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ZESO_1-2017_ganz

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SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

ZeSo<br />

Zeitschrift für Sozialhilfe<br />

01/17<br />

Unicef<br />

Elsbeth Müller zur<br />

Kinderarmut in der<br />

Schweiz<br />

Mütter<br />

Auch Alleinerziehende<br />

sollen rasch wieder<br />

arbeiten<br />

Porträt<br />

Eine Modedesignerin<br />

lehrt Sexarbeiterinnen<br />

das Schneidern<br />

Neue<br />

Arbeitswelt<br />

Digitalisierung und Robotik<br />

bedrohen oder verändern viele<br />

Berufe und die Art, wie wir arbeiten


SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

SKOS-MITGLIEDERVERSAMMLUNG<br />

Aktivierungspolitik in der Sozialhilfe<br />

Notwendig oder unsinnig?<br />

Donnerstag, 18. Mai <strong>2017</strong>, NH Hotel Freiburg<br />

Seit rund 20 Jahren prägt das Paradigma der Aktivierung die Sozialpolitik. Mit der Revision der SKOS-<br />

Richtlinien von 1998 wurde die berufliche Integration zum Ziel und zur Aufgabe der Sozialhilfe erklärt. Mit<br />

der Revision 2005 wurden die Instrumente zur Umsetzung des Leitgedankens «Fördern und Fordern»<br />

geschaffen. Mit materiellen Anreizen soll seither die Motivation der Sozialhilfebeziehenden gefördert werden.<br />

Wie sind die Vor- und Nachteile des heutigen Systems aus Sicht der Sozialpolitik, der Sozialwissenschaften<br />

und der Sozialhilfepraxis zu beurteilen? Läuft die Aktivierung aufgrund der fehlenden Übereinstimmung von<br />

Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften auf dem Markt ins Leere, stellt sich die Frage: Ist Aktivierung<br />

noch zielführend?<br />

Programm und Anmeldung unter www.skos.ch Veranstaltungen<br />

Soziale Arbeit<br />

Infoabend:<br />

5. April <strong>2017</strong><br />

Jetzt anmelden!<br />

Die Zukunft<br />

stellt Fragen.<br />

Bildung ist<br />

die Antwort.<br />

In welchem Bereich der<br />

Sozialen Arbeit Sie auch<br />

tätig sind: Eine Weiterbildung<br />

erhöht Ihre Kompetenz<br />

für künftige Aufgaben<br />

und bringt Sie gezielt<br />

vorwärts. Die ZHAW bietet<br />

CAS, DAS, MAS und Kurse<br />

zu den Handlungsfeldern<br />

der Sozialen Arbeit. Und<br />

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möchten Sie sich<br />

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• Kindheit, Jugend<br />

und Familie<br />

• Delinquenz und Kriminalprävention<br />

• Soziale Gerontologie<br />

• Community Development<br />

und Migration<br />

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und Mediation<br />

• Sozialrecht<br />

Hochschulcampus Toni-Areal, Zürich<br />

ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte<br />

Wissenschaften, Departement Soziale Arbeit<br />

www.zhaw.ch/sozialearbeit<br />

Inserat_<strong>ZESO</strong>_01.indd 1 07.02.<strong>2017</strong> 13:16:35


Ingrid Hess<br />

Verantwortliche Redaktorin<br />

EDITORIAL<br />

Bildung ist der Schlüssel –<br />

auch für den Arbeitsmarkt der<br />

Zukunft<br />

Als ich noch studierte, die Computer sozusagen in den Kinderschuhen<br />

steckten, und wir im absoluten Steinzeitalter der digitalen<br />

Vernetzung lebten (sehr utopisch muteten damals noch<br />

die Spekulationen über das Swissnet an), da hiess es doch<br />

schon: «Übersetzer wird es bald nicht mehr brauchen, das machen<br />

bald Computer.» Doch auch 25 Jahre später, im Zeitalter<br />

der rasant fortschreitenden Digitalisierung, sind wir noch nicht<br />

soweit. Übersetzer – jedenfalls die gut qualifizierten – finden<br />

auch heute immer noch Arbeit – dem Google-Übersetzungsdienst<br />

zum Trotz – vielleicht immer öfter via eine spezialisierte<br />

digitale Plattform. Wer mal einen Beruf erlernt hat, ist zwar<br />

nicht vor Arbeitslosigkeit gefeit, aber er oder sie hat viel eher<br />

die Chance, sich den verändernden Anforderungen anzupassen<br />

und von den neuen Möglichkeiten auch zu profitieren. Schwierig<br />

wird es in Zukunft vor allem wohl für Arbeitssuchende ohne<br />

Berufsausbildung(Seite 12).<br />

Um die Chancengleichheit in der Bildung für Kinder geht es im<br />

Interview mit Elsbeth Müller, Geschäftsführerin von Unicef<br />

Schweiz. In der Schweiz sei es immer noch so, dass der sozioökonomische<br />

Status in der Schule determinierend für die Bildungschancen<br />

der Kinder ist, sagt die Expertin für globale Kinderarmut.<br />

Müller fordert deshalb Massnahmen, die helfen, die<br />

schlechteren Startchancen im Schulsystem zu egalisieren<br />

(Seite 8).<br />

Wie Sie vielleicht gemerkt haben, oder gleich merken werden,<br />

haben wir kleine Retouchen an der <strong>ZESO</strong> angebracht. Mit dem<br />

Ziel die Leserfreundlichkeit etwas zu verbessern, haben wir<br />

zum Beispiel die Titelseite und das Inhaltsverzeichnis grafisch<br />

sanft umgestaltet. Neu finden Sie zudem statt den 13 Fragen<br />

an… innerhalb des Schwerpunkts unter dem Stichwort «Nachgefragt»<br />

ein Interview zum Thema. Ich wünsche Ihnen eine interessante<br />

Lektüre und freue mich über Rückmeldungen, Anregungen<br />

oder Ihre Meinung zur aktuellen Ausgabe der <strong>ZESO</strong>.<br />

1/17 ZeSo<br />

1


SCHWERPUNKT<br />

Arbeit der<br />

Zukunft<br />

Die Veränderungen auf<br />

dem Arbeitsmarkt infolge<br />

der Digitalisierung und<br />

Roboterisierung sind rasant<br />

und umfassend – wer<br />

kann sie nützen – wem<br />

werden sie gefährlich?<br />

Work Smart, Home-Office, Crowdworking,<br />

Uber, UpWork oder MTurk. Die rasante<br />

Entwicklung auf dem Gebiet der Informations-<br />

und Kommunikationstechnologien<br />

zeigt sich auch am Entstehen unzähliger<br />

neuer Namen und Begriffe. Dahinter<br />

stecken grosse Veränderungen in der<br />

Arbeitswelt. Welche neuen Anforderungen<br />

stellt der Arbeitsmarkt der Zukunft? Welche<br />

Konsequenzen wird er für die weniger fitten<br />

Arbeitnehmenden haben?<br />

12–23<br />

14 22<br />

<strong>ZESO</strong><br />

zeitschrift für sozialhilfe Herausgeberin Schweizerische konferenz für Sozialhilfe SKOS, www.skos.ch Redaktionsadresse<br />

Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS, Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch, Tel. 031 326 19 19<br />

© SKOS. Nachdruck nur mit genehmigung der Herausgeberin.<br />

Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />

ISSN 1422-0636 / 113. Jahrgang<br />

Erscheinungsdatum: 6. März <strong>2017</strong><br />

Die nächste Ausgabe erscheint im Juni <strong>2017</strong>.<br />

Redaktion Ingrid Hess, Regine Gerber Autorinnen und Autoren in dieser Ausgabe Thea Bächler, Gabriel<br />

Fischer, Markus Kaufmann, Ute Klotz, Paula Lanfranconi, Jens O. Meissner, Antonello Spagnolo, Angelika<br />

Spiess, Yvan Stauffacher, Alexander Suter, Susanne Wenger<br />

Titelbild Rudolf Steiner layout Marco Bernet, mbdesign Zürich Korrektorat Karin Meier Druck<br />

und Aboverwaltung Rub Media, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 preise<br />

Jahresabonnement CHF 82.– (SKOS-Mitglieder CHF 69.–), Jahresabonnement ausland CHF 120.–, Einzelnummer<br />

CHF 25.–.<br />

2 ZeSo 1/17


30<br />

8<br />

inhalt<br />

5 Kommentar<br />

der Grundbedarf bei der Sozialhilfe sollte<br />

in der Schweiz für alle gleich sein.<br />

Kommentar von Markus Kaufmann<br />

6 Praxis<br />

Was gilt bei der Integration von alleinerziehenden<br />

Müttern?<br />

7 Thema Sozialhilfe<br />

neue SKOS-Richtlinien sind in den<br />

Kantonen weitgehend umgesetzt<br />

8 Interview<br />

«Der sozioökonomische Status wirkt sich<br />

direkt auf die Chancen der Kinder aus».<br />

Interview mit Elsbeth Müller, Unicef<br />

Schweiz<br />

26<br />

12–23 schwerpunkt<br />

Arbeit der Zukunft<br />

14 Science-Fiction auf dem Arbeitsmarkt<br />

16 Die flexible Arbeitswelt für sich nutzen –<br />

Chancen und Stolpersteine<br />

18 «Die Anforderungen an die Arbeitskräfte<br />

sind hoch» sagt Ursina Jud vom Seco<br />

21 Crowdworking – wie muss man sich die<br />

neue Beschäftigungsform vorstellen?<br />

22 Arbeitszeit in der digitalen<br />

Arbeitswelt<br />

32<br />

36<br />

24 Steuerschulden<br />

Automatisierter freiwilliger Direktabzug<br />

als Mittel gegen Verschuldung<br />

26 Föderalismus<br />

Behindert der Föderalisumus eine<br />

wirksame Armutsbekämpfung?<br />

28 Fachbeitrag<br />

Das Projekt Forjad im Kanton Waadt hilft<br />

jungen Erwachsenen in den Arbeitsmarkt<br />

30 Reportage<br />

die Fraisa AG ermöglicht Nachholbildung<br />

und macht damit Angestellte fit für den<br />

Arbeitsmarkt – zu beider Seiten Wohl<br />

32 Plattform<br />

der Kanton Glarus bietet anerkannten<br />

Flüchtlingen Programme zur Vorbereitung<br />

einer Ausbildung an<br />

34 Lesetipps und<br />

Veranstaltungen<br />

36 Porträt<br />

marianna Piciuccio unterrichtet<br />

Sexarbeiterinnen in Nähen<br />

1/17 ZeSo<br />

3


NACHRICHTEN<br />

SKOS: Neuer Fachbereich<br />

Recht und Beratung<br />

Die Geschäftsstelle der SKOS hat per 1. März<br />

<strong>2017</strong> den neuen Fachbereich Recht und Beratung<br />

geschaffen. In dem Bereich zusammengefasst<br />

werden die Angebote der SKOS in<br />

Sachen Rechtsberatung (SKOS-Line) und Weiterbildung.<br />

In Ergänzung zu den SKOS-Kommissionen<br />

«Rechtsfragen» und «Richtlinien<br />

und Praxis» dient der neue Fachbereich als<br />

Kompetenzstelle für rechtliche und fachliche<br />

Fragen aus dem Bereich der Sozialhilfe. Geleitet<br />

wird der neue Fachbereich von Alexander<br />

Suter, der zuvor als Mitarbeitender im Fachbereich<br />

Grundlagen der SKOS tätig war.<br />

Positive Bilanz zu den<br />

Integrationsprogrammen<br />

Die kantonalen Integrationsprogramme (KIP)<br />

zur Förderung der beruflichen und sprachlichen<br />

Integration von Migranten/-innen sollen<br />

in der Periode 2018-2021 fortgesetzt werden.<br />

In den beiden letzten Jahren haben Bund<br />

und Kantone 175 Millionen Franken in die KIP<br />

investiert. Dieser Betrag schliesst auch die<br />

Integrationspauschale für Flüchtlinge ein,<br />

zum Beispiel zum Ausbau von Sprachkursen.<br />

Ab 2018 wird der Bund den Kantonen jährlich<br />

einen Beitrag von 32,4 Millionen Franken<br />

zukommen lassen mit der Bedingung, dass<br />

sich diese in gleicher Höhe an der Umsetzung<br />

beteiligen. Darüber hinaus richtet er eine Integrationspauschale<br />

aus. Vorgesehen ist auch,<br />

die Angebote zur beruflichen Qualifizierung<br />

für vorläufig Aufgenommene und anerkannte<br />

Flüchtlinge auszubauen, um deren Chancen<br />

auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.<br />

Kanton Bern will<br />

Sozialhilfe senken<br />

Der Regierungsrat des Kantons Bern hat Kürzungen<br />

im Bereich der Sozialhilfe festgelegt.<br />

Bis im Sommer soll ein entsprechender Gesetzesvorschlag<br />

vorliegen. Der Regierungsrat<br />

will den Grundbedarf in der Sozialhilfe um<br />

10 Prozent unter die in den SKOS-Richtlinien<br />

festgehaltenen Sätze kürzen. Der Regierungsrat<br />

geht von jährlich wiederkehrenden<br />

Entlastungen von 15 bis 25 Millionen Franken<br />

aus, die je hälftig dem Kanton und den<br />

Gemeinden zugutekommen sollen. Sanktionen<br />

sollen verhängt werden, wenn junge Erwachsene<br />

nicht arbeiten oder Migrantinnen<br />

und Migranten die Sprache nicht lernen.<br />

Nicht alle Ärzte schätzen die Arbeitsfähigkeit ihrer Patienten gleich ein. <br />

Arbeitsunfähigkeit: Medizinische<br />

Gutachter sind sich oft uneinig<br />

Um Invaliditätsansprüche zu beurteilen,<br />

werden meistens unabhängige medizinische<br />

Gutachten verwendet. Doch oft sind<br />

sich Ärzte, die dieselben Patienten begutachten,<br />

nicht einig, ob jemand arbeitsfähig<br />

ist oder nicht, wie eine Übersichtsstudie<br />

der Universität Basel und des Universitätsspitals<br />

Basel zeigt. Dass medizinische<br />

Fachleute die Arbeitsfähigkeit so unterschiedlich<br />

einschätzen, sei vermutlich auf<br />

das Fehlen gültiger Standards zurückzuführen,<br />

sagt Regina Kunz, Professorin für<br />

In der Schweiz pflegen und betreuen pro<br />

Jahr mindestens 140‘000 Personen im<br />

Erwerbsalter regelmässig Angehörige, darunter<br />

über 800 verunfallte oder schwer<br />

erkrankte Kinder. Die Zahl der älteren<br />

Personen, die auf Pflege oder andere Unterstützung<br />

angewiesen sind, wird in den<br />

kommenden Jahren stark zunehmen. Um<br />

die Situation für betreuende Pflegende<br />

so zu verbessern, dass sie sich engagieren<br />

können, ohne sich zu überfordern oder in<br />

finanzielle Engpässe zu geraten, will der<br />

Bundesrat bis <strong>2017</strong> eine entsprechende<br />

Vernehmlassungvorlage ausarbeiten lassen.<br />

Arbeitnehmende sollen etwa das Recht<br />

haben, sich an ihrem Arbeitsplatz kurzfristig<br />

freistellen zu lassen, um ein krankes<br />

Familienmitglied zu pflegen. Für Eltern<br />

mit schwer kranken oder verunfallten Kinden<br />

soll zudem ein länger dauernder Betreuungsurlaub<br />

eingeführt werden. Damit<br />

Bild:Pixelio<br />

Versicherungsmedizin und Studienverantwortliche.<br />

Es sollten dringend Instrumente<br />

und strukturierte Ansätze entwickelt und<br />

erprobt werden, die die Bewertung der Arbeitsunfähigkeit<br />

verbessern. Im Rahmen<br />

einer vom Schweizerischen Nationalfonds,<br />

dem Bundesamt für Sozialversicherungen<br />

und der Schweizerischen Unfallversicherung<br />

SUVA finanzierten Studie entwickelt<br />

ein Forscherteam um Professorin Kunz<br />

daher eine neue Methodik zur «funktionsorientierten<br />

Begutachtung». (Red.) •<br />

Der Bund will pflegende und betreuende<br />

Angehörige entlasten<br />

sollen sie während der Pflege der Kinder im<br />

Erwerbsleben bleiben können. Weiter will<br />

der Bundesrat die Betreuungsarbeit besser<br />

anerkennen. Dazu soll das Gesetz über die<br />

Alters- und Hinterlassenen-Versicherung<br />

ergänzt werden. Es sieht bereits heute<br />

Betreuungsgutschriften vor, wenn eine<br />

Person mit Anspruch auf mindestens eine<br />

mittlere Hilflosigkeit betreut wird. Künftig<br />

sollen Betreuungsgutschriften auch jenen<br />

Personen gewährt werden, die Verwandte<br />

mit leichter Hilflosigkeit betreuen oder<br />

pflegen. Zudem soll geprüft werden, den<br />

Anspruch auch auf Konkubinatspaare auszuweiten.<br />

Neben den gesetzlichen Massnahmen<br />

sollen auch Entlastungsangebote<br />

ausgebaut werden, wie etwa die Unterstützung<br />

der pflegenden Angehörigen durch<br />

Freiwillige oder das Bereitstellen von Ferienbetten<br />

in Alters- und Pflegeheimen.<br />

(Red.)<br />

•<br />

4 ZeSo 1/17


KOMMENTAR<br />

Der Grundbedarf sollte für alle gleich sein<br />

In den letzten zwei Jahren wurden die<br />

Richtlinien ein weiteres Mal überarbeitet<br />

und den sich ändernden politischen und gesellschaftlichen<br />

Rahmenbedingungen angepasst.<br />

In zwei Studien und eingehenden<br />

Diskussionen wurden viele Fragen erörtert,<br />

die sich auch schon in früheren Etappen<br />

der SKOS-Geschichte gestellt hatten. Wie<br />

lässt sich die Höhe des Grundbedarfs berechnen?<br />

Welche Ansätze gelten für grosse<br />

Familien? Welche Anreize können gesetzt<br />

werden, insbesondere bei jungen Erwachsenen?<br />

Wie sollen die Sanktionsmöglichkeiten<br />

ausgestaltet werden?<br />

Bereits Anfang der 1910-er Jahre führten<br />

Bund, Kantone und Gemeinden Gespräche<br />

zur damaligen Armenpflege. Anfänglich<br />

ging es vor allem darum, zu klären, wer für<br />

die Bedürftigen zuständig ist. Je länger, je<br />

mehr setzte sich der Konsens bei Kantonen<br />

und Städten durch, dass eine Harmonisierung<br />

der Sozialhilfe in der Schweiz sinnvoll<br />

ist und dass neben der materiellen auch der<br />

persönlichen Hilfe eine grosse Bedeutung<br />

zukommt. 1963 erschienen die SKOS-<br />

Richtlinien zur Bemessung von materiellen<br />

Sozialhilfeleistungen zum ersten Mal<br />

in gedruckter Form. Nachzulesen in der<br />

über 100-jährigen Geschichte der SKOS,<br />

die in der Dissertation von Claudia Hänzi,<br />

RiP-Präsidentin und Geschäftsleitungsmitglied<br />

seit 2011 eindrücklich und spannend<br />

festgehalten ist. Seither haben sich diese<br />

Richtlinien zu einem ausführlichen und<br />

systematischen Regelwerk entwickelt, das<br />

Fachleute und Laienbehörden in der Praxis<br />

tagtäglich nutzen.<br />

Die Entscheide, die in der letzten Revision<br />

getroffen wurden, stellen einen Kompromiss<br />

dar, der hart erarbeitet, am Ende aber<br />

von allen Beteiligten mitgetragen und von<br />

der SODK genehmigt wurde. Die Kernelemente<br />

bleiben unverändert: die Garantie<br />

des sozialen Existenzminimums und<br />

der Grundprinzipien der Sozialhilfe,<br />

wie sie unter Punkt A.4 der Richtlinien<br />

festgehalten sind. Prävention,<br />

Integration, Existenzsicherung und<br />

Missbrauchsbekämpfung<br />

bilden nach wie vor die<br />

Säulen für eine wirksame<br />

Sozialhilfe.<br />

Die Kantone haben die neuen Richtlinien<br />

weitgehend umgesetzt, die Sozialhilfe ist<br />

nach der Revision einheitlicher als vorher.<br />

Das Monitoring der SKOS anfangs <strong>2017</strong><br />

zeigt dies deutlich. Fast gleichzeitig mit der<br />

Umsetzung der zweiten Revisionsetappe<br />

hat der Regierungsrat des Kantons Bern<br />

jedoch angekündigt, den Grundbedarf generell<br />

um 10% kürzen zu wollen. Begründet<br />

wird dieses Vorhaben mit Sparvorgaben<br />

des Kantons sowie fehlenden Anreizen. Für<br />

die SKOS ist dieser Vorschlag ein Schritt zurück,<br />

weg vom gemeinsamen Kompromiss<br />

der Kantone und weg von einer ausgewogenen<br />

Bemessung des Grundbedarfs,<br />

der sich am sozialen<br />

Existenzminimum<br />

orientiert. Die SKOS<br />

wird Bund und<br />

Kantone daran erinnern,<br />

dass eine<br />

Harmonisierung<br />

der Sozialhilfe<br />

im Interesse aller<br />

liegt. Was bei der<br />

AHV und den Ergänzungsleistungen<br />

gilt, muss auch in der<br />

Sozialhilfe gelten: Es gibt keinen<br />

Grund, Bedürftige in einem Kanton<br />

schlechter zu stellen als in<br />

anderen Kantonen. Der Grundbedarf<br />

soll für alle gleich sein, Milch<br />

und Brot kosten ja auch überall<br />

gleich viel.<br />

Markus Kaufmann<br />

1/17 ZeSo<br />

5


Was gilt bei der Arbeitsintegration<br />

von Alleinerziehenden?<br />

PRAXIS Laura Sommer ist kürzlich Mutter geworden und bezieht Sozialhilfe. Auch als<br />

Alleinerziehende wird von ihr spätestens, wenn das Kind das erste Lebensjahr vollendet hat,<br />

eine Erwerbstätigkeit oder die Teilnahme an einer Integrationsmassnahme erwartet.<br />

Frage<br />

Laura Sommer hat gerade ihr erstes Kind<br />

geboren. Sie hat eine Erstausbildung abgeschlossen,<br />

ist jedoch seit ein paar Monaten<br />

auf Sozialhilfe angewiesen. Sie lebt vom<br />

Vater des Kindes getrennt und es ist absehbar,<br />

dass sie sich vorerst alleine um das<br />

Kind kümmern wird. Auf dem zuständigen<br />

Sozialdienst fragt man sich, wie Laura<br />

Sommer in der Zeit nach der Geburt unterstützt<br />

werden soll. Wie soll ihre Arbeitsintegration<br />

geplant werden und welche Rechte<br />

und Pflichten hat Laura Sommer gemäss<br />

den SKOS-Richtlinien, die auf den 1. Januar<br />

<strong>2017</strong> in Kraft getreten sind?<br />

Grundlagen<br />

Die Geburt eines Kindes entbindet die Eltern<br />

nicht von der Pflicht zur Arbeitsintegration<br />

oder – soweit möglich – dem Erhalt<br />

einer bestehenden Stelle (SKOS-Richtlinien,<br />

A.5.2). Dies gilt für Paare ebenso wie<br />

für Alleinerziehende. Als alleinerziehend<br />

gilt, wer mit einem Kind oder mehreren<br />

Kindern ohne den anderen Elternteil<br />

wohnt und hauptbetreuend ist. Wie alle<br />

Personen mit Betreuungspflichten, die auf<br />

Leistungen der Sozialhilfe angewiesen<br />

sind, sollen auch Alleinerziehende möglichst<br />

rasch zur Arbeitsintegration verpflichtet,<br />

dabei aber auch unterstützt werden.<br />

PRAXIS<br />

In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />

der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />

und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />

Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />

Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />

(einloggen) SKOS-Line.<br />

Nach der Geburt hat der betreuende Elternteil<br />

gemeinsam mit dem Sozialdienst<br />

den Wiedereinstieg ins Arbeitsleben zu<br />

planen. Massgebend bei dieser Planung<br />

sind eine Abwägung von Integrations- und<br />

Familienpflichten, das Kindeswohl und<br />

die Sicherstellung einer angemessenen<br />

Kinderbetreuung. Bei einer Person mit Betreuungspflichten<br />

wird eine Erwerbstätigkeit<br />

oder die Teilnahme an einer Integrationsmassnahme<br />

spätestens dann erwartet,<br />

wenn das Kind das erste Lebensjahr vollendet<br />

hat (SKOS-Richtlinie, C.1.3).<br />

Die SKOS anerkennt die Bedeutung<br />

der Betreuung eines Kindes während des<br />

ersten Lebensjahrs durch einen Elternteil.<br />

Es ist daher angemessen, einen alleinerziehenden<br />

Elternteil nicht gleich rasch<br />

zur Arbeitsintegration zu verpflichten wie<br />

jemanden, der in einer Paarbeziehung mit<br />

dem anderen Elternteil zusammenlebt.<br />

Die Arbeitsintegration muss individualisiert<br />

erfolgen (SKOS-Richtlinien, A.4), das<br />

heisst, die individuellen Ressourcen und<br />

Rahmenbedingungen müssen berücksichtigt<br />

werden. Sie entscheiden über den Zeitpunkt<br />

der Arbeitsintegration wie auch über<br />

das anzustrebende Pensum.<br />

Für die Kinderbetreuung kann keine<br />

Integrationszulage (IZU) entrichtet werden<br />

(SKOS-Richtlinien, C.2). Mit einer<br />

IZU werden Leistungen nicht erwerbstätiger<br />

Personen für ihre soziale und berufliche<br />

Integration finanziell anerkannt. Unterstützt<br />

werden nur Leistungen, welche<br />

die Chance auf eine erfolgreiche Integration<br />

erhöhen beziehungsweise erhalten. Die<br />

Kinderbetreuung erfüllt diese Voraussetzungen<br />

nicht.<br />

Damit die Arbeitsintegration gelingen<br />

kann, müssen betroffene Personen beim<br />

Wiedereinstieg bedarfsgerecht unterstützt<br />

werden. Wenn ein junger Elternteil betroffen<br />

ist, sind ergänzend die Richtlinien<br />

für junge Erwachsene zu berücksichtigen<br />

(SKOS-Richtlinien, B.4 und H.11). Insbesondere<br />

ist sicherzustellen, dass trotz elterlichen<br />

Sorgepflichten eine Erstausbildung<br />

(wieder-)aufgenommen und abgeschlossen<br />

werden kann.<br />

Antwort<br />

Bei Personen, die Sozialhilfe beziehen, ist<br />

der Arbeitsintegration eine vorrangige Bedeutung<br />

beizumessen. Klientinnen und<br />

Klienten haben trotz bestehender Erziehungspflichten<br />

nach ihren Kräften zur<br />

Minderung ihrer Bedürftigkeit beizutragen.<br />

Sozialdienste müssen auch alleinerziehende<br />

Eltern frühzeitig auf ihre Pflichten<br />

hinweisen und sie zur Arbeitsintegration<br />

motivieren. Damit die Arbeitsintegration<br />

gelingen kann, hat der Sozialdienst für<br />

zielgerichtete Hilfe und enge Betreuung zu<br />

sorgen. Eltern sind bei der Suche nach Ausbildungs-,<br />

Weiterbildungs- und Arbeitsangeboten<br />

zu unterstützten, aber auch bei der<br />

Suche von familienergänzenden Betreuungsmöglichkeiten.<br />

Im Fall von Laura Sommer ist zu berücksichtigen,<br />

dass sie sich voraussichtlich<br />

alleine um das Kind kümmern wird. Mit<br />

Blick auf das Kindswohl ist es daher nicht<br />

angemessen, sie so früh wie möglich zur<br />

Aufnahme eines hohen Tätigkeitspensums<br />

zu verpflichten. Wenn aber eine angemessene<br />

Kinderbetreuung sichergestellt werden<br />

kann, verfügt Laura Sommer dank<br />

ihrer abgeschlossenen Erstausbildung über<br />

ausreichende individuelle Ressourcen und<br />

gute Rahmenbedingungen, um spätestens<br />

nach Ablauf eines Jahres zur Aufnahme einer<br />

möglichst existenzsichernden Tätigkeit<br />

verpflichtet zu werden.<br />

•<br />

Alexander Suter<br />

Leiter Fachbereich Recht & Beratung der SKOS<br />

Kommission Richtlinien und Praxishilfen der SKOS<br />

6 ZeSo 1/17


Neue SKOS-Richtlinien sind in den<br />

Kantonen weitgehend umgesetzt<br />

SOZIALHILFE In den letzten zwei Jahren hat die SKOS ihre Richtlinien einer Revision unterzogen.<br />

Die Neuerungen sind seit Anfang <strong>2017</strong> in den Kantonen weitgehend umgesetzt. Die Revision hat<br />

dazu beigetragen, dass die Sozialhilfe in der Schweiz heute einheitlicher ausgestaltet ist.<br />

Auf Antrag der Schweizerischen Konferenz<br />

für Sozialhilfe SKOS hat die Konferenz der<br />

kantonalen Sozialdirektoren SODK die<br />

SKOS-Richtlinien in zwei Etappen (2015<br />

und 2016) revidiert. Beschlossen wurden<br />

verschiedene Leistungseinschränkungen<br />

und weitere Anpassungen des SKOS-Regelwerks,<br />

welches für die Ausgestaltung<br />

der Sozialhilfe in allen Kantonen wegleitend<br />

ist. Die neuen Regelungen der ersten<br />

Revisionsetappe gelten heute fast ausnahmslos<br />

in allen Kantonen.<br />

Ein Schwerpunkt der ersten Etappe waren<br />

tiefere Leistungen für junge Erwachsene<br />

unter 25 Jahren. Eine Auswertung<br />

der SKOS zeigt, dass heute alle Kantone<br />

für diese Personengruppe reduzierte Leistungen<br />

kennen. Beim ebenfalls gesenkten<br />

Grundbedarf für kinderreiche Familien<br />

ergibt sich ein weniger einheitliches Bild:<br />

22 Kantone haben die neuen Regeln übernommen,<br />

vier Kantone (BS, GE, NE, VD)<br />

verzichten auf eine Kürzung. Alle Kantone<br />

haben zudem den Sanktionsrahmen erweitert<br />

und sehen vor, dass der Grundbedarf<br />

in der Sozialhilfe bei Pflichtverletzungen<br />

um bis zu 30 Prozent gekürzt werden<br />

kann. Sämtliche Kantone haben zudem die<br />

Minimale Integrationszulage abgeschafft,<br />

welche 2005 eingeführt worden war, um<br />

eine Leistungskürzung abzufedern.<br />

Die per 1. Januar <strong>2017</strong> in Kraft getretene<br />

zweite Etappe der Richtlinien ist in<br />

20 Kantonen bereits vollständig umgesetzt,<br />

per 1. März folgte mit dem Kanton<br />

Jura der 21. Kanton. Fünf Kantone haben<br />

auf eine Umsetzung der zweiten Revisionsetappe<br />

verzichtet, weil die neuen Regelungen<br />

nur zu geringfügigen Veränderungen<br />

geführt hätten.<br />

Die Revision der SKOS-Richtlinien hat<br />

somit dazu beigetragen, die Sozialhilfe in<br />

den Kantonen weiter zu harmonisieren<br />

und die Akzeptanz der SKOS-Richtlinien<br />

zu stärken. Entscheidend hierfür war die<br />

Tatsache, dass die wesentlichen Kritikpunkte<br />

von Kantonen und Gemeinden<br />

in der Revision berücksichtigt wurden.<br />

Weil ein Bundesgesetz für die Sozialhilfe<br />

fehlt, füllen die SKOS-Richtlinien das<br />

gesetzliche Vakuum zumindest teilweise<br />

aus. Die SKOS erachtet die Ergebnisse der<br />

beiden Revisionsetappen als befriedigend.<br />

Zugleich weist sie aber mit Nachdruck darauf<br />

hin, dass es Sache von Bund und Kantonen<br />

ist, die verbesserte Harmonisierung<br />

abzusichern und darauf hinzuwirken,<br />

dass sich die Kantone auch an die gemeinsam<br />

verabschiedeten neuen Richtlinien<br />

halten. (HI)<br />

•<br />

Die neuen<br />

SKOS-Richtlinien<br />

Mit der ersten Revisionsetappe wurden<br />

der Grundbedarf bei Haushalten ab 6<br />

Personen um 76 Franken pro Person/<br />

Monat und die Ansätze für junge<br />

Erwachsene bis 25 Jahren mit eigenem<br />

Haushalt um 20% auf Fr. 789 reduziert.<br />

Neu wurde es den Behörden ermöglicht,<br />

Pflichtverletzungen mit einer Reduktion<br />

des Grundbedarfs um 5-30% zu sanktionieren.<br />

Die zweite Revisionsetappe präzisiert<br />

u.a. die situationsbedingten Leistungen<br />

(SIL): Sie verringert Schwelleneffekte,<br />

die zu negativen Anreizen bei der<br />

Arbeitsintegration führen können.<br />

Weiter enthält sie Empfehlungen<br />

zur früheren Arbeitsintegration von<br />

Müttern.<br />

1/17 ZeSo<br />

7


«Der sozioökonomische Status wirkt<br />

sich auf die Chancen der Kinder aus»<br />

INTERVIEW Als Geschäftsführerin von Unicef Schweiz beschäftigt sich Elsbeth Müller mit globaler<br />

Kinderarmut. Im Interview spricht sie über Frühförderung und die Arbeit von Unicef entlang der<br />

Fluchtrouten. Und sie fordert kinderrechtliche Standards in Schweizer Aufnahmezentren.<br />

«<strong>ZESO</strong>»: Frau Müller, in der Schweiz<br />

gilt jedes zehnte bis zwanzigste Kind<br />

als arm. Ist Kinderarmut hierzulande<br />

ein unterschätztes Phänomen?<br />

Elsbeth Müller: Ich glaube, Armut<br />

wird insgesamt unterschätzt. Vor allem,<br />

weil häufig im Hinterkopf die Vorstellung<br />

herrscht, dass Armut selbst verschuldet ist.<br />

Aber sie hat viel mit Lebenssituationen zu<br />

tun, auf die man keinen Einfluss hat, beispielsweise<br />

Krankheit und Behinderung,<br />

Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld<br />

oder Verlust von Arbeit. Für Kinder,<br />

die eigentlich in der aufstrebenden Zeit<br />

ihres Lebens sind und erst in die Gesellschaft<br />

hineinwachsen, ist Armut besonders<br />

gravierend. Auch in der Schweiz lebt ein zu<br />

grosser Anteil von Kindern unter problematischen<br />

Bedingungen.<br />

Wie zeigt sich die Armut im Alltag der<br />

betroffenen Kinder?<br />

Kinder, die aufgrund des sozioökonomischen<br />

Status der Eltern unter erschwerten<br />

Bedingungen aufwachsen, können sich<br />

häufig nicht vollumfänglich in die Gesellschaft<br />

integrieren. Denn viele Angebote in<br />

unserer Gesellschaft sind kostenpflichtig.<br />

Armutsbetroffene Familien können beispielsweise<br />

nicht ins Museum gehen und<br />

vor allem können sie es nicht jeden Monat<br />

tun. Und auch in der Schule gibt es Zusatzelemente,<br />

die Eltern schnell finanziell<br />

überlasten. Ein Kind, das Schwierigkeiten<br />

in der Schule hat, kann dann nicht einfach<br />

in die Nachhilfe geschickt werden.<br />

Armutsbetroffene Kinder haben<br />

schlechtere Chancen.<br />

Ja, der tiefere sozioökonomische Status<br />

der Eltern wirkt sich direkt auf die<br />

Entwicklungschancen der Kinder aus. Er<br />

geht vielfach einher mit grösseren Schulschwierigkeiten,<br />

schlechterer Gesundheit<br />

etc. Es ist aber nicht nur eine familiäre<br />

Verantwortung, Kindern einen möglichst<br />

guten Lebensstart zu bieten, sondern eine<br />

gesellschaftliche. Da verweise ich auf die<br />

Kinderrechtskonvention, die die Schweiz<br />

unterzeichnet hat, und laut dieser hat jedes<br />

Kind das Recht auf gleiche Chancen.<br />

Was schützt Kinder besser vor Armut?<br />

Wenn Familien insgesamt unterstützt<br />

werden oder wenn man an spezifischen<br />

Punkten beim Kind ansetzt?<br />

Sicherlich müssen armutsbetroffene<br />

Familien insgesamt unterstützt und aufgefangen<br />

werden. Bei gewissen Leistungen<br />

stellt sich aber schon die Frage, ob sie auf<br />

die Kinder ausgerichtet sind oder einfach<br />

eine Zugabe an eine Familie sind, die für<br />

das Kind nicht automatisch eine Verbesserung<br />

bedeutet. Es gibt Länder, die Unterstützungsleistungen<br />

viel zielgerichteter auf<br />

Kinder ausrichten: Kostenlose Krippenplätze<br />

für Armutsbetroffene oder kostenlose<br />

Nachhilfe sind da nur zwei Beispiele.<br />

In diesem Zusammenhang ist die soziale<br />

Vererbung von Armut ein grosses<br />

Thema. Wie kann sie durchbrochen<br />

werden?<br />

Es ist entscheidend, Kinder möglichst<br />

früh in die Gesellschaft zu integrieren. Darum<br />

bin ich überzeugt, dass frühkindliche<br />

Förderung ein <strong>ganz</strong> wichtiges Element ist.<br />

Auch frühe aufsuchende Arbeit ist wichtig.<br />

Diese muss erfolgen, bevor sich die Familie<br />

selbst als Risikofamilie wahrnimmt.<br />

Wo kann diese Früherkennung und<br />

Triage stattfinden?<br />

Meiner Meinung nach sollte die Mütterund<br />

Väterberatung eine viel stärkere Rolle<br />

haben und auch die Ressourcen, die aufsuchende<br />

Arbeit wahrnehmen zu können.<br />

Ein zweites Schlüsselelement ist, dass betroffene<br />

Kinder früh Teil einer grösseren<br />

Gruppe sein können. Eine Kinderkrippe<br />

mit guter Durchmischung fördert diejenigen<br />

Kinder mit Belastungsfaktoren. Das<br />

Ziel muss sein, dass alle Kinder, wenn sie<br />

in die Schule kommen, die gleichen Startchancen<br />

haben. Es ist in der Schweiz aber<br />

immer noch so, dass der sozioökonomische<br />

Status in der Schule determinierend ist.<br />

Ist das der Grund, warum die Schweiz<br />

im Bereich der Förderung und Bildung<br />

im aktuellen Unicef-Ländervergleich<br />

unterdurchschnittlich abschneidet?<br />

Im Schweizer Schulsystem fehlen Massnahmen,<br />

die helfen, schlechtere Startchancen<br />

zu egalisieren. Es gibt schon Angebote<br />

oder Zuschüsse, die sind aber vom Wohnkanton<br />

oder der Gemeinde abhängig. Der<br />

Staat wäre aber verpflichtet, für die meist<br />

verletzlichen Kinder bessere Startchancen<br />

zu ermöglichen und dies über die Kantonsgrenzen<br />

hinweg sicherzustellen.<br />

Was machen die Länder anders, die in<br />

diesem Bereich besser dastehen?<br />

Das sind vor allem die nordischen Länder,<br />

in denen die Frühförderung früher<br />

anfängt und es für die meisten Kinder Betreuungsplätze<br />

gibt. Die Schweiz ist auch<br />

auf gutem Weg. Aber man muss auch<br />

festhalten: Sie ist das reichste Land und<br />

erlaubt es sich dennoch, bei den Kindern<br />

zurückzufallen.<br />

Die Revision der SKOS-Richtlinien<br />

betraf auch die Arbeitsintegration<br />

von Alleinerziehenden. Sie sollen<br />

früher wieder arbeiten oder an einer<br />

Integrationsmassnahme teilnehmen.<br />

Als Befürworterin der frühkindlichen<br />

Förderung werden Sie diese Massnahme<br />

begrüssen.<br />

Alle Studien weisen darauf hin, dass<br />

stabile Bezugspersonen im frühkindlichen<br />

Alter wichtig sind. Das familiäre Umfeld<br />

ist in den ersten zwei Lebensjahren beson-<br />

8 ZeSo 1/17


Elsbeth Müller<br />

Nach einer Ausbildung zur Primarlehrerin und<br />

der Weiterbildung zur Heilpädagogin arbeitete<br />

Elsbeth Müller als Dozentin am Heilpädagogischen<br />

Seminar der Universität Zürich. 1996<br />

übernahm sie die Leitung der Geschäftsstelle<br />

der Unicef Schweiz. Unicef ist das Kinderhilfswerk<br />

der Vereinten Nationen, mit Hauptsitz<br />

in New York. Es wurde 1946 gegründet, die<br />

Schweizer Sektion gibt es seit 1959. Elsbeth<br />

Müller ist 61 und wohnt in Zürich.<br />

ders wichtig. Aber ein Kind kann mehrere<br />

Bezugspersonen haben. In der Schweiz<br />

tun wir uns häufig schwer damit zu glauben,<br />

dass auch Bezugspersonen in den<br />

Kitas Kontinuität bieten. Gerade wenn in<br />

einer Familie Belastungsfaktoren vorhanden<br />

sind, kann es für ein Kind entlastender<br />

sein, eine gewisse Zeit des Tages in einem<br />

anderen Milieu zu verbringen Auch für<br />

eine Mutter kann es ein Entlastungsfaktor<br />

sein, einer Erwerbsarbeit nachzugehen<br />

und dadurch Aussenkontakte zu haben.<br />

Das klingt, als käme noch ein «Aber»…<br />

Wenn der Staat Mütter früher in den<br />

Arbeitsmarkt integrieren will, muss er<br />

«Im Schweizer<br />

Schulsystem fehlen<br />

Massnahmen, die<br />

helfen, schlechtere<br />

Startchancen zu<br />

egalisieren.»<br />

auch sicherstellen, dass es genügend und<br />

qualitativ gute Krippenplätze gibt. Heute<br />

kann man nicht mehr erwarten, dass die<br />

Kinderbetreuung ausschliesslich privat<br />

geregelt wird. Und die Arbeit muss für die<br />

Mutter einen Mehrwert bieten. Der Lohn<br />

sollte nicht gleich wieder für Kinderbetreuung<br />

weggehen. Da stellt sich wieder die<br />

Frage, ob es nicht besser wäre, direkt den<br />

Krippenplatz zu finanzieren, statt die Mutter<br />

zu unterstützen, damit sie eine Krippe<br />

bezahlen kann.<br />

Wo in der Schweizer Familienpolitik<br />

gibt es dringenden Handlungsbedarf?<br />

Ein Problem ist die ungenügende Datenlage<br />

über belastete Kinder. Wir brauchen<br />

bessere Daten, um klarere Aussagen<br />

zu treffen und zielgerichtete politische<br />

Massnahmen daraus abzuleiten. Aktuell<br />

gibt es ja keine Kinderpolitik, sondern nur<br />

Familienpolitik. Das Kind wird immer als<br />

Teil der Familie angeschaut. Aber gemäss<br />

der Kinderrechtskonvention ist das Kind<br />

selbst der Rechtsträger. In vielen anderen<br />

Ländern gibt es eigene Kinder- und Jugendministerien.<br />

Bei uns kommen Kinder<br />

auf Bundesebene nicht wirklich vor, nur<br />

im Rahmen des Bundesamts für Sozialversicherungen.<br />

Wir müssten eine gezielte<br />

Kinderpolitik entwickeln.<br />

Sprechen wir über den internationalen<br />

Kontext, in dem Unicef hauptsächlich<br />

tätig ist und in dem Armut ein <strong>ganz</strong><br />

<br />

1/17 ZeSo<br />

9


anderes Gesicht hat. Wie leicht ist es,<br />

diese unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche<br />

unter einen Hut zu bringen?<br />

Das ist eine Herausforderung. Klar, ein<br />

armutsbetroffenes Kind in einem armen<br />

Land hat andere Schwierigkeiten als ein armutsbetroffenes<br />

Kind in einem Industrieland.<br />

Aber beide sind betroffen von Belastungsfaktoren,<br />

die dazu führen, dass ihre<br />

Chancen gemindert werden. Die Armutsfrage<br />

ist kontextabhängig und stellt sich<br />

international in jedem Land wieder neu.<br />

Das ist der Ansatz, mit dem wir arbeiten.<br />

Wie hat sich die Kinderarmut in Entwicklungsländern<br />

entwickelt?<br />

Im Rahmen der Millenniumsziele, die<br />

sich die UNO gegeben hat, hat sich die<br />

Armut weltweit halbiert. Gemessen an der<br />

Anzahl betroffener Kinder ist das ein grosser<br />

Fortschritt. Aber es bestehen nach wie<br />

vor grosse Herausforderungen. In vielen<br />

Ländern ist chronische Mangelernährung<br />

ein grosses Problem, das zu einem Teufelskreis<br />

führt: Mangelernährte Kinder sind<br />

häufiger krank. Den Eltern fehlt das Geld<br />

für Medikamente, wodurch sich bestehende<br />

Krankheitsaspekte verstärken. Wenn<br />

die Kinder in die Schule kommen, können<br />

sie ihr Potenzial aufgrund ihres Gesundheitszustands<br />

nicht entfalten, obwohl die<br />

Bildung ja ein Weg aus der Armut sein<br />

könnte.<br />

«Wir müssen eine gezielte Kinderpolitik entwickeln», fordert Elsbeth Müller. <br />

Bilder: Meinrad Schade<br />

Wie sieht es grundsätzlich im Bereich<br />

Schule und Bildung aus?<br />

Wir können sagen, dass Kinder heute<br />

weltweit in die Schule gehen. Die Anzahl<br />

der Kinder, die nicht in die Schule gehen,<br />

hat sich in den letzten 20 Jahren von 240<br />

auf 70 Mio. gesenkt. Das ist beachtlich!<br />

Nur ist es so, dass Kinder nun zwar eingeschult<br />

werden, aber die Qualität des Schulunterrichts<br />

dann wieder ungenügend ist.<br />

Und auch hier bleiben wieder die belasteten<br />

Kinder zurück.<br />

Was können wir tun, um global die<br />

Kinderarmut zu bekämpfen? Welche<br />

Haltung müssen wir einnehmen?<br />

Es gibt verschiedene Aspekte. Ein Anteil<br />

ist, dass man sich bewusst sein muss,<br />

dass ein globales Vorwärtskommen Solidarität<br />

erfordert. Das ist vielleicht ein alter<br />

Spruch, aber Solidarität ist nötig, um einen<br />

Ausgleich erreichen zu können. Auf der Regierungsebene<br />

ist es nötig, allen Ländern<br />

Zugang zu Märkten zu geben und Protektionismus<br />

geplant aufzulösen. Und dann<br />

gibt es ein drittes Thema. Multinationale<br />

Unternehmen haben eine viel grössere<br />

Wirkung auf das Leben des Einzelnen, als<br />

wir annehmen. Sie müssen Verantwortung<br />

für ihre Standorte und ihre Arbeitnehmer<br />

übernehmen und dürfen sich dieser Verantwortlichkeit<br />

nicht entziehen.<br />

Aber diese Verantwortlichkeit fordert<br />

niemand verbindlich ein.<br />

Doch, beispielsweise die UNO im<br />

Rahmen ihrer Armutsdebatte. Aber es ist<br />

ein langer Weg. Und während dieser Zeit<br />

wachsen viele Kindergenerationen auf.<br />

Diese Kinder werden junge Erwachsene.<br />

Und wenn sie keine Chance auf Bildung<br />

und Arbeit haben, ist das frustrierend. Wir<br />

müssen verhindern, dass Generationen<br />

von Jugendlichen heranwachsen, die Aggressionen<br />

in sich tragen, mit denen wir<br />

als Gesellschaft wieder umgehen müssen.<br />

In Ländern, in denen gleichzeitig noch<br />

Krisen und Katastrophen herrschen, potenziert<br />

sich dieses Problem.<br />

Was leistet Unicef in Bezug auf die<br />

Flüchtlingssituation weltweit?<br />

Unicef hat weltweit die Verantwortung<br />

im Bereich «Wash». Wenn es eine Krise<br />

gibt, sorgt Unicef für Wasser und sanitäre<br />

10 ZeSo 1/17


«Auch in Schweizer Aufnahmezentren fehlt<br />

es häufig an kinderrechtlichen Standards.»<br />

Anlagen und stellt die Hygiene sicher. Zusätzlich<br />

haben wir Aufgaben im Bildungsund<br />

Kinderschutzbereich. In Bezug auf<br />

Syrien sind wir beispielsweise in allen<br />

betroffenen Ländern auf der Fluchtroute<br />

aktiv: In der Türkei in den Flüchtlingszentren,<br />

im Libanon, in Jordanien und im Irak<br />

auch in den Flüchtlingslagern oder betreffend<br />

der Gastfamilien, in denen einige<br />

Kinder leben. Und wir schaffen Schulmöglichkeiten.<br />

Wie muss man sich das vorstellen?<br />

Wir sorgen dafür, das Schulen errichtet<br />

und die Kinder eingeschult werden. Dann<br />

gibt es spezifische Aufgaben. Ein kleines<br />

Beispiel: Kinder aus Syrien sind in einem<br />

Schulsystem grossgeworden, das sich vom<br />

jordanischen unterscheidet. Die Befürchtung<br />

ist, dass ein jordanischer Schulnachweis<br />

für syrische Flüchtlingskinder bei<br />

einer allfälligen Rückkehr in die Heimat<br />

nutzlos oder sogar zu ihren Ungunsten<br />

ausgelegt werden könnte. Um die Familien<br />

nicht zu gefährden, haben wir in jordanischen<br />

Flüchtlingszentren eine Curriculumsentwicklung<br />

gemacht, so dass die<br />

Kinder einen Nachweis bekommen, bei<br />

dem man nicht merkt, von wo er stammt.<br />

So könnten sie auch wieder im syrischen<br />

Schulsystem weitergeschult werden.<br />

Gibt es Aktivitäten von Unicef Schweiz<br />

für die Flüchtlingskinder in der<br />

Schweiz?<br />

Ein grosses Thema ist die Festlegung<br />

von kinderrechtlichen Standards. Daran<br />

fehlt es häufig auch in Schweizer Aufnahmezentren,<br />

beispielsweise in Bezug auf<br />

Unterbringung, Anhörung im Asylverfahren<br />

etc. Unicef versucht solche Standards<br />

mit zu entwickeln und einzufordern. Wir<br />

haben auch einen Runden Tisch einberufen<br />

mit allen Stakeholdern, die in diesem<br />

Bereich für Kinder tätig sind. Ein<br />

Problem, das sich in diesem Rahmen<br />

herauskristallisiert hat, ist, dass die Sozialhilfe,<br />

wenn sie in den Gemeinden für<br />

Kinder aus dem Asylbereich zum Tragen<br />

käme, zunehmend Leistungen nicht<br />

übernehmen will und solche Kinder an<br />

die KESB weiterleitet. Aber die KESB ist<br />

ein zivilrechtliches Organ, das in dieser<br />

Fragestellung keine Rolle zu spielen hätte.<br />

Diesem Umstand versuchen wir nun<br />

nachzugehen.<br />

Unicef Schweiz vergibt das Label<br />

«kinderfreundliche Gemeinde». Was<br />

macht eine kinderfreundliche Gemeinde<br />

aus?<br />

Kurz gesag, setzt eine kinderfreundliche<br />

Gemeinde sehr umfassend und auf<br />

eine systematische Weise die Kinderrechte<br />

um. Das ist nicht selbstverständlich, weil<br />

die Kinderrechtskonvention ja auf nationaler<br />

Ebene unterzeichnet worden ist, während<br />

die Kinder in den Gemeinden leben.<br />

Sie machen also quasi die Übersetzungsarbeit.<br />

Ja, das ist richtig. Am Anfang steht ein<br />

Assessment für alle Massnahmen der Gemeinden,<br />

die Kinder betreffen. Was wird<br />

in den Bereichen Freizeit, Gesundheit etc.<br />

getan? Gibt es ein Kinderleitbild und Legislaturziele<br />

in Bezug auf Kinder? Werden<br />

die Massnahmen koordiniert? In einem<br />

zweiten Schritt muss die Gemeinde mit<br />

Kindern zusammensitzen und ihre Sicht<br />

erfahren. Daraus entstehen ein Aktionsplan<br />

und die Verpflichtung, gewisse Massnahmen<br />

zu Gunsten von Kindern umzusetzen.<br />

Ein vorbildliches Beispiel für den<br />

Einbezug von Kindern ist die Stadt Basel<br />

mit ihrer Verkehrsplanung. Werden ein<br />

Kreisel gebaut oder Kreuzungen verändert,<br />

werden Kinder systematisch miteinbezogen.<br />

Sie besichtigen mit Experten die Orte<br />

und geben ihre Einschätzung ab, wo für<br />

Kinder Probleme bestehen, was gefährlich<br />

ist etc. Damit fliesst eine zusätzliche und<br />

wertvolle Perspektive mit ein.<br />

Wie kinderfreundlich ist die Schweiz<br />

grundsätzlich?<br />

Ich glaube, im Vergleich mit vielen Ländern<br />

ist die Schweiz ein kinderfreundliches<br />

Land. Aber wir müssen aufpassen, dass wir<br />

den Kindern den nötigen Raum geben, damit<br />

sie sich autonom entwickeln können.<br />

Sie sollten nicht darauf angewiesen sein,<br />

dass die Eltern sie auf die Spielplätze führen<br />

und in die Schule fahren. Sie müssen<br />

den Raum selbst- und eigenständig entdecken<br />

können. Wir müssen beispielsweise<br />

sichere Schulwege ermöglichen und Plätze<br />

schaffen, wo Kinder sich auch unbeaufsichtigt<br />

treffen können. Wissen Sie, Kinder<br />

müssen miteinander auch einmal den<br />

Hosenlupf wagen, um ihre Stärken und<br />

Schwächen ausloten zu können. Sie brauchen<br />

Zeit, Dinge untereinander auszuhandeln<br />

und zwar unabhängig von Erwachsenen.<br />

Das macht sie widerstandsfähig. Und<br />

diese Widerstandsfähigkeit brauchen sie,<br />

um später in ein Erwachsenenleben zu gehen.<br />

•<br />

Das Gespräch führte:<br />

Regine Gerber<br />

1/17 ZeSo<br />

11


12 ZeSo 1/17 SCHWERPUNKT<br />

Bild: Rudolf Steiner


Science-Fiction auf dem Arbeitsmarkt<br />

Work Smart, Home-Office, Crowdworking. Die Digitalisierung verändert den Arbeitsmarkt in immer<br />

schnellerem Tempo und tiefgreifend. Neue Arbeitsformen, Flexibilisierung, neue Anforderungsprofile<br />

für viele Berufe können für Arbeitnehmer eine Chance – oder auch ein Risiko sein.<br />

Wie einst die Nutzbarmachung der Elektrizität und die Automatisierung,<br />

ist die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien<br />

dabei, die Gesellschaft und Wirtschaft tiefgreifend<br />

umzugestalten. Neue Arbeitsanforderungen, Flexibilisierung<br />

von Ort, Zeit und Organisation – die Arbeitswelt verändert sich<br />

stark und für viele zunehmend spürbar. Betrachtet man Bilder von<br />

arbeitenden Robotern, glaubt man sich in einem Science-Fiction-<br />

Film und doch sind sie Realität. «Taxifahrer, Kassierer und Buchhalter<br />

wird es in 20 Jahren als Beruf nicht mehr geben.» So war<br />

2016 in einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung zu lesen. Andere<br />

sehen die Callcenter-Telefonisten vor dem Verschwinden.<br />

Aber auch Apotheker sind auf der Suche nach neuen Aufgaben, da<br />

der Medikamentenverkauf mehr und mehr auf Online-Plattformen<br />

abwandert; auch Aufgaben von Ärzten, Ökonomen und Juristen<br />

werden von Online-Plattformen und anderen digitalen Anbietern<br />

übernommen – zumindest einzelne. Und auch die klassische<br />

Büroarbeit ist immer weniger gefragt und wandelt sich im Zuge<br />

der digitalen Möglichkeiten stark.<br />

Wir werden seit wenigen Jahren und auch das in immer kürzeren<br />

Abständen von Studien aufgeschreckt, fast täglich können wir<br />

in den Medien Artikel zum Thema lesen, auch sie versuchen all die<br />

laufenden Veränderungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Arbeitswelt<br />

zu erfassen und suchen Antworten auf die vielen Fragen, die<br />

sich stellen: Wird die klassische Arbeit, wie wir sie kennen, schon<br />

bald nicht mehr existieren? Welche Stellen gehen verloren, welche<br />

neuen Arbeitsplätze und Berufe werden geschaffen? Wie werden<br />

wir arbeiten? Was sind das für «Arbeiter», die in der Zukunft top<br />

qualifiziert sein werden? Wer sind die Verlierer der schönen neuen<br />

Arbeitswelt? Welche Chancen bietet die Arbeit der Zukunft für<br />

Menschen ohne Berufsausbildung oder ohne profunde Computerkenntnisse?<br />

Welche Chancen haben ältere Arbeitnehmer, die «digital<br />

immigrants», die erst im Erwachsenenalter mit der digitalen<br />

Welt in Berührung kamen und nun von den Jungen, den «digital<br />

natives», links überholt werden?<br />

Die Arbeitsmaschinen ersetzen längst nicht mehr nur schlichte<br />

Routine-Jobs und Fabrikarbeit. Eine weltweit vielzitierte Studie<br />

der Oxford-Universität nahm vor drei Jahren den Arbeitsmarkt der<br />

USA unter die Lupe. Sie stellte in Aussicht, dass nahezu jeder zweite<br />

Job innerhalb der nächsten 20 Jahre der Automatisierung zum<br />

Opfer fallen könnte. Auch wenn die Prognosen in anderen Studien<br />

(9 Prozent gemäss OECD, «Automation and independent work in<br />

a digital economy» 2016) weit weniger drastisch tönen, die Veränderungen<br />

in vielen Berufen infolge von Digitalisierung und Roboterisierung<br />

sind fundamental. Auch wenn die Entwicklungen<br />

in Wirtschaft und Arbeitsmarkt langsam fortschreiten. Plötzlich<br />

könnte es dann <strong>ganz</strong> schnell gehen, glaubt man dem Studienautor<br />

aus Oxford, Michael Osborne. Werden die technischen Hindernisse<br />

mit den neuen digitalen Technologien dereinst gelöst,<br />

könnten sehr viele Jobs sehr schnell verschwinden.<br />

Auch wenn man diesen Extremszenarien nicht glaubt, auch die<br />

OECD-Studie geht zumindest davon aus, dass die Berufe sich sehr<br />

stark wandeln und für jeden vierten Beruf die Hälfte der Tätigkeiten<br />

komplett neu sein wird.<br />

Kernaufgabe Bildung<br />

Auch hierzulande sind viele Fragen noch unbeantwortet. Die<br />

Schweiz sei gut vorbereitet auf die Entwicklungen, stellt der Bundesrat<br />

in seinem Bericht zu den Rahmenbedingungen der digitalen<br />

Wirtschaft fest. Klar ist, auch in Zukunft gilt, wer gut ausgebildet<br />

ist und sich im Berufsleben weiterbildet, hat auf dem<br />

Arbeitsmarkt deutlich bessere Chancen als Stellensuchende ohne<br />

Berufsausbildung. Die Qualifikationen der Arbeitnehmer müssen<br />

möglichst mit den Anforderungen einer zunehmend digitalen<br />

Welt übereinstimmen, so die Haltung im Seco. Mit der Plattform<br />

«Berufsbildung 2030» werden zur Zeit deshalb die gängigen Berufsbilder<br />

auf ihre Zukunftsfähigkeit überprüft. Damit die Grundierung<br />

gemalt beziehungsweise eine Vision 2030 formuliert<br />

werden kann, müssen entsprechende Megatrends – im Speziellen<br />

bezüglich der Gesellschaft und des Arbeitsmarktes – identifiziert<br />

und deren Implikationen auf die Berufsbildung diskutiert werden.<br />

Da Megatrends erfahrungsgemäss häufig auch gegensätzliche<br />

Tendenzen ausweisen können, können im Grundsatz unterschied-<br />

14 ZeSo 1/17 SCHWERPUNKT


ARBEIT der zukunft<br />

liche Visionen 2030 erarbeitet werden. Im Rahmen des Prozesses<br />

sollen jedoch mögliche strategische Handlungsoptionen identifiziert,<br />

priorisiert und konsolidiert werden, um der Vision 2030 eine<br />

einheitliche Ausrichtung geben zu können.<br />

Flexibilisierung = Entrechtlichung?<br />

Vorteile der digitalen Arbeitswelt bietet die Flexibilisierung. Sie ermöglicht<br />

es beispielsweise Müttern und Vätern, Familie und Arbeit<br />

besser unter einen Hut zu bringen, und Angestellten, zusätzliche<br />

Jobs zu übernehmen (vgl. Seite 16). Bereits 38 Prozent der<br />

Erwerbstätigen arbeiten in der Schweiz schon jetzt zeitweise mobil.<br />

Dies geht aus einer im vergangenen Sommer publizierten Studie<br />

der Hochschule für Angewandte Psychologie der FHNW hervor.<br />

«Gezielt und systematisch gestaltete mobil-flexible<br />

Arbeitsformen bieten ein grosses Potenzial, gleichzeitig gesundheits-,<br />

leistungs- und wettbewerbsförderliche Arbeitsverhältnisse<br />

zu schaffen. Diese Chance sollten wir gemeinsam und in Kooperation<br />

zwischen Wissenschaft und Praxis nutzen», sagt Prof. Dr.<br />

Hartmut Schulze, Hochschule für Angewandte Psychologie<br />

FHNW. «Mobil-flexibles Arbeiten ermöglicht es Arbeitnehmenden,<br />

über eine freiere Arbeitszeit- und Arbeitsortgestaltung berufliche<br />

und private Bedürfnisse besser miteinander zu vereinbaren.<br />

Dafür braucht es aber ein Minimum an unternehmensinternen<br />

Die Bilder im Kopf von den am Fliessband<br />

stehenden Fabrikangestellten, die Teil für Teil ein<br />

Auto zusammenbauen, sind definitiv veraltet.<br />

Bilder: Kia, Keystone<br />

Guidelines sowie an Unterstützung für Mitarbeitende und Führungskräfte»,<br />

sagte Manuel Keller, Leiter Beruf und Beratung,<br />

Kaufmännischer Verband Schweiz.<br />

Das mobil-flexible Arbeiten ist als Kernphänomen der künftigen<br />

Arbeitswelt eine komplizierte und komplexe Herausforderung<br />

für die Gesellschaft. Zum Beispiel das amerikanische Dienstleistungsunternehmen<br />

Uber in San Francisco, das inzwischen in fast<br />

500 Städten vertreten ist. Es macht die traditionellen Taxidienste<br />

zwar noch nicht überflüssig aber bedrängt diese doch erheblich.<br />

Da stellen sich rasch arbeits- und sozialversicherungsrechtliche<br />

Fragen. «Die Herausforderung für die Gesetzgebung besteht grob<br />

gesagt darin, einen Rahmen zu setzen, welcher sowohl technologische<br />

Entwicklungen ermöglicht als auch die Arbeitnehmenden<br />

gezielt schützt», wie Ursina Jud Huwiler, Leiterin Ressort Arbeitsmarktanalyse<br />

und Sozialpolitik im Staatssekretariat für Wirtschaft<br />

(Seco) in einem Artikel in «Die Volkswirtschaft» schreibt. •<br />

SCHWERPUNKT 4/16 ZeSo<br />

Ingrid Hess<br />


Die flexible Arbeitswelt für sich nutzen –<br />

Chancen und Stolpersteine<br />

Die technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und dabei insbesondere die Digitalisierung<br />

führen zu tief greifenden Umwälzungen in der Arbeitswelt. Geringqualifizierte Arbeitende werden<br />

sich mit den neuen Anforderungen schwer tun.<br />

Die neuen Umwälzungen in der Arbeitswelt erlauben insbesondere<br />

ein zunehmend flexibles Arbeiten – und das gleich in mehrerer<br />

Hinsicht:<br />

• Zeitliche Flexibilität: Anstelle fester Bürozeiten treten Modelle<br />

für Jahres- oder Vertrauensarbeitszeit. Rund 37 Prozent der<br />

Schweizer arbeiten Teilzeit, rund 61 Prozent in einem Gleitzeitsystem.<br />

Dies bringt oft eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit<br />

und Privatleben mit sich.<br />

• Örtliche Flexibilität: Dank Internet und Handy können Angestellte<br />

auch von zu Hause oder von einem anderen Standort aus<br />

auf Firmendaten zugreifen und mobil tätig sein. 25 Prozent<br />

der Erwerbstätigen können das Heimbüro nutzen, das mobile<br />

Arbeiten jederzeit und überall hat sich mittlerweile etabliert.<br />

Darüber hinaus setzen Betriebe vermehrt auch auf Desk-Sharing<br />

und sind damit innerhalb der Firmeninfrastruktur flexibel.<br />

Unter der Bedingung, dass das Arbeiten im Home-Office<br />

auf Wunsch der Angestellten und nicht zusätzlich zur regulären<br />

Arbeit im Büro stattfindet, gehen mit dieser Form der Arbeitsflexibilität<br />

viele Vorteile wie höhere Produktivität, Zufriedenheit<br />

und bessere Life-Domain-Balance einher.<br />

• Organisatorische Flexibilität: Statt auf der über Jahrzehnte<br />

gleich bleibenden Arbeitsstelle engagiert man sich vermehrt<br />

in wechselnden Teams an Projekten von kürzerer Dauer. Der<br />

Trend zur Hierarchieverflachung in Organisationen setzt sich<br />

fort. Statt genaue Weisungen der Vorgesetzten zu befolgen,<br />

wird Arbeitnehmenden ein erweiterter Handlungsspielraum<br />

zugestanden. Vorgängig vereinbarte Ziele sollen so in eigener<br />

Verantwortung erreicht werden und sind häufig relevant für<br />

die variablen Lohnanteile. Auf diese Weise wird unternehmerisches<br />

Risiko auf Angestellte übertragen. In der sozialwissenschaftlichen<br />

Literatur wurde für diese Vermischung der<br />

klassischen Rollen zum einen der Begriff «Arbeitskraftunternehmer/in»<br />

geschaffen, andernorts wird auch von der Subjektivierung<br />

der Arbeit gesprochen. Für Mitarbeitende kann diese<br />

Zunahme an Handlungsspielraum ein Gewinn darstellen. Es<br />

besteht aber auch die Gefahr der Selbstausbeutung, wenn sich<br />

die Life-Domain-Balance zunehmend mehr zu Gunsten der Arbeit<br />

verschiebt.<br />

• Numerische Flexibilität: Auch passen Betriebe ihre Belegschaft<br />

an das Arbeitsvolumen an und lagern Aufgaben gegebenenfalls<br />

aus, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Dies zeigt sich beispielsweise<br />

durch befristete Arbeitsverhältnisse, Honorarprojekte<br />

oder neue Formen der Auftragsvergabe wie etwa das Crowdsourcing<br />

auf Internetplattformen. Etwa 7 Prozent der Schweizer<br />

Arbeitsverträge sind befristet. Das «klassische» Arbeiten auf<br />

Abruf ist in den letzten 15 Jahren relativ stabil bei 5 Prozent<br />

Platz für Co-Worker im Kaffee Effinger in Bern. <br />

Bild: Ingrid Hess<br />

16 ZeSo 1/17 SCHWERPUNKT


ARBEIT der zukunft<br />

geblieben. Für die relativ junge Erscheinung des Crowdsourcing<br />

bzw. Crowdworking gibt es dagegen keine verlässlichen<br />

Daten, doch dürfte diese Art der Auftragsvermittlung künftig<br />

an Bedeutung gewinnen: Insbesondere in der Informatik- und<br />

Kommunikationsbranche ist es denkbar, dass Unternehmen<br />

in den nächsten Jahren Teile ihrer festen Belegschaft abbauen.<br />

Die zusätzlich nötigen Arbeitskräfte bezieht man dann als «Liquid<br />

Talents» aus der «Human Cloud» – den über das Internet<br />

rekrutierbaren Fachleuten. Generell lässt sich bei diesen neuen<br />

Arbeitsformen vermuten, dass Arbeitende mit höherer Qualifikation<br />

Vorteile eher nutzen können und geringqualifizierte<br />

Arbeitende mit starken Nachteilen zu rechnen haben.<br />

Neben der Zunahme der Arbeitskraftunternehmenden ist künftig<br />

zu erwarten, dass Erwerbstätige eine oder mehrere Teilzeitanstellungen<br />

mit Einzelaufträgen kombinieren. Diese Form der<br />

(Teil-)Selbständigkeit kann berufliche Alternativen eröffnen und<br />

auch zu einer besseren Entfaltung der eigenen Interessen und Potenziale<br />

beitragen. Es zeigen sich aber auch grosse Tücken dieser<br />

hochflexiblen Arbeit. Insbesondere besteht die Gefahr, dass die<br />

Beschäftigten in prekäre Verhältnisse abgleiten. Sind Teilzeitangestellte<br />

befristet beschäftigt und schwankt das Arbeitsvolumen,<br />

so sind Einkommen und Beschäftigungslage nicht mehr verlässlich<br />

kalkulierbar. Bei der Vermittlung über Crowdworking-Plattformen<br />

können Auftragssuchende Einkünfte und Belastung sehr<br />

schlecht planen. Zudem erfordert diese Art der Selbständigkeit<br />

viel Eigenverantwortung und z.B. auch Verhandlungskompetenz.<br />

Hier hängt die Entwicklung daher in erster Linie von der Qualifikation<br />

ab: Gut ausgebildete und selbständig Handelnde vermögen<br />

aufgrund ihres gesuchten Profils ihre finanziellen Ansprüche und<br />

Arbeitsbedingungen gegenüber Mandanten durchaus durchzusetzen.<br />

Geringqualifizierte können hier in eine prekäre Abwärtsspirale<br />

aus beruflicher Unsicherheit und einbrechendem Einkommen<br />

geraten.<br />

Unter dem Strich muss man für eine erhöhte Arbeitsmarktfähigkeit<br />

als Mitarbeiter folgende Stolpersteine beachten:<br />

• Sich nicht auf den Betrieb verlassen; ein Wechsel kann immer<br />

passieren und die Gründe lassen sich häufig nicht ermitteln.<br />

Da sich die Produktlebenszyklen im globalisierten Wettbewerb<br />

stark verkürzen nimmt auch die soziale Zuverlässigkeit von Unternehmen<br />

als Arbeitgeber ab. Ein Unternehmen kann Arbeitgeber<br />

für ein Leben sein, aber erwarten darf man dies nicht.<br />

• Sich ständig weiterqualifizieren und dies auch finanzieren.<br />

Wer vom Lohn nichts über hat, um in sich selber zu investieren,<br />

sollte sich auf Dauer eine neue Beschäftigung suchen. Ohne<br />

Weiterbildung verkürzt sich die Arbeitsmarktfähigkeit drastisch.<br />

«Flexible neue Arbeitswelt»<br />

Jüngst erschien die Studie «Flexible neue Arbeitswelt» im vdf-Verlag<br />

(http://vdf.ch/flexible-neue-arbeitswelt.html). Die Studie hat zum<br />

Gegenstand, die Folgen der Entwicklungen für den Stellenwert der<br />

Erwerbsarbeit im gesellschaftlichen Leben zu untersuchen und zu<br />

analysieren, inwiefern die Eigenarten der neuen Arbeitsformen mit<br />

der aktuellen Rechtslage kompatibel sind bzw. welche volkswirtschaftlichen<br />

Konsequenzen sich daraus ergeben.<br />

• Virtuelle Arbeit nicht als Haupterwerbsquelle angehen. Wer<br />

sich über Uber und Airbnb noch etwas dazu verdienen möchte,<br />

soll dies tun. Zur Sicherung eines Lebensunterhalts reichen<br />

diese Quellen aber in der Regel nicht aus. Daher sollte die Zeit<br />

besser in Weiterbildung investiert werden.<br />

• Sozialen Rückhalt in der Familie sichern. Die neuen, flexiblen<br />

Jobs fordern <strong>ganz</strong> besonders, dass man «sein Leben unter einen<br />

Hut bekommt». Wer durch familiären Stress blockiert ist, wird<br />

im Beruf nicht sonderlich effektiv sein. Bei aller Pflege unserer<br />

beruflichen Fähigkeiten leiden oft die privaten Verhältnisse.<br />

Dabei sind sie es doch, die im Beruf Rückhalt geben.<br />

• Nicht (immer) aufs Recht pochen. Viele Rahmengesetze und<br />

Verordnungen sind nicht aktuell oder passen nicht zur neuen<br />

Arbeitswelt. Das Arbeitsrecht hinkt in vielen Bereichen hinterher.<br />

Wer bei kleinen rechtlichen Unstimmigkeiten schnell zum<br />

Anwalt läuft, wird am Ende meist mehr bezahlen, als eine alternative<br />

Lösung kosten würde. Unterstützung gibt es beispielsweise<br />

bei den Gewerkschaften. <br />

•<br />

Jens O. Meissner<br />

Professor für Organisation, Innovation und<br />

Risikomanagement an der Hochschule Luzern<br />

SCHWERPUNKT 4/16 ZeSo<br />


«Die Anforderungen an<br />

die Arbeitskräfte sind hoch»<br />

NACHGEFRAGT Auch im Staatssekretrariat für Wirtschaft (Seco) beschäftigt man sich<br />

intensiv mit dem Arbeitsmarkt der Zukunft. Dort geht man laut der Leiterin des Ressorts<br />

Arbeitsmarktanalyse und Sozialpolitik Ursina Jud Huwiler davon aus, dass die Schweiz gut auf<br />

die mit der Digitalisierung verbundenen Veränderungen vorbereitet ist. Die Beschäftigung in<br />

der Schweiz wächst jedenfalls weiterhin – trotz Digitalisierung, sagt Ursina Jud Huwiler.<br />

<strong>ZESO</strong>: Sehr geehrte Frau Jud Huwiler, alle sprechen von der<br />

Digitalisierung beziehungsweise der Wirtschaft und dem<br />

Arbeitsmarkt 4.0. Für was stehen diese Begriffe?<br />

Ursina Jud Huwiler: In der Tat, die Digitalisierung hat sich<br />

ihren Weg ins öffentliche Bewusstsein gebahnt. Es handelt<br />

sich dabei jedoch nicht um ein gänzlich neues Phänomen. Die<br />

laufend breitere Verwendung der Informationstechnologien ist<br />

seit zwei Jahrzehnten in Gang. In den letzten Jahren wurden<br />

grosse Fortschritte in den Bereichen der Robotik, der Verwendung<br />

von Big Data und neuen Fertigungstechniken wie 3-D-<br />

Druckern erzielt.<br />

Verschiedene in den letzten Jahren und Monaten publizierte Studien<br />

versuchen den zu erwartenden Stellenverlust zu beziffern. Da ist von<br />

Zahlen von 50 oder nur 9 Prozent die Rede. Was dürfte eher zutreffen?<br />

Die technologischen Fortschritte führen dazu, dass zusätzliche<br />

Tätigkeiten automatisiert werden können. Während<br />

bisher vor allem Routinearbeiten automatisiert wurden, sind<br />

jetzt auch komplexere Tätigkeiten betroffen. Man darf dabei<br />

nicht vergessen, dass vor 150 Jahren 70 Prozent der Erwerbsbevölkerung<br />

in der Landwirtschaft arbeiteten, heute sind es<br />

noch drei Prozent. Vor 40 Jahren machte die industrielle Produktion<br />

noch 40 Prozent des Stellenmarktes aus, heute sind<br />

es 20 Prozent. Solche Entwicklungen gehören zum normalen<br />

Strukturwandel. Dieser hängt im Übrigen auch mit anderen<br />

Einflussfaktoren wie der Globalisierung, gesellschaftlichem<br />

und kulturellem Wandel sowie verändertem Konsumverhalten<br />

zusammen.<br />

Damit sich der Arbeitsmarkt anpassen kann, braucht er in der<br />

Regel etwas Zeit. Nun ist aber gerade die Digitalisierung durch ein<br />

zunehmend hohes Entwicklungstempo gekennzeichnet. Studien<br />

mutmassen, dass Weiterbildungsanstrengungen nicht ausreichen<br />

werden, um das «Wettrennen gegen die Maschinen» zu gewinnen.<br />

Mit Blick auf die Entwicklung des Arbeitsmarktes ist nicht<br />

nur die Geschwindigkeit des technischen Fortschrittes relevant,<br />

sondern die Frage, wie und wie rasch dieser letztlich die<br />

Märkte durchdringen. Die Erfahrung zeigt, dass die bisherigen<br />

Prognosen hinsichtlich Durchdringung der neuen Technologien<br />

jeweils unzuverlässig waren. Deshalb wäre ich mit Prognosen<br />

eher zurückhaltend. Aktuell ist jedenfalls keine generelle disruptive<br />

Entwicklung zu beobachten. Dies heisst aber nicht,<br />

dass in einzelnen Märkten nicht durchaus tiefgreifende Veränderungen<br />

zu verzeichnen waren. Denken Sie beispielsweise<br />

an den ehemaligen Grosskonzern Kodak, der den Aufstieg<br />

von Instagram nicht überlebt hat. Gleichzeitig konnte sich sein<br />

Konkurrent Fuji erfolgreich neupositionieren, indem er sein<br />

chemisches Know-how fortan auch in der Medizinaltechnik<br />

einbrachte. Dieses Beispiel zeigt schön, dass die Digitalisierung<br />

– wie jeder technische Fortschritt – Chancen bereithält,<br />

die es zu packen gilt.<br />

Im Zuge des technologischen Fortschritts haben jeweils Maschinen,<br />

Automaten oder Computer mehr Aufgaben übernommen, die<br />

bis dahin von Menschen erledigt wurden. Damit wurde jedoch<br />

Wirtschaftswachstum erzielt, das wiederum zu Stellenwachstum<br />

führte. Wird es bei der Digitalisierung auch so sein?<br />

Aktuell gehen wir von diesem Szenario aus. Dies bedeutet<br />

konkret, dass der Stellenabbau in einigen Bereichen durch<br />

einen Stellenaufbau in anderen Berufen und Tätigkeiten kompensiert<br />

wird. Es ist also mit einer Verlagerung zu rechnen –<br />

die auch gewisse Herausforderungen mit sich bringen wird,<br />

etwa für die Bildungspolitik. Jedenfalls wächst die Beschäftigung<br />

in der Schweiz weiterhin, auch wenn sich das Wachstum<br />

mit der Frankenaufwertung seit Januar 2015 etwas verlangsamt<br />

hat.<br />

Bei jedem Strukturwandel gibt es Gewinner und Verlierer. Wen trifft<br />

die Digitalisierung am stärksten?<br />

In den letzten Jahren verzeichneten wir Rückgänge beispielsweise<br />

in der Industrie und bei den Bürojobs, gleichzeitig<br />

entstehen Stellen in verschiedenen Dienstleistungsbereichen,<br />

beispielsweise in der Unternehmensberatung und IT oder auch<br />

im Gesundheits- und Sozialwesen. Das heisst, Stellen wurden<br />

vor allem in hochqualifizierten Bereichen geschaffen. Bei<br />

niedrig- oder unqualifizierten Tätigkeiten haben wir eher Ter-<br />

18 ZeSo 1/17 SCHWERPUNKT


ARBEIT der zukunft<br />

rain verloren. Aber es gehen nicht nur die unqualifizierten Arbeitsplätze,<br />

sondern auch die Zahl der Arbeitnehmenden ohne<br />

nachobligatorische Ausbildung, also sprich ohne Berufs- oder<br />

Uniabschluss, zurück. Und zwar ungefähr um ca. 20‘000 pro<br />

Jahr. Die jüngere Generation ist tendenziell besser ausgebildet<br />

als die ältere. 88 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen<br />

Alter hat einen nachobligatorischen Abschluss. Unter den<br />

25-34-jährigen sind es hingegen 92 Prozent.<br />

Ursina Jud Huwiler<br />

Bild: zvg<br />

Dr. phil. Ursina Jud Huwiler ist Leiterin des Ressorts Arbeitsmarktanalyse<br />

und Sozialpolitik in der Direktion für Wirtschaftspolitik des<br />

Staatssekretariates für Wirtschaft (Seco).<br />

Auch wenn viel orakelt wird, wie viele Stellen bald von Robotern<br />

übernommen werden, bedeutsamer ist doch, dass viele Stellenprofile<br />

sich <strong>ganz</strong> stark verändern werden und viel neues digitales Know-how<br />

erfordern.<br />

Ja, die Jobs verändern sich. Verschiedene Tätigkeiten in<br />

den Berufen fallen weg, andere kommen dazu. Das heisst<br />

nicht, dass das gesamte Berufsprofil verloren geht. Natürlich<br />

müssen Büroangestellte heute keine Stenogramme mehr<br />

abtippen. Dennoch fallen weiterhin klassische Büroarbeiten<br />

an, wie beispielsweise Meetings organisieren. Neue technologische<br />

Entwicklungen bedeuten primär, dass man seine<br />

Kompetenzen entsprechend erweitert. Auch in Zukunft wird es<br />

nicht nur IT-Skills brauchen, sondern eine weite Bandbreite an<br />

zwischenmenschlichen Kompetenzen wie Verhandlungs- und<br />

Analysekompetenzen.<br />

Werden ältere Arbeitnehmer oder Langzeitarbeitslose noch mehr<br />

Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben?<br />

Es gibt immer Subgruppen von Arbeitnehmenden, die aus<br />

verschiedenen Gründen Schwierigkeiten haben, eine Stelle zu<br />

finden. Der Schlüssel zu einer nachhaltigen Arbeitsmarktintegration<br />

ist die Qualifikation, welche sich aus Grund- und Fachkompetenzen<br />

zusammensetzt. Die Schweiz verfügt über einen<br />

Hochleistungsarbeitsmarkt, entsprechend hoch sind die Anforderungen<br />

an die Arbeitskräfte. Dies ist nicht neu. Natürlich<br />

ist es wichtig, mit unserer Arbeitsmarktpolitik die Rahmenbedingungen<br />

zu schaffen, dass möglichst alle Menschen im erwerbsfähigen<br />

Alter einer existenzsichernden Arbeit nachgehen<br />

können. Die Schweiz ist diesbezüglich sehr gut aufgestellt.<br />

SCHWERPUNKT 1/17 ZeSo<br />

<br />

19<br />


Und wie gesagt: Wir gehen nicht davon aus, dass von einem<br />

Tag auf den anderen grosse Zahlen von Angestellten ihre Stelle<br />

verlieren. Wir haben keine Hinweise, dass die Arbeitslosigkeit<br />

in nächster Zeit infolge des technischen Fortschritts massiv<br />

zunimmt.<br />

Einer der viel beschworenen Vorteile der Digitalisierung ist die<br />

Flexibilisierung der Arbeit. Sie bietet auch neue Möglichkeiten.<br />

Die Arbeitswelt ist sehr vielfältig geworden. Dies ist aber<br />

nicht alleine ein Ausdruck der neuen technischen Möglichkeiten.<br />

Die Flexibilisierung spiegelt auch den gesellschaftlichen<br />

Wertewandel. Örtliche und zeitliche Flexibilisierung der<br />

Arbeit ermöglicht namentlich eine bessere Vereinbarkeit von<br />

Familie und Arbeit. Aber es stellen sich natürlich – wie bei allen<br />

neuen Entwicklungen – auch Fragen, beispielsweise im Bereich<br />

des Arbeitsrechts.<br />

Seit einigen Jahren spriessen Plattformen des Crowdworking. Werden<br />

wir bald nur noch via solche Plattformen angestellt?<br />

Nein. Das glaube ich nicht. Die ersten Plattformen sind in<br />

den letzten fünf bis zehn Jahren entstanden. In den USA, wo<br />

die Entwicklung international am weitesten fortgeschritten ist,<br />

arbeiten 0.5 Prozent der Beschäftigten via solche Plattformen<br />

wie Uber, UpWork oder MTurk. Es handelt sich bisher um ein<br />

bescheidenes Phänomen. Auch hier gibt es Chancen sowie<br />

Herausforderungen. Die Plattformen bieten ausgesprochen<br />

flexible Arbeit an. Das kann für manche sehr attraktiv sein,<br />

beispielsweise wenn jemand aus familiären Gründen nur am<br />

Abend arbeiten kann. Ferner bestehen oft tiefe Einstiegshürden.<br />

Es gibt in diesen Plattformen ein breites Spektrum von<br />

einfachen bis komplexen Arbeiten sowie <strong>ganz</strong> unterschiedlichen<br />

Angeboten und Arbeitsweisen.<br />

«In den USA, wo die<br />

Entwicklung international<br />

am weitesten<br />

fortgeschritten ist,<br />

arbeiten 0.5 Prozent<br />

der Beschäftigten via<br />

solche Plattformen<br />

wie Uber, UpWork oder<br />

MTurk.»<br />

Wo sehen Sie die Risiken für die Arbeitnehmer?<br />

Ein Szenario geht davon aus, dass durch solche Plattformen<br />

eine Erosion der Arbeitsbedingungen droht, dass ein Heer von<br />

Soloselbständigen entsteht, die über keine soziale Absicherung<br />

verfügen. All diese Fragen beschäftigen nicht nur die<br />

Schweiz, sondern viele Länder. Aktuell stellen sich bei uns vor<br />

allem rechtliche Fragen. Sind die Uber-Taxifahrer selbständig<br />

oder Arbeitnehmer? Ist Uber ein Arbeitgeber? Allerdings ist<br />

die Frage der Abgrenzung von Selbständigen und Unselbständigen<br />

nicht neu. Sie stellt sich jetzt einfach wieder verstärkt<br />

respektive unter neuen Vorzeichen. Aktuell sind verschiedene<br />

Gerichtsverfahren hängig. Das Seco verfolgt die Arbeitsmarktentwicklung,<br />

insbesondere die Jobqualität und auch die Lohnentwicklung<br />

sehr eng. Derzeit haben wir keine Hinweise auf<br />

einen flächendeckenden Lohndruck.<br />

Um auf die Veränderungen optimal vorbereitet zu sein, muss vor<br />

allem die Bildung auf dem neuesten Stand sein.<br />

Ja genau. Der Hauptschlüssel zur erfolgreichen Transformation<br />

ist auch aktuell die Bildung und Weiterbildung. Die Schweiz<br />

ist hier sehr gut aufgestellt. Die duale Berufsbildung ist ausgesprochen<br />

arbeitsmarktnah. Das ist ein grosser Vorteil. Die<br />

Schweiz wird deshalb auch die digitale Transformation gut<br />

meistern. <br />

•<br />

Das Gespräch führte<br />

Ingrid Hess<br />

20 ZeSo 1/17 SCHWERPUNKT


ARBEIT der zukunft<br />

Crowdworking – wie muss man sich die<br />

neue Beschäftigungsform vorstellen?<br />

Crowdworking ist eine Beschäftigungsform, bei der meistens kleinteilige Arbeiten öffentlich oder<br />

auch unternehmensintern auf einer Internetplattform ausgeschrieben werden.<br />

Briefe schreiben und übersetzen, Websites auf Fehler überprüfen,<br />

Interviews durchführen, aber auch Installationen von Telefon und<br />

Internet vor Ort, all das sind Beispiele für diese kleinteiligen Arbeiten,<br />

die nach dem Konzept des Crowdworking erledigt werden<br />

können. Die Zuteilung der Arbeiten an die Crowdworker auf den<br />

Internetplattformen ist unterschiedlich und kann u.a. aufgrund<br />

von Qualifikationsanforderungen oder nach dem First-come-firstserve-Prinzip<br />

erfolgen. Auch die Bezahlung kann sehr stark variieren.<br />

Der Extremfall, nämlich keine Bezahlung, ist auch möglich,<br />

weil der Auftraggeber mit der Arbeit nicht zufrieden ist oder nur<br />

die beste, prämierte Arbeit bezahlt wird. Die meisten Crowdworking-Plattformen<br />

haben ein Qualitätssicherungssystem. Das bedeutet,<br />

die von den Crowdworkern erledigten Arbeiten werden jeweils<br />

beurteilt und bewertet, entweder vom Auftraggeber selbst<br />

oder von anderen Crowdworkern. Diese Bewertungen können weitere<br />

Auftragsvergaben beeinflussen oder auch bei Nichteinhaltung<br />

von Terminen langfristig zum Ausschluss von der Internetplattform<br />

führen. Die Betreiber der Crowdworking-Plattformen erheben<br />

Kommissionen in Höhe von ca. 10% bis 25% der Auftragssumme.<br />

Crowdworking wird oftmals als kurzfristige, lose Zusammenarbeit<br />

angesehen, aus der keine Arbeitgeberpflichten für den Auftraggeber<br />

entstehen, d.h. AHV und Sozialversicherung, Steuer sowie<br />

Pensionskasse sind in der Verantwortung des Crowdworkers.<br />

Das bekannte, traditionelle Arbeitsverhältnis gibt es hier nicht<br />

mehr. Man kann es so beschreiben: Während man früher sechs<br />

Arbeitgeber im gesamten Arbeitsleben hatte, sind es jetzt sechs<br />

Auftraggeber zur gleichen Zeit.<br />

Aber nicht alles ist schlecht an Crowdworking. Manche schätzen<br />

das kompetitive Umfeld sowie die Zeit- und Ortsflexibilität.<br />

Crowdworking gibt auch jenen Personen eine Chance, die geografisch<br />

benachteiligt sind oder in ihrem Berufsleben am Anfang<br />

stehen.<br />

Verlässliche und umfassende Daten zum Thema Crowdworking<br />

in der Schweiz fehlen weitgehend, so dass die gesellschaftlichen,<br />

sozialen und auch rechtlichen Auswirkungen noch nicht<br />

abschätzbar sind. Man darf aber nicht vergessen, dass Internetplattformen<br />

nicht an den Ländergrenzen halt machen. Das bedeutet,<br />

dass ein Schweizer Auftragnehmer auf einer amerikanischen<br />

Internetplattform Aufgaben für einen indischen Auftraggeber zu<br />

dessen Konditionen erledigen kann und die Konkurrenz um diese<br />

Tätigkeit eine gut ausgebildete singhalesische Crowdworkerin ist.<br />

Die Freiheit, Arbeiten zu bestimmten Konditionen nicht annehmen<br />

zu müssen, hat man, so lange genügend Arbeit vorhanden ist.<br />

Es ist aber unklar, inwiefern dies heute noch und auch zukünftig<br />

zutrifft. Dies lässt die Frage nach dem bedingungslosen Grundeinkommen<br />

wieder aufkommen.<br />

Die Plattformen ermöglichen flexibles Arbeiten - auch von zu Hause aus.<br />

Bild: Andreas Morlok, Pixelio<br />

Es gibt Plattformbetreiber, die sich selbst regulieren und beispielsweise<br />

Arbeiten zum Mindestlohn anbieten. Das ist aber nicht<br />

die Regel. Das Gegeneinander-Ausspielen auf diesen Internetplattformen<br />

ist sehr leicht möglich. Es sind deshalb weitere Untersuchungen<br />

notwendig, um für die Zukunft relevante und praxisnahe<br />

Empfehlungen an die Politik zur Verbesserung der Situation<br />

der Crowdworker abgeben zu können. Thomas Klebe (IG Metall)<br />

sagte dazu in einem Interview: «Schlechte Arbeitsbedingungen<br />

sind keine Privatsache!» und Johannes Warter (österreichischer<br />

Jurist) ergänzt: «Und das Internet ist kein rechtsfreier Raum.» •<br />

Ute Klotz<br />

Professor Ute Klotz ist Dozentin für Informatik an der HSLU<br />

sowie Mitautorin der TA-Swiss-Studie «Flexible neue Arbeitswelt»<br />

SCHWERPUNKT 1/17 ZeSo<br />


Die Arbeitszeiten im Wandel<br />

Die zunehmende Flexibilisierung der Arbeitszeiten bringt die Arbeitnehmenden in ein Spannungsfeld<br />

zwischen verbesserter Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben einerseits und weniger<br />

Planbarkeit sowie einer Zunahme von Stress und psychosozialen Risiken andererseits.<br />

Die Arbeitszeit und die Regelungen dazu sind für die Arbeitnehmenden<br />

von zentraler Wichtigkeit. Während langer Zeit stand für<br />

Gewerkschaften als Interessenvertreter die Verkürzung der Arbeitszeit<br />

im Zentrum. Zunächst war das Ziel der 8-Stunden-Tag respektive<br />

die 48-Stunden-Woche; später die Einführung der 5-Tage-Woche<br />

und damit die 40-Stunden-Woche. Für die<br />

Gewerkschaften ging es dabei um den Schutz der Gesundheit der<br />

Beschäftigten, verbesserte Lebensqualität und – in Zeiten verbreiteter<br />

Erwerbslosigkeit – um die Sicherung von Arbeitsplätzen. Es<br />

gelang in den industrialisierten Ländern im Verlauf des letzten<br />

Jahrhunderts, die Zahl der effektiv geleisteten Erwerbsarbeitsstunden<br />

pro Kopf der Bevölkerung um rund die Hälfte zu verkürzen.<br />

Die Entwicklung zu immer kürzeren Arbeitszeiten hielt bis in die<br />

90er Jahre des letzten Jahrhunderts an. Frankreich führte die<br />

35-Stunden-Woche 1998 ein.<br />

Schweiz: lange Arbeitstage, zunehmende Arbeitswege<br />

In der Schweiz verlief diese Entwicklung weniger ausgeprägt. Seit<br />

1967 beträgt die gesetzliche Wochenarbeitszeit für die meisten<br />

Arbeitnehmenden 45 Stunden und hat sich kaum mehr verändert.<br />

So weisen die Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BfS) für die<br />

Schweiz zwischen 1990 und 2009 nur noch eine geringfügige<br />

Reduktion der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit von<br />

0.5 Stunden aus. Im europäischen Vergleich sind die Wochenarbeitszeiten<br />

in der Schweiz überdurchschnittlich lang. In einer europaweiten<br />

Studie wird die Wochenarbeitszeit (nur Vollzeitstellen)<br />

im Jahr 2010 in der Schweiz mit durchschnittlich 44.3 Stunden<br />

ausgewiesen, während das europäische Mittel bei 42.5 Stunden<br />

Grafik 1: Entwicklung der Beschäftigung nach<br />

Beschäftigungsgrad 1991–2016 (Index 1991=1)<br />

3.0<br />

2.5<br />

2.0<br />

1.5<br />

1.0<br />

0.5<br />

0.0<br />

1991 1996 2001 2006 2011 2016<br />

Vollzeit (> 89%)<br />

Teilzeit I (50–89%) Teilzeit II (< 50%)<br />

Quelle: BfS, SAKE. Eigene Darstellung.<br />

und in den direkten Nachbarländern der Schweiz noch einmal darunter<br />

liegt.<br />

Nicht zuletzt als Folge davon hat die Verbreitung von Teilzeitarbeit<br />

in der Schweiz stark zugenommen und liegt heute im europäischen<br />

Vergleich mit an der Spitze. Im Ausmass der Teilzeitarbeit<br />

sind aber grosse Unterschiede zwischen den Geschlechtern<br />

feststellbar. Während bei den Frauen eine Mehrheit von 57.3 %<br />

Teilzeit arbeitet, ist der Anteil der Männer mit 16.8 % deutlich<br />

geringer.<br />

Nicht nur die vermehrten Teilzeitbeschäftigungen liessen die<br />

klassischen Arbeitszeiten erodieren, auch der Übergang zu einer<br />

Dienstleistungsgesellschaft in den letzten Jahrzehnten förderte<br />

zunehmend individualisierte und flexibilisierte Arbeitseinsätze.<br />

Die Arbeitnehmenden in der Schweiz arbeiten deutlich flexibler<br />

als jene in den Nachbarländern. So gibt weniger als ein Drittel der<br />

Arbeitnehmenden in der Schweiz an, dass ihre Arbeitszeiten vom<br />

Betrieb festgelegt werden, im Durchschnitt der europäischen Länder<br />

ist dies für fast 70% der Beschäftigten der Fall. Und insgesamt<br />

arbeiten rund 60% der Schweizerinnen und Schweizer flexibel, in<br />

der EU sind dies nur 22%. Ausserdem verzeichnete die Schweiz<br />

zwischen 2005 und 2010 einen wahren Flexibilisierungsboom<br />

(Anstieg der flexiblen Arbeitsverhältnisse von 48% auf 60%),<br />

während sich in den EU-Betrieben in dieser Hinsicht nur wenig<br />

änderte.<br />

Die Daten der europäischen Erhebung über die Arbeitsbedingungen<br />

zeigen, dass in der Schweiz fast die Hälfte der Arbeitnehmenden<br />

zumindest ab und zu länger als 10 Stunden am Tag arbeitet,<br />

während es im europäischen Durchschnitt weniger als ein<br />

Drittel der Arbeitnehmenden sind. Ausserdem hat der Anteil der<br />

Betroffenen zwischen 2005 und 2010 deutlich zugenommen<br />

(+14%). Eine weitere Studie weist gar für 61% der abhängig Beschäftigten<br />

mit einem Vollzeitpensum überlange Arbeitstage aus.<br />

Im Durchschnitt werden im Monat über 4 Tage mit mehr als 10<br />

Stunden Arbeitszeit geleistet. In der Wissenschaft ist der Zusammenhang<br />

zwischen zeitlicher Belastung durch lange Arbeitstätigkeit<br />

und abnehmender Produktivität, resp. zunehmendem Fehlerund<br />

Unfallrisiko gut dokumentiert. Neben langen Arbeitstagen<br />

sind auch sehr lange Arbeitswege (mehr als 60 Minuten) für mehr<br />

und mehr Arbeitnehmende Realität. Während im Jahr 2000 lediglich<br />

17.8 Prozent der Arbeitnehmenden mehr als 30 Minuten<br />

für den Arbeitsweg benötigten, waren es 2013 bereits 32 %.<br />

Mehr Stress – weniger Zeitautonomie<br />

Dass sich die zeitliche Belastung durch lange Arbeitstage und weite<br />

Arbeitswege erhöht und damit einen Beitrag zu zunehmendem<br />

Stress leistet, scheint unbestritten. Ebenso, dass Stress längst keine<br />

Randerscheinung, sondern ein weit verbreitetes Phänomen ist. So<br />

geht nicht zuletzt die Suva davon aus, dass stressbedingte psychische<br />

und neurologische Erkrankungen bis 2030 für mehr ausge-<br />

22 ZeSo 1/17 SCHWERPUNKT


ARBEIT der zukunft<br />

Grafik 2: Veränderung der Dauer für den Arbeitsweg 2000–2013<br />

> 60 Minuten<br />

31–60 Minuten<br />

0–30 Minuten<br />

0% 20% 40% 60% 80% 100%<br />

2013 2000<br />

Quelle: BfS, Qualität der Beschäftigung. Eigene Darstellung.<br />

fallene Arbeitsstunden verantwortlich sein werden als physische<br />

Erkrankungen. Gemäss einer vom Staatssekretariat für Wirtschaft<br />

(Seco) in Auftrag gegebenen Studie fühlte sich 2010 knapp ein<br />

Drittel der Erwerbstätigen in der Schweiz häufig oder sehr häufig<br />

gestresst. Es ist dies bereits 30 % mehr als in einer vergleichbaren<br />

Studie aus dem Jahr 2000. Und im «Barometer Gute Arbeit», in<br />

welchem Travail.Suisse seit 2015 jährlich die Qualität der Arbeitsbedingungen<br />

auf Basis einer repräsentativen Umfrage misst, gaben<br />

bereits 37.8 % der Arbeitnehmenden an, sich oft oder sehr<br />

häufig durch die Arbeit gestresst zu fühlen und lediglich für 6.9 %<br />

ist dies nie der Fall. Als weitere Haupterkenntnis aus dieser Studie<br />

zeigt sich eine Tendenz zu weniger Zeitautonomie durch die Arbeitnehmenden.<br />

So hat der Anteil der Arbeitnehmenden, welche<br />

keinen oder nur geringen Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitszeiten<br />

haben, signifikant zugenommen und beträgt heute beinahe<br />

50 %.<br />

Die Auswirkungen von sich wandelnden Arbeitszeiten und insbesondere<br />

einer zunehmenden Flexibilisierung derselben werden<br />

in den kommenden Jahren zentral bleiben. Die Frage, ob flexibilisierte<br />

Arbeitszeiten für die Arbeitnehmenden durch einen Verlust<br />

an Autonomie und Planbarkeit und einer Zunahme von Stress eher<br />

ein Fluch oder durch bessere Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von<br />

Beruf, Familie und Privatleben eher ein Segen sind, wird sich erst<br />

in Zukunft definitiv beantworten lassen. <br />

•<br />

Gabriel Fischer<br />

Leiter Wirtschaftspolitik<br />

Travail.Suisse<br />

Flexibilisierte Arbeitszeiten für die Arbeitnehmenden: Fluch oder Segen? Bild: Ivista, Pixelio<br />


Schuldenprävention durch<br />

Direktabzug der Einkommenssteuer<br />

FACHBEITRAG Gut zehn Prozent der Schweizer Haushalte sind im Verzug mit der Bezahlung der<br />

Steuern. Die Steuerverwaltung von Bund oder Kantonen ist bei rund jeder dritten Betreibung die<br />

Gläubigerin. Der Kanton Basel-Stadt will jetzt den automatisierten freiwilligen Direktabzug einführen.<br />

Wer ein enges Haushaltsbudget hat, dem<br />

bleibt am Ende häufig nichts oder zu wenig<br />

auf dem Konto, um die Steuerrechnung zu<br />

bezahlen. Aber auch viele Personen, die gut<br />

verdienen und keine Geldsorgen haben,<br />

zahlen ihre Steuern nicht gerne im Nachhinein.<br />

In einer im Juli 2016 publizierten<br />

Umfrage von Tages-Anzeiger online gaben<br />

75 Prozent der Befragten an, sie würden einem<br />

Direktabzug der Steuern vom Lohn<br />

zustimmen. Denn oft vergehen bis zu zwei<br />

Jahre zwischen Verdienst und dem Bezahlen<br />

der Steuern. Wer inzwischen den Job<br />

verliert und dann keinen oder nur einen<br />

schlechter bezahlten findet, gerät häufig<br />

bei der Bezahlung der Steuerschuld in<br />

Schwierigkeiten. Das kann auch Gutverdienende<br />

betreffen. Wenn sich deren Einkommenssituation<br />

ändert, rutschen auch sie zuweilen<br />

in die Schuldenfalle. Daraus lässt<br />

sich schliessen, dass das heutige Inkassosystem<br />

der Steuern für breite Bevölkerungsgruppen<br />

nicht wirklich funktioniert. Die<br />

Steuerrechnungen können in Höhe und<br />

Termin von vielen Haushalten schlecht antizipiert<br />

werden und eine Nichtbezahlung<br />

führt nicht zu einem Leistungsverlust.<br />

Auch die SKOS ist daher überzeugt, dass eine<br />

Systemanpassung dringend nötig wäre.<br />

Der Direktabzug der Einkommenssteuer ist<br />

eine effektive Möglichkeit, um das Risiko<br />

von Verschuldung zu senken.<br />

Kanton Basel-Stadt als Vorreiter<br />

Der Kanton Basel-Stadt bietet bereits heute<br />

seinen Staatsangestellten die Möglichkeit<br />

des freiwilligen Direktabzugs. Gemäss Vorschlag<br />

der Regierung sollen jetzt auch alle<br />

anderen Angestellten diese Möglichkeit erhalten.<br />

In Basel soll der Arbeitgeber in Zukunft<br />

die Einkommenssteuer direkt jeden<br />

Die Frist zur Bezahlung der Steuern<br />

verstreicht oft ungenutzt.<br />

Bild: Keystone<br />

Monat vom Lohn abziehen. Der Abzug<br />

wird anschliessend vom Arbeitgeber an die<br />

Steuerbehörden überwiesen. Der überwiesene<br />

Betrag gilt als Vorauszahlung an die<br />

Steuern und wird entsprechend verzinst.<br />

Für Arbeitgeber ist dieses Direktabzugsverfahren<br />

verpflichtend. Für Arbeitnehmer<br />

hingegen nicht. Sie können wählen, ob sie<br />

davon Gebrauch machen möchten oder<br />

nicht. Vorgesehen ist hier ein sogenanntes<br />

Opt-out-Verfahren – entscheidet sich der<br />

Arbeitnehmer nicht aktiv gegen den Direktabzug,<br />

kommt dieser zur Anwendung.<br />

Diese Teilrevision des Steuergesetzes<br />

führt zu einigen grundlegenden Änderungen<br />

in der Logik, wie im Kanton Basel-<br />

Stadt Steuern bezahlt werden. Arbeitnehmer<br />

müssten neu nicht mehr selbst über<br />

24 ZeSo 1/17


das Jahr einen entsprechenden Betrag zurücklegen,<br />

um die Steuerrechnung bezahlen<br />

zu können. Das Direktabzugsverfahren<br />

regelt das für sie. Die Vermögenssteuern<br />

werden wie bis anhin in Rechnung gestellt.<br />

Ebenso die Steuern der anderen beiden<br />

Staatsebenen Bund und Gemeinden.<br />

Aktuell ist auch in Zürich ein entsprechender<br />

Vorstoss hängig. Die Kantone Bern<br />

und Luzern haben Vorstösse für einen freiwilligen<br />

Steuerabzug abgelehnt. Klar ist,<br />

dass die Breitenwirkung der Massnahme<br />

fehlt, wenn sie nur auf kantonaler Ebene<br />

umgesetzt ist und die anderen beiden Ebenen<br />

nicht erfasst. Die Einführung des Vorhabens<br />

auf kantonaler Ebene könnte dem<br />

nationalen Projekt aber Vorschub geben.<br />

Eine Einführung des Direktabzugs auf nationaler<br />

Ebene würde eine effizientere und<br />

hinsichtlich des Ziels effektivere Umsetzung<br />

ermöglichen.<br />

Gutachten bestätigt Wirksamkeit<br />

Die hohe Verschuldungsquote der Schweizer<br />

Haushalte lässt in jedem Fall aufhorchen.<br />

Der Direktabzug der Steuern durch<br />

die Arbeitgeber wäre eine effiziente Gegenmassnahme.<br />

Ein Gutachten von FehrAdvice<br />

& Partners, («Der freiwillige Direktabzug<br />

der Einkommenssteuer im Kanton<br />

Basel-Stadt – ein verhaltensökonomisches<br />

Gutachten»), beurteilt die Wirksamkeit einer<br />

solchen Intervention positiv. Es kommt<br />

zu dem Schluss, dass mit dieser Massnahme<br />

Steuerschulden und private Verschuldung<br />

reduziert werden können. Dieser positive<br />

Effekt des Direktabzugs läuft<br />

allerdings Gefahr, dadurch limitiert zu<br />

werden, dass sich gerade Risikogruppen<br />

eher weniger gern für den Direktabzug entscheiden,<br />

wenn sie die Wahl haben. Grundvoraussetzung<br />

für eine hohe Wirksamkeit<br />

ist deshalb laut FehrAdvice das Opt-out-<br />

System, das den ausdrücklichen Verzicht<br />

auf den direkten Steuerabzug verlangt. •<br />

Podiumsveranstaltung<br />

3. Mai <strong>2017</strong>, 19.15 Uhr<br />

Papiermühle, St. Alban-Tal 37, 4052 Basel<br />

Automatisierter freiwilliger Direktabzug<br />

der Steuern vom Lohn<br />

Eva Herzog<br />

Finanzdirektorin<br />

Kanton Basel-Stadt<br />

Samuel T. Holzach UBS Regionaldirektor<br />

Basel<br />

Ruedi Rechsteiner SP-Grossrat<br />

und Motionär<br />

Unter der Gesprächsleitung von Joe Schelbert,<br />

Journalist SRF.<br />

Anschliessend: Apéro<br />

Ingrid Hess<br />

Weitere Informationen<br />

www.skos.ch /grundlagen-und-positionen<br />

www.schulden.ch/steuerschulden<br />

www.fehradvice.com/direktabzug<br />

1/17 ZeSo<br />

25


Föderalismus: Auslauf- oder<br />

Zukunftsmodell für die Sozialhilfe?<br />

FACHBEITRAG Das Institut für Föderalismus der Universität Freiburg lancierte im vergangenen Herbst<br />

eine Vortrags- und Diskussionsreihe zu aktuellen Fragen rund um den Föderalismus. Auch Fragen<br />

zur Organisation der Sozialhilfe waren Thema in der Expertenrunde.<br />

Behindern die kantonalen und kommunalen<br />

Zuständigkeiten und die unterschiedlichen<br />

Leistungen eine wirksame und<br />

nachhaltige Armutsbekämpfung in der<br />

Schweiz? Was gilt, wenn einzelne Gemeinden<br />

für sehr viel mehr bedürftige Personen<br />

aufzukommen haben als andere oder wenn<br />

sie Arme in andere Gemeinden abzuschieben<br />

versuchen? Sollte der Bund ein Rahmengesetz<br />

zur Sozialhilfe erlassen? Diese<br />

und weitere Fragen diskutierten im vergangenen<br />

November Experten anlässlich des<br />

4. Moduls zum Föderalismus in Freiburg.<br />

Im Gefüge der sozialen Sicherheit<br />

Die Unterstützung Bedürftiger liegt grundsätzlich<br />

in der Kompetenz der Kantone.<br />

Die Sozialhilfe ist folglich in 26 kantonalen<br />

Sacherlassen, die sehr heterogen ausgestaltet<br />

und kaum durch Judikatur oder<br />

Leitfäden erschlossen sind, geregelt. Auf<br />

Bundesebene existieren zudem spezifische<br />

Regelungen für Auslandschweizerinnen<br />

und Auslandschweizer sowie Asylsuchende.<br />

Für die Ausgestaltung der kantonalen<br />

Sozialhilfeleistungen existieren kaum Vorgaben<br />

aus übergeordnetem Recht. Art. 9<br />

und 11 UNO Pakt I8 sähe zwar ein Recht<br />

auf soziale Sicherheit vor, das sei aber nach<br />

herrschender Lehre und Rechtsprechung<br />

nicht justiziabel, sagte Thomas Gächter,<br />

Rechtsprofessor an der Universität Zürich.<br />

Art. 12 BV9, welcher das Recht auf Hilfe in<br />

Notlagen statuiert, garantiere ausserdem<br />

nur die Sicherung des zum menschenwürdigen<br />

Überleben Notwendige. Die Sozialhilfe<br />

solle im Gegensatz dazu ein soziales<br />

Existenzminimum gewähren, wobei die<br />

Leistungen im interkantonalen und interkommunalen<br />

Vergleich aufgrund des<br />

grossen Ermessensspielraums teilweise<br />

weit auseinandergehen würden. Gemäss<br />

Gächter bestehen aber nicht nur grosse<br />

Unterschiede bei den finanziellen Leistungen,<br />

sondern auch ein zunehmendes «race<br />

to the bottom» im Umgang mit den anspruchsberechtigten<br />

Personen. Diese teilweise<br />

zu beobachtende «Garstigkeit» der<br />

Behörden sei insbesondere dort anzutreffen,<br />

wo Gemeinden für die Sozialhilfekosten<br />

aufzukommen hätten.<br />

Aufgrund der Zuwanderung und infolge<br />

der Sanierung der Sozialwerke durch<br />

den Bund, die auch eine restriktivere Gewährung<br />

von IV-Renten mit sich brachte,<br />

steige der Kostendruck in der Sozialhilfe<br />

stetig an. Vor diesem Hintergrund plädiert<br />

Gächter für eine finanzielle Entlastung der<br />

Gemeinden, eine Professionalisierung der<br />

Sozialämter sowie eine Vereinheitlichung<br />

des Verfahrens.<br />

Zum Missbrauch der Sozialhilfe stellte<br />

Gächter klar, dass nur wenige eigentliche<br />

Betrugsfälle dokumentiert seien. Die<br />

Wahrnehmung von Missbrauch sei unterschiedlich,<br />

so dass bereits eine verhaltene<br />

Mitwirkung des Sozialhilfebezügers den<br />

Verdacht auf Missbrauch schüren könne.<br />

Die Missbrauchsdiskussion in der Sozi-<br />

«Für die Ausgestaltung<br />

der Sozialhilfe<br />

existieren<br />

kaum Vorgaben aus<br />

übergeordnetem<br />

Recht.»<br />

alhilfe werde sich vermutungsgemäss –<br />

gleich wie zuvor bei Arbeitslosen – mit der<br />

zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz<br />

legen.<br />

Mindeststandards für Sozialdienste<br />

Zu den Rahmenbedingungen für eine optimale<br />

Aufgabenerfüllung durch die Sozialämter<br />

hält die Direktorin der Sozialen<br />

Dienste der Stadt Zürich Mirjam Schlup<br />

fest, dass mit der Vorgabe von einheitlichen<br />

Eckwerten – im Gegensatz zu einer<br />

zentralisierten Regelung – weiterhin lokale<br />

und regionale Projekte realisierbar wären.<br />

Durch gesetzliche Mindestanforderungen<br />

an Sozialdienste wie beispielsweise vorgegebene<br />

Einzugsgebietsgrössen oder die<br />

Pflicht, ausgebildete Fachleute statt Laien<br />

einzustellen, könnte ein entsprechendes<br />

Rahmengesetz bereits die notwendige Professionalisierung<br />

in der Umsetzung der Sozialhilfe<br />

herbeiführen.<br />

Fragen der Verbindlichkeit<br />

Für die Harmonisierung spricht laut Felix<br />

Wolffers, SKOS-Co-Präsident und Leiter<br />

des Sozialamtes der Stadt Bern, dass die<br />

Sozialhilfekosten nur 1,6 Prozent der Ausgaben<br />

für alle Sozialleistungen ausmachen<br />

würden. Gerade angesichts dieses relativ<br />

geringen finanziellen Betrages sei die Aufrechterhaltung<br />

von 26 unterschiedlichen<br />

kantonalen Regelungen ein viel zu hoher<br />

Aufwand. Daher befürwortet die SKOS eine<br />

bundesrechtliche Mindestregelung, von<br />

der die Kantone – analog zu den Familienzulagen<br />

oder Ergänzungsleistungen –<br />

nach oben abweichen könnten. Damit<br />

wäre zumindest eine Grundsicherung garantiert,<br />

zumal künftige plötzliche Anstiege<br />

von Flüchtlingszahlen die Diskussion<br />

um Leistungskürzungen in der Sozialhilfe<br />

und die Dynamik des negativen Wettbewerbs<br />

unter den Kantonen noch verschärfen<br />

würden.<br />

26 ZeSo 1/17


Die Aufrechterhaltung von 26 unterschiedlichen kantonalen Sozialhilfe-Regelungen ist ein grosser Aufwand.<br />

<br />

Bild: Keystone<br />

Wolffers führte weiter aus, dass der<br />

Bundesrat in einem Bericht die fehlende<br />

Verbindlichkeit der SKOS-Richtlinien als<br />

nicht mehr zeitgemäss erachtet. Dennoch<br />

sei der Bund nicht aktiv geworden, sondern<br />

habe die Konferenz der kantonalen<br />

Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren<br />

(SODK) zum Handeln aufgefordert. Mit<br />

dem Ziel, die politische Legitimation der<br />

SKOS-Richtlinien zu stärken, werden die<br />

Richtlinien seit 2015 von der SODK verabschiedet.<br />

Eine rechtlich verbindliche<br />

Regelung zur Existenzsicherung wäre der<br />

aktuellen Lage allerdings vorzuziehen,<br />

so wie sie beispielsweise auch für Ergänzungsleistungen<br />

oder landwirtschaftliche<br />

Subventionen gelte. Dies insbesondere<br />

angesichts der Tatsache, dass in einer liberalen<br />

Wirtschaft der Arbeitsmarkt nur<br />

für kompetitive und ausgebildete Menschen<br />

eine Beschäftigungsmöglichkeit<br />

bereithalte. Für unqualifizierte Arbeitnehmende<br />

blieben – wenn überhaupt – nur<br />

unsichere, schlecht bezahlte Stellen. Die<br />

sogenannte Sockelarbeitslosigkeit werde<br />

daher bestehen bleiben. Das Phänomen<br />

der Langzeitarbeitslosigkeit – und damit<br />

auch der Sozialhilfeabhängigkeit – sei eine<br />

Realität und müsse gesellschaftlich akzeptiert<br />

werden.<br />

Analog zum Benchmarking in der Arbeitslosenverischerung<br />

wäre auch in der<br />

Sozialhilfe eine dezentrale Steuerung mit<br />

einer zentralen Finanzierung denkbar.<br />

Derzeit seien nur grosse Städte finanziell<br />

in der Lage, innovative Projekte durchzuführen.<br />

Bundessubventionen für Innovationen<br />

würden für Projekte in der Sozialhilfe<br />

nicht erteilt. Der Entwicklung, die die Sozialhilfe<br />

in den letzten Jahren durchlaufen<br />

hat, muss mit neuen Ideen entgegengetreten<br />

werden. Insbesondere die Tatsache,<br />

dass die Sozialhilfe heutzutage in vielen<br />

Fällen nicht mehr eine Überbrückungshilfe<br />

darstellt, sondern eine länger anhaltende<br />

Unterstützung, stellt eine grosse Herausforderung<br />

dar. Im Zentrum der aktuellen<br />

Diskussion stünden die Finanzierung und<br />

damit verbunden die Tendenz zu einem<br />

negativen Wettbewerb um Betroffene, der<br />

in einigen Regionen der Schweiz zugenommen<br />

habe.<br />

Die Expertenrunde war sich einig darüber,<br />

dass die Sozialhilfe und die entsprechenden<br />

Akteure die anstehenden<br />

Probleme nicht isoliert lösen können.<br />

Vielmehr muss die Sozialhilfe als Teil des<br />

Gefüges rund um die veränderten Bedürfnisse<br />

des Arbeitsmarktes, die Sozialversicherungen,<br />

die ausländerrechtlichen Vorgaben<br />

und Integrationsmöglichkeiten, die<br />

ausserfamiliäre Betreuungssituation etc.<br />

betrachtet werden.<br />

•<br />

Thea Bächler<br />

Angelika Spiess<br />

Institut für Föderalismus der<br />

Universität Freiburg<br />

1/17 ZeSo<br />

27


Forjad: Programm für junge<br />

Erwachsene in Schwierigkeiten<br />

FACHBEITRAG Die Waadtländer<br />

Kantonsregierung hat<br />

2006 das Programm<br />

Forjad für jugendliche<br />

Sozialhilfeempfänger<br />

lanciert. Denn man hatte eine<br />

besorgniserregende Zahl junger<br />

Menschen registriert, die sich<br />

nicht auf dem Arbeitsmarkt<br />

zu halten vermochten. <strong>2017</strong><br />

wurden die Massnahmen, um<br />

jungen Sozialhilfebeziehenden<br />

die Berufsausbildung zu<br />

ermöglichen, erneut verstärkt.<br />

Die Verschlechterung der Situation junger<br />

Erwachsener zwischen 18 und 25 Jahren,<br />

die sich in wachsender Zahl bei der Sozialhilfe<br />

meldeten, schreckte vor einigen Jahren<br />

die zuständigen Waadtländer Behörden<br />

auf. Sie stellten als Ursachen für diese<br />

Entwicklung eine Reihe von unterschiedlichen<br />

Faktoren fest. Zu den strukturellen<br />

Ursachen zählen der Arbeitsmarkt, der immer<br />

strengere Selektionskriterien anwendet,<br />

sowie eine limitierte Zahl Lehrstellen.<br />

Auch wenn diese wächst, kann sie mit der<br />

demografischen Entwicklung nicht mithalten.<br />

Zu den individuellen Ursachen<br />

zählt eine für die meisten dieser jungen Erwachsenen<br />

charakteristische Vielzahl an<br />

beruflichen, schulischen, gesundheitlichen<br />

und sozialen Problemen als Folge eines<br />

meist chaotischen Lebenslaufs mit<br />

zahlreichen Brüchen.<br />

Forjad unterstützt junge Erwachsene auf dem Weg in den Arbeitsmarkt.<br />

Bild: Ville de Lausanne H. Siegenthaler<br />

ursache für Arbeitslosigkeit führt häufig irgenwann<br />

zu Sozialhilfeabhängigkeit der<br />

Jugendlichen. Bildung hingegen erhöht<br />

die Chancen auf dem Stellenmarkt und sichert<br />

damit die nachhaltige wirtschaftliche<br />

Unabhängigkeit erheblich, auch wenn sie<br />

Arbeitslosigkeit nicht in jedem Fall verhindern<br />

kann.<br />

2005 beschlossen drei der insgesamt<br />

sieben Waadtländer Departemente, ihre<br />

Zusammenarbeit vor dem Hintergrund<br />

der wachsenden Zahl jugendlicher Sozialhilfeempfänger<br />

zu intensivieren: Das<br />

Gesundheits- und Sozialdepartement,<br />

das Bildungsdepartement sowie das Wirtschaftsdepartement.<br />

Der Austausch mündete<br />

schliesslich in einer gemeinsamen<br />

Politik zur Verbesserung der Situation von<br />

Fehlende berufliche Ausbildung<br />

Die fehlende Berufsausbildung ist einer<br />

der wesentlichen Faktoren für die Zunahme<br />

der sozialhilfeempfangenden jungen<br />

Erwachsenen zwischen 18 und 25 Jahren<br />

(70 Prozent der jungen Sozialhilfebeziehenden<br />

haben keine Berufsausbildung).<br />

Die fehlende Berufsausbildung als Hauptjungen<br />

Erwachsenen mit erhöhtem Risiko,<br />

den Anschluss an die Gesellschaft und<br />

Arbeitswelt zu verlieren. Das gemeinsame<br />

Handeln unterschiedlicher politischer<br />

Kräfte aus dem linken wie aus dem rechten<br />

Spektrum ermöglichte die Annahme der<br />

nötigen Finanzierungsbeschlüsse durch<br />

das Parlament.<br />

Ein Jahr später wurde eine Koordinationsgruppe<br />

für das Projekt Forjad ins<br />

Leben gerufen. Die Gruppe, bestehend<br />

aus Vertreterinnen und Vertretern der drei<br />

betroffenen Departemente, Arbeitgebern<br />

und Verbänden, spielte eine wichtige Rolle<br />

bei der Vorbereitung des Projekts sowie<br />

dessen politischer Akzeptanz. Sie trug auch<br />

entscheidend zur erfolgreichen Lancierung<br />

von Forjad (formation professionelle<br />

28 ZeSo 1/17


des jeunes adultes en difficulté) bei, als<br />

innert Kürze über 60 Lehr- und Berufsbildungsplätze<br />

benötigt wurden.<br />

Zu Beginn waren die Beträge für Stipendien<br />

im Kanton Waadt deutlich tiefer<br />

als die Sozialhilfesätze (ersteres Fr. 120.-<br />

zweiteres Fr. 1600.- pro Monat). Diese Differenz<br />

demotivierte viele Junge, eine Ausbildung<br />

anzufangen, vor allem diejenigen,<br />

die von ihrer Familie keine Unterstützung<br />

erhielten. Das Pilotprojekt sah deshalb vor,<br />

dass die Sozialämter vorläufig auch jungen<br />

Erwachsenen während der Ausbildung<br />

Sozialhilfebeiträge bezahlen. Die ersten<br />

ermutigenden Resultate des Programms<br />

veranlassten die Waadtländer Regierung<br />

schliesslich, eine Gesetzesänderung vorzubereiten,<br />

mit der Stipendien- und Sozialhilferecht<br />

harmonisiert werden. Dies mit<br />

dem Ziel, negative Schwelleneffekte beim<br />

Eintritt in eine Ausbildung zu vermeiden.<br />

Die Gesetzesänderung wurde 2009 verabschiedet<br />

und ermöglicht seither allen jungen<br />

Waadtländern vorteilhaftere Bedingungen<br />

beim Eintritt oder Wiedereinstieg<br />

in die Lehre oder Ausbildung.<br />

Die Platzierung in einem Lehrbetrieb<br />

ermöglicht es den Betroffenen, mit potenziellen<br />

Arbeitgebern, die möglicherweise<br />

Ausbildungsplätze bieten, direkte<br />

Kontakte aufzubauen. Mit dem Ziel, Praktikumsplätze<br />

oder Lehrstellen für diese<br />

jungen Erwachsenen zu finden, hat das<br />

Gesundheits- und Sozialhilfedepartement<br />

des Kantons Waadt (DSAS) zahlreiche Interventionen<br />

bei Vertretern des Privatsektors<br />

und des halbstaatlichen Sektors sowie<br />

der Gemeinden unternommen. Manche<br />

medizinische Pflegedienste im Kanton<br />

Waadt entschlossen sich, mitzumachen<br />

und Praktikumsplätze und Lehrstellen für<br />

verschiedene Berufe zur Verfügung zu stellen.<br />

Um diese äusserst wertvolle Unterstützung<br />

zu fördern, beschloss das DSAS, bis<br />

zu 20 Prozent der Anstellungskosten zu<br />

übernehmen.<br />

Programm mit hoher Erfolgsquote<br />

Im Prinzip wird jedem jungen Sozialhilfebewerber<br />

vorgeschlagen, an Vorbereitungsmassnahmen<br />

für die Berufsausbildung<br />

teilzunehmen. Vom DSAS<br />

mandatierte Organisationen bieten Kurse<br />

verteilt über das <strong>ganz</strong>e Kantonsgebiet an.<br />

Die Massnahmen haben drei Hauptpfeiler:<br />

die Konkretisierung eines Berufsprojekts,<br />

die schulische Vorbereitung; und die psychosoziale<br />

Begleitung der Jungen. Sobald<br />

das Berufsprojekt validiert und mittels<br />

Praktika im Unternehmen getestet ist, haben<br />

die Massnahmen zum Ziel, den jungen<br />

Erwachsenen im selben Unternehmen eine<br />

Lehrstelle zu ermöglichen. Augenblicklich<br />

kann der Kanton Waadt rund 600 Vorbereitungssplätze<br />

für die Berufsausbildung<br />

anbieten mit jährlichen Folgekosten von<br />

Fr. 13,5 Mio.<br />

Sobald der Lehrvertrag unterzeichnet<br />

ist, wird der Lernende von einem spezialisierten<br />

Coach begleitet. Damit möglichst<br />

viele der jungen Erwachsenen den Einstieg<br />

ins Berufsleben schaffen, stellt die DSAS<br />

als zentrales Element ihres Konzepts eine<br />

spezielle Begleitung während der gesamten<br />

Dauer der Ausbildung zur Verfügung.<br />

Dies mit dem Ziel Lehrabbrüche zu vermeiden.<br />

Die Begleitung sichert Unterstützung<br />

für die schulischen, beruflichen,<br />

sozialadministrativen und persönlichen<br />

Aspekte.<br />

Anstellung am Ende der Lehre<br />

Hat der Lernende seinen Lehrabschluss<br />

schliesslich in der Tasche, kann die Begleitung<br />

noch weitere drei Monate bei der Integration<br />

in eine neue Firma oder bei der<br />

Stellensuche behilflich sein. Die DSAS arbeitet<br />

im Übrigen mit einem Team zusammen,<br />

das darauf spezialisiert ist, den jungen<br />

Erwachsenen bei der Stellensuche<br />

Unterstützung zu liefern. Alle diplomierten<br />

Lehrabgänger, die dann noch auf Stellensuche<br />

sind, werden bei der Regionalen<br />

Arbeitsvermittlung angemeldet.<br />

2967 junge Erwachsene haben das<br />

Programm seit 2006 durchlaufen. 1018<br />

schlossen die Ausbildung mit Erfolg ab.<br />

893 befanden sich noch in Ausbildung.<br />

Die Erfolgsquote des Programms beträgt<br />

also 65 Prozent (inklusive denjenigen, die<br />

die Ausbildung noch nicht abgeschlossen<br />

84 Prozent der<br />

Teilnehmer des<br />

Programms Forjad<br />

beziehen keine<br />

Sozialhilfe mehr.<br />

haben). Eine 2016 durchgeführte Studie<br />

zeigte, dass 84 Prozent der Teilnehmer des<br />

Programms Forjad keine Sozialhilfe mehr<br />

beziehen.<br />

Ein Programm für Erwachsene<br />

Nachdem sich rasch zeigte, dass das Programm<br />

erfolgreich ist, beschloss die<br />

Waadtländer Regierung 2013, es auf die<br />

26- bis 40-jährigen Erwachsenen ohne Berufsabschluss<br />

zu erweitern (Formad). Mehr<br />

als 300 Erwachsene haben seither ebenfalls<br />

eine Berufsausbildung begonnen.<br />

Verstärkung im Jahr <strong>2017</strong><br />

Der Waadtländer Staatsrat beschloss zudem<br />

eine weitere Modalität in das Berufsbildungsprogramm<br />

für junge Sozialhilfeempfänger<br />

aufzunehmen. Die<br />

Anstrengungen, jungen Sozialhilfeempfängern<br />

die Berufsausbildung zu ermöglichen,<br />

werden seit Anfang des Jahres noch<br />

verstärkt. Den jungen Erwachsenen wird<br />

gleich am Anfang vorgeschlagen, die Vorbereitungen<br />

für den Beginn einer Berufsausbildung<br />

sofort in Angriff zu nehmen.<br />

Diese Phase wird des Weiteren dafür genützt,<br />

um den jungen Erwachsenen dabei<br />

behilflich zu sein, ein Gesuch um ein Stipendium<br />

einzureichen und damit den<br />

Weg zum Sozialamt zu vermeiden. Die<br />

Massnahmen berücksichtigen inzwischen<br />

auch die im neuen Gesetz über die Unterstützung<br />

von Studien und Berufsbildung<br />

festgehaltenen Kriterien, damit die Betroffenen<br />

den Anforderungen für die Gewährung<br />

von Stipendien genügen.<br />

Die Sozialhilfeabhängigkeit zahlreicher<br />

junger Erwachsener ist eine Realität.<br />

Aber es existieren Lösungen. Dies vorallem<br />

dann, wenn es gelingt, einen starken<br />

politischen Willen, einen ausreichenden<br />

finanziellen Rahmen und Begleitung für<br />

die Jungen sowie die Unterstützung wirtschaftlicher<br />

Kreise zu vereinen.<br />

Das Programm Forjad erlaubt, die Augen<br />

vor dieser neuen sozialen Realität nicht<br />

zu verschliessen und ihr mit einem für die<br />

Allgemeinheit vertretbaren finanziellen<br />

Aufwand etwas entgegenzusetzen. Die<br />

Zahl der jungen Erwachsenen, die es im<br />

Rahmen des Programms geschafft haben,<br />

sich eine von der Sozialhilfe unabhängige<br />

Existenz aufzubauen, ermöglicht es, diese<br />

Kosten als Investition zu betrachten. •<br />

Antonello Spagnolo<br />

Sektionschef im DSAS<br />

1/17 ZeSo<br />

29


Ausbilden statt entlassen<br />

REPORTAGE Der Solothurner Werkzeuge-Hersteller Fraisa schickt ungelernte Mitarbeitende in die<br />

berufliche Nachholbildung. Das nützt nicht nur den Angestellten, sondern auch dem Unternehmen.<br />

Am 15. September 2008 ging die Investmentbank<br />

Lehmann Brothers in New York<br />

Konkurs. Die Pleite des Finanzinstituts bildete<br />

den Höhepunkt einer weltweiten Wirtschafts-<br />

und Finanzkrise. Die Folgen waren<br />

bis in die Industriezone von Bellach im<br />

Kanton Solothurn zu spüren. Dort steht der<br />

Hauptsitz der international tätigen Fraisa-<br />

Gruppe, die Werkzeuge zur Metallbearbeitung<br />

herstellt. Der Umsatz brach innert<br />

kurzer Zeit dramatisch ein, und im Herbst<br />

2009 sah sich das 1934 gegründete Familienunternehmen<br />

gezwungen, zwei seiner<br />

Werke in der Schweiz zu schliessen. Weit<br />

über 100 Mitarbeitende verloren ihre Stelle.<br />

Heute beschäftigt das Unternehmen<br />

noch 536 Mitarbeitende. Die Entlassungen<br />

wurden mit einem fairen Sozialplan abgefedert,<br />

jetzt geht es der Fraisa wieder gut.<br />

«Es war ein Schock für uns alle», erinnert<br />

sich der Konzernchef und Verwaltungsratspräsident<br />

Josef Maushart.<br />

Bis zur Krise habe gegolten: Eine Stelle<br />

bei der Fraisa ist eine Stelle fürs Leben,<br />

sagt der 52-Jährige. Doch dann musste<br />

massiv restrukturiert werden, und die Philosophie<br />

veränderte sich laut Maushart<br />

grundlegend: «Das alte Denken, wonach<br />

der Patron für seine Angestellten sorgt,<br />

konnte nach den Entlassungen nicht mehr<br />

wiederbelebt werden.» Die Fraisa setzt seither<br />

auf Qualifizierung. «Wir wollen unsere<br />

Mitarbeitenden befähigen, sich am Arbeitsmarkt<br />

positionieren zu können – im<br />

Notfall auch unabhängig von der Fraisa»,<br />

sagt der Chef.<br />

Den Abschluss nachholen<br />

Ein wichtiges Mittel ist die Nachholbildung,<br />

eine verkürzte Erwachsenenlehre.<br />

Personen mit reichlich Erfahrung, aber ohne<br />

Berufsabschluss, können diesen nachholen.<br />

2012 begannen zwölf ungelernte<br />

Fraisa-Mitarbeitende – viele von ihnen mit<br />

Migrationshintergrund – eine Nachholbildung.<br />

Während zwei Jahren bildeten sie<br />

sich berufsbegleitend zum Produktionsmechaniker<br />

oder Logistiker aus. Zur Bildungsoffensive<br />

kam es bei der Fraisa nicht allein<br />

aus sozialer Verantwortung. Das Unternehmen<br />

verfolgt damit auch betriebliche Interessen.<br />

Um im hart umkämpften Industriemarkt<br />

– erst recht unter dem Druck des<br />

2015 erstarkten Frankens – konkurrenzfähig<br />

zu bleiben, rationalisiert und automatisiert<br />

die Fraisa immer mehr Abläufe. Sie reduziert<br />

so die Produktionskosten. Es<br />

braucht weniger Personal, um die Fräs-,<br />

Bohr- und Gewindewerkzeuge zu fertigen.<br />

Doch das verbleibende Personal muss qualifiziert<br />

sein.<br />

«Wir setzen hochmoderne, sehr produktive<br />

Systeme ein», erklärt Maushart.<br />

Früher wurde in der Fraisa im Zwei- und<br />

Dreischichtbetrieb gearbeitet, die Arbeiter<br />

überwachten die Produktion rund um<br />

die Uhr. Stellten sie einen Massfehler fest,<br />

justierten sie sofort nach. Heute können<br />

computergesteuerte Maschinen bis zu<br />

fünfzig Stunden selbständig funktionieren<br />

– auf den Tausendstelmillimeter genau.<br />

Bedienung und Wartung sind komplexer<br />

geworden. Auch die Verantwortung der<br />

Mitarbeitenden ist gestiegen, Fehler gehen<br />

stärker ins Geld. «Das alles erfordert eine<br />

höhere Qualifikation als vorher im alten<br />

System», sagt Maushart. Deshalb dient<br />

die Nachholbildung nicht nur den Ungelernten,<br />

sondern auch dem Unternehmen.<br />

Der Lohn liegt jetzt im Tagbetrieb bei 97<br />

Prozent des alten Schichtlohnes, obwohl<br />

die Zulage von bis zu 1200 Franken im<br />

Monat wegfiel. Die Geschäftsleitung wollte<br />

vermeiden, dass die Nachholbildung an<br />

finanziellen Überlegungen scheiterte. Zudem<br />

wurde ein Teil des Produktivitätsgewinns<br />

bei den Löhnen weitergegeben.<br />

Vorausschauende Personalplanung<br />

Michel Morand war einer der ersten Fraisa-<br />

Arbeiter, die eine Nachholbildung absolvierten.<br />

Obwohl erst 35, arbeitet er schon<br />

seit fast zwanzig Jahren beim Unternehmen.<br />

Morand war lediglich angelernt.<br />

Dann drückte er zwei Jahre lang in seiner<br />

Freizeit die Schulbank. Er besuchte eine<br />

spezielle Berufsschulklasse für Erwachsene,<br />

die auf seine Schichteinsätze Rücksicht<br />

nahm. Seit 2014 hat er das Eidgenössische<br />

Fähigkeitszeugnis (EFZ) als Produkti-<br />

Konzernchef Josef Maushart (oben<br />

li.) ermöglicht es jüngeren und älteren<br />

Angestellten, versäumte Berufsabschlüsse<br />

nachzuholen. Das nützt auch dem 35-jährigen<br />

Michel Morand (oben re.). Die Fraisa in Bellach<br />

– ein Betrieb mit sozialem Engagement.<br />

Bilder: Palma Fiacco<br />

30 ZeSo 1/17


Armutsrisiko<br />

bei Ungelernten<br />

Rund 30 Prozent der 18- bis 65-Jährigen in der<br />

Schweiz haben keinen Beruf erlernt. Sie haben<br />

ein erhöhtes Armutsrisiko und machen über die<br />

Hälfte der Sozialhilfeabhängigen aus. Das zeigte<br />

der Bundesrat 2010 auf. Ausbildung hilft, Armut<br />

langfristig zu vermeiden. Die Nachholbildung<br />

ist einer von mehreren Wegen, wie Erwachsene<br />

einen anerkannten Berufsabschluss erwerben<br />

können – sei es ein Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis<br />

oder ein Eidgenössisches Berufsattest.<br />

Im Bildungsraum Nordwestschweiz ist das in 16<br />

Berufen möglich, von der Produktionsmechanikerin<br />

bis zum Fachmann Gesundheit. Der Kanton<br />

Solothurn ist schweizweit ein Vorreiter. Dort<br />

stehen derzeit 300 Erwachsene in einer Nachholbildung,<br />

weiss Fraisa-Chef Josef Maushart. Er<br />

präsidiert den Industrieverband Solothurn und<br />

Umgebung, der das Modell fördert. (swe)<br />

onsmechaniker. «Es war streng», sagt Morand<br />

in den Maschinenlärm hinein, doch<br />

er habe die Chance packen wollen. Der Familienvater<br />

erhofft sich nun eine bessere<br />

Ausgangslage, sollte er selbst einmal von<br />

einem Stellenabbau betroffen sein. Von<br />

sich aus gehen will er nicht: «Mir gefällt es<br />

in der Fraisa.»<br />

Wie Morand blieben bisher alle Mitarbeitenden<br />

mit Nachholbildung der Fraisa<br />

treu. Diese konnte den Anteil der Ungelernten<br />

auf 15 Prozent reduzieren. Die<br />

Zahl soll weiter sinken. Derzeit stecken<br />

wieder ein Dutzend Fraisa-Leute in der<br />

Nachholbildung, unter anderem auch zur<br />

Anlageführerin EFZ. Um die Motivation zu<br />

erhöhen, stellt ihnen der Arbeitgeber neu<br />

Arbeitszeit fürs Lernen zur Verfügung. Eine<br />

Altersguillotine gibt es nicht. Der älteste<br />

Mitarbeiter schloss die Nachholbildung<br />

mit 58 ab. Unter den erwachsenen Azubis<br />

befinden sich Mitarbeiterinnen der Verpackungsabteilung,<br />

die bald von Handarbeit<br />

auf Automatisierung umgestellt wird. Auch<br />

Logistik-Angestellte absolvieren die Nachholbildung,<br />

denn ihren Bereich lagert die<br />

Fraisa Anfang 2018 nach Deutschland<br />

aus. Stellen gehen zwar verloren, doch voraussichtlich<br />

können alle Betroffenen dank<br />

Nachholbildung intern umplatziert werden.<br />

Maushart selbst, ursprünglich Ingenieur<br />

und Firmenchef seit 1995, ist seit 2005<br />

auch Mehrheitsbesitzer der Fraisa. Technologischen<br />

Wandel und soziale Verantwortung<br />

gelte es zu versöhnen, das sei machbar:<br />

«Wir müssen zukunftsfähige, rentable<br />

Arbeitsplätze schaffen und die Menschen<br />

mitnehmen auf diesem Weg». •<br />

Susanne Wenger<br />

1/17 ZeSo<br />

31


Berufseinführungsprogramm erhöht<br />

die Chancen auf dem Arbeitsmarkt<br />

PLATTFORM Der Kanton Glarus bietet für anerkannte und vorläufig aufgenommene Flüchtlinge<br />

ein Berufseinführungsprogramm an. Die erste Klasse ist im Oktober 2016 gestartet. Die<br />

Koordinationsstelle Integration Flüchtlinge (KIF) zieht trotz Hindernissen eine positive Zwischenbilanz.<br />

Der Kanton Glarus hat analog zur Flüchtlingsvorlehre<br />

des Bundes ein Programm<br />

ins Leben gerufen, um anerkannten und<br />

vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen<br />

eine echte Chance zu bieten, in der Arbeitswelt<br />

Fuss zu fassen. Das Berufseinführungsprogramm<br />

(BEP) hat das Ziel, das<br />

Potenzial anerkannter und vorläufig aufgenommener<br />

Flüchtlinge aller Altersstufen<br />

zu fördern und sie nachhaltig in den Arbeitsmarkt<br />

zu integrieren. Die Teilnehmenden<br />

absolvieren in geeigneten Branchen<br />

eine einjährige Ausbildung, die mit<br />

einem Kompetenznachweis abgeschlossen<br />

wird. Den schulischen Teil des BEP übernimmt<br />

die gewerblich-industrielle Berufsfachschule<br />

(GIBGL) Ziegelbrücke mit einem<br />

halben Tag massgeschneidertem<br />

Unterricht. Die Lernenden sollen sich die<br />

Grundkompetenzen ihres Berufes, berufsbezogenes<br />

Deutsch sowie Grundkenntnisse<br />

in Mathematik und Geometrie aneignen.<br />

Nach der Absolvierung des BEP<br />

können die Teilnehmenden bei Eignung<br />

in eine zweijährige Lehre mit eidgenössischem<br />

Berufsattest (EBA) einsteigen oder<br />

als kompetente Mitarbeiter mit grundlegenden<br />

Berufskenntnissen angestellt werden.<br />

Für viele Migrantinnen und Migranten<br />

kann so eine solide Basis für eine vom<br />

Staat finanziell unabhängige Zukunft geschaffen<br />

werden und die Sozialhilfe wird<br />

langfristig entlastet.<br />

Gute Gründe für das Programm<br />

Vor einigen Jahren wurde die frühere Anlehre<br />

durch die EBA-Lehre ersetzt. Damit<br />

PLATTFORM<br />

Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />

diese Rubrik als Plattform an, auf der sie sich<br />

und ihre Tätigkeit vorstellen können: in dieser<br />

Ausgabe der Koordinationsstelle Integration<br />

Flüchtlinge des Kantons Glarus (KIF).<br />

einher gingen höhere schulische Anforderungen<br />

an die Auszubildenden. Einige<br />

junge Erwachsene − vor allem solche mit<br />

Migrationshintergrund und einer ungenügenden<br />

Schulbildung − können diese Anforderungen<br />

nicht mehr erfüllen und sind<br />

von einer Berufsbildung ausgeschlossen.<br />

Ziel ist es, dass 95 Prozent der Jugendlichen,<br />

welche die Volksschule absolvieren,<br />

eine berufliche Grundbildung, also ein<br />

EBA oder ein Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis<br />

(EFZ), abschliessen. Für diejenigen,<br />

die dazu nicht in der Lage sind, kann<br />

ein Kompetenznachweis sinnvoll sein.<br />

Aus dieser Erfahrung heraus und angesichts<br />

der wachsenden Anzahl von Flüchtlingen<br />

erarbeitete die Hauptabteilung für<br />

höheres Schulwesen und Berufsbildung<br />

gemeinsam mit der Hauptabteilung Soziales<br />

des Kantons Glarus ein Konzept für<br />

ein Berufseinführungsprogramm. Für die<br />

Umsetzung und Betreuung ist die 2014<br />

geschaffene Koordinationsstelle Integration<br />

Flüchtlinge (KIF) zuständig (s. Kasten).<br />

Das BEP verbessert die Chancen seiner<br />

Absolventen auf dem Arbeitsmarkt, wie es<br />

etwa auch der Lehrgang Pflegehelfer/-in<br />

SRK tut. Aus diesem Grund hat auch der<br />

Bundesrat ein Pilotprogramm mit Vorlehren<br />

für Flüchtlinge lanciert. Dessen Umsetzung<br />

wird jedoch noch einige Zeit in<br />

Anspruch nehmen, weshalb der Kanton<br />

Glarus nicht zuwarten und erste Erfahrungen<br />

sammeln wollte.<br />

Das Konzept Berufseinführungsprogramm<br />

wird auch vom kantonalen Amt für<br />

Wirtschaft und Arbeit (AWA) als eine wirksame<br />

Massnahme zur Integration von anerkannten<br />

Flüchtlingen (Status B, VA FL)<br />

in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt<br />

und als sinnvolle Ergänzung zu den bisherigen<br />

Praktika anerkannt. Gleichzeitig<br />

macht das AWA darauf aufmerksam, dass<br />

der Arbeitsmarkt aktuell sehr angespannt<br />

ist und vor grossen Herausforderungen<br />

steht. Die Beschäftigung aller Anspruchsgruppen<br />

(Asyl, Drittstaaten, EU, CH) soll<br />

daher ausgewogen erfolgen und in einem<br />

gesunden Verhältnis zueinander stehen.<br />

Speziell betont das AWA, dass der Bedarf<br />

an niedrigqualifizierten Arbeitskräften im<br />

Industriesektor auch in Zukunft weiter<br />

abnehmen dürfte. Es sei wichtig, die Lage<br />

stetig zu beobachten, um frühzeitig Veränderungen<br />

und Chancen in der Arbeitswelt<br />

feststellen zu können. Das BEP wird deshalb<br />

jährlich durch die Arbeitsmarktbehörde<br />

beurteilt und bewilligt.<br />

Bereitschaft von Betrieben nötig<br />

Entscheidend für den Erfolg des BEP ist<br />

die Bereitschaft von geeigneten Betrieben,<br />

jungen Erwachsenen aus dem Flüchtlingsbereich<br />

eine Chance für eine praxisorientierte<br />

Ausbildung zu geben. Deshalb wurde<br />

in einem ersten Schritt das Konzept in<br />

den in Frage kommenden Branchen vorgestellt.<br />

Es stellte sich als nicht einfach heraus,<br />

Arbeitgeber für die Ausbildung zu gewinnen,<br />

wohl weil das Angebot neu war<br />

und sie noch keine Erfahrungen sammeln<br />

konnten. Das BEP ist selbsttragend und<br />

belastet die Sozialhilfe nur für die Lebensunterhaltskosten<br />

gemäss spezieller Regelung<br />

für junge Erwachsene. Der Betrieb<br />

zahlt den Auszubildenden einen Lohn von<br />

400 Franken und übernimmt die Berufsschulkosten<br />

wie bei einem regulären Lehrverhältnis,<br />

da er ja auch von motivierten<br />

Mitarbeitenden profitiert. Die KIF übernimmt<br />

die Lehrmittel sowie die Reisespesen<br />

zur Schule und zum Ausbildungsbetrieb<br />

und gewährleistet den Support und<br />

das Job-Coaching.<br />

Verschiedene Kulturen und Branchen<br />

Im Oktober 2016 konnte mit Verspätung<br />

die erste BEP-Pilotklasse starten. Bisher<br />

sind alle zwölf Teilnehmenden dabei geblieben,<br />

auch wenn es einige Stolpersteine<br />

32 ZeSo 1/17


Die Teilnehmer der ersten BEP-Klasse bringen unterschiedlichste Voraussetzungen für den Unterricht mit. <br />

Bild: zVg<br />

zu beseitigen gab. Die Voraussetzungen<br />

der Teilnehmenden könnten unterschiedlicher<br />

nicht sein. Das unterschiedliche<br />

Deutsch-Niveau, das sich zwischen A1 und<br />

B1 bewegt, und die Altersunterschiede<br />

sind eine Realität, die für das Ausbildungsprogramm<br />

eine grosse Herausforderung<br />

darstellt. Zudem dürfen auch die kulturellen<br />

Unterschiede (Eritrea, Tibet, Syrien)<br />

und die unterschiedlichen Einstellungen<br />

der Teilnehmenden zur Arbeitswelt nicht<br />

unterschätzt werden.<br />

In der Pilotklasse sind fünf Branchen<br />

vertreten: Systemgastronomie, Haustechnik,<br />

Bau, Automobil und Detailhandel.<br />

Zentrale Inhalte der schulischen Ausbildung<br />

sind beispielsweise Wortschatz,<br />

Grammatik, Sprechen, Hören und Schreiben.<br />

Mathematik, Zahlen, Grössen umwandeln,<br />

Allgemeinbildung, die Schweiz<br />

und ihre kulturellen Gegebenheiten. Für<br />

Teilnehmende aus Tibet ist zum Beispiel<br />

Mathematik ein unbekanntes Gebiet, das<br />

in ihrer Heimat kein Thema war. Für eine<br />

schulgewohnte syrische Teilnehmerin<br />

stellt dies hingegen weniger ein Problem<br />

dar, da sie in ihrer Heimat bereits in der<br />

Primarschule mit Mathematik in Berührung<br />

kam.<br />

Die Teilnehmenden haben auch unterschiedliche<br />

Haltungen bezüglich des<br />

Nutzens des BEP. So brachten einzelne<br />

Teilnehmende an einem Informationsabend<br />

offen zum Ausdruck, dass sie lieber<br />

für 3500 Franken einer Hilfstätigkeit<br />

nachgehen wollen, statt Zeit mit Bildung<br />

zu vergeuden. Es sind Teilnehmende, welche<br />

ihre Möglichkeiten überschätzen und<br />

Koordinationsstelle<br />

Integration Flüchtlinge<br />

DES Kantons Glarus<br />

Im Kanton Glarus wurde 2013 ein Konzept zur<br />

Förderung der beruflichen und sprachlichen<br />

Integration von anerkannten Flüchtlingen und<br />

vorläufig aufgenommenen Personen ausgearbeitet,<br />

das vorsah, eine Koordinationsstelle<br />

für die Integration von Flüchtlingen (KIF)<br />

einzusetzen. Diese nahm im Mai 2014 ihren<br />

Betrieb auf. Aufgrund der grossen Fallzahlen<br />

beschloss der Regierungsrat 2015 einen Ausbau<br />

der KIF von 60 auf 180 Stellenprozente.<br />

Derzeit betreut die KIF über 160 Dossiers.<br />

Das Sprachangebot und die Stützkurse<br />

wurden ausgebaut und werden in Zusammenarbeit<br />

mit externen Partnern geplant und<br />

durchgeführt. Beim BEP fungiert die KIF als<br />

Koordinatorin und als Brücke zum Arbeitsamt.<br />

Sie übernimmt zudem das Job-Coaching der<br />

Teilnehmenden und akquiriert und betreut die<br />

Arbeitgebenden.<br />

eine Arbeit verrichten wollen, die aus Sicht<br />

des Arbeitgebers von ihren Fähigkeiten her<br />

für sie nicht in Frage kommt. Dieser Erfahrung<br />

stehen die überaus positiven Einschätzungen<br />

der Arbeitgeber gegenüber.<br />

Fast alle BEP-Teilnehmenden machen in<br />

ihrem gewählten Ausbildungsberuf grosse<br />

Fortschritte und haben sich in die bestehenden<br />

Teams sehr gut integriert. Alle involvierten<br />

Arbeitgeber sind dankbar, diese<br />

Erfahrungen machen zu dürfen, und unterstützen<br />

das Programm engagiert.<br />

Die erste Zwischenbilanz zeigt, dass<br />

das Programm nicht allen Teilnehmenden<br />

gerecht werden kann und für die nächste<br />

Klasse eine differenzierte Auswahl erfolgen<br />

muss, da die Heterogenität ihre Grenzen<br />

hat. Voraussetzung muss ein Grundwissen<br />

in Deutsch sein. Weiter wurde festgestellt,<br />

dass ein halber Tag Berufsschule zu wenig<br />

ist. Es muss folglich für die nächste Klasse<br />

ein <strong>ganz</strong>er Tag zur Verfügung gestellt<br />

werden. Eine weitere Massnahme wird die<br />

Aufteilung auf zwei Klassen sein: eine Klasse<br />

im Bereich Dienstleistung und eine im<br />

Bereich Handwerk. Die mit der BEP-Pilotklasse<br />

gemachten Erfahrungen werden in<br />

die zweite Durchführung einfliessen. •<br />

Yvan Stauffacher<br />

Leiter Koordinationsstelle Integration Flüchtlinge<br />

des Kantons Glarus<br />

1/17 ZeSo<br />

33


ends<br />

ziale und wirtschaftliche Entwicklung in der Schweiz 2015/2016<br />

Einblicke<br />

sgeht<br />

Strafe<br />

ich die Arbeitsgesellschaft Schweiz?<br />

as schützt uns vor Armut?<br />

arkt – eine Erfolgsgeschichte mit Zukunft<br />

de Sozialpolitik das Recht auf menschenwürdige Arbeit?<br />

ration gelingen kann<br />

fen: Das Modell der Dock-Gruppe<br />

Flüchtlinge Gastgeber sind<br />

nd Menschenwürde: Caritas-Märkte in der Schweiz<br />

gung schaffen: «Carrefour-Rue» in Genf<br />

tze einer investiven Arbeitsmarktpolitik<br />

tenzsichernde, würdevolle Arbeit<br />

stet mit dem Sozialalmanach<br />

en zuverlässige Sozialbericht-<br />

-146-1<br />

Medienstimme<br />

«Einen wesentlichen Beitrag an eine gesamtschweizerische<br />

Armutsberichterstattung liefert das<br />

Hilfswerk Caritas. Seit 1999 veröffentlicht es ein<br />

Jahrbuch zur sozialen Lage in der Schweiz, den<br />

sogenannten ‹Sozialalmanach›, in dem der<br />

Besprechung von Armut und Massnahmen zu<br />

deren Bekämpfung und Prävention ein wichtiger<br />

Platz eingeräumt wird. […]<br />

Bezeichnend für die Berichterstattung der Caritas<br />

ist neben ihrem qualitativen Charakter ein mehrdimensionales<br />

Armutsverständnis, das neben dem<br />

materiellen weitere armutsrelevante Lebensbereiche<br />

berücksichtigt und der subjektiven Betroffenheit<br />

Bedeutung zumisst.»<br />

«Soziale Sicherheit»<br />

24.01.17 10:43<br />

Sozialalmanach <strong>2017</strong><br />

<strong>2017</strong><br />

Recht auf Arbeit<br />

Der Sozialalmanach beobachtet und kommentiert<br />

die soziale und wirtschaftliche Entwicklung<br />

in der Schweiz. Der Schwerpunktteil des<br />

Sozialalmanach<br />

diesjährigen Almanachs nimmt sich dem<br />

Recht auf Arbeit<br />

Thema «Recht auf Arbeit» an. In Essays und<br />

Fachartikeln geht er aktuellen Entwicklungen<br />

Das Caritas-Jahrbuch<br />

zur sozialen Lage der Schweiz<br />

auf dem Arbeitsmarkt nach und lotet die Potenziale<br />

und Grenzen beruflicher und sozialer<br />

Trends, Analysen, Zahlen<br />

Integration in der Arbeitsgesellschaft Schweiz aus. Beleuchtet werden<br />

etwa die Wirkung von aktivierender Sozialpolitik, Schweizer Sozialfirmen<br />

oder Ansätze europäischer Arbeitsmarktpolitik. Darüber hinaus<br />

geben Fallbeispiele Einblicke in verschiedene Berufsleben.<br />

Caritas Schweiz, Sozialalmanach <strong>2017</strong>: Recht auf Arbeit, Caritas-Verlag Luzern, <strong>2017</strong>,<br />

240 Seiten, CHF 36.−<br />

ISBN: 978-3-85592-146-1<br />

Aktivierender Sozialstaat<br />

Die strategische Ausrichtung der Sozialpolitik<br />

hat nicht mehr die Kompromissfindung<br />

zwischen Arbeit und Kapital zum Ziel, sondern<br />

die Mobilisierung des verfügbaren Humankapitals<br />

und die ökonomische Verschlankung des<br />

Sozialstaates. Betrachtet werden der Umbau<br />

zum aktivierenden Sozialstaat und die dabei<br />

entstandenen Probleme der sozial Schwächsten.<br />

Der aktivierende Sozialstaat birgt den Widerspruch in sich, dass er,<br />

um aktivierend wirken zu können, eine Vielzahl von Unterstützungsangeboten<br />

bereitstellen muss. Er orientiert sich dabei aber nicht am<br />

Bedarf, sondern an knapper werdenden öffentlichen Budgets.<br />

Michael Büschken, Soziale Arbeit unter den Bedingungen des «aktivierenden<br />

Sozialstaates», Beltz Juventa, <strong>2017</strong>, 256 Seiten, CHF 48.−<br />

ISBN: 978-3-7799-3450-9<br />

Praktische Intelligenz in der<br />

Berufsbildung<br />

Solange Berufsbildnerinnen und Berufsbildner<br />

die Potenziale der Lernenden nicht erkennen,<br />

wertschätzen und fördern, bleiben vorhandene<br />

Begabungs- und Talentreserven ungenutzt.<br />

Eine Neuausrichtung des Blicks weg von der<br />

alleinigen Konzentration auf Defizite und<br />

Schwächen hin zur Integration von Potenzialen<br />

und Stärken würde die praktische Intelligenz junger Menschen mehr<br />

in den Vordergrund rücken. Dies könnte den Lernenden, aber auch<br />

der Berufsbildung selbst, neue Chancen eröffnen. Gelingen kann dies<br />

durch ein gezieltes Talentmanagement im Sinne eines systematischen<br />

Aufbaus von Können.<br />

Margrit Stamm, Goldene Hände, Praktische Intelligenz als Chance für die Berufsbildung,<br />

hep, 2016, 152 Seiten, CHF 33.−<br />

ISBN: 978-3-0355-0427-9<br />

Unbezahlt und dennoch Arbeit<br />

Monica Budowski, Ulrike Knobloch<br />

und Michael Nollert (Hrsg.)<br />

D I F F E R E N Z E N<br />

Unbezahlt und dennoch Arbeit<br />

Unbezahlte Arbeit umfasst alle Formen von<br />

Tätigkeiten, die unentgeltlich in Familien,<br />

informellen Netzwerken und Organisationen<br />

geleistet werden. Sie ist sozialpolitisch und<br />

volkswirtschaftlich enorm bedeutsam. Dass<br />

sich die Sozialpolitik auf die Risiken der<br />

Lohnarbeit konzentriert und damit jene der<br />

unbezahlten Arbeit vernachlässigt, ist ein<br />

gleichstellungspolitisches Problem: Frauen leisten den Grossteil der unbezahlten<br />

Tätigkeiten, insbesondere Care-Arbeit. Der Sammelband gibt<br />

einen Überblick über zentrale Themenfelder und sozialpolitisch relevante<br />

Fragestellungen zu unbezahlter Arbeit.<br />

Monica Budowski, Ulrike Knobloch, Michael Nollert (Hrsg.), Unbezahlt und dennoch<br />

Arbeit, Seismo, 2016, 296 Seiten, CHF 38.−<br />

ISBN: 978-3-03777-150-1<br />

Inklusion, ja!<br />

Perspektive Berufsbildung<br />

Erst Schule, dann Ausbildung, dann Arbeit und<br />

lebenslanges Lernen – ein <strong>ganz</strong> normaler Weg,<br />

scheint es. Junge Menschen mit besonderem<br />

Unterstützungsbedarf werden heute im Regelfall<br />

integrativ geschult, anschliessend folgt die<br />

inklusive Berufsausbildung und es öffnet sich ein<br />

inklusiver Arbeitsmarkt, oder doch (noch) nicht?<br />

Der Fachverband Integras beleuchtet unterschiedliche<br />

Perspektiven und beschäftigt sich<br />

mit künftigen Chancen und Herausforderungen.<br />

Integras-Tagung Sonderpädagogik<br />

Freitag, 24. März <strong>2017</strong>, Kulturcasino Bern<br />

www.integras.ch<br />

SKOS-Mitgliederversammlung:<br />

Aktivierung in der Sozialhilfe<br />

Seit rund 20 Jahren prägt das Paradigma der<br />

Aktivierung die Schweizer Sozialpolitik. Wie<br />

aktuell ist das Paradigma heute? Wo sind Vorteile<br />

des aktivierenden Sozialstaates aus sozialpolitischer<br />

Sicht zu verorten? Und was ist zu tun,<br />

wenn die Aktivierung aufgrund der fehlenden<br />

Übereinstimmung von Angebot und Nachfrage<br />

nach Arbeitskräften ins Leere läuft? Mit diesen<br />

Fragen beschäftigt sich die SKOS-Mitgliederversammlung.<br />

SKOS-Mitgliederversammlung<br />

Donnerstag, 18. Mai <strong>2017</strong>, NH Hotel Freiburg<br />

www.skos.ch/veranstaltungen<br />

Selbstbestimmung 2.0 –<br />

künftige Herausforderungen<br />

Die Tagung zum Kindes- und Erwachsenenschutz<br />

befasst sich mit der Selbstbestimmung. Es wird<br />

aufgezeigt, was Selbstbestimmung im Kindesschutz<br />

bedeuten kann und welche Aspekte künftig<br />

insbesondere für Beiständinnen und Beistände,<br />

Abklärende und Behörden wegweisend sein<br />

werden. Weiter wird der Frage nachgegangen,<br />

welches die rechtlichen und sozialarbeiterischen<br />

Herausforderungen beim Thema Selbstbestimmung<br />

sind.<br />

Luzerner Tagung zum Kindes- und Erwachsenenschutz<br />

Donnerstag, 18. Mai <strong>2017</strong>, Messe Luzern<br />

www.hslu.ch<br />

34 ZeSo 1/17


lesetipps<br />

Roland J. Campiche<br />

Afi Sika Kuzeawu<br />

Die jungen<br />

Alten:<br />

vom Bildungssystem<br />

vergessen<br />

Weiterbildung für Pensionäre<br />

In der Schweiz leben 1,5 Millionen über 60-Jährige:<br />

Sie sind wichtige Stützen des sozialen<br />

und politischen Lebens in diesem Land, und<br />

mit ihnen entstehen neue Bildungsbedürfnisse.<br />

Es gilt angemessene Angebote für eine<br />

Bevölkerungsgruppe zu entwickeln, die in ihrer<br />

Berufstätigkeit vielfältige Erfahrungen gesammelt<br />

und sich Kompetenzen angeeignet hat.<br />

Neun Seniorenuniversitäten bieten entsprechende Programme an. Weil<br />

sie öffentlich kaum anerkannt sind, ist aber ihre Organisation schwach.<br />

Dieses Buch analysiert die aktuelle Situation und gibt Anstösse für eine<br />

zielgerichtete Pädagogik.<br />

Roland J. Campiche, Afi Sika Kuzeawu, Die jungen Alten: vom Bildungssystem<br />

vergessen, Seismo, <strong>2017</strong>, 168 Seiten, CHF 20.−<br />

ISBN: 978-3-03777-159-4<br />

Armut als Familientradition?<br />

Die Untersuchung widmet sich der Frage, wie<br />

sich die Biografien von Menschen gestalten,<br />

deren Familien über Generationen hinweg in<br />

Armut verbleiben. Dazu gibt sie detaillierte<br />

Einblicke in das Leben von Familien im ALG II-<br />

Bezug in Deutschland und spürt den individuellen<br />

Zusammenhängen der sozialen Reproduktion<br />

von Armut nach. Es zeigt sich, dass die<br />

Art und Weise, wie die interviewten Familien mit Armut umgehen, von<br />

einer Vielzahl miteinander verwobener biografischer Strukturaspekte<br />

abhängig ist.<br />

Dominik Wagner, Familientradition Hartz IV, Soziale Reproduktion von Armut in Familie<br />

und Biografie, Rekonstruktive Forschung in der Sozialen Arbeit, Barbara Budrich,<br />

340 Seiten, CHF 38.−<br />

ISBN: 978-3-8474-2042<br />

Soziale Arbeit als<br />

Beziehungsprofession<br />

In der Sozialen Arbeit wird zwar nicht bezweifelt,<br />

dass die Qualität der jeweiligen Hilfe<br />

unmittelbar an das Gelingen einer professionellen<br />

Beziehung gekoppelt ist. Wie man sie<br />

professionell ermöglicht, darüber bestehen<br />

jedoch nach wie vor viele Unklarheiten. Drei<br />

Studien zeigen auf, dass das Gelingen von<br />

Hilfe eine authentische, emotional tragfähige, von Nähe geprägte und<br />

dennoch reflexiv und fachlich durchdrungene Diagnostik und Beziehungsführung<br />

erfordert.<br />

Silke Birgitta Gahleitner. Soziale Arbeit als Beziehungsprofession. Bindung, Beziehung<br />

und Einbettung professionell ermöglichen. Beltz Juventa, <strong>2017</strong>, CHF 52.−<br />

ISBN: 978-3-7799-3477-6<br />

Migration in der Sozialen Arbeit<br />

Migration ist Gegenstand Sozialer Arbeit,<br />

wenn Migranten marginalisiert sind und die<br />

Gesellschaft auf Anforderungen neuer Vielfalt<br />

reagieren muss. Sie findet nicht allein in<br />

migrationsspezifischen Sozialen Diensten wie<br />

Flüchtlingsdiensten statt − der Umgang mit<br />

Vielfalt und Ausgrenzung ist in allen Bereichen<br />

Sozialer Arbeit ein Thema. Das Buch zeigt migrationsspezifische<br />

Handlungsfelder der Sozialen Arbeit auf und erläutert<br />

entsprechende Konzepte und Methoden. Debatten zu Integration und<br />

interkultureller Kompetenz werden in ihrer Relevanz für ein handlungsleitendes<br />

Konzept Sozialer Arbeit untersucht.<br />

Nausikaa Schirilla, Migration und Flucht, Orientierungswissen für die Soziale Arbeit,<br />

Kohlhammer, 2016, 263 Seiten, CHF 42.−<br />

ISBN: 978-3-17-030682-0<br />

Internationale<br />

Migrationskonferenz<br />

Im Kontext von Migration werden vor allem herkunftsbezogene,<br />

politische und gesellschaftliche<br />

Zugehörigkeiten thematisiert und zum Teil auch<br />

problematisiert. Die Frage nach den Zugehörigkeiten<br />

fokussiert auf die Bereiche: «Wer bin ich?<br />

Wo gehöre ich hin? Und wer erkennt mich als<br />

zugehörig an?» An der Migrationskonferenz wird<br />

diesen Fragen aus internationaler und interdisziplinärer<br />

Perspektive nachgegangen.<br />

Internationale Migrationskonferenz<br />

Donnerstag, 22. bis Samstag 24. Juni <strong>2017</strong>,<br />

Hochschule für Soziale Arbeit FHNW Olten<br />

www.migrationskonferenz.ch<br />

European Social Services<br />

Conference in Malta<br />

Wie können Innovationen und neue Technologien<br />

in der Zukunft genutzt werden, um bessere soziale<br />

Dienste zu schaffen? Diesem Thema widmet<br />

sich die europäische Konferenz der Sozialdienste,<br />

die <strong>2017</strong> in Malta stattfindet. Die Tagung bietet<br />

Gelegenheit, Einblick in aktuelle Diskussionen<br />

und Ansätze der verschiedenen europäischen<br />

Länder zu bekommen.<br />

European Social Services Conference<br />

Montag, 26. bis MIttwoch, 28. Juni <strong>2017</strong>, Malta<br />

www.esn-eu.org/events<br />

veranstaltungen<br />

INSOS-Kongress:<br />

Wandel als Chance<br />

Der Wandel hat die Institutionen für Menschen<br />

mit Behinderung längst erfasst: Gesellschaftliche<br />

und politische Entwicklungen, veränderte<br />

Erwartungen der Menschen mit Behinderung und<br />

an institutionelle Angebote prägen ihre Arbeit<br />

nachhaltig. Am Kongress des Branchenverbands<br />

INSOS greifen verschiedene Referenten aktuelle<br />

Themen auf, nehmen Stellung und skizzieren die<br />

Auswirkungen des politischen und gesellschaftlichen<br />

Wandels.<br />

INSOS-Kongress<br />

Dienstag, 22. bis Donnerstag 24. August <strong>2017</strong>,<br />

Montreux<br />

www.insos.ch/veranstaltungen<br />

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Modedesignerin Marianna Piciuccio verkörpert «Ele<strong>ganz</strong>a italiana». Bild: Ursula Markus<br />

Die Leidenschaftliche<br />

PORTRÄT Marianna Piciuccio, 60, ist Modedesignerin. In der Nähschule der Isla Victoria, einer<br />

Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen der Zürcher Stadtmission, gibt sie ihr Können weiter. Manchmal<br />

ist sie Schiedsrichterin, manchmal Psychologin.<br />

Ein Vormittag im Zürcher Kreis 4. Das<br />

grau gestrichene Erdgeschoss der Isla Victoria<br />

steht unscheinbar neben der fröhlich<br />

hellblauen Fassade einer italienischen<br />

Macelleria. «Ragazze, Pause!», ruft Marianna<br />

Piciuccio. Die Chefin trägt ein Hosenkostüm<br />

aus feinem dunklem Tuch. Das Rot<br />

ihres Lippenstiftes hat sie auf ihre Brillenfassung<br />

abgestimmt. Ele<strong>ganz</strong>a italiana.<br />

Seit 9.15 Uhr sitzen vier ihrer völlig<br />

unauffällig gekleideten Schülerinnen über<br />

glitzernden Stoffen. Sie schneidern daraus<br />

Blusen und Röcke. Temperamentvoll stöckelt<br />

die Chefin in ihren High Heels von<br />

Tisch zu Tisch, korrigiert hier eine Schnittlinie,<br />

erklärt dort etwas in gebrochenem<br />

Deutsch, lacht oft und herzlich. Für Teilnehmerin<br />

Hélène aus Burkina Faso ist die<br />

Nähschule wie eine Familie: «Bei Marianna<br />

kann ich meine Probleme vergessen.»<br />

Gestartet war die etwas besondere Schule<br />

vor zwei Jahren. Damals hatten Sexarbeiterinnen<br />

bei Isla Victoria nach Nähkursen<br />

gefragt. Solche Kurse, sagten sich die Verantwortlichen<br />

der Zürcher Stadtmission,<br />

geben Perspektive und Struktur. Schon<br />

nach einem Jahr liess Marianna Piciuccio<br />

die erste Modeschau steigen, eine glamouröse<br />

Sache in Kurt Aeschbachers Laborbar.<br />

Heute besuchen 15 Frauen zwischen 28<br />

und 61 Jahren die Nähschule. Pro Halbtag<br />

zahlen sie zehn Franken.<br />

Für die Modemacherin ist die Arbeit<br />

mit Sexworkerinnen nichts Neues. Schon<br />

ihre erste Modeschau veranstaltete sie im<br />

Kreis 4. Das war 1985. «Warum Models<br />

suchen?», sagte sie sich: «Ich nehme die<br />

Frauen vom Nightclub, die kenne ich.»<br />

Ihre Arbeit braucht Kraft. Manchmal ist sie<br />

Schiedsrichterin, manchmal Psychologin.<br />

Jede Frau habe ihre Geschichte, sagt die<br />

charismatische Modemacherin. Viele seien<br />

innerlich fragil. Aber nicht immer seien sie<br />

Opfer: «Wenn du nicht im Gleichgewicht<br />

bist, fressen sie dich auf.» Doch diese Arbeit,<br />

betont die Designerin, sei ihre grosse<br />

Leidenschaft: «Meine Kenntnisse an andere<br />

weiterzugeben, damit sie mit Nähmaschine<br />

und Bügeleisen Geld verdienen,<br />

statt allein von der Prostitution abhängig<br />

zu sein, ist für mich das Grösste.»<br />

Aufgeben ist keine Option<br />

Die 60-Jährige kennt Armut aus eigener<br />

Erfahrung. Als sie 1956 in Mittelitalien<br />

zur Welt kommt, müssen die Leute das<br />

Wasser noch am Dorfbrunnen holen. Von<br />

ihrem Vater, einem Maurer, lernt sie, dass<br />

Bildung, Respekt und Demut die wahren<br />

Reichtümer seien. Schon mit neun geht die<br />

Kleine nach der Schule ins Schneideratelier<br />

ihres Onkels. Spätert bildet sie sich laufend<br />

weiter zur Modezeichnerin, Modedesignerin,<br />

Lehrerin. Ihr Motto: «Piu tosto<br />

mangiare un cane morto che rinunciare!»<br />

(Lieber einen verendeten Hund essen als<br />

aufzugeben).<br />

Marianna Piciuccio weiss auch, was Migration<br />

bedeutet. 1976 der Liebe wegen<br />

in die Schweiz gekommen, sucht sie sofort<br />

Arbeit in einer Zürcher Konfektionsfabrik.<br />

«Ich hatte keinerlei Hilfe und musste ja<br />

mein Zimmer bezahlen», sagt sie. Doch<br />

bald wird ihr die Arbeit in der Fabrik zu<br />

monoton. Sie wechselt in ein Atelier für<br />

Alta Moda und näht dort für erstklassige<br />

Modehäuser. Als ihr das gehobene Atelier<br />

keinen Mutterschaftsurlaub gewähren<br />

mag, sagt sie sich: «Weisch was: Ich fange<br />

selber an!» Mit 25 gründet sie ihr eigenes<br />

Label. «Creazione Marianna» findet<br />

schnell Kundschaft vom Fernsehen und<br />

aus der Werbebranche.<br />

Dass sie heute auch Flüchtlingen zeigt,<br />

wie man Hosen kürzt oder geschenkte<br />

Kleider enger macht, will die charismatische<br />

Frau nicht an die grosse Glocke<br />

hängen. Sie hat aber noch viel vor. Damit<br />

die Nähkurse leichter finanzierbar sind,<br />

baut sie bei Isla Victoria ein Nähatelier<br />

für zahlende Kundinnen auf. Bis 70 will<br />

Marianna Piciuccio unbedingt arbeiten.<br />

«Mindestens! Meine Arbeit ist einfach la<br />

mia grande passione.» <br />

•<br />

Paula Lanfranconi<br />

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