? Und was ist zu tun,<br />
wenn die Aktivierung aufgrund der fehlenden<br />
Übereinstimmung von Angebot und Nachfrage<br />
nach Arbeitskräften ins Leere läuft? Mit diesen<br />
Fragen beschäftigt sich die SKOS-Mitgliederversammlung.<br />
SKOS-Mitgliederversammlung<br />
Donnerstag, 18. Mai <strong>2017</strong>, NH Hotel Freiburg<br />
www.skos.ch/veranstaltungen<br />
Selbstbestimmung 2.0 –<br />
künftige Herausforderungen<br />
Die Tagung zum Kindes- und Erwachsenenschutz<br />
befasst sich mit der Selbstbestimmung. Es wird<br />
aufgezeigt, was Selbstbestimmung im Kindesschutz<br />
bedeuten kann und welche Aspekte künftig<br />
insbesondere für Beiständinnen und Beistände,<br />
Abklärende und Behörden wegweisend sein<br />
werden. Weiter wird der Frage nachgegangen,<br />
welches die rechtlichen und sozialarbeiterischen<br />
Herausforderungen beim Thema Selbstbestimmung<br />
sind.<br />
Luzerner Tagung zum Kindes- und Erwachsenenschutz<br />
Donnerstag, 18. Mai <strong>2017</strong>, Messe Luzern<br />
www.hslu.ch<br />
34 ZeSo 1/17
lesetipps<br />
Roland J. Campiche<br />
Afi Sika Kuzeawu<br />
Die jungen<br />
Alten:<br />
vom Bildungssystem<br />
vergessen<br />
Weiterbildung für Pensionäre<br />
In der Schweiz leben 1,5 Millionen über 60-Jährige:<br />
Sie sind wichtige Stützen des sozialen<br />
und politischen Lebens in diesem Land, und<br />
mit ihnen entstehen neue Bildungsbedürfnisse.<br />
Es gilt angemessene Angebote für eine<br />
Bevölkerungsgruppe zu entwickeln, die in ihrer<br />
Berufstätigkeit vielfältige Erfahrungen gesammelt<br />
und sich Kompetenzen angeeignet hat.<br />
Neun Seniorenuniversitäten bieten entsprechende Programme an. Weil<br />
sie öffentlich kaum anerkannt sind, ist aber ihre Organisation schwach.<br />
Dieses Buch analysiert die aktuelle Situation und gibt Anstösse für eine<br />
zielgerichtete Pädagogik.<br />
Roland J. Campiche, Afi Sika Kuzeawu, Die jungen Alten: vom Bildungssystem<br />
vergessen, Seismo, <strong>2017</strong>, 168 Seiten, CHF 20.−<br />
ISBN: 978-3-03777-159-4<br />
Armut als Familientradition?<br />
Die Untersuchung widmet sich der Frage, wie<br />
sich die Biografien von Menschen gestalten,<br />
deren Familien über Generationen hinweg in<br />
Armut verbleiben. Dazu gibt sie detaillierte<br />
Einblicke in das Leben von Familien im ALG II-<br />
Bezug in Deutschland und spürt den individuellen<br />
Zusammenhängen der sozialen Reproduktion<br />
von Armut nach. Es zeigt sich, dass die<br />
Art und Weise, wie die interviewten Familien mit Armut umgehen, von<br />
einer Vielzahl miteinander verwobener biografischer Strukturaspekte<br />
abhängig ist.<br />
Dominik Wagner, Familientradition Hartz IV, Soziale Reproduktion von Armut in Familie<br />
und Biografie, Rekonstruktive Forschung in der Sozialen Arbeit, Barbara Budrich,<br />
340 Seiten, CHF 38.−<br />
ISBN: 978-3-8474-2042<br />
Soziale Arbeit als<br />
Beziehungsprofession<br />
In der Sozialen Arbeit wird zwar nicht bezweifelt,<br />
dass die Qualität der jeweiligen Hilfe<br />
unmittelbar an das Gelingen einer professionellen<br />
Beziehung gekoppelt ist. Wie man sie<br />
professionell ermöglicht, darüber bestehen<br />
jedoch nach wie vor viele Unklarheiten. Drei<br />
Studien zeigen auf, dass das Gelingen von<br />
Hilfe eine authentische, emotional tragfähige, von Nähe geprägte und<br />
dennoch reflexiv und fachlich durchdrungene Diagnostik und Beziehungsführung<br />
erfordert.<br />
Silke Birgitta Gahleitner. Soziale Arbeit als Beziehungsprofession. Bindung, Beziehung<br />
und Einbettung professionell ermöglichen. Beltz Juventa, <strong>2017</strong>, CHF 52.−<br />
ISBN: 978-3-7799-3477-6<br />
Migration in der Sozialen Arbeit<br />
Migration ist Gegenstand Sozialer Arbeit,<br />
wenn Migranten marginalisiert sind und die<br />
Gesellschaft auf Anforderungen neuer Vielfalt<br />
reagieren muss. Sie findet nicht allein in<br />
migrationsspezifischen Sozialen Diensten wie<br />
Flüchtlingsdiensten statt − der Umgang mit<br />
Vielfalt und Ausgrenzung ist in allen Bereichen<br />
Sozialer Arbeit ein Thema. Das Buch zeigt migrationsspezifische<br />
Handlungsfelder der Sozialen Arbeit auf und erläutert<br />
entsprechende Konzepte und Methoden. Debatten zu Integration und<br />
interkultureller Kompetenz werden in ihrer Relevanz für ein handlungsleitendes<br />
Konzept Sozialer Arbeit untersucht.<br />
Nausikaa Schirilla, Migration und Flucht, Orientierungswissen für die Soziale Arbeit,<br />
Kohlhammer, 2016, 263 Seiten, CHF 42.−<br />
ISBN: 978-3-17-030682-0<br />
Internationale<br />
Migrationskonferenz<br />
Im Kontext von Migration werden vor allem herkunftsbezogene,<br />
politische und gesellschaftliche<br />
Zugehörigkeiten thematisiert und zum Teil auch<br />
problematisiert. Die Frage nach den Zugehörigkeiten<br />
fokussiert auf die Bereiche: «Wer bin ich?<br />
Wo gehöre ich hin? Und wer erkennt mich als<br />
zugehörig an?» An der Migrationskonferenz wird<br />
diesen Fragen aus internationaler und interdisziplinärer<br />
Perspektive nachgegangen.<br />
Internationale Migrationskonferenz<br />
Donnerstag, 22. bis Samstag 24. Juni <strong>2017</strong>,<br />
Hochschule für Soziale Arbeit FHNW Olten<br />
www.migrationskonferenz.ch<br />
European Social Services<br />
Conference in Malta<br />
Wie können Innovationen und neue Technologien<br />
in der Zukunft genutzt werden, um bessere soziale<br />
Dienste zu schaffen? Diesem Thema widmet<br />
sich die europäische Konferenz der Sozialdienste,<br />
die <strong>2017</strong> in Malta stattfindet. Die Tagung bietet<br />
Gelegenheit, Einblick in aktuelle Diskussionen<br />
und Ansätze der verschiedenen europäischen<br />
Länder zu bekommen.<br />
European Social Services Conference<br />
Montag, 26. bis MIttwoch, 28. Juni <strong>2017</strong>, Malta<br />
www.esn-eu.org/events<br />
veranstaltungen<br />
INSOS-Kongress:<br />
Wandel als Chance<br />
Der Wandel hat die Institutionen für Menschen<br />
mit Behinderung längst erfasst: Gesellschaftliche<br />
und politische Entwicklungen, veränderte<br />
Erwartungen der Menschen mit Behinderung und<br />
an institutionelle Angebote prägen ihre Arbeit<br />
nachhaltig. Am Kongress des Branchenverbands<br />
INSOS greifen verschiedene Referenten aktuelle<br />
Themen auf, nehmen Stellung und skizzieren die<br />
Auswirkungen des politischen und gesellschaftlichen<br />
Wandels.<br />
INSOS-Kongress<br />
Dienstag, 22. bis Donnerstag 24. August <strong>2017</strong>,<br />
Montreux<br />
www.insos.ch/veranstaltungen<br />
1/17 ZeSo<br />
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Modedesignerin Marianna Piciuccio verkörpert «Ele<strong>ganz</strong>a italiana». Bild: Ursula Markus<br />
Die Leidenschaftliche<br />
PORTRÄT Marianna Piciuccio, 60, ist Modedesignerin. In der Nähschule der Isla Victoria, einer<br />
Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen der Zürcher Stadtmission, gibt sie ihr Können weiter. Manchmal<br />
ist sie Schiedsrichterin, manchmal Psychologin.<br />
Ein Vormittag im Zürcher Kreis 4. Das<br />
grau gestrichene Erdgeschoss der Isla Victoria<br />
steht unscheinbar neben der fröhlich<br />
hellblauen Fassade einer italienischen<br />
Macelleria. «Ragazze, Pause!», ruft Marianna<br />
Piciuccio. Die Chefin trägt ein Hosenkostüm<br />
aus feinem dunklem Tuch. Das Rot<br />
ihres Lippenstiftes hat sie auf ihre Brillenfassung<br />
abgestimmt. Ele<strong>ganz</strong>a italiana.<br />
Seit 9.15 Uhr sitzen vier ihrer völlig<br />
unauffällig gekleideten Schülerinnen über<br />
glitzernden Stoffen. Sie schneidern daraus<br />
Blusen und Röcke. Temperamentvoll stöckelt<br />
die Chefin in ihren High Heels von<br />
Tisch zu Tisch, korrigiert hier eine Schnittlinie,<br />
erklärt dort etwas in gebrochenem<br />
Deutsch, lacht oft und herzlich. Für Teilnehmerin<br />
Hélène aus Burkina Faso ist die<br />
Nähschule wie eine Familie: «Bei Marianna<br />
kann ich meine Probleme vergessen.»<br />
Gestartet war die etwas besondere Schule<br />
vor zwei Jahren. Damals hatten Sexarbeiterinnen<br />
bei Isla Victoria nach Nähkursen<br />
gefragt. Solche Kurse, sagten sich die Verantwortlichen<br />
der Zürcher Stadtmission,<br />
geben Perspektive und Struktur. Schon<br />
nach einem Jahr liess Marianna Piciuccio<br />
die erste Modeschau steigen, eine glamouröse<br />
Sache in Kurt Aeschbachers Laborbar.<br />
Heute besuchen 15 Frauen zwischen 28<br />
und 61 Jahren die Nähschule. Pro Halbtag<br />
zahlen sie zehn Franken.<br />
Für die Modemacherin ist die Arbeit<br />
mit Sexworkerinnen nichts Neues. Schon<br />
ihre erste Modeschau veranstaltete sie im<br />
Kreis 4. Das war 1985. «Warum Models<br />
suchen?», sagte sie sich: «Ich nehme die<br />
Frauen vom Nightclub, die kenne ich.»<br />
Ihre Arbeit braucht Kraft. Manchmal ist sie<br />
Schiedsrichterin, manchmal Psychologin.<br />
Jede Frau habe ihre Geschichte, sagt die<br />
charismatische Modemacherin. Viele seien<br />
innerlich fragil. Aber nicht immer seien sie<br />
Opfer: «Wenn du nicht im Gleichgewicht<br />
bist, fressen sie dich auf.» Doch diese Arbeit,<br />
betont die Designerin, sei ihre grosse<br />
Leidenschaft: «Meine Kenntnisse an andere<br />
weiterzugeben, damit sie mit Nähmaschine<br />
und Bügeleisen Geld verdienen,<br />
statt allein von der Prostitution abhängig<br />
zu sein, ist für mich das Grösste.»<br />
Aufgeben ist keine Option<br />
Die 60-Jährige kennt Armut aus eigener<br />
Erfahrung. Als sie 1956 in Mittelitalien<br />
zur Welt kommt, müssen die Leute das<br />
Wasser noch am Dorfbrunnen holen. Von<br />
ihrem Vater, einem Maurer, lernt sie, dass<br />
Bildung, Respekt und Demut die wahren<br />
Reichtümer seien. Schon mit neun geht die<br />
Kleine nach der Schule ins Schneideratelier<br />
ihres Onkels. Spätert bildet sie sich laufend<br />
weiter zur Modezeichnerin, Modedesignerin,<br />
Lehrerin. Ihr Motto: «Piu tosto<br />
mangiare un cane morto che rinunciare!»<br />
(Lieber einen verendeten Hund essen als<br />
aufzugeben).<br />
Marianna Piciuccio weiss auch, was Migration<br />
bedeutet. 1976 der Liebe wegen<br />
in die Schweiz gekommen, sucht sie sofort<br />
Arbeit in einer Zürcher Konfektionsfabrik.<br />
«Ich hatte keinerlei Hilfe und musste ja<br />
mein Zimmer bezahlen», sagt sie. Doch<br />
bald wird ihr die Arbeit in der Fabrik zu<br />
monoton. Sie wechselt in ein Atelier für<br />
Alta Moda und näht dort für erstklassige<br />
Modehäuser. Als ihr das gehobene Atelier<br />
keinen Mutterschaftsurlaub gewähren<br />
mag, sagt sie sich: «Weisch was: Ich fange<br />
selber an!» Mit 25 gründet sie ihr eigenes<br />
Label. «Creazione Marianna» findet<br />
schnell Kundschaft vom Fernsehen und<br />
aus der Werbebranche.<br />
Dass sie heute auch Flüchtlingen zeigt,<br />
wie man Hosen kürzt oder geschenkte<br />
Kleider enger macht, will die charismatische<br />
Frau nicht an die grosse Glocke<br />
hängen. Sie hat aber noch viel vor. Damit<br />
die Nähkurse leichter finanzierbar sind,<br />
baut sie bei Isla Victoria ein Nähatelier<br />
für zahlende Kundinnen auf. Bis 70 will<br />
Marianna Piciuccio unbedingt arbeiten.<br />
«Mindestens! Meine Arbeit ist einfach la<br />
mia grande passione.» <br />
•<br />
Paula Lanfranconi<br />
36 ZeSo 1/17
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