ZESO_3-2016_ganz
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SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
ZeSo<br />
Zeitschrift für Sozialhilfe<br />
03/16<br />
arbeitsintegration Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene Im<br />
Fokus STRAFvollzug und Sozialhilfe Empfehlungen für den UMGANG mit<br />
schnittstellen im interview philosophin und TV-moderatorin BArbara BLEISCh
SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
SKOS-WEITERBILDUNG<br />
Einführung in die öffentliche Sozialhilfe<br />
Montag, 31. Oktober <strong>2016</strong>, 13 bis 18 Uhr<br />
Hotel Arte in Olten<br />
In der Praxis stellen sich Fachleuten und Behördenmitgliedern komplexe Fragen. Rechtliches Wissen<br />
ist ebenso gefragt wie methodisches Handeln und Kenntnisse des Systems der sozialen Sicherheit.<br />
Die Weiterbildung der SKOS nimmt diese Themen auf und vermittelt Grundlagen zur Ausgestaltung der<br />
Sozialhilfe und zur Umsetzung der SKOS-Richtlinien, zu Verfahrensgrundsätzen und zum Prinzip der<br />
Subsidiarität. Insbesondere werden auch die Änderungen der aktuellen Richtlinienrevision erläutert.<br />
Die Veranstaltung richtet sich an Mitglieder von Sozialbehörden, Fachleute und Sachbearbeitende von<br />
Sozialdiensten, die neu in der Sozialhilfe tätig sind oder ihr Fachwissen auffrischen wollen.<br />
Programm und Anmeldung: www.skos.ch Veranstaltungen<br />
SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
<strong>ZESO</strong>-SPEZIALPREISE<br />
Sie möchten die <strong>ZESO</strong> lesen – aber wo ist sie bloss?<br />
Dieses Problem stellt sich grösseren Sozialdiensten und Institutionen <strong>ganz</strong> besonders – weil eine <strong>ZESO</strong><br />
für eine <strong>ganz</strong>e Abteilung kaum ausreicht. Die SKOS bietet ihren Mitgliedern deshalb verschiedene Kategorien<br />
von Abonnementen an. Profitieren Sie jetzt davon! So haben Ihre Mitarbeitenden jederzeit Zugang zu<br />
einer aktuellen Ausgabe der <strong>ZESO</strong> – und bleiben damit am Ball.<br />
Jahresabonnement SKOS-Mitglieder:<br />
Jahresabonnement Nichtmitglieder:<br />
69 Franken<br />
82 Franken<br />
2 bis 5 Exemplare: 15 Prozent Rabatt<br />
6 bis 10 Exemplare: 20 Prozent Rabatt<br />
ab 11 Exemplaren: 25 Prozent Rabatt<br />
Weitere Infos und Bestellung: www.skos.ch/admin@skos.ch
Regine Gerber<br />
Redaktorin<br />
Veränderungen angehen<br />
There is no alternative! Das berühmte TINA-Prinzip steht für<br />
die Haltung, dass es weder Alternativen zum Status quo<br />
noch Handlungsspielraum gibt. Und es ist eine Phrase, die<br />
jede individuelle, gesellschaftliche und politische Veränderung<br />
im Keim erstickt. Warum aber die Überzeugung wichtig<br />
ist, dass sich auch scheinbar in Stein gemeisselte Dinge<br />
verändern und vielleicht verbessern lassen, darüber spricht<br />
Philosophin und TV-Moderatorin Barbara Bleisch im Interview<br />
(S. 12-15).<br />
Dass sich die Arbeitsintegration von Flüchtlingen und vorläufig<br />
Aufgenommenen dringend verbessern muss, darüber<br />
sind sich die Autorinnen und Autoren unserer Schwerpunktbeiträge<br />
(S. 16-27) einig. Sie legen dar, welche Lösungsansätze<br />
und Massnahmen bestehen, um die Arbeitsmarktchancen<br />
dieser Personen zu erhöhen. Die Beiträge zeigen<br />
aber auch, dass nach wie vor grosser Handlungsbedarf besteht<br />
und Hindernisse abgebaut werden müssen. Nebst<br />
dem gemeinsamen Willen, Veränderungen in Angriff zu nehmen,<br />
ist vor allem das koordinierte Handeln aller beteiligten<br />
Akteure notwendig.<br />
Veränderungen gibt es auch auf der SKOS-Geschäftsstelle.<br />
Ende Oktober verlässt Geschäftsführerin Dorothee Guggisberg<br />
die SKOS. Zum Abschied schaut sie auf Herausforderungen<br />
und Highlights ihrer siebenjährigen Amtszeit zurück<br />
(S. 4). Weiter nimmt auch sie Stellung zur aktuellen Situation<br />
der Arbeitsintegration von Flüchtlingen und vorläufig<br />
Aufgenommenen (S. 24-25). Per 1. September hat zudem<br />
Ingrid Hess die Leitung der Kommunikation übernommen.<br />
Sie wird Sie, liebe Leserinnen und Leser, in der nächsten<br />
Ausgabe an dieser Stelle begrüssen. Ich wünsche Ihnen<br />
eine spannende Lektüre.<br />
editorial 3/16 ZeSo<br />
1
SCHWERPUNKT16–27<br />
Arbeitsintegration<br />
Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene müssen<br />
möglichst rasch in den Schweizer Arbeitsmarkt<br />
integriert werden. Ansonsten drohen nicht nur<br />
Probleme auf gesellschaftlicher Ebene, sondern<br />
auch grosse Folgekosten. Doch wie gelingt diese<br />
Arbeitsintegration? Der Schwerpunkt zeigt Massnahmen<br />
und Hindernisse für die Betroffenen auf<br />
und beleuchtet sozialpolitische Perspektiven.<br />
<strong>ZESO</strong><br />
zeitschrift für sozialhilfe<br />
Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />
www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS,<br />
Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch,<br />
Tel. 031 326 19 19 Redaktion Michael Fritschi, Regine Gerber<br />
Redaktionelle begleitung Dorothee Guggisberg Autorinnen<br />
und Autoren in dieser Ausgabe Isabel Bartal, Albert Baumann,<br />
Maya Bosshart, Franziska Brägger, Anja Conzett, Gianni D‘ Amato,<br />
Therese Frösch, Adrian Gerber, Peter Gomm, Barbara Hamm, Paula<br />
Lanfranconi, Katharina Liewald, Ueli Mäder, Fabio Malinconico,<br />
Myriam Schleiss, Cristina Spagnolo, Patrick Strub, Alexander Suter,<br />
Felix Wolffers, Guido Wizent, Nadine Zimmermann, Titelbild Rudolf<br />
Steiner layout Marco Bernet, mbdesign Zürich Korrektorat<br />
Karin Meier Druck und Aboverwaltung Rub Media, Postfach,<br />
3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 preise Jahresabonnement<br />
CHF 82.– (SKOS-Mitglieder CHF 69.–), Jahresabonnement<br />
ausland CHF 120.–, Einzelnummer CHF 25.–.<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN 1422-0636 / 113. Jahrgang<br />
Bild: Keystone<br />
Erscheinungsdatum: 12. September <strong>2016</strong><br />
Die nächste Ausgabe erscheint im Dezember <strong>2016</strong>.<br />
2 ZeSo 3/16 inhalt
INHALT<br />
4 Dorothee Guggisberg verlässt die<br />
SKOS<br />
5 Was hat die Revision gebracht?<br />
Kommentar von Therese Frösch und<br />
Felix Wolffers<br />
6 13 Fragen an Anja Conzett<br />
8 Praxis: Anrechnung vom Kindesvermögen<br />
im Sozialhilfebudget<br />
9 Neues Rechtsberatungsangebot für<br />
SKOS-Mitglieder<br />
10 Ausschaffungsinitiative:<br />
Herausforderungen für die Sozialhilfe<br />
11 Keine Einstellung der Nothilfe wegen<br />
Arbeitsverweigerung<br />
12 «Das utopische Denken ist uns<br />
abhandengekommen»<br />
Interview mit Barbara Bleisch<br />
NEUE RECHTSBERATUNG<br />
DIE PHILOSOPHIN<br />
Die rechtlichen Fragen werden komplizierter<br />
und der Beratungsbedarf grösser. Die SKOS<br />
bietet ihren Mitgliedern daher ein neues<br />
elektronisches Rechtsberatungsangebot<br />
an. Die SKOS-Line plus kann für Abklärungen<br />
bei komplexen Sozialhilfefällen beigezogen<br />
werden.<br />
9<br />
Trägt der Einzelne Mitschuld am globalen<br />
Elend? Barbara Bleisch, Philosophin<br />
und Moderatorin der «Sternstunde<br />
Philosophie», reflektiert im Interview, wie<br />
Verantwortungszuschreibung funktioniert.<br />
Und sie erklärt, warum wir an einer<br />
Zeitwende stehen und der liberale Traum<br />
zunehmend unter Druck gerät.<br />
16 SCHWERPUNKT:<br />
ARbeitsintegration<br />
18 Gemeinsame Anstrengungen für den<br />
Zugang der Flüchtlinge zum Arbeitsmarkt<br />
19 Arbeitsmarktintegration: Eine lohnenswerte<br />
Investition<br />
20 Mit beruflicher Grundausbildung zur<br />
nachhaltigen Integration<br />
22 Integration ist ein<br />
zeitintensiver Prozess<br />
24 Bei der Arbeitsintegration besteht ein<br />
Steuerungsdefizit<br />
26 Dürfen Flüchtlinge zur<br />
beruflichen Qualifikation<br />
verpflichtet werden?<br />
27 Die Arbeitsintegration in den<br />
ersten Arbeitsmarkt ist möglich<br />
28 Kompass für Fragen, die Personen im<br />
Strafvollzug betreffen<br />
30 «Ein gutes Leben haben!» Reportage<br />
über minderjährige Asylsuchende<br />
32 Plattform: migesplus.ch des SRK<br />
33 Überhöhte Mietzinse: So können sich<br />
Mieter wehren<br />
34 Sozialhilfe ausweiten. Von Ueli Mäder<br />
35 Lesetipps und Veranstaltungen<br />
36 Porträt: Sandra Kern betreibt eine<br />
Gassenküche in Frauenfeld<br />
jugendliche asylsuchende<br />
Die gastgeberin<br />
12<br />
Eine Lehrstelle finden und ein gutes Leben<br />
haben: Das wünschen sich Jonathan,<br />
Abiel und Waris. Sie gehören zu einer<br />
Gruppe von unbegleiteten minderjährigen<br />
Asylsuchenden, die sich im Rahmen des<br />
Projektes «Speak out!» an die Öffentlichkeit<br />
wenden.<br />
30<br />
Den Schwung von den Rennstrecken<br />
Dijon-Prenois und Hockenheim hat Sandra<br />
Kern mit in ihren Alltag genommen− und<br />
die erste Gassenküche im Kanton Thurgau<br />
gegründet. Dort bewirtet die herzliche<br />
Gastgeberin Menschen, die am Rand der<br />
Gesellschaft stehen, jede Woche mit einem<br />
Viergangmenü.<br />
36<br />
inhalt 3/16 ZeSo<br />
3
4 FRAGEN ZUM ABSCHIED<br />
Dorothee Guggisberg verlässt die SKOS<br />
Dorothee Guggisberg, was war die<br />
grösste Herausforderung in Ihrer Zeit<br />
als Geschäftsführerin der SKOS?<br />
Armut zu bekämpfen in einer Zeit, in<br />
der die politischen Zeiger anders stehen.<br />
Am stärksten traf uns die aufgeheizte<br />
Diskussion zur Sozialhilfe in den letzten<br />
zwei Jahren. Wir mussten in Kürze eine<br />
Strategie mit tragfähigen Lösungsansätzen<br />
aufbauen. Verbandsarbeit bedeutet,<br />
alle Akteure im Auge zu haben,<br />
mehrheitsfähige Wege zu finden und<br />
Entwicklungen zu erkennen und zu steuern.<br />
Letztlich – und das war für mich das<br />
Kernstück – galt es, für eine faire und<br />
wirksame Sozialhilfe einzustehen, die<br />
den Betroffenen Perspektiven erlaubt.<br />
Hat sich das sozialpolitische Klima in<br />
den letzten Jahren verändert?<br />
Der politische Druck und die Bestrebungen<br />
zum Leistungsabbau haben zugenommen.<br />
Der Ausschluss von armutsbetroffenen<br />
Menschen hätte aber fatale<br />
Folgen und kann nicht im Interesse eines<br />
modernen und demokratischen Staates<br />
sein. Ein System, das Ausgleich und Integration<br />
schafft, trägt zum Wohlstand und<br />
zum sozialen Frieden in der Schweiz bei.<br />
Sie haben die Geschäftsstelle der SKOS<br />
seit 2010 geführt. Gab es für Sie ein<br />
persönliches Highlight?<br />
Es gab viele Highlights. Zu sehen,<br />
wie der Verband die Diskussion in einer<br />
hohen Qualität führt und welch grosses<br />
fachliches wie auch persönliches Engagement<br />
geleistet wird, fand ich immer<br />
sehr erfreulich. Auch in schwierigen<br />
Zeiten der politischen und öffentlichen<br />
Debatte hat der Verband immer funktioniert.<br />
Die Nähe zur Sozialpolitik und die<br />
Arbeit auf den drei föderalen Ebenen<br />
machten die SKOS für mich zu einem<br />
sehr spannenden Arbeitsfeld.<br />
Dorothee Guggisberg verlässt die SKOS,<br />
nicht aber die Sozialhilfe. Sie hat ihre Stelle<br />
als Geschäftsführerin unseres Verbands<br />
per Ende Oktober gekündigt und übernimmt<br />
danach die Leitung des Departements<br />
Soziale Arbeit an der Hochschule<br />
Luzern – als Nachfolgerin des langjährigen<br />
SKOS-Präsidenten Walter Schmid. Zu diesem<br />
Karriereschritt gratulieren wir Dorothee<br />
Guggisberg <strong>ganz</strong> herzlich. Wir bedauern<br />
es sehr, eine hervorragende Mitarbeiterin<br />
zu verlieren, die die SKOS in den letzten<br />
Jahren mit viel Engagement und<br />
Fachwissen massgeblich mitgeprägt und<br />
auch turbulente Phasen erfolgreich gemeistert<br />
hat.<br />
Dorothee Guggisberg setzte sich seit<br />
ihrem Stellenantritt im Januar 2010 mit<br />
unermüdlichem Einsatz für die Anliegen<br />
der Sozialhilfe ein. Dabei hat sie viel erreicht<br />
und viele Projekte erfolgreich durchgeführt.<br />
Zu erwähnen sind beispielsweise<br />
die Wanderausstellung «Im Fall», die Weiterentwicklung<br />
der SKOS-Richtlinien, der<br />
Ausbau der Dienstleistungen der SKOS,<br />
die Lancierung von elektronischen Mitteln<br />
für die Information der Mitglieder oder die<br />
erfolgreiche Durchführung von Tagungen.<br />
Dorothee Guggisberg sorgte auch in admi-<br />
nistrativer Hinsicht mit grosser Weit- und<br />
Umsicht dafür, dass bei der SKOS immer<br />
alles klappte. Darüber hinaus engagierte<br />
sie sich gleichermassen für einen leistungsfähigen<br />
Verband nach innen wie auch für<br />
seinen Auftritt nach aussen.<br />
Auch wenn die SKOS durch den Weggang<br />
von Dorothee Guggisberg eine wichtige<br />
Stütze verliert, freuen wir uns doch<br />
auch darüber, dass sie der Sozialhilfe erhalten<br />
bleibt. In Luzern wird sie in einer<br />
Schlüsselstelle bei der Weiterentwicklung<br />
der Sozialhilfe mithelfen, in Lehre, Forschung<br />
und durch Dienstleistungen zu<br />
Gunsten der Sozialhilfepraxis. Wir sind<br />
überzeugt, dass sie auch aufgrund ihrer<br />
Erfahrung als SKOS-Geschäftsführerin<br />
wichtige Impulse setzen wird für die Entwicklung<br />
des Sozialwesens und die weitere<br />
Professionalisierung der Sozialen Arbeit.<br />
So verabschieden wir uns also dankbar<br />
und mit einem weinenden und einem lachenden<br />
Auge von Dorothee Guggisberg.<br />
Wir wünschen ihr <strong>ganz</strong> herzlich alles Gute<br />
und viel Befriedigung in der neuen beruflichen<br />
Funktion.<br />
•<br />
Therese Frösch und Felix Wolffers<br />
Co-Präsidium der SKOS<br />
Wohin entwickelt sich die SKOS?<br />
Die Sozialhilfe wird ein Aushandlungsprozess<br />
bleiben. Die anhaltende<br />
Kürzungsdiskussion macht mir Sorgen.<br />
Ich wünsche der SKOS, dass sie die Fachlichkeit<br />
und wissenschaftliche Fundierung<br />
mit aller Kraft in den Vordergrund<br />
stellen kann, wo immer das möglich ist.<br />
Ein Fachverband muss sich politisch bewegen<br />
und sich positionieren können.<br />
Aber er ist auch für die Fachleute da, die<br />
an der Basis eine sehr komplexe und anspruchsvolle<br />
Arbeit leisten.<br />
Mit grossem Engagement hat Dorothee Guggisberg die SKOS seit 2010 mitgeprägt. <br />
Bild: Keystone<br />
4 ZeSo 3/16 aktuell
KOMMENTAR<br />
Was hat die Revision der SKOS-Richtlinien gebracht?<br />
Die SKOS-Richtlinien wurden 2015 und<br />
<strong>2016</strong> in zwei Etappen revidiert. Noch<br />
können die Auswirkungen des Reformprozesses<br />
nur ansatzweise abgeschätzt<br />
werden. Dennoch lohnt es sich, eine kurze<br />
Zwischenbilanz zu ziehen. Die Revision<br />
der Richtlinien führte für die Betroffenen<br />
zu schmerzhaften Leistungskürzungen<br />
und zu einer Verschärfung der Sanktionen.<br />
Insgesamt darf aber festgehalten werden,<br />
dass die SKOS-Richtlinien auch weiterhin<br />
ein angemessenes Existenzminimum<br />
gewährleisten und dass am Prinzip des<br />
sozialen Existenzminimums festgehalten<br />
wurde. Aus einer sozialpolitischen Sicht<br />
muss zwar ein Abbau in der Sozialhilfe festgestellt<br />
werden, es handelt sich aber nicht<br />
um einen sozialpolitischen Kahlschlag.<br />
Dank der Revision der Richtlinien konnte<br />
die teilweise überbordende Kritik an der<br />
Sozialhilfe eingedämmt und entschärft<br />
werden. Ohne den Revisionsprozess, das<br />
darf vermutet werden, wäre der Abbau bei<br />
den Leistungen und damit der Schaden für<br />
die sozial Schwächsten in vielen Kantonen<br />
deutlich grösser gewesen. So gesehen hat<br />
die Richtlinienrevision eine das System<br />
Sozialhilfe stabilisierende positive Wirkung.<br />
Die Revision erfolgte in einer kritischen<br />
Phase, in welcher verschiedene Kantone<br />
und Gemeinden daran waren, sich von den<br />
SKOS-Richtlinien abzuwenden. Dadurch<br />
wäre ein schädlicher sozialpolitischer<br />
Negativwettbewerb unter den Kantonen<br />
ausgelöst worden. Eine Auswertung<br />
der SKOS zeigt,<br />
dass die meisten<br />
Kantone die revidierten Richtlinien rasch<br />
übernommen haben. Dadurch wird die<br />
Harmonisierung der Sozialhilfe gestärkt<br />
und ein Mindestmass an Gleichbehandlung<br />
über die Kantonsgrenzen hinweg sichergestellt.<br />
Es liegt nun an den Kantonen und<br />
an der SODK, allenfalls auch am Bund, mit<br />
Nachdruck dafür zu sorgen, dass die Harmonisierung<br />
nicht durch einzelne Kantone<br />
unterlaufen wird.<br />
Dank der Revision ist das Regelwerk der<br />
SKOS heute wieder der unbestrittene<br />
Referenzrahmen für die Bemessung des<br />
Existenzminimums in der Sozialhilfe.<br />
Obschon die SKOS wesentliche Entscheidkompetenzen<br />
an die SODK abgetreten<br />
hat, ist auch sie als Fachorganisation aus<br />
dem Revisionsprozess gestärkt hervorgegangen.<br />
Das hängt wesentlich damit<br />
zusammen, dass die SKOS in der Öffentlichkeit<br />
weitgehend mit ihren Richtlinien<br />
identifiziert wird. Dass die Abtretung von<br />
Kompetenzen an die SODK und die kompromissbereite<br />
Haltung der SKOS in Fachkreisen<br />
auch kritisiert wird, ist nachvollziehbar.<br />
Aus Sicht der SKOS gab es dazu allerdings<br />
keine erfolgversprechende Alternative. Als<br />
Fazit lässt sich deshalb festhalten: Die<br />
Revision war politisch notwendig. Sie hat<br />
zu einem für die Betroffenen schmerzhaften<br />
Leistungsabbau geführt, das<br />
System Sozialhilfe aber wesentlich<br />
stabilisiert.<br />
Therese Frösch und Felix Wolffers<br />
Co-Präsidium der SKOS<br />
aktuell 3/16 ZeSo<br />
5
13 Fragen an Anja Conzett<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
Womit beschäftigen Sie sich im Moment?<br />
Mit der Gesellschaft. Konkret schreibe ich als<br />
freie Journalistin für verschiedene Magazine.<br />
Schwerpunktmässig beschäftige ich mich mit den<br />
Bereichen Politik und Wirtschaft, mein Steckenpferd<br />
sind aber längere Reportagen und Milieustudien<br />
über die Freuden und Tücken des Zusammenlebens.<br />
Kürzlich habe ich eine Reportagensammlung über<br />
das Phänomen Lohndumping auf Baustellen herausgegeben,<br />
in der sämtliche Interessensvertreter zu<br />
Wort kommen, vom polnischen Bauarbeiter bis zum<br />
millionenschweren Generalunternehmer. In dieser<br />
Form wird es in absehbarer Zeit sicher wieder etwas<br />
geben.<br />
Was bewirken Sie mit Ihrer Arbeit?<br />
Weniger als mir lieb ist, aber hoffentlich gelingt es<br />
mir hin und wieder, ein paar Horizonte zu erweitern,<br />
die richtigen Fragen zu stellen, oder einfach ein paar<br />
Herzen zu erfreuen.<br />
Sind Sie eher arm oder eher reich?<br />
Ich habe wenig Geld, aber viel Schönheit und<br />
Freude in meinem Alltag. Letztendlich ist Reichtum<br />
− wie alles andere auch − eine Frage der Auslegung.<br />
Glauben Sie an die Chancengleichheit?<br />
Ich glaube an die Notwendigkeit einer steten Annäherung<br />
daran. Dass sie vollständig erreichbar ist,<br />
nein, daran glaube ich nicht. Ein Beispiel: Ich habe<br />
von meinem Vater ein miserables musikalisches<br />
Gehör vererbt bekommen. Meine Chancen, eine<br />
grosse Komponistin zu werden, waren von Geburt<br />
weg nahe Null. Das ist zwar schade, aber solange<br />
man mich nicht an meiner Fähigkeit misst, Operetten<br />
zu schreiben, ist es nicht weiter schlimm. Wenn<br />
ich nun aber ein perfektes Gehör hätte, aber nicht<br />
die Möglichkeit, mich zur Komponistin zu schulen,<br />
dann wäre dieser Zustand unhaltbar. Und glücklicherweise<br />
änderbar.<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
Können Sie gut verlieren, und woran merkt man das?<br />
Beim Jassen kann ich gut verlieren. Dort empfinde<br />
ich eine Niederlage nicht als Frust, sondern als<br />
Ansporn, die Karten neu zu mischen, aus meinen<br />
Spielzügen und denen meiner Gegner zu lernen. Verlieren<br />
ist immer besser als gar nicht erst mitzumachen.<br />
Leider war das aber nicht immer schon meine<br />
Einstellung. Nachdem ich meinem jüngeren Bruder<br />
Schach beigebracht hatte und er in kürzester Zeit<br />
besser war als ich, habe ich einfach aufgehört, mit<br />
ihm zu spielen. Ein dunkles Kapitel meiner Kindheit.<br />
Wenn Sie in der Schweiz drei Dinge verändern könnten,<br />
welche wären das?<br />
Ich wünsche mir mehr Gerechtigkeit. Abstammung,<br />
Geschlecht, Herkunft – alles, worauf wir<br />
keinen Einfluss haben, sollte möglichst wenig Auswirkung<br />
auf unser Leben haben. Es sind also nicht<br />
drei Dinge, sondern tausend Handlungen und letztendlich<br />
doch nur eine Sache. Nebst dem dürfte der<br />
Sommer zwei Monate länger dauern.<br />
Für welches Ereignis oder für welche Begegnung würden<br />
Sie ans andere Ende der Welt reisen?<br />
Ganz banal: für ein Konzert von Tom Waits. Oder<br />
eines von Beck oder Ennio Morricone. Oder für eine<br />
herausragende Ausstellung. Für wirklich gute Kunst<br />
ist kein Weg zu weit. Aber eigentlich ist bis ans andere<br />
Ende der Welt zu reisen schon ein ausreichend<br />
attraktiver Grund, bis ans andere Ende der Welt zu<br />
reisen.<br />
Welche drei Gegenstände würden Sie auf eine verlassene<br />
Insel mitnehmen?<br />
Da bin ich Pragmatikerin. Einen Wasserfilter, ein<br />
grosses Mehrzweckmesser und ein Fass Whiskey,<br />
Lagavulin, 18 Jahre alt. Für den Fall, dass überraschend<br />
Besuch vorbeischaut.<br />
Was bedeutet Ihnen Solidarität?<br />
Sie ist die Essenz. Was wäre das Leben für eine<br />
freudlose Angelegenheit ohne das Gefühl von Verbundenheit,<br />
das Bekenntnis zu einem Wert, der<br />
grösser ist als das Selbst? Ohne Solidarität lässt<br />
es sich höchstens dann leben, wenn man alleine<br />
auf einer verlassenen Insel lebt und ein Fass guten<br />
Whiskey dabei hat.<br />
6 ZeSo 3/16 13 fragen
Anja Conzett<br />
Bild: zvg<br />
Anja Conzett, geboren 1988, lebt und arbeitet als freie Journalistin und<br />
Autorin in Graubünden und Zürich. 2015 wurde sie vom Kanton Graubünden<br />
mit dem Kulturförderpreis für aussergewöhnliches journalistisches Schaffen<br />
ausgezeichnet. <strong>2016</strong> erschien im Rotpunktverlag ihr Reportagenbuch<br />
«Lohndumping – eine Spurensuche auf dem Bau». Darin bündelt Anja Conzett<br />
Fakten zum Thema, analysiert Ursachen und lässt zentrale Akteure aus<br />
dem Baugewerbe zu Wort kommen.<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
An welches Ereignis in Ihrem Leben denken Sie besonders<br />
gerne zurück?<br />
Ein hitzesatter Tag im August. Unter mir die Blumenwiese,<br />
vor mir die Sonne, hinter mir das Gewitter,<br />
über mir der Regenbogen, Vogel, Grille, Schmetterling.<br />
In der Ferne ein Reh, das den Kopf reckt und<br />
mich mustert, bevor es weiter am Klee zupft. Ich<br />
fühle mich verschwindend klein und zum ersten Mal<br />
erhaben. Nicht <strong>ganz</strong> so spektakulär, aber auch <strong>ganz</strong><br />
schön – mein erstes Buch in den Händen zu halten.<br />
Gibt es Dinge, die Ihnen den Schlaf rauben?<br />
Mehr, als mir lieb ist. Als Journalistin muss ich<br />
nahe am Weltgeschehen sein und werde somit täglich<br />
mit Krisen, Katastrophen und Missständen konfrontiert.<br />
Welcher Begriff ist für Sie ein Reizwort?<br />
Unmensch. Ob Gutmenschen oder Schlechtmenschen<br />
ist einerlei. Solange wir nur davon ausgehen,<br />
es immer mit Menschen zu tun zu haben.<br />
Haben Sie eine persönliche Vision?<br />
Mehr Genuss, weniger Konsum. Mehr Wertschätzung,<br />
weniger Neid. Mehr Geduld, weniger Angst. Der<br />
Mensch ist dann am besten, wenn er sich bewusst<br />
ist, dass es ihm eigentlich <strong>ganz</strong> gut geht.<br />
13 fragen 3/16 ZeSo<br />
7
Anrechnung von Kindesvermögen<br />
im Sozialhilfebudget der Eltern<br />
Die 4-jährige Leonie erhält von ihrer gerade verstorbenen Grossmutter ein Sparkonto mit einem<br />
Guthaben von 50 000 Franken als Vermächtnis zur Verwendung für ihre spätere Ausbildung sowie<br />
zum Kauf eines Autos, wenn sie volljährig wird. Sie lebt bei ihrer Mutter und beide werden von der<br />
Sozialhilfe unterstützt.<br />
Frage<br />
Sind die Vermögenswerte und die Vermögenserträge<br />
von Leonie im Sozialhilfebudget<br />
der Unterstützungseinheit Mutter<br />
und Kind zu berücksichtigen? Und ändert<br />
sich die Handhabung, wenn Leonie das<br />
Vermächtnis der Grossmutter ohne Bestimmungsverwendung<br />
erhalten hätte?<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />
und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />
Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />
(einloggen) SKOS-Line.<br />
Grundlagen<br />
Grundsätzlich sind bei der Bemessung von<br />
Sozialhilfeleistungen alle verfügbaren Einnahmen<br />
einzubeziehen. Anrechenbare<br />
Vermögenswerte sind aufgrund der Subsidiarität<br />
der Sozialhilfe ebenfalls bis auf den<br />
Freibetrag zu verwerten, bevor wirtschaftliche<br />
Hilfe ausgerichtet wird (SKOS-Richtlinien<br />
E.1 und E.2). Besondere Regeln gelten<br />
allerdings für das Kindesvermögen, das<br />
alle dem Kind zustehenden Vermögenswerte<br />
umfasst. Es darf von der Sozialhilfe<br />
nur im Rahmen des Kindesrechts angerechnet<br />
werden (Art. 319 ff. ZGB).<br />
Von der Anrechnung sind jene Vermögenswerte<br />
und deren Erträge ausgeschlossen,<br />
die zum «freien Kindesvermögen»<br />
gehören. Dieses untersteht alleine der Verwaltung<br />
und Nutzung des Kindes, weil sie<br />
diesem – mündlich oder schriftlich – mit<br />
besonderer Bestimmung zugewendet werden<br />
(Art. 321 ZGB). Es dürfen auch jene<br />
Beträge nicht angerechnet werden, die<br />
dem Kind als Pflichtteil aus einem Erbe<br />
zufallen, der gemäss Testament oder Erbvertrag<br />
von der Verwaltung der Eltern ausgenommen<br />
ist (Art. 322 ZGB).<br />
Die SKOS-Richtlinien sehen vor, dass<br />
Erwerbseinkommen oder andere Einkünfte<br />
von Minderjährigen, die mit unterstützungsbedürftigen<br />
Eltern im gleichen<br />
Haushalt leben, grundsätzlich bis zur<br />
Höhe des auf diese Person entfallenden<br />
Anteils anzurechnen sind (E.1.3). Ein allfälliger<br />
Überschuss darf jedoch nicht angerechnet<br />
werden, sondern ist dem Kind als<br />
freies Kindesvermögen zu belassen (Art.<br />
323 ZGB).<br />
Nur Abfindungen, Schadensersatz und<br />
ähnliche Leistungen dürfen – den laufenden<br />
Bedürfnissen entsprechend – für<br />
den Unterhalt des Kindes verwendet werden<br />
(Art. 320 Abs. 1 ZGB). Vom übrigen<br />
Kindesvermögen dürfen die Erträge, namentlich<br />
Zinsen, für Unterhalt, Erziehung<br />
und Ausbildung des Kindes herangezogen<br />
werden, ausnahmsweise auch für die Bedürfnisse<br />
des Haushaltes (Art. 319 ZGB).<br />
Letzteres insbesondere dann, wenn zwischen<br />
der Leistungsfähigkeit von Eltern<br />
und Kind ein erhebliches Ungleichgewicht<br />
besteht.<br />
Das übrige Kindesvermögen darf von<br />
den Eltern und der Sozialhilfe nur dann<br />
für den Unterhalt, die Erziehung oder<br />
die Ausbildung des Kindes angerechnet<br />
werden, wenn die Kindesschutzbehörde<br />
einem entsprechenden Antrag zustimmt<br />
(Art. 320 Abs. 2 ZGB). Solche Anträge<br />
werden nur sehr zurückhaltend gewährt,<br />
um dem Kind später bessere Chancen zu<br />
ermöglichen. Die Kindesschutzbehörde<br />
hat in erster Linie das Kindeswohl und die<br />
Entwicklungs- und Fördermöglichkeiten<br />
des Kindes im Auge. Für die Gewährung<br />
des Antrags würde insbesondere ein krasses<br />
Missverhältnis zwischen Kindesvermögen<br />
einerseits und Sozialhilfebezug<br />
andererseits sprechen. Die Kindesschutzbehörde<br />
entscheidet aufgrund bundesrechtlicher<br />
ZGB-Vorschriften und kann<br />
durch das kantonale und kommunale<br />
Sozialhilferecht nicht gebunden werden.<br />
Aufgrund des Vorranges des Bundesrechtes<br />
sind die Sozialhilfebehörden an<br />
die Entscheide der Kindesschutzbehörde<br />
gebunden.<br />
Antwort<br />
Das Vermächtnis der Grossmutter mit Bestimmungsverwendung<br />
an Leonie darf weder<br />
mit dem Ertrag noch hinsichtlich Substanzverwertung<br />
im Sozialhilfebudget berücksichtigt<br />
werden.<br />
Wenn Leonie die Zuwendung ohne<br />
besondere Bestimmung erhalten hätte,<br />
könnten die Erträge für den Lebensunterhalt<br />
des Kindes im Budget berücksichtigt<br />
werden. Für die Substanzverwertung des<br />
Vermögens selbst müsste ein Antrag an<br />
die Kindesschutzbehörde gestellt werden.<br />
Einem solchen würde aber nur in Ausnahmefällen<br />
stattgegeben.<br />
•<br />
Franziska Brägger, Barbara Hamm<br />
Kommission Richtlinien und Praxis der SKOS<br />
8 ZeSo 3/16 praxis
Neues Rechtsberatungsangebot<br />
für SKOS-Mitglieder<br />
Die SKOS bietet ihren Mitgliedern ein neues elektronisches Rechtsberatungsangebot an. Die SKOS-<br />
Line plus kann für Abklärungen bei komplexen Sozialhilfefällen beigezogen werden. Die SKOS reagiert<br />
damit auf immer komplexere rechtliche Fragen und einen zunehmenden Beratungsbedarf.<br />
Seit mehr als zehn Jahren haben die SKOS-<br />
Mitglieder die Möglichkeit, sich bei Fragen<br />
zur Anwendung der SKOS-Richtlinien<br />
von der SKOS-Line beraten zu lassen. Ausgewählte<br />
Fragen und Antworten werden<br />
zudem in der Zeitschrift <strong>ZESO</strong> und auf der<br />
SKOS-Website als Praxisbeispiele publiziert.<br />
Die FAQ zu den SKOS-Richtlinien,<br />
die sich im Mitgliederbereich der SKOS-<br />
Webseite befinden, ergänzen das breite<br />
Angebot an Beratungs- und Informationsdienstleistungen,<br />
auf das die Verbandsmitglieder<br />
zurückgreifen können (s. Grafik).<br />
Über die Jahre ist die Zahl der Anfragen<br />
an die SKOS-Line und deren Komplexität<br />
stark gestiegen. Verantwortlich dafür<br />
ist nicht zuletzt eine zunehmende Regulierungsdichte<br />
in der Sozialhilfe, die verschiedene<br />
Auswirkungen mit sich bringt.<br />
Sie kann die Rechtssicherheit für Behörden<br />
sowie für Klientinnen und Klienten<br />
erhöhen, sie macht die Unterstützungsund<br />
Beratungsarbeit für die Sozialdienste<br />
aber auch anspruchsvoller. Mitarbeitende<br />
von Sozialdiensten sehen sich in ihrem<br />
Arbeitsalltag zunehmend mit Fragen konfrontiert,<br />
deren Bearbeitung juristisches<br />
Wissen aus verschiedenen Rechtsgebieten<br />
verlangt. Wo entsprechendes Fachwissen<br />
fehlt, beispielsweise bei Sozialdiensten<br />
kleiner Gemeinden ohne eigenen Rechtsdienst,<br />
oder wo ein Bedürfnis nach zusätzlicher<br />
Rechtssicherheit besteht, will die<br />
SKOS ihren Mitgliedern Unterstützung<br />
bieten. Das bestehende Beratungsangebot<br />
der SKOS wird daher mit der neuen<br />
elektronischen Beratungsdienstleistung<br />
SKOS-Line plus ergänzt.<br />
Vertiefte juristische Abklärungen<br />
Die SKOS-Line plus kann für Fragen, die<br />
über die Anwendung der Richtlinien hinausgehen,<br />
und für vertiefte juristische Abklärungen<br />
beigezogen werden. Neu sind<br />
auch spezifische Recherchen und fallbezogene<br />
Abklärungen unter Beizug von Klientendossiers<br />
möglich, sofern die hierfür notwendigen<br />
Voraussetzungen geregelt werden.<br />
Weil die Dossiers schützenswerte Personendaten<br />
von Klientinnen und Klienten<br />
enthalten, muss sichergestellt werden, dass<br />
eine Beratung unter Wahrung der kantonalen<br />
Datenschutz- und Geheimhaltungsvorgaben<br />
erfolgt. Die SKOS verpflichtet sich<br />
zur Einhaltung dieser Anforderungen und<br />
stellt eine Dienstleistung zur Verfügung,<br />
die einen verschlüsselten Mailverkehr ermöglicht.<br />
Die Beratung der SKOS-Line plus muss<br />
in einer vertraglichen Vereinbarung zwischen<br />
dem Mitglied und der SKOS geregelt<br />
werden. Diese enthält Abmachungen<br />
zum Umfang, zum Ablauf und zu den<br />
Kosten der Beratungstätigkeit. Während<br />
die SKOS-Line weiterhin kostenlos genutzt<br />
werden kann und auch der Zugriff auf die<br />
Informationsdienstleistungen kostenlos<br />
bleibt, werden die vertieften Beratungen<br />
der SKOS-Line plus zu einem Ansatz von<br />
140 Franken pro Stunde in Rechnung gestellt.<br />
Die Beratungen erfolgen per E-Mail<br />
über die bisherige Adresse der SKOS-Line.<br />
Die SKOS informiert darüber, ob eine eingehende<br />
Anfrage kostenlos beantwortet<br />
werden kann, oder ob das kostenpflichtige<br />
Angebot in Anspruch genommen werden<br />
muss. Um diese Triage und in der Folge<br />
auch eine fundierte Beratung zu ermöglichen,<br />
ist die SKOS auf eine prägnante<br />
Umschreibung des Sachverhalts und der<br />
Fragestellung sowie allenfalls auf das Bereitstellen<br />
von weiteren Informationen,<br />
beispielsweise Dossier-Auszügen, angewiesen.<br />
•<br />
Alexander Suter<br />
Verantwortlicher SKOS-Line<br />
SKOS-Line plus<br />
Die neue elektronische Beratungsdienstleistung<br />
SKOS-Line plus wurde<br />
Anfang Juli <strong>2016</strong> lanciert und steht<br />
allen Verbandsmitgliedern zur<br />
Verfügung. Der Zugang erfolgt über<br />
die Adresse der SKOS-Line, die im<br />
Mitgliederbereich der SKOS-Webseite<br />
aufgerufen werden kann. Dort finden<br />
sich auch weiterführende Informationen<br />
zu den Beratungs- und Informationsdienstleistungen<br />
der SKOS.<br />
Beratungsdienstleistungen<br />
Informationsdienstleistungen<br />
SKOS-Line SKOS-Line plus FAQ Praxisbeispiele<br />
Abklärungen zur<br />
Anwendung der<br />
SKOS-Richtlinien<br />
und Beantwortung<br />
einfacher Fragen<br />
zum Sozialhilferecht<br />
Vertiefte juristische<br />
Abklärungen,<br />
Dossierberatung und<br />
weitere Leistungen<br />
gemäss Abmachung<br />
Regelmässig<br />
aktualisierte<br />
und erweiterte<br />
Sammlung von<br />
Antworten auf häufig<br />
gestellte Fragen<br />
Jede Ausgabe<br />
der <strong>ZESO</strong> enthält<br />
ein ausführlich<br />
behandeltes<br />
Praxisbeispiel.<br />
RECHTSBERATUNG 3/16 ZeSo<br />
9
Ausschaffungsinitiative:<br />
Herausforderungen für die Sozialhilfe<br />
Die Akteure der Sozialhilfe sind bei der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative besonders gefordert, weil<br />
der Betrug und der unrechtmässige Bezug von Sozialhilfeleistungen zu jenen Delikten gehören, die neu<br />
zu einer Ausschaffung führen können. Mitarbeitende von Sozialdiensten erhalten dadurch neue Aufgaben<br />
und Verantwortlichkeiten.<br />
Per 1. Oktober <strong>2016</strong> wird die vom Parlament<br />
beschlossene Umsetzung der Ausschaffungsinitiative<br />
in Kraft treten. Damit<br />
wird der neue Straftatbestand des unrechtmässigen<br />
Bezugs (Art. 148a StGB) ins<br />
Bundesrecht aufgenommen. Beim missbräuchlichen<br />
Beziehen von Sozialhilfeleistungen<br />
drohen für alle Personen Geld- und<br />
Freiheitsstrafen, bei straffälligen Ausländerinnen<br />
und Ausländern kann dieser<br />
Straftatbestand darüber hinaus neu zur<br />
Ausschaffung führen (Art. 66a StGB). Die<br />
Einführung dieses separaten, überaus harschen<br />
Sanktionsregimes für ausländische<br />
Klientinnen und Klienten wird die Zusammenarbeit<br />
in der Sozialarbeit erschweren<br />
und für die Mitarbeitenden von Sozialdiensten<br />
eine neue Verantwortlichkeit mit<br />
sich bringen.<br />
Mehr Anzeigen, härtere Strafen<br />
In denjenigen Kantonen, in denen bisher<br />
zwar der Betrug, nicht aber der unrechtmässige<br />
Bezug im Strafrecht geregelt war, wird<br />
sich die Starfbarkeit ausweiten. Ein Betrug<br />
setzt voraus, dass Mitarbeitende eines Sozialdienstes<br />
durch arglistiges Handeln zur<br />
Leistung von Unterstützung veranlasst werden,<br />
auf die gar kein Anspruch besteht (Art.<br />
146 StGB). Arglistig sind beispielsweise<br />
besonders raffinierte Lügen oder die Täuschung<br />
mittels zusätzlicher Kniffe wie etwa<br />
dem Vorweisen von gefälschten Dokumenten.<br />
Die neue Strafnorm des unrechtmässigen<br />
Bezugs verlangt hingegen keine Arglist;<br />
selbst das Verschweigen von Tatsachen<br />
kann für eine Strafbarkeit ausreichend sein.<br />
Die Ausweitung der Strafbarkeit hat zur<br />
Folge, dass viele Sozialdienste ab Oktober<br />
<strong>2016</strong> mehr Strafanzeigen einreichen<br />
müssen. Dies ist für die Mitarbeitenden<br />
aufwendig, weil dabei formelle und inhaltliche<br />
Anforderungen zu erfüllen sind.<br />
Schon beim Verfassen einer Strafanzeige<br />
muss zudem berücksichtigt werden, dass<br />
das Gericht im Fall einer Verurteilung<br />
eines Ausländers oder einer Ausländerin<br />
die Verhältnismässigkeit einer Ausschaffung<br />
prüfen muss. In der Strafanzeige sind<br />
daher nicht nur die Tatbestandsmerkmale<br />
einer Straftat darzulegen, sondern das angezeigte<br />
Vergehen sollte auch in die Lebenssituation<br />
der betreffenden Person eingeordnet<br />
werden. Letztlich ist relevant, ob<br />
sich das delinquente Verhalten aufgrund<br />
einer besonderen Lebenssituation erklären<br />
lässt und wie das Risiko eines erneuten<br />
Vergehens beurteilt wird.<br />
Prävention ist zentral<br />
Die strafrechtlichen Sanktionsinstrumente<br />
erfahren durch die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative<br />
einen massiven Ausbau,<br />
dem vonseiten der Sozialdienste mit<br />
verstärkten Bemühungen in der Missbrauchsprävention<br />
zu begegnen ist. Dies<br />
ist mit Blick auf das von den SKOS-Richtlinien<br />
empfohlene Zusammenspiel von Prävention,<br />
Kontrolle und Sanktion notwendig.<br />
Der alleinige Ausbau von strafrechtlichen<br />
Sanktionen ist nicht ausreichend, um<br />
Missbräuche im Bereich der Sozialhilfe zu<br />
bekämpfen.<br />
Die Ziele der Sozialhilfe lassen sich nur<br />
gestützt auf ein Gleichgewicht von Rechten<br />
und Pflichten erreichen. Eine wirksame<br />
Prävention von Sozialhilfemissbrauch<br />
verlangt eine frühzeitige und umfassende<br />
Information der Klientinnen und Klienten<br />
über ihre Rechte und Pflichten. Ausländerinnen<br />
und Ausländer müssen zudem auf<br />
die weitreichenden Konsequenzen hingewiesen<br />
werden, die bereits geringfügige<br />
Missbrauchsdelikte für sie und ihre Angehörigen<br />
haben können. Ebenso notwendig<br />
ist eine professionelle und individualisierte<br />
Unterstützung, um sowohl den allgemeinen<br />
Zielen der Sozialhilfe wie auch<br />
Erschwerte Zusammenarbeit. <br />
Bild: Keystone<br />
den Bedürfnissen von Klientinnen und<br />
Klienten entsprechen zu können. Die Unterstützung<br />
muss durch regelmässige Kontrollen<br />
und bei Bedarf auch mit verhältnismässigen<br />
Sanktionen begleitet werden.<br />
Konsequent umgesetzt, entfalten diese<br />
Massnahmen eine präventive Wirkung<br />
und können Missbräuche und damit auch<br />
Ausschaffungen verhindern, die für die<br />
Betroffenen und deren Angehörigen gravierende<br />
Folgen hätten. <br />
•<br />
Alexander Suter<br />
Juristischer Mitarbeiter der SKOS<br />
Umsetzung der Ausschaffungsinitiative:<br />
Die SKOS hat die wichtigsten Informationen im<br />
Hinblick auf die veränderten Bedingungen im<br />
Rahmen der Sozialhilfearbeit infolge der Umsetzung<br />
der Ausschaffungsinitiative zusammengetragen.<br />
www.skos.ch Sozialhilfe und PraxisRechtliches<br />
10 ZeSo 3/16 SOZIALHILFE
Keine Einstellung der Nothilfe<br />
wegen Arbeitsverweigerung<br />
Bei beharrlicher beruflicher Verweigerungshaltung kann die Sozialhilfe im Sinne einer Ultima-Ratio-<br />
Massnahme <strong>ganz</strong> eingestellt werden. Der Anspruch auf Nothilfe kann hingegen nur entfallen, wenn<br />
ein nicht angetretenes Beschäftigungsprogramm entlohnt gewesen und somit die Notlage hinfällig<br />
geworden wäre. Dies bestätigt ein Urteil des Bundesgerichts.<br />
Eine Zürcher Gemeinde kürzte einem<br />
Mann für sechs Monate die Sozialhilfe um<br />
15 Prozent, weil er sich an einem Beschäftigungsprogramm<br />
ungenügend beteiligte.<br />
Der erneuten Weisung, halbtags in einem<br />
nicht entlohnten Beschäftigungsprogramm<br />
zu arbeiten, ist er nicht gefolgt. Daraufhin<br />
wurde die Unterstützung wegen<br />
Verweigerung der Arbeitsleistung gänzlich<br />
eingestellt. Vor Bundesgericht (BGE 142<br />
I 1) erhielt der Mann insofern recht, als wenigstens<br />
Nothilfe gewährt werden müsse,<br />
weil «die erfolgte Verweigerung (...), ohne<br />
dass das Subsidiaritätsprinzip zum Tragen<br />
käme, gegen Art. 12 BV» verstosse. Daran<br />
ändere die gesundheitliche Zumutbarkeit<br />
nichts. Die Sozialhilfe dürfe hingegen gestützt<br />
auf die entsprechende Bestimmung<br />
im Zürcher Sozialhilfegesetz (Art. 24a<br />
Abs. 1) eingestellt werden.<br />
Finanzielle Notlage ist entscheidend<br />
Das Bundesgericht bestätigt und präzisiert<br />
seine Rechtsprechung und ruft in Erinnerung,<br />
dass der Anspruch auf Nothilfe lediglich<br />
eine finanzielle Notlage voraussetzt.<br />
Damit erteilt es einer subjektiven Bedürftigkeitskonzeption<br />
mit Recht eine klare Absage:<br />
Der Anspruch auf Nothilfe entfällt<br />
nur, wenn rechtzeitig und in zumutbarer<br />
Weise tatsächlich Eigenmittel (Einnahmen<br />
und Vermögen) vorhanden sind. Nur in<br />
diesem Fall ist das Subsidiaritätsprinzip<br />
betroffen respektive liegt gar keine Notlage<br />
vor. Die subjektive Arbeitsbereitschaft allein<br />
ist folglich kein Kriterium dafür, ob eine<br />
Bedarfslage vorliegt.<br />
Die Verständnisschwierigkeiten liegen<br />
unter anderem darin begründet, dass<br />
im Begriff der Notlage zwingend eine<br />
Selbsthilfeobliegenheit enthalten ist. Diese<br />
bezieht sich indes nur auf tatsächlich<br />
vorhandene Eigenmittel: So müssen etwa<br />
die Wertpapiere verkauft oder eben die<br />
angebotene Arbeitsstelle angetreten werden,<br />
um den Lebensunterhalt zu decken.<br />
In diesem Fall liegt objektiv keine Notlage<br />
vor, weshalb eine Teilnahmeverweigerung<br />
an einem entlohnten Beschäftigungsprogramm<br />
zum Verlust des Nothilfeanspruchs<br />
führen kann.<br />
Verletzung der Integrationspflicht<br />
Mit Aufnahme der Unterstützung wird ein<br />
Beitrag zur Verminderung und Behebung<br />
der Bedürftigkeit verlangt (vgl. Kap. A.5.2<br />
SKOS-Richtlinien). Zu dieser sozialhilferechtlichen<br />
Minderungspflicht gehört<br />
auch die berufliche Integrationspflicht, deren<br />
schuldhafte Verletzung unter Umständen<br />
bis zu einer Leistungseinstellung führen<br />
kann, sofern dies im Sozialhilfegesetz<br />
hinreichend verankert und konkret verhältnismässig<br />
ist. Sind keine Eigenmittel verfügbar,<br />
gründet die Einstellung dogmatisch<br />
nicht auf der mangelnden Bedürftigkeit,<br />
sondern auf der Verletzung der Integrationspflicht.<br />
Bestätigte Rechtssprechung.<br />
Bild: Keystone<br />
Rein subjektive Verweigerungshaltungen,<br />
die von der beruflichen Integrationspflicht<br />
erfasst werden, können somit zwar zur Einstellung<br />
der Sozialhilfe führen. Das Bundesgericht<br />
bestätigt aber, dass im Rahmen<br />
von Art. 12 BV ein solches Verhalten bei<br />
hinreichender Rechtsgrundlage lediglich<br />
durch Massnahmen sanktioniert werden<br />
kann, die den Anspruch auf Nothilfe als<br />
solchen nicht tangieren, sondern beispielsweise<br />
die Art und Weise der Leistungserbringung<br />
betreffen (z.B. Naturalleistungen).<br />
Keine Automatismen<br />
Es muss zwischen der bedürftigkeitsrechtlichen<br />
Anrechnung vorrangiger Eigenmittel<br />
(Subsidiaritätsprinzip) und der beruflichen<br />
Integrationspflicht unterschieden<br />
werden. Der Art. 24a Sozialhilfegesetz Zürich<br />
ist in diesem Punkt nicht kohärent: Es<br />
geht nicht klar hervor, dass die als solche<br />
bezeichnete «Einstellung» bei rein subjektiven<br />
beruflichen Verweigerungshaltungen<br />
dogmatisch letztlich nichts anderes als eine<br />
vollständige Kürzung der Sozialhilfe im<br />
Sinne einer Totalsanktion darstellt.<br />
Der verfassungsrechtliche Minimalanspruch<br />
ist hingegen «sanktionsfest»,<br />
weshalb auch im Bereich der sozialhilferechtlichen<br />
Eigenverantwortung keine<br />
Automatismen bestehen: Art. 12 BV enthält<br />
den unantastbaren, aufs Engste mit<br />
dem Schutz der Menschenwürde (Art. 7<br />
BV) verbundenen Kern der umfassenden<br />
Sozialhilfe – ein Kern an unabdingbaren<br />
Leistungen, der auch Menschen zusteht,<br />
die unserem gängigen Arbeitsethos nicht<br />
entsprechen. <br />
•<br />
Guido Wizent<br />
Kommission Rechtsfragen der SKOS<br />
SOZIALHILFE 3/16 ZeSo<br />
11
«Das utopische Denken ist uns<br />
abhandengekommen»<br />
Mit den grossen Flüchtlingsströmen klopfe die Ungerechtigkeit an unsere Türen, sagt Barbara Bleisch,<br />
Moderatorin der «Sternstunde Philosophie». Im Interview spricht sie über die Verantwortungsdiffusion für<br />
das globale Elend, Schattenseiten der Freiheit und über die gesellschaftliche Bedeutung von Sehnsucht.<br />
Frau Bleisch, was ist Philosophie?<br />
Philosophie ist der Versuch, die Welt und<br />
uns Menschen in ihr denkend zu erfassen.<br />
Mit Kant kann man vier Fragen stellen: Was<br />
kann ich wissen und wo liegen die Grenzen<br />
meiner Erkenntnis? Was soll ich tun, wie<br />
muss ich andere behandeln? Was darf ich<br />
hoffen – kommt etwas nach dem Tod, gibt<br />
es Gott? Und viertens: Was ist der Mensch?<br />
Wären etwa Menschen, denen man einen<br />
Computerchip ins Hirn einpflanzt, noch<br />
Menschen? Direkt übersetzt bedeutet Philosophie<br />
übrigens «Liebe zur Weisheit».<br />
Das Denken wird uns zunehmend von<br />
Computern respektive von Algorithmen<br />
abgenommen. Welchen Einfluss<br />
hat diese Entwicklung auf den Fortbestand<br />
der klassischen Philosophie und<br />
<strong>ganz</strong> allgemein auf unser Denken?<br />
Ich glaube nicht, dass Algorithmen uns<br />
wirklich das Denken abnehmen. Denn<br />
Denken ist nicht nur Entscheiden, sondern<br />
bietet auch Orientierung. Und grad das<br />
Einordnen von einzelnen Entscheidungen<br />
in ein grosses Ganzes beherrschen Algorithmen<br />
nicht. Ausserdem zeigt sich, dass<br />
viele Leute grosse Schwierigkeiten mit der<br />
Vorstellung haben, dass Algorithmen ihnen<br />
das Denken abnehmen – was für Philosophen<br />
wiederum informativ ist.<br />
Inwiefern?<br />
Man fühlt sich fremdbestimmt oder in<br />
die Irre geführt. Wenn ich bei Suchanfragen<br />
nur noch eine gefilterte Auswahl an Ergebnissen<br />
erhalte, ist mein Anspruch, mich<br />
selbstbestimmt zu informieren, dahin.<br />
Der aufklärerische Gestus «sapere aude» –<br />
«Wage zu wissen!» – beinhaltet auch, sich<br />
Informationen beschaffen zu können, die<br />
nichts vertuschen oder beschönigen. Mündige<br />
Bürger müssen im Übrigen solche<br />
sein, die wirklich etwas wissen wollen und<br />
sich nicht kaufen lassen.<br />
12 ZeSo 3/16 interview<br />
Welchen staatspolitischen Einfluss<br />
hat die Philosophie heute?<br />
Ich bezweifle, dass ihr direkter Einfluss<br />
gross ist. Unsere politischen Modelle, unsere<br />
Vorstellungen von Partizipation oder<br />
guter Regierung fussen aber in älteren politikphilosophischen<br />
Ideen. In der Politik<br />
ist heute wieder eine stärkere Hinwendung<br />
zum sogenannten Realismus zu erkennen:<br />
Man sieht die Aufgabe der Politik primär<br />
darin, die Interessen des eigenen Staates<br />
zu verteidigen. Der direkte Bezug auf moralische<br />
Imperative hat abgenommen. Das<br />
hat auch damit zu tun, dass im Lauf der<br />
Geschichte negative Erfahrungen damit<br />
gemacht wurden, im Namen der Moral<br />
Politik zu betreiben. Es stellt sich natürlich<br />
die Frage, ob dies an den jeweiligen Imperativen<br />
liegt – oder daran, dass diese nicht<br />
ehrlich zur Anwendung kamen. Ein gutes<br />
Beispiel ist die «Humanitäre Intervention»:<br />
Ist es wirklich richtig, im Namen der<br />
Menschlichkeit militärisch einzugreifen?<br />
Oder tut man dies nur vordergründig im<br />
Namen der Menschlichkeit und eigentlich<br />
aus Eigennutz?<br />
Sie moderieren die TV-Sendung «Sternstunde<br />
Philosophie» beim Schweizer<br />
Radio und Fernsehen SRF. Wie funktioniert<br />
dieses Format in der heutigen,<br />
quotengetriebenen Medienwelt?<br />
Wir präsentieren keine akademische<br />
Philosophie, sondern führen Gespräche<br />
mit den grossen Stimmen unserer Zeit.<br />
Dass wir eine Stunde Zeit haben, lässt<br />
Vertiefung zu – und Raum für eine echte<br />
Begegnung. Ich glaube, das authentische,<br />
lange Gespräch ist eine Marke, die mittlerweile<br />
viele schätzen, die mit Kurzfutter<br />
allein nicht zufrieden sind. Das sehen wir<br />
auch daran, dass wir gute Zahlen bei den<br />
Podcast-Abrufen vorweisen können. Unsere<br />
Sendung erfährt im gesamten deutschsprachigen<br />
Raum grosse Wertschätzung.<br />
Wie sieht die Zukunft des vertieften<br />
Gedankenaustauschs aus? Sind die<br />
schnelllebigen sozialen Medien dabei<br />
förderlich oder hinderlich?<br />
Die sozialen Medien funktionieren<br />
vor allem mit Kurzstatements. Deshalb<br />
schneiden wir für die sozialen Medien jeweils<br />
markante Passagen aus den langen<br />
Gesprächen heraus. Wer das Langformat<br />
schätzt, kann es dann bei uns abrufen. Wir<br />
Bilder: Meinrad Schade
produzieren aber auch Formate nur fürs<br />
Internet. Unter dem Label «Filosofix» haben<br />
wir etwa in kurzen, animierten Filmen<br />
die wichtigsten Gedankenexperimente der<br />
Philosophie vorgestellt. Das funktionierte<br />
sehr gut in den sozialen Medien.<br />
Sie haben im Rahmen eines Nationalfonds-Projekts<br />
Fragen der Ethik<br />
in Familienbeziehungen untersucht.<br />
Worum ging es dabei?<br />
Wir haben versucht, die normative Struktur<br />
der Familie herauszuarbeiten. Damit<br />
sind Fragen gemeint wie: Gelten in Familiengefügen<br />
spezielle moralische Pflichten,<br />
die in anderen Beziehungen nicht greifen?<br />
Mich interessiert in diesem Rahmen speziell<br />
die Frage, ob erwachsene Kinder ihren<br />
Eltern etwas schulden – eine Idee, die ja<br />
beispielsweise im Recht verankert ist.<br />
Zu welchem Fazit sind Sie gelangt?<br />
Es gibt keine unmittelbare Dankbarkeitspflicht<br />
oder Rückzahlungspflicht auf<br />
der Seite der Kinder. Denn die Kinder<br />
haben nicht darum gebeten, geboren zu<br />
werden, und die Eltern haben ihrerseits<br />
in aller Regel die Kinder gewollt. Die Beziehung<br />
zwischen Kindern und Eltern ist<br />
aber eine sehr spezielle und unvergleichbar<br />
mit anderen Beziehungen. Sie ist<br />
nicht gewählt und unaufkündbar: Man<br />
kann sich weder die Kinder noch die Eltern<br />
aussuchen, und man wird sich gegen-<br />
seitig auch zeitlebens nicht mehr los. Das<br />
geht mit einer spezifischen Verletzlichkeit<br />
der Familienmitglieder einher, die dazu<br />
führt, dass wir gute Gründe haben, uns<br />
umeinander zu kümmern – aber keine<br />
Verpflichtung.<br />
Lässt sich dieses Modell auf die gesamte<br />
Gesellschaft umlagern? Gilt es<br />
generell?<br />
Es gibt unterschiedliche Begriffe von<br />
Verletzlichkeit. Wir alle sind als Lebewesen<br />
verletzlich und auf andere angewiesen<br />
– das widerspricht übrigens ein Stück weit<br />
der liberalen Vorstellung des ungebundenen<br />
autonomen Subjekts, das völlig auf<br />
sich gestellt sein Leben entwirft. Im gesell- <br />
interview 3/16 ZeSo<br />
13
«Erst mal glaube ich, dass wir<br />
in der Schweiz im Moment keine<br />
Flüchtlingskrise haben. Dennoch<br />
glaube ich, dass wir an<br />
einer Zeitenwende stehen.»<br />
<br />
schaftlichen Zusammenhang würde ich<br />
aber mit Blick auf gegenseitige Pflichten<br />
eher mit Begriffen wie Grundbedürfnisse<br />
oder Menschenwürde argumentieren. Die<br />
Frage, was wir uns als Gesellschaftsmitglieder<br />
gegenseitig schulden, ist eben eine<br />
andere als jene, was wir uns in Familiengefügen<br />
schulden.<br />
Wie wirkt sich die Globalisierung auf<br />
unser Verständnis von Moral und moralischem<br />
Handeln aus?<br />
Die Moralphilosophie hat sich ursprünglich<br />
mit Blick auf klar umrissene<br />
Gemeinschaften entwickelt: die Polis, den<br />
Staat, aber auch die Freundschaft oder Vertragspartnerschaften.<br />
Im Zusammenhang<br />
mit der Globalisierung spricht man zwar<br />
vom Global Village, aber wir wissen alle,<br />
dass dieser Begriff nur die ökonomische<br />
Vernetzung betrifft und wir uns nicht als<br />
globale Dorfbewohner fühlen.<br />
Woran machen Sie das fest?<br />
Wir reagieren nicht mit derselben Empörung<br />
auf schlimmes Leiden in fernen<br />
Ländern als wenn sich dieses hier zutragen<br />
würde. Das kann man kritisieren und auf<br />
die Gleichheit der Menschen pochen. Vor<br />
allem aber sehen wir heute, dass wir dieses<br />
Leid nicht auf ewig von unserem Alltag<br />
fernhalten können, wie wir es lange Zeit<br />
konnten. Mit den grossen Flüchtlingsströmen<br />
klopft die Ungerechtigkeit an unsere<br />
Türen und rüttelt an den Grundfesten<br />
dessen, von dem wir bis jetzt ausgegangen<br />
sind: dass es schon irgendwie funktioniert<br />
mit diesen sehr unterschiedlichen Wohlstandsniveaus.<br />
Wie viel Mitschuld haben wir alle am<br />
globalen Elend auf der Welt?<br />
Mit Mitschuld meint man meist so etwas<br />
wie: ein Stück der Verantwortung. Verantwortung<br />
wird traditionell im Rahmen<br />
von sozialen Rollen zugeschrieben. Die<br />
Eltern sind verantwortlich für ihr Kind,<br />
der Badmeister dafür, dass niemand ertrinkt,<br />
Swissmedic für eine korrekte Arzneimittelkontrolle.<br />
Diese Rollenverantwortungen<br />
führen zu einem ausgeklügelten<br />
System von Verantwortungszuschreibung,<br />
das uns immer auch entlastet. Wir wissen<br />
nicht nur, was unsere Aufgabe ist, sondern<br />
auch, wofür wir nicht verantwortlich sind.<br />
Auf globaler Ebene fehlen diese Rollenverantwortungen<br />
– oder sie werden nicht<br />
wahrgenommen. Dann versucht man, von<br />
kausaler Verantwortung auf moralische<br />
Verantwortung zu schliessen. Doch das ist<br />
nicht einfach. Die Verantwortungsketten<br />
sind zu komplex.<br />
Aber das entlastet uns nicht…<br />
Ja, genau. Wenn wir sehen, dass jene,<br />
die eigentlich verantwortlich wären, sich<br />
aus der Verantwortung ziehen – korrupte<br />
Regierungen, transnationale Unternehmen<br />
– dann gibt es kein Entlastungssystem.<br />
Und auch in der globalen Wirtschaft<br />
zeigen sich Löcher in der Verantwortungszuschreibung.<br />
Man kann sagen,<br />
es herrscht ein Zustand von kompletter<br />
Verantwortungsdiffusion. Und so stimmt<br />
es zum einen, dass wir alle ein wenig<br />
schuld sind, insofern wir von einer globalen<br />
Ordnung profitieren, die für andere<br />
nachteilig ausfällt. Aber zum anderen ist<br />
der Begriff der moralischen Schuld hier<br />
nicht sehr hilfreich, weil wir gar nicht wissen,<br />
was wir tun müssten, um unsere Mitschuld<br />
abzutragen. Was wir benötigen, ist<br />
eine institutionalisierte Verantwortungszuschreibung.<br />
Damit meine ich globale<br />
Spielregeln, die das Wohl der Bevölkerung<br />
im Blick haben, nicht nur jenes der<br />
Eliten. Als Bürger eines demokratischen<br />
Landes haben wir meiner Meinung nach<br />
die Pflicht, unsere Stimme für einen solchen<br />
politischen Veränderungsprozess<br />
einzubringen.<br />
Was sind Ihre persönlichen Gedanken<br />
zur Flüchtlingskrise?<br />
Erst mal glaube ich, dass wir in der<br />
Schweiz im Moment keine Krise haben.<br />
Dennoch glaube ich, dass wir an einer<br />
Zeitenwende stehen – weniger wegen der<br />
Flüchtlinge als wegen der Terroranschläge<br />
und der brutalen Kriege, die zu Migration<br />
führen. Wir hatten diesen liberalen Traum<br />
einer pluralistischen und aufgeklärten Gesellschaft,<br />
tolerant gegenüber religiösen<br />
Haltungen, die wir als Privatsache betrachten.<br />
Im Kern sind wir der Freiheit des<br />
Einzelnen verpflichtet, und wir hofften:<br />
Irgendwann werden vielleicht alle Länder<br />
dieser Welt ähnliche Verfassungen kennen<br />
wie wir. Nun werden wir mit einem anderen,<br />
einem autoritären Traum konfrontiert.<br />
Mit Menschen, die sich an autoritären<br />
Regimes orientieren und sich deren<br />
Machtstrukturen unterwerfen und sogar<br />
bereit sind, für sie zu sterben – weil sie<br />
religiös aufgeladen sind. In diesem Traum<br />
zählt die Zugehörigkeit zur Gruppe, nicht<br />
das Individuum. Und insofern macht dieser<br />
Traum auch Angst.<br />
14 ZeSo 3/16 interview
Barbara Bleisch<br />
Barbara Bleisch, geboren 1973, promovierte im<br />
Bereich Philosophie zum Thema «Pflichten auf<br />
Distanz. Weltarmut und individuelle Verantwortung».<br />
Sie moderiert seit 2010 die Sendung<br />
«Sternstunde Philosophie» beim Schweizer Radio<br />
und Fernsehen SRF. Bleisch arbeitet daneben<br />
am Ethik-Zentrum der Universität Zürich, unter<br />
anderem zum Thema Familienethik, und hat<br />
Lehraufträge für Ethik an verschiedenen Hochschulen.<br />
Sie lebt mit ihrer Familie in Zürich.<br />
Und was machen wir mit dieser Angst?<br />
Wir verteidigen oft reflexartig unsere<br />
offene Gesellschaft, ohne genau zu wissen,<br />
was wir darunter verstehen. Mir fällt auf,<br />
dass plötzlich auch in intellektuellen Kreisen<br />
Begriffe wie Leitkultur oder Heimat<br />
eine Rolle spielen. Offenbar suchen wir<br />
nach dem, was uns eint und was wir verteidigen<br />
wollen und mit guten Gründen<br />
auch verteidigen sollen. Möglicherweise<br />
sind wir aber selbst nicht mehr <strong>ganz</strong> so vorbehaltlos<br />
glücklich mit unserem liberalen<br />
Traum und sehen, dass wir ihn erweitern<br />
müssen. Freiheit hat ja auch ihre Schattenseite,<br />
sie überfordert uns zunehmend, weil<br />
sie in einen Druck ausartet, sich immer<br />
wieder neu zu erfinden. Obwohl wir reich<br />
sind, sind viele Menschen überfordert<br />
und erschöpft. So gesehen ist der liberale<br />
Traum nicht nur von aussen, sondern auch<br />
von innen unter Druck.<br />
Was gehört zu einer sicheren Existenz?<br />
Neben verschiedenen materiellen<br />
Gütern gehört für mich auch Anerkennung<br />
dazu. Niemand möchte einfach Empfänger<br />
von Almosen sein, sondern man<br />
möchte auch dazugehören, ein taugliches<br />
Mitglied in einer Gesellschaft sein. Ich<br />
glaube, die meisten Menschen möchten<br />
im Leben eine Aufgabe haben, gebraucht<br />
werden.<br />
In der Sozialhilfe ist das Existenzminimum<br />
ein fester Begriff, der sich über<br />
einen materiellen Grundbedarf ableitet.<br />
Gibt es in der Philosophie Wurzeln<br />
für diese Haltung?<br />
Es gibt dazu unterschiedlichste Vorschläge.<br />
Die einen orientieren sich an den<br />
Menschenrechten, andere an der Menschenwürde,<br />
wieder andere an den «basic<br />
needs», die sich ein Stück weit auch aus der<br />
menschlichen Natur ableiten. Von grosser<br />
Bedeutung ist auch der «capability approach»<br />
von Martha Nussbaum und Amartya<br />
Sen, der von den Grundfähigkeiten eines<br />
Menschen ausgeht und damit umfassender<br />
ist als der Bedürfnisansatz. Bei Nussbaum<br />
und Sen gehört zum sozialen Minimum<br />
auch dazu, dass Menschen die Möglichkeit<br />
haben müssen, Beziehungen zu leben, zu<br />
spielen, die Natur zu erfahren, etc. Wenn<br />
Menschen nicht genug haben zum Leben,<br />
werden sie nicht fähig sein, miteinander zu<br />
lachen, zu lieben und zu feiern.<br />
Lassen Sie uns mit einer letzten philosophischen<br />
Frage abschliessen. Was<br />
ist wirklich wichtig?<br />
Für mich persönlich: Weiterkommen.<br />
Die Dichterin Nelly Sachs sagte: «Alles beginnt<br />
mit der Sehnsucht.» Ich glaube, das<br />
stimmt. Deshalb sollten wir nicht aufhören,<br />
unsere Sehnsucht zu nähren. Sowohl<br />
im eigenen Leben – etwas aus sich machen<br />
wollen. Aber nicht grob und mit dem<br />
Plan im Kopf, dass eine bestimmte Karriere<br />
dabei herausspringen muss. Sondern<br />
sanft und eben: sehnsüchtig. Aber auch<br />
gesellschaftlich ist die Sehnsucht wichtig.<br />
Ihr steht das pragmatische TINA-Prinzip<br />
gegenüber: There is no alternative! Die<br />
Haltung, dass es keine Alternativen geben<br />
kann zur heutigen gesellschaftspolitischen<br />
und sozioökonomischen Ordnung. Das<br />
utopische Denken ist uns gesellschaftlich<br />
ziemlich abhandengekommen. Zwar sind<br />
viele unzufrieden, aber sie glauben nicht<br />
mehr, dass sich die Dinge anders und<br />
besser organisieren liessen. Das sollten wir<br />
ändern. <br />
•<br />
Das Gespräch führte<br />
Michael Fritschi<br />
interview 3/16 ZeSo<br />
15
Bild: Keystone<br />
16 ZeSo 3/16 SCHWERPUNKT
Gemeinsame Anstrengungen für den<br />
Zugang der Flüchtlinge zum Arbeitsmarkt<br />
Zwischen 2014 und 2015 hat sich die Zahl der Asylgesuche in Europa mehr als verdoppelt. Auch die<br />
Schutzquote steigt an. Damit die Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen ihren Platz in der<br />
Gesellschaft und auf dem Schweizer Arbeitsmarkt finden, müssen alle Anstrengungen vereint werden.<br />
Seit Anfang <strong>2016</strong> haben 3252 Menschen in unserem Land Asyl<br />
erhalten, 3618 weitere wurden vorläufig aufgenommen. Sie kommen<br />
vorwiegend aus Eritrea, Syrien, Sri Lanka, der Türkei und Afghanistan.<br />
Gleichzeitig warten infolge der vielen Asylgesuche nahezu<br />
30 000 Personen auf einen Asylentscheid. Ein grosser Teil<br />
von ihnen – auch die vorläufig aufgenommenen Personen – werden<br />
längerfristig in der Schweiz bleiben. Ihre möglichst frühzeitige<br />
und nachhaltige Integration ist deshalb entscheidend. Die<br />
Eingliederung in den Arbeitsmarkt ist ein zentrales Ziel des Integrationsprozesses,<br />
doch sie gelingt nur, wenn alle beteiligten Akteure<br />
ihren Beitrag dazu leisten.<br />
Potenziale erkennen und fördern<br />
Eine 2014 vom Staatssekretariat für Migration (SEM) in Auftrag<br />
gegebene Studie hat erstmals ein umfassendes Bild über die Entwicklung<br />
der Arbeitsintegration von Flüchtlingen und vorläufig<br />
Aufgenommenen über zehn Jahre hinweg geliefert. Da die meisten<br />
Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen mittellos in der<br />
Schweiz ankommen, sind sie in der Regel zunächst auf Sozialhilfe<br />
angewiesen. Die Studie zeigt: Fünf Jahre nach ihrer Einreise haben<br />
30 Prozent der Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen den<br />
Schritt in den Arbeitsmarkt geschafft. Bis dieser Anteil auf 50 Prozent<br />
ansteigt, dauert es jedoch mindestens doppelt so lange.<br />
Potenzialabklärungen, Coachings, Sprachkurse, Berufsausbildungen<br />
und Praktika sind entscheidende Massnahmen, um<br />
die Chancen der Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen.<br />
Eine <strong>2016</strong> vom SEM in mehreren Kantonen durchgeführte Studie<br />
zur Potenzialabklärung von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen<br />
zeigt, dass sich Potenzialabklärungen positiv auf<br />
die folgenden Entscheide und die verfügten Massnahmen im<br />
beruflichen Integrationsprozess auswirken. Entscheidend für die<br />
Wirksamkeit der Potenzialabklärung sind jedoch die enge Zusammenarbeit<br />
und ein gezielter Informationsaustausch zwischen<br />
den verschiedenen Stellen. Angesichts der zunehmenden Zahl von<br />
Asylentscheiden haben deshalb viele Kantone im Rahmen der kantonalen<br />
Integrationsprogramme (KIP) ihre internen Abläufe und<br />
Prozesse zwischen den beteiligten Akteuren analysiert und verbessert.<br />
Dies hauptsächlich mit dem Ziel, Leerläufe und Unterbrüche<br />
für die Betroffenen möglichst zu vermeiden.<br />
Da die Mehrheit der Menschen aus dem Asylbereich sozialhilfeabhängig<br />
ist, kommt der Sozialhilfe in der interinstitutionellen<br />
Zusammenarbeit eine Schlüsselrolle zu. Die Potenzialabklärung<br />
und -förderung jedes Einzelnen ist für die Sozialdienste zweifellos<br />
mit Aufwand verbunden. Sozialarbeitende sind meistens die<br />
ersten Bezugspersonen der Flüchtlinge und spielen deshalb eine<br />
zentrale Rolle. In der heutigen Situation ist die SKOS ein we-<br />
sentlicher Partner in der interinstitutionellen Zusammenarbeit,<br />
da sämtliche Akteure der Sozialhilfe – einschliesslich der Sozialdienste<br />
im Asylbereich – in der SKOS vertreten sind. Eine wichtige<br />
Aufgabe des Fachverbandes bestünde darin, ihre Mitglieder über<br />
die Entwicklungen und Massnahmen auf gesamtschweizerischer<br />
Ebene zu informieren, ihre Bedürfnisse zu erfassen und sie mit<br />
Angeboten, Informations- und Hilfsmitteln, Weiterbildungen<br />
oder auf andere Art und Weise zu unterstützen.<br />
Ein hindernisreicher Weg<br />
Die berufliche Integration der Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen<br />
ist, bedingt durch ihren rechtlichen Status, zuweilen<br />
auch ein administrativer Hürdenlauf. Studien haben gezeigt, dass<br />
Arbeitgebende wegen kosten- und zeitintensiven administrativen<br />
Auflagen Bewerbenden, die nicht aus dem Asylbereich stammen,<br />
den Vorzug geben. Zur Verbesserung dieser Situation hat der Bundesrat<br />
Anfang März <strong>2016</strong> in der Botschaft zu den Bestimmungen<br />
des Ausländergesetzes (AuG) vorgeschlagen, die Bewilligungsverfahren<br />
zu vereinfachen und die obligatorische Sonderabgabe von<br />
10 Prozent auf das Einkommen der vorläufig Aufgenommenen<br />
abzuschaffen. Gestützt auf die Empfehlungen der Vereinigung der<br />
kantonalen Migrationsbehörden (VKM) und des Verbands der<br />
schweizerischen Arbeitsmarktbehörden (VSAA) prüft das SEM zusammen<br />
mit seinen Partnern weitere konkrete Wege, um den Zugang<br />
der Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen zum Arbeitsmarkt<br />
zu erleichtern. Dazu gehören beispielsweise die Frage der<br />
Beschäftigung in einem anderen Kanton oder die Klärung der<br />
Rahmenbedingungen für den Zugang zu einem Praktikum.<br />
Weiter hat der Bundesrat 2015 beschlossen, ein Pilotprogramm<br />
zur Unterstützung und Ergänzung der bestehenden Strukturen<br />
zu starten. Vorgesehen ist einerseits die Einführung einer<br />
Integrationsvorlehre, die den Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen<br />
den Zugang zu einer Berufsausbildung mit EBA- oder<br />
EFZ-Abschluss erleichtern soll. Diese Integrationsvorlehre, zu der<br />
auch Sprachunterricht und die Förderung von praktischen Grundkompetenzen<br />
gehören, erlaubt es den Teilnehmenden, sich mit<br />
der Arbeitswelt in der Schweiz vertraut zu machen und bei einem<br />
Praktikum konkrete Erfahrungen zu sammeln. Für die Umsetzung<br />
des Pilotprogramms hat das SEM zusammen mit dem Staatssekretariat<br />
für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) eine breit<br />
angelegte Konsultation bei seinen Partnern in den Kantonen und<br />
den Organisationen der Arbeitswelt (OdA) durchgeführt. Andererseits<br />
zielt der zweite Teil des Pilotprogramms darauf ab, die<br />
Wartezeit zwischen der Ankunft in der Schweiz und dem Asylentscheid<br />
zu nutzen, um die Sprachkompetenzen von Asylsuchenden<br />
mit guter Bleibeperspektive zu stärken. Beide Teile des insgesamt<br />
18 ZeSo 3/16 SCHWERPUNKT
Arbeitsintegration<br />
vier Jahre dauernden Programms (2018-2021) betreffen je rund<br />
1000 Personen und sollen bis Ende 2017 ausgearbeitet werden.<br />
Eine Chance für alle<br />
Die berufliche Integration der Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen<br />
entlastet mittelfristig die Sozialhilfe. Zudem stellt das<br />
Potenzial dieser oft sehr jungen Menschen eine Chance für Branchen<br />
und Betriebe dar, die mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen<br />
haben oder Arbeitskräfte im Ausland rekrutieren müssen. Der<br />
Übergang von der Sozialhilfe zur nachhaltigen finanziellen Selbstständigkeit<br />
verläuft in erster Linie über eine Ausbildung. Im Bewusstsein<br />
dessen hat die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren<br />
(EDK) im Juni <strong>2016</strong> im Einverständnis mit dem SEM<br />
und dem SBFI Empfehlungen für einen verbesserten Zugang von<br />
spät zugewanderten Jugendlichen und jungen Erwachsenen, darunter<br />
namentlich auch von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen,<br />
in die postobligatorische Ausbildung und in den Arbeitsmarkt<br />
gutgeheissen. Unter den avisierten Massnahmen sind der<br />
Ausbau und die Koordination der bestehenden Angebote an den<br />
Nahtstellen, die Berufsberatung und das Case Management sowie<br />
das Gespräch mit den Wirtschaftspartnern besonders wichtig.<br />
Die enge Zusammenarbeit der verschiedenen Partner und die<br />
Abstimmung der Massnahmen erhöhen die Arbeitsmarktchancen<br />
der Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen. Die Asylstatistiken<br />
der letzten Jahre zeigen, dass trotz insgesamt steigender<br />
Anzahl von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen es<br />
weiterhin gelingt, dass ein konstanter Anteil dieser Personen im<br />
Schweizer Arbeitsmarkt Fuss fassen kann.<br />
•<br />
Adrian Gerber<br />
Chef der Abteilung Integration,<br />
Staatssekretariat für Migration (SEM)<br />
Myriam Schleiss<br />
Fachreferentin in der Abteilung Integration,<br />
Staatssekretariat für Migration (SEM)<br />
Arbeitsmarktintegration von Personen aus dem<br />
Asylbereich: Eine lohnenswerte Investition<br />
Die Integration von Personen aus dem Asylbereich in den Arbeitsmarkt<br />
ist eine aus gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Perspektive<br />
lohnenswerte Investition. Scheitert sie, so hat die öffentliche<br />
Hand – insbesondere auch die Kantone – die Folgekosten zu tragen,<br />
etwa in Form von langjährigen Sozialhilfeleistungen.<br />
Die nachhaltige Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen und<br />
vorläufig aufgenommenen Personen gelingt viel eher, wenn diese<br />
eine Tätigkeit ausüben, die ihren Fähigkeiten und Interessen entspricht.<br />
Deshalb ist es unabdingbar, dass vorhandene Qualifikationen,<br />
fachliche Fähigkeiten sowie die bisherige Berufserfahrung<br />
mittels Standortbestimmungen und vertieften Potenzialabklärungen<br />
erkannt und letztlich auch anerkannt werden. Eine enge<br />
und individuelle Begleitung der zu integrierenden Personen mittels<br />
Jobcoaching und Case Management kann dabei zielführend<br />
sein.<br />
Alle involvierten staatlichen Akteure müssen darauf hinarbeiten,<br />
dass Unternehmen die Arbeitsintegration von Personen aus<br />
dem Asylbereich als Teil ihrer längerfristigen Personalpolitik verstehen<br />
und sich verbindlich engagieren. Anhand von Beratungsund<br />
Informationsangeboten für Arbeitgebende sowie durch<br />
finanzielle Unterstützung für Integrationsarbeit in den Unternehmen<br />
könnte der Staat die Wirtschaft in diesem Bestreben noch<br />
besser unterstützen. Zudem sollen berufliche Qualifizierungsprogramme<br />
und Berufseinstiegskurse stärker auf die Bedürfnisse des<br />
Arbeitsmarktes und der Arbeitgebenden ausgerichtet werden.<br />
Ein spezielles Augenmerk ist auf die Integration von schutzbedürftigen<br />
Jugendlichen, die nach der obligatorischen Schulpflicht<br />
in die Schweiz eingewandert sind, sowie von unbegleiteten minderjährigen<br />
Personen aus dem Asylbereich zu legen. Diese Kinder<br />
und Jugendlichen – die grossmehrheitlich ihre Zukunft in der<br />
Schweiz verbringen werden – haben spezifische Bedürfnisse, aber<br />
auch Potenziale, die für eine erfolgreiche Integration zu berücksichtigen<br />
sind.<br />
Die Kosten einer gescheiterten Integration übersteigen die Aufwendungen<br />
für Integrationsmassnahmen bei Weitem. Deshalb<br />
sollten wir Flüchtlingen und vorläufig aufgenommenen Personen<br />
den Weg in unsere Arbeitswelt ebnen und ihnen die Möglichkeit<br />
für eine erfolgreiche Integration bieten. <br />
•<br />
Peter Gomm<br />
Präsident Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und<br />
Sozialdirektoren (SODK)<br />
SCHWERPUNKT 3/16 ZeSo<br />
Mit beruflicher Grundausbildung zur<br />
nachhaltigen Integration<br />
Mit dem Ausbildungs- und Integrationsprojekt «Maflü» hat die Micarna in Zusammenarbeit mit<br />
Kantonen und gemeinnützigen Organisationen eine berufliche Grundausbildung für Flüchtlinge<br />
entwickelt, die diesen eine wirtschaftliche Perspektive in der Schweiz ermöglichen soll.<br />
Kaum ein anderes Land gilt als so sicher wie die Schweiz. Nicht<br />
nur die politische Stabilität scheint langfristig gegeben, auch<br />
die wirtschaftliche Entwicklung ist stabil. Demgegenüber stehen<br />
politische Unruheherde in Osteuropa, dem Nahen Osten und in<br />
Afrika, oft kombiniert mit wirtschaftlichen Krisensituationen.<br />
Immer mehr Menschen sind dadurch gezwungen, aus ihrem<br />
Heimatland zu fliehen. Ohne Sprachkenntnisse, ohne finanzielle<br />
Mittel, ohne berufliche Perspektiven. Ein Ansatz, wie die<br />
Privatwirtschaft aus eigener Initiative ein Integrationsprojekt<br />
lancieren und umsetzen kann, ist das Projekt Maflü der Micarna-<br />
Gruppe, dem Fleischverarbeitungsbetrieb der Migros, der an<br />
mehreren Standorten rund 3000 Mitarbeitende beschäftigt.<br />
Maflü steht für «Micarna Ausbildung für Flüchtende».<br />
Die Entscheidung, selber aktiv zu werden, wurde der Micarna<br />
dadurch erleichtert, dass ihre Voraussetzungen für eine rasche Konzipierung<br />
und Umsetzung eines solchen Projekts gut sind. Bereits<br />
heute arbeiten Menschen aus über 70 verschiedenen Nationen<br />
an verschiedenen Standorten. In Courtepin im Kanton Freiburg<br />
arbeitet die Micarna zudem seit längerem mit einer regionalen<br />
Temporärfirma zusammen, die Asylbewerber der Kategorie F<br />
(vorläufig Aufgenommene) beschäftigt. Damit sind zwei entscheidende<br />
Grundvoraussetzungen für ein nachhaltig erfolgreiches<br />
Integrationsprojekt erfüllt: Micarna bietet ein Arbeitsumfeld, das<br />
den Einsatz von Menschen mit minimalen Sprachkenntnissen erlaubt,<br />
und sie hat langjährige Erfahrung mit der Ausbildung und<br />
Arbeitsintegration von Migranten.<br />
erster Linie sind diese Personen aber für eine Ausbildung in den<br />
Bereichen Fleischverarbeitung, Lebensmitteltechnologie, Technik<br />
sowie in der Hauswirtschaft prädestiniert.<br />
Caritas als wichtigstes Bindeglied<br />
Gerade die Lebensmittelindustrie und die Gastronomie bieten gute<br />
Voraussetzungen für Ausbildungs- und Integrationsprojekte<br />
dieser Art. Bei Micarna kommt hinzu, dass das Unternehmen aktiv<br />
nach Fachkräften sucht. Es liegt im betriebseigenen Interesse, motivierte<br />
Menschen aufzunehmen, auszubilden und ihnen eine berufliche<br />
Perspektive zu bieten. So ist ein langfristiges Ziel auch, die<br />
Absolventen des Maflü-Projekts später weiter zu beschäftigen und<br />
entsprechend weiter zu fördern. Wenn das Interesse und die fachlichen<br />
und sprachlichen Kompetenzen vorhanden sind, kann darauf<br />
aufgebaut und beispielsweise eine Ausbildung mit eidgenössischem<br />
Fähigkeitszeugnis angestrebt werden. Ganz ohne<br />
Herausforderungen ist ein solches Integrationsprojekt allerdings<br />
auch für ein Unternehmen wie die Micarna nicht. So braucht es neben<br />
der Detailkoordination zwischen Unternehmen und Kanton<br />
auch einen intensiven Austausch mit Organisationen, die sich in<br />
Alle Berufe stehen zur Auswahl<br />
Der Kern des Maflü-Projekts besteht denn auch aus einer beruflichen<br />
Grundausbildung, verbunden mit Massnahmen zur sprachlichen<br />
und gesellschaftlichen Integration in den Gemeinden. Bei<br />
der Grundausbildung handelt es sich um eine Attestausbildung<br />
oder Vorlehre, ausgerichtet auf Menschen, denen nicht nur die<br />
Schweiz, sondern auch unsere Landessprachen fremd sind. Im Gegensatz<br />
zur klassischen Berufslehre (Sprachniveau B1) reichen für<br />
eine Attestausbildung Sprachkenntnisse auf Niveau A1/A2.<br />
Der Aufbau dieser Ausbildung ist vorerst individuell angedacht.<br />
Das bedeutet, dass ein Teilnehmer beispielsweise vier Tage<br />
in der Woche im Betrieb arbeitet und einen Tag einen intensiven<br />
Sprachkurs besucht. Eine andere Möglichkeit ist, dass die Sprachkurse<br />
auf mehrere Tage verteilt werden. Bereits im August hat ein<br />
Eritreer mit der Ausbildung zum Anlageführer begonnen. Für weitere<br />
Interessenten stehen die Micarna und der Kanton Freiburg<br />
in Kontakt; hier werden Einstiegs- und Ausbildungsmöglichkeiten<br />
für die zweite Jahreshälfte geprüft. Grundsätzlich stehen alle 18<br />
Ausbildungsberufe der Micarna auch den Flüchtlingen offen. In<br />
20 ZeSo 3/16 SCHWERPUNKT
Integration ist ein zeitintensiver Prozess<br />
Die Integration von anerkannten Flüchtlingen gelingt, wenn alle Beteiligten ihre Verantwortung<br />
wahrnehmen. Allerdings sollte man sich von der Illusion verabschieden, dass nachhaltige Integration<br />
generell im Eilzugstempo möglich ist.<br />
Eine junge Frau flüchtet aus ihrem Heimatland und reist einige<br />
Zeit später in die Schweiz ein. Hier beantragt sie Asyl. Die 25-Jährige<br />
wird dem Kanton Bern zugewiesen. Bereits während dem<br />
hängigen Verfahren profitiert sie von einzelnen Deutschlektionen.<br />
Bald erhält sie einen positiven Asylentscheid. Sie wird nun vom<br />
Flüchtlingssozialdienst des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK)<br />
Kanton Bern betreut (s. Box). Die Klientin wünscht sich, so rasch<br />
wie möglich einer Arbeit nachzugehen. Es folgen erste Schritte<br />
der beruflichen Integration: Sie besucht Sprachkurse und anschliessend<br />
den Fachkurs Pflege des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks<br />
SAH Bern, welcher ein fünfmonatiges Praktikum einschliesst.<br />
Nach intensiver Suche findet sie eine Lehrstelle. Die<br />
Eritreerin befindet sich nun in Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit.<br />
Dieses Beispiel* illustriert, wie die Integration von anerkannten<br />
Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen im Idealfall verlaufen<br />
kann. Die Weichen für eine positive Entwicklung werden<br />
meist schon zu Beginn gestellt. Seit der letzten Asylgesetzrevision<br />
behandeln die Bundesbehörden Gesuche, die keine Chance auf<br />
Anerkennung haben, schneller. Somit kann man davon ausgehen,<br />
dass Asylsuchende, die einem Kanton zugeteilt werden, mit einem<br />
positiven Entscheid rechnen dürfen. Deshalb sollte bei diesen Personen<br />
der Spracherwerb sofort gefördert werden, denn ohne minimale<br />
Deutschkenntnisse ist weder eine berufliche Qualifizierung<br />
noch eine soziale Integration möglich. Im Fall der eritreischen<br />
Frau hat das geklappt: Sie konnte bereits im Durchgangszentrum<br />
von Sprachkursen profitieren, was ihr den Weg in die Arbeitswelt<br />
geebnet hat.<br />
Flüchtlinge sind andere Migranten<br />
Einen entscheidenden Beitrag zur Integration leisten die betroffenen<br />
Menschen selbst. Dabei ist zu beachten, dass anerkannte<br />
Flüchtlinge nicht Migrantinnen und Migranten im klassischen<br />
Sinn sind. Ihre Emigration erfolgt nicht primär aus wirtschaftlichen,<br />
sondern aus politischen Gründen, oder sie werden durch<br />
Krieg und Gewalt vertrieben. Diese Traumatisierung führt häufig<br />
zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Ausserdem werden Betroffene<br />
abrupt aus dem Erwerbsleben gerissen. Es ist hinlänglich<br />
bekannt, welche gravierenden Folgen Arbeitslosigkeit und insbesondere<br />
Langzeitarbeitslosigkeit haben kann. Aus diesen Gründen<br />
müssen Flüchtlinge enorme Leistungen erbringen, um sich in einem<br />
neuen Umfeld orientieren und Schritte in Richtung Integration<br />
machen zu können.<br />
Was das konkret heissen kann, zeigt das Beispiel der 25-jährigen<br />
Eritreerin. Sie träumte davon, in der Schweiz Medizin zu<br />
studieren. Die Realität sieht aber anders aus. Es folgte ein Prozess<br />
der Desillusionierung. Die zuständige Sozialarbeiterin beim SRK<br />
Kanton Bern hatte die herausfordernde Aufgabe, der Frau die begrenzten<br />
Möglichkeiten aufzuzeigen, ohne sie dabei zu entmuti-<br />
Empfehlungen für eine bessere<br />
Integration<br />
Jugendliche und junge Erwachsene sollen frühzeitig in den<br />
Bildungsprozess integriert werden. Dazu ist eine Lockerung<br />
der Altersbeschränkung für den Eintritt in die obligatorische<br />
Schule oder für den Zugang zu berufsspezifischen Stützkursen<br />
(BSI) notwendig. Auch zusätzliche Angebote für die Altersgruppe<br />
25+ sind wünschenswert, beispielsweise Kurse, die<br />
Sprachkenntnisse und arbeitstechnisches Wissen verbinden.<br />
Frauen mit familiären Verpflichtungen muss der Zugang zu<br />
Integrationsprogrammen ermöglicht werden. Die Fremdbetreuung<br />
der Kinder sollte im Rahmen der Sozialhilfe über situationsbedingte<br />
Leistungen (SIL) finanziert werden. Wenn Kinder<br />
Kitas und Spielgruppen besuchen, fördert dies die Integration<br />
der <strong>ganz</strong>en Familie.<br />
Ein Schulterschluss mit der Wirtschaft ist die Basis für eine<br />
nachhaltige Integration. Betriebe sollten durch Anreizsysteme<br />
ermutigt werden, vermehrt Flüchtlinge anzustellen. Entsprechende<br />
Innovationen und Projekte sowie neue Finanzierungsmodelle<br />
zur Arbeitsintegration sind systematisch zu fördern.<br />
Aufhebung der Arbeitsbewilligung: Es ist unverständlich, weshalb<br />
es für die Anstellung eines anerkannten Flüchtlings eine<br />
Arbeitsbewilligung braucht. Solche administrativen Hürden<br />
müssen abgeschafft werden.<br />
Die Zivilgesellschaft sollte systematisch in den Integrationsprozess<br />
eingebunden werden, beispielsweise durch das<br />
Engagement von Freiwilligen.<br />
gen. Wenn es gelingt, diesen Personen neue Perspektiven aufzuzeigen,<br />
weckt dies Motivation und Selbstsicherheit.<br />
Motivierte Mitarbeitende<br />
Unter den Flüchtlingen befinden sich viele Frauen und Männer,<br />
die nur wenig oder gar keine schulische und berufliche Bildung<br />
mitbringen. Diese Lücken können nicht in kurzer Zeit geschlossen<br />
werden, umso mehr, weil das Anforderungsprofil an Arbeitnehmende<br />
in der Schweiz hoch ist. Kurzfristige Qualifizierungskurse<br />
sind zwar besser als gar keine, doch sie stossen in der Wirtschaft<br />
auf Skepsis und die Chancen auf eine langfristige Integration und<br />
damit auf finanzielle Unabhängigkeit sind gering. Die besten Aussichten<br />
bestehen dann, wenn eine reguläre Ausbildung absolviert<br />
werden kann. Die Integrationsförderung von anerkannten Flücht-<br />
22 ZeSo 3/16 SCHWERPUNKT
«Bei der Arbeitsintegration besteht<br />
ein Steuerungsdefizit»<br />
Qualifizierungsmassnahmen für Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene sind unumgänglich, um<br />
langanhaltende Sozialhilfeabhängigkeit zu vermeiden, sagt die abtretende SKOS-Geschäftsführerin<br />
Dorothee Guggisberg. Sie spricht über die Rolle der Sozialhilfe im Integrationsprozess und weist<br />
darauf hin, dass Bund und Kantone mehr Verantwortung übernehmen müssen.<br />
Die SKOS hat in ihrem Diskussionspapier «Arbeit statt Sozialhilfe»<br />
darauf hingewiesen, dass mit der grossen Zahl von<br />
Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen eine enorme<br />
Herausforderung auf die Schweiz zukommt. Warum hat die<br />
SKOS diese Diskussion lanciert?<br />
Dorothee Guggisberg: Die Asylgesuche und insbesondere die<br />
Schutzquote, die momentan bei rund 50 Prozent liegt, haben<br />
stark zugenommen. Wenn es nicht gelingt, die Menschen mit<br />
Bleiberecht in den Arbeitsmarkt zu integrieren, kommen innerhalb<br />
weniger Jahre enorme finanzielle Folgen auf die Kantone<br />
und die Gemeinden zu. Es ist die Aufgabe der SKOS, prospektiv<br />
zu denken und zur Diskussion und Lösungsfindung beizutragen.<br />
Warum ist die Erwerbsquote von Flüchtlingen und vorläufig<br />
Aufgenommenen so tief?<br />
Es spielen verschiedene Gründe eine Rolle. Für Asylsuchende<br />
sind praktisch keine Integrationsmassnahmen vorgesehen. Bis<br />
der Asylentscheid gefällt ist, gehen somit wichtige Jahre für den<br />
Integrationsprozess verloren. Mit der Revision des Asylgesetzes<br />
und schnelleren Asylverfahren wurde hier ein wichtiger Schritt gemacht.<br />
Weiter haben viele Flüchtlinge wenig Schulbildung oder<br />
sprechen keine europäische Sprache, manche sind Analphabeten.<br />
Viele haben auch keine Arbeitserfahrung, denn 55 Prozent der<br />
Menschen, die momentan ein Asylgesuch stellen, sind unter 25<br />
Jahre alt. Wer aufgrund einer Verfolgungssituation oder anderer<br />
schwieriger Umstände in die Schweiz kommt, ist zudem häufig<br />
belastet durch traumatische Erlebnisse, was die Lernfähigkeit beeinträchtigen<br />
kann. Auch der Schweizer Arbeitsmarkt macht es<br />
nicht einfach: Für Stellen, die nur geringe Qualifikationen erfordern,<br />
besteht eine grosse Konkurrenzsituation. Gefragt sind Fachkräfte.<br />
Qualifizierungsmassnahmen sind daher unumgänglich,<br />
wenn wir nicht wollen, dass diese Menschen in den nächsten 40<br />
Jahren von der Sozialhilfe abhängig sind.<br />
Welche Rolle spielt die Sozialhilfe im Integrationsprozess?<br />
Die Sozialhilfe ist der Ballungspunkt, weil die meisten Flüchtlinge<br />
und vorläufig Aufgenommenen zunächst in der Sozialhilfe<br />
sind. Also muss dort angesetzt werden. Die Sozialämter haben<br />
viel Erfahrung in der Arbeitsintegration und die Sozialarbeit bietet<br />
gute Methoden und Instrumente, um den Integrationsprozess<br />
zu begleiten, beispielsweise das Case Management oder Potenzialabklärungen.<br />
Die Sozialhilfe kann auch potenzielle Arbeitgeber<br />
unterstützen und eine aktive Rolle bei der Schaffung von Qualifizierungsplätzen<br />
übernehmen. Dies setzt aber entsprechende<br />
Zeitressourcen und spezialisiertes Personal voraus, denn Arbeitsintegration<br />
ist eine komplexe Aufgabe. Einfache Rezepte zur Integration<br />
gibt es nicht. Integration ist immer ein langer Prozess<br />
mit Hürden, Brücken und verschiedenen Phasen, denen genug<br />
Aufmerksamkeit und Zeit eingeräumt werden muss. Integration<br />
muss mit der Existenzsicherung einhergehen.<br />
Ist es unter diesen Vorzeichen möglich, die Flüchtlinge und<br />
vorläufig Aufgenommenen rasch in den Arbeitsmarkt zu<br />
integrieren?<br />
In der Praxis hat man festgestellt, dass eine Mehrheit der<br />
Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen nicht sofort arbeitsmarktfähig<br />
oder bereit für eine Berufslehre ist. Zuerst muss eine<br />
Ausbildungsfähigkeit geschaffen werden. Das bedeutet, dass<br />
sprachliche Voraussetzungen vorhanden sein müssen, aber auch<br />
soziale Kenntnisse: Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Verhalten am<br />
Arbeitsplatz. Das alles muss gelernt werden, was Zeit und Training<br />
erfordert.<br />
Selbst wenn es gelingt, die entsprechenden Qualifizierungsprogramme<br />
anzubieten – wie sieht es mit den Perspektiven<br />
danach aus?<br />
Die SKOS fordert, dass Qualifizierungsmassnahmen für<br />
Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene verpflichtend sind.<br />
Dies bedeutet auch, dass auf der anderen Seite ebenso eine Pflicht<br />
entsteht: Es muss entsprechende Möglichkeiten zur Ausbildung<br />
geben. Die Qualifizierungsprogramme dürfen nicht isoliert sein,<br />
sondern müssen Anschlussmöglichkeiten bieten und möglichst<br />
schnell in die Regelstruktur überführt werden. Dafür braucht es<br />
die Zusammenarbeit und eine gute Koordination aller Akteure aus<br />
dem Sozial-, Migrations- und dem Bildungsbereich.<br />
Für Qualifizierungsprogramme sind Investitionen notwendig.<br />
Wer soll die Kosten tragen?<br />
Es entstehen Kosten, ob wir die Menschen integrieren oder<br />
nicht. Die Frage ist, ob im Hinblick auf die Abnahme der Folgekosten<br />
investiert werden soll. Diese werden auch die Gemeinden<br />
tragen müssen. Man kann aber die Probleme, die aus globalen<br />
Kriegen und Armut entstehen, nicht alleine die Gemeinden lösen<br />
lassen. Der Bund und die Kantone müssen Verantwortung tragen.<br />
Der Bund muss seine Beteiligung noch ausdehnen und sich stärker<br />
an den Integrationskosten beteiligen.<br />
Mit der Forderung nach Qualifizierung verfolgt die SKOS die<br />
gleiche Stossrichtung wie das Staatssekretariat für Migration,<br />
das die Integrationsvorlehren einführt (s. Beitrag S.18).<br />
24 ZeSo 3/16 SCHWERPUNKT
Arbeitsintegration<br />
Für die Arbeitsmarktintegration braucht es auch die Wirtschaft.<br />
Ist das Engagement von dieser Seite vorhanden?<br />
Niemand hat auf die Flüchtlinge gewartet. Die Solidarität seitens<br />
Wirtschaft ist in den letzten zwei Jahren dennoch da gewesen.<br />
Viele Unternehmen und KMU bemühen sich, Hand zu bieten.<br />
In einigen Branchen besteht ein grösseres Interesse, weil es<br />
ein Überangebot an Lehrstellen und ein Mangel an Fachkräften<br />
gibt. Vielfach ist es jedoch auch bei Einzelinitiativen oder Versprechen<br />
geblieben. Für die Arbeitsintegration ist es unabdingbar,<br />
dass der Arbeitsmarkt diese Menschen aufnimmt. Das ist nicht<br />
erst entscheidend, wenn es um Stellen geht, sondern es sind bereits<br />
in jedem Qualifizierungsschritt Praktika und Schnuppermöglichkeiten<br />
nötig. Die Zusammenarbeit mit Arbeitgeber- und<br />
Branchenverbänden muss verstärkt werden. Und <strong>ganz</strong> wichtig<br />
ist: Administrative Hindernisse müssen weiter abgebaut werden.<br />
Arbeitgebende dürfen keinen grossen Mehraufwand und keine<br />
Zusatzkosten haben, wenn sie Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene<br />
einstellen.<br />
Dorothee Guggisberg, abtretende SKOS-Geschäftsführerin. Bild: Keystone<br />
Ja, es ist die gleiche Stossrichtung. In unseren Augen dauert<br />
die Umsetzung des Programms aber zu lange und es bietet viel zu<br />
wenige Plätze. Es müssen Wege gefunden werden, um den Rahmen<br />
auszudehnen. Es gibt bereits heute viele gute Integrationsprogramme,<br />
aber wir haben ein quantitatives Problem bezüglich<br />
der Plätze. Es muss den politischen Entscheidungsträgern bewusst<br />
sein, dass wir wertvolle Zeit verlieren, um Folgeprobleme zu<br />
verhindern, wenn wir nicht rasch breitflächig mit der Integration<br />
beginnen.<br />
Warum wird die Arbeitsintegration nicht stärker vorangetrieben?<br />
Es wird zwar viel getan und Lösungsansätze werden diskutiert.<br />
Aber es besteht ein Steuerungsdefizit, was eine effiziente und<br />
nachhaltige Lösungsentwicklung behindert. Es ist unklar, wer die<br />
Hauptverantwortung trägt: Ist es der Bund, sind es die Kantone?<br />
Diese Frage muss geklärt werden. Eine reine Koordinationsstruktur<br />
nützt aber nichts. Steuerung bedingt auch entsprechende<br />
Kompetenzen. Klar ist, das Thema betrifft viele verschiedene Akteure.<br />
Deshalb fordert die SKOS einen runden Tisch, damit diese<br />
Akteure zusammenkommen.<br />
Was bringt es der Wirtschaft unter dem Strich, Flüchtlinge<br />
und vorläufig Aufgenommene einzustellen?<br />
Selbstverständlich kann die Einstellung von Flüchtlingen und<br />
vorläufig Aufgenommenen nicht rein monetär motiviert sein. Integration<br />
erfolgt weitsichtig. Man könnte es mit Lehrstellen vergleichen:<br />
Dort investiert die Wirtschaft auch, ohne dass in jedem<br />
Fall unmittelbar eine grosse Wertschöpfung entsteht. Mittelfristig<br />
aber rechnet sich die Arbeitsintegration sowohl finanziell wie<br />
auch sozial. Sie leistet einen Beitrag zur Behebung des Fachkräftemangels.<br />
Und die Wirtschaft ist auf soziale Stabilität und Sicherheit<br />
angewiesen, also muss sie auch Hand bieten für die Integration.<br />
Integration ist Teil einer integralen Wirtschafts-, Finanz- und<br />
Gesellschaftspolitik. <br />
•<br />
Arbeit statt Sozialhilfe<br />
SCHWERPUNKT 3/16 ZeSo<br />
Interview<br />
Regine Gerber<br />
Im Diskussionspapier «Arbeit statt Sozialhilfe» hat die SKOS im<br />
November 2015 Vorschläge für eine rasche und nachhaltige Arbeitsintegration<br />
von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen<br />
veröffentlicht. Das Papier ist auf der SKOS-Website abrufbar.<br />
www.skos.ch Grundlagen und Positionen Positionen<br />
25<br />
Dürfen Flüchtlinge zur beruflichen<br />
Qualifikation verpflichtet werden?<br />
Die SKOS fordert im Diskussionspapier «Arbeit statt Sozialhilfe», dass alle arbeitsfähigen<br />
Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen gesetzlich verpflichtet werden, an einem beruflichen<br />
Qualifizierungsprogamm teilzunehmen. Ist dieser Ansatz zweckmässig und zulässig?<br />
pro<br />
contra<br />
Gianni D’Amato<br />
Direktor des Schweizerischen Forums für<br />
Migrations- und Bevölkerungsstudien und<br />
Professor an der Universität Neuchâtel.<br />
Isabel Bartal<br />
Soziologin und selbständige Beraterin<br />
für Sozial,- Migrations- und Integrationsfragen.<br />
Eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik ist in Zeiten hoher Fluchtzuwanderung<br />
der Königsweg. Für die rasche Arbeitsmarktintegration<br />
von Flüchtlingen ist ein Zweischritt erforderlich: Erstens müssen<br />
die Qualifikationen der Flüchtlinge in einem dafür vorgesehenen<br />
Profiling schnellstmöglich erfasst werden. Anschliessend soll im<br />
Sinne einer Investition das Humankapital gefördert werden, insbesondere<br />
die Sprachkenntnisse und die zeitgleiche (Re-)Qualifizierung,<br />
um den Einstieg in das Berufsleben zu sichern und somit die<br />
gesellschaftliche Integration zu gewährleisten.<br />
Die Verpflichtung zur Teilnahme an Qualifizierungsprogrammen ist<br />
notwendig, weil dadurch am ehesten jene gesellschaftliche Autonomie<br />
hergestellt wird, die Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene<br />
aus der Bevormundung rettet. Allerdings ist darauf zu achten, dass<br />
seriös abgeklärt wird, wer für ein solches Programm aufgrund von<br />
Traumata, Behinderungen und Krankheiten nicht in Frage kommen<br />
darf. Im Hinblick auf Familien muss sichergestellt werden, dass<br />
es Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder gibt, so dass auch<br />
Mütter an den Programmen teilnehmen können und nicht auf ihre<br />
Geschlechterrolle innerhalb der Familie reduziert werden.<br />
Zur beruflichen Qualifizierung würde aber auch gehören, dass man<br />
Flüchtlinge in Unternehmen schickt und dass die Unternehmen<br />
sich ansehen, wie man die Fähigkeiten der Flüchtlinge zertifizieren<br />
kann. Wie indes die Wirtschaft in diese integrationspolitische<br />
Aufgabe im Detail eingebunden werden soll, lässt das Diskussionspapier<br />
der SKOS leider offen. Der Kern des Papiers betrifft die<br />
Innovation, indirekt durch den Abbau von Bürokratie und direkt über<br />
qualifizierende Massnahmen, die staatlichen Behörden in die Pflicht<br />
zu nehmen. Ein solcher Systemwechsel kann jedoch nur unter der<br />
Voraussetzung funktionieren, dass Asylentscheide schnell fallen,<br />
was leider gegenwärtig bei voraussichtlich positiven Entscheiden<br />
nicht der Fall ist. Daher wäre es klug, insbesondere bei jungen<br />
Menschen vom Status abzusehen und auch Asylsuchende in solche<br />
Programme aufzunehmen.<br />
Zwang ist keine Ansichtssache. Oft wurden Menschen wegen ihrer<br />
sozialen Lage, Ethnie oder Abstammung gezwungen zu arbeiten oder<br />
sie wurden in Ausbildungsstätten eingesperrt. In der Schweiz sind<br />
wir gerade daran, die Geschichte der Verdingkinder aufzuarbeiten.<br />
Ungerechtigkeit kennt viele Begründungen und sie sind immer falsch.<br />
Im Art. 4 der Menschenrechtskonvention wird die staatlich angeordnete<br />
oder geduldete Zwangsarbeit sowie eine Arbeitspflicht verboten.<br />
Es kommt nicht darauf an, welche Ziele verfolgt werden, Zwang wirkt<br />
sich immer negativ auf die Menschen aus und weckt Widerstand.<br />
Dasselbe gilt für die Bildung. Experten sind sich einig: Zwangslernen<br />
macht dumm. Lern- und Verhaltenstheorien besagen, dass insbesondere<br />
Erwachsene am besten das lernen, was ihrem Leben unmittelbar<br />
etwas bringt.<br />
Die meisten Flüchtlinge möchten sich weiterbilden und arbeiten.<br />
Die Ämter hingegen hindern sie oft daran. Die Flüchtlingskrise in der<br />
Schweiz ist höchstens eine Krise der mangelnden Möglichkeiten.<br />
Denn Flüchtlinge sind gegenüber anderen Migrationsgruppen beim<br />
Zugang zu Arbeit und Bildung durch Sonderabgaben auf Löhne und<br />
durch die Arbeitsbewilligungspflicht deutlich benachteiligt. Flüchtlinge<br />
sind mehrheitlich jung, 90 Prozent sind unter 39 Jahre. Viele<br />
sind gut qualifiziert. Ist es ihre Schuld, dass sie mehrheitlich von der<br />
Sozialhilfe leben? Nein, schleppende Integration ist in erster Linie<br />
hausgemacht und hat strukturelle Gründe. Der unterschiedliche<br />
Erfolg in den Kantonen verdeutlicht dies. Im Kanton Graubünden<br />
beispielsweise gibt es keine Hürden im Arbeitsmarkt. Dort liegt die<br />
Erwerbsquote der vorläufig aufgenommenen Personen bei 60 und<br />
nicht 26 Prozent wie im schweizerischen Durchschnitt.<br />
Es wäre falsch zu behaupten, dass das Potenzial ausgeschöpft ist<br />
und nur noch Zwang Lösungen bringt. Es braucht in erster Linie einen<br />
Abbau von Integrationsbarrieren und es braucht Koordination: Koordination<br />
zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden, den verschiedenen<br />
Angeboten und zwischen allen beteiligten Stellen. Verlieren wir keine<br />
Zeit, investieren wir in Chancen auf Bildung und Arbeit.<br />
26 ZeSo 3/16 SCHWERPUNKT
Die Arbeitsintegration in den ersten<br />
Arbeitsmarkt ist möglich<br />
Arbeitsintegration<br />
Beim Konzept nach «Supported Employment» werden Strukturen und Erfahrungen aus der<br />
Temporär-Arbeitsvermittlung genutzt, um Flüchtlinge direkt in den ersten Arbeitsmarkt zu<br />
vermitteln. Damit der Ansatz Modellcharakter bekommt, müssen administrative Hürden abgebaut<br />
und die Bedingungen für interessierte Arbeitgeber erleichtert werden.<br />
Die Ausgangslage ist bekannt. Die meisten Flüchtlinge sind gesund,<br />
arbeitsfähig und arbeitswillig. Um ihre Integration in den<br />
Arbeitsmarkt zu fördern, existieren erste, unterschiedliche Ansätze.<br />
Im Folgenden wird das Konzept nach Supported Employment<br />
vorgestellt, das den Behörden Anstösse liefern kann, eine einheitlich<br />
anwendbare Strategie für die Integration von Flüchtlingen zu<br />
entwickeln.<br />
Während viele Integrationsansätze aufgrund von fehlenden<br />
beruflichen und sprachlichen Qualifikationen der Flüchtlinge auf<br />
Strukturen des zweiten Arbeitsmarkts abstützen, fokussiert der<br />
Ansatz des Supported Employment von Beginn weg auf den ersten<br />
Arbeitsmarkt. Der zweite Arbeitsmarkt bietet wohl gute Vorqualifizierungsmassnahmen,<br />
aber diese Institutionen wurden in erster<br />
Linie für geistig oder körperlich eingeschränkte Personen entwickelt.<br />
Wenn es gelingt, Flüchtlinge im Rahmen der beruflichen<br />
Qualifikation direkt in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln, so<br />
haben sie bessere Chancen auf eine reguläre Beschäftigung.<br />
Der Personalvermittler Workbox AG in St. Gallen, auf dessen<br />
Erfahrungen dieser Bericht abstützt, arbeitet mit einer mehrdimensionalen<br />
Vermittlungsstrategie, die sich sowohl an der Arbeitsmarktfähigkeit<br />
der Klienten wie an den Bedürfnissen der<br />
Wirtschaft ausrichtet. Zum einen müssen die vorhandenen Kompetenzen<br />
der Flüchtlinge erkannt werden, damit eine für sie sinnvolle<br />
Betätigung gefunden werden kann. Für Klienten, die im Heimatland<br />
nicht arbeitstätig waren – das sind primär Jugendliche<br />
– wurden Module entwickelt, um sie vorzuqualifizieren und sie<br />
so auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Die Vorqualifikation orientiert<br />
sich am dualen Ausbildungssystem: Die Flüchtlinge werden<br />
an zwei Tagen geschult, die restlichen Tage verbringen sie in<br />
einem Praktikumsbetrieb.<br />
Erfolgsfaktor Arbeitgeberanreiz<br />
Zum andern – und das ist ebenso wichtig – müssen die Arbeitgeber<br />
von möglichst allem zusätzlichen Aufwand, der mit der Beschäftigung<br />
eines Flüchtlings anfällt, entlastet werden. Der Vermittler<br />
übernimmt das gesamte Payrolling, indem die Anstellung<br />
über ihn läuft, und er agiert als Jobcoach. Zur administrativen und<br />
betreuungsseitigen Entlastung der Arbeitgeber wird also die bewährte<br />
Form der Temporär-Arbeitsvermittlung genutzt. Das Konzept<br />
lehnt sich auch an die Integrationsmuster der IV an, ist aber<br />
auf die Gegebenheiten der Flüchtlinge adaptiert. Das Ziel besteht<br />
darin, die richtige Person in einer geeigneten Anstellungsform in<br />
ein passendes Unternehmen zu vermitteln. Möglich sind sowohl<br />
Praktika wie auch befristete und unbefristete reguläre Anstellungen.<br />
Wirken die Arbeitgeberanreize gut, wirkt sich das auch auf die<br />
Erfolgschancen der Klienten aus. Sie werden trotz sprachlicher Defizite<br />
und Mangel an Schweizer Berufserfahrung konkurrenzfähig.<br />
Soll das Integrationskonzept nach Supported Employment auf<br />
nationaler Ebene Fuss fassen, müssen die nach wie vor vorhandenen<br />
Hürden (hohe Bewilligungskosten, Wartezeit bei einem<br />
Stellenantritt von bis zu einem Monat) dringend abgebaut werden.<br />
Im Temporärgeschäft wird das Personal in der Regel in einer<br />
Zeitspanne von zwei bis fünf Tagen disponiert.<br />
Wichtige Rolle des Jobcoaches<br />
Zudem muss die Rolle des Jobcoaches, der die Arbeitsmarktgegebenheiten<br />
branchenübergreifend kennt und der für die eigentliche<br />
Integration nach Supported Employment verantwortlich ist,<br />
gestärkt werden. Die Erfahrung zeigt auch, dass die Akzeptanz bei<br />
den Arbeitgebern, sich auf einen Versuch mit einem Flüchtling<br />
einzulassen, höher ist, wenn eine «neutrale», aber doch im Umgang<br />
mit Flüchtlingen erfahrene Person anstelle einer verwatungsnahen<br />
Institution als Vermittler auftritt. Die besten Resultate werden<br />
durch eine sukzessive und konstante Begleitung erzielt.<br />
Insbesondere für den Anstellungstyp Praktikumsbeschäftigung,<br />
der zum Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt wird, müssen<br />
die zuständigen Entscheidungsträger einen gemeinsamen<br />
Modus finden, der sich am Ansatz der interinstitutionellen Zusammenarbeit<br />
(IIZ) orientiert. Am zweckmässigsten wäre eine einzige<br />
Anlaufstelle auf Seiten der Behörden und Institutionen. Denn<br />
dies ist ein weiteres Hindernis: Ohne den Konsens aller beteiligten<br />
Institutionen wird die Arbeit des Jobcoaches behindert und die<br />
Motivation der Arbeitgeber, Flüchtlinge anzustellen, untergraben.<br />
Supported Employment kann einen entscheidenden Beitrag<br />
zur Arbeitsintegration von Flüchtlingen leisten. Dazu braucht es<br />
auf nationaler Ebene einheitliche schulische Prozesse, wirksame<br />
Anreize für Arbeitgeber, bessere gesetzliche Grundlagen und Finanzierungsmodelle<br />
sowie eine von den Behörden anerkannte Begleitung<br />
durch den Jobcoach. <br />
•<br />
Fabio Malinconico<br />
Work-Box Personal AG, St. Gallen<br />
Kompass für Fragen, die Personen<br />
im Strafvollzug betreffen<br />
Bei der Betreuung von Personen im Straf- und Massnahmenvollzug entstehen durch die Vielzahl der<br />
gesetzlichen Grundlagen und wegen unterschiedlicher Zuständigkeitsordnungen diverse Abgrenzungsund<br />
Schnittstellenprobleme zwischen dem Justizvollzug und der Sozialhilfe.<br />
Die kantonalen Sozialhilfegesetze und die<br />
SKOS-Richtlinien regeln die Sozialhilfeunterstützung.<br />
Befindet sich eine bedürftige<br />
Person allerdings im Justizvollzug, können<br />
durch die zusätzlich zur Anwendung kommenden<br />
gesetzlichen Grundlagen und Zuständigkeitsbestimmungen<br />
Abgrenzungsund<br />
Schnittstellenprobleme entstehen. Für<br />
Sozialarbeitende ohne fundierte juristische<br />
Kenntnisse kann die Klärung der Zuständigkeit<br />
rasch sehr aufwändig werden. Oft<br />
geht es dabei um Fragen, die eine Kostenübernahme<br />
betreffen: Wer muss bei einer<br />
bedürftigen Person eine Zahnbehandlung<br />
oder eine Brille bezahlen? In welchem Umfang<br />
kann das Arbeitsentgelt zur Kostendeckung<br />
verwendet werden?<br />
Im Bestreben, eine klare Auslegeordnung<br />
über die behördlichen Zuständigkeiten zu<br />
schaffen und eine landesweit einheitliche<br />
Anwendungspraxis zu fördern, haben die<br />
SKOS und die Konferenz der Kantonalen<br />
Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren<br />
(KKJPD) den Bericht «Empfehlungen<br />
zur Schnittstelle Justizvollzug – Sozialhilfe»<br />
erarbeitet. Dieser wird von der Konferenz<br />
der Kantonalen Sozialdirektorinnen und<br />
-direktoren (SODK) mitgetragen.<br />
Grundsätze und Zuständigkeit<br />
Die Basis der gemeinsamen Empfehlungen<br />
bilden eine Reihe zentraler Grundsätze<br />
und Zuständigkeitsfeststellungen:<br />
- Vollzugskosten und vollzugsbedingte<br />
Nebenkosten werden durch die einweisenden<br />
Behörden oder die Vollzugseinrichtungen<br />
getragen.<br />
- Für nicht vollzugsbedingte Kosten<br />
muss die inhaftierte Person mit eigenen<br />
Mitteln aufkommen: Namentlich mit<br />
dem Arbeitsentgelt – soweit es nicht als<br />
Rücklage für die Zeit nach der Entlassung<br />
gesperrt ist –, mit allfälligen Versicherungsleistungen,<br />
Vermögen oder<br />
Unterhaltsbeiträgen.<br />
- Aus Sozialhilfemitteln können aufgrund<br />
des Subsidiaritätsprinzips nur<br />
Leistungen bewilligt werden, für die<br />
kein Dritter aufkommen muss und zu<br />
deren Begleichung die inhaftierte Person<br />
selber nicht in der Lage ist.<br />
- Bei der Prüfung, ob jemand bedürftig<br />
im Sinne der Sozialhilfegesetzgebung<br />
ist, wird der persönliche Bedarf ermittelt.<br />
- Im Rahmen der Nothilfe gelten besondere<br />
Bestimmungen.<br />
Vollzugskosten sind jene Kosten, die<br />
durch den Vollzug einer strafrechtlichen<br />
Sanktion oder Haft verursacht werden.<br />
Das sind Kosten für die Gewährleistung<br />
der Sicherheit, Bewachung, Verpflegung,<br />
Betreuung und Beschäftigung der inhaftierten<br />
Person sowie Auslagen für justizspezifische<br />
Leistungen von psychiatrischen<br />
Kliniken oder Suchteinrichtungen. Vollzugsbedingte<br />
Nebenkosten hängen unmittelbar<br />
mit dem Haftzweck oder dem Vollzug<br />
einer Massnahme zusammen. Dies sind<br />
beispielsweise Kosten für eine einfache<br />
Grundausstattung an Kleidern (Trainer,<br />
Unterwäsche, Hausschuhe ohne Ersatzanschaffungen)<br />
oder Kosten für Fahrten zu<br />
Gerichtsterminen oder zum Besuch von<br />
Ärzten. Die Urteilskantone beziehungsweise<br />
die Einweisungsbehörden tragen auch<br />
die Kosten, die anfallen, wenn gerichtlich<br />
angeordnete Behandlungsmassnahmen<br />
in einer psychiatrischen Klinik oder einer<br />
Suchttherapieeinrichtung durchgeführt<br />
werden, soweit diese nicht von einer Krankenversicherung<br />
gedeckt werden.<br />
Persönliche Auslagen hingegen müssen<br />
grundsätzlich durch die inhaftierte Person<br />
getragen werden. Darunter fallen zum Beispiel<br />
Zigaretten, Gebühren für Telefon und<br />
Fernseher oder Zeitungsabonnemente.<br />
Verfügt die inhaftierte Person nicht über<br />
die erforderlichen Mittel, um persönliche<br />
Auslagen zu finanzieren, muss sie über<br />
die zuständige Stelle des Justizvollzugs<br />
ein Unterstützungsgesuch beim zuständigen<br />
Sozialhilfeorgan einreichen. Das Gesuch<br />
muss rechtzeitig, begründet und mit<br />
den für den Nachweis der Bedürftigkeit<br />
notwendigen Unterlagen versehen sein.<br />
Die Anspruchsprüfung erfolgt nach den<br />
kantonalen sozialhilferechtlichen Grundsätzen.<br />
Unterstützungsleistungen durch<br />
die Sozialhilfe können auch im Hinblick<br />
auf die Haftentlassung nötig werden, beispielsweise<br />
für die Erteilung einer Kostengutsprache<br />
für eine Wohnung oder für die<br />
Finanzierung von Einrichtungsgegenständen<br />
bei einem Neubezug einer Wohnung.<br />
KVG und Gesundheitskosten<br />
Viele Berührungspunkte zwischen dem<br />
Strafvollzug und der Sozialhilfe stehen im<br />
Zusammenhang mit Fragen, die die<br />
28 ZeSo 3/16 Justizvollzug
Schnittstelle<br />
Justizvollzug – Sozialhilfe<br />
Der Schlussbericht der Arbeitsgruppe zu Handen der KKJPD, der<br />
SODK und der SKOS gibt Empfehlungen rund um die Zuständigkeiten<br />
an der Schnittstelle zwischen Justizvollzug und Sozialhilfe ab.<br />
Dadurch wird er zu einem praktischen Kompass für Sozialarbeitende<br />
und Mitarbeitende des Justizvollzugs bei der Klärung auftretender<br />
Fragen, namentlich im Hinblick auf die Geltendmachung von Ansprüchen.<br />
Im Anhang des 66-seitigen Berichts befinden sich des Weiteren<br />
Vorlagen für einen Unterstützungsantrag und für ein Gesuch zur<br />
Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht sowie eine Gegenüberstellung<br />
der geltenden Bestimmungen zum zivilrechtlichen<br />
Wohnsitz nach ZGB und dem Unterstützungswohnsitz nach ZUG. Der<br />
Bericht ist auf der Website der SKOS verfügbar.<br />
www.skos.ch sozialhilfe-und-praxis rechtliches<br />
Bei bedürftigen Personen im Justizvollzug können<br />
Zuständigkeitsfragen entstehen. <br />
Bild: Keystone<br />
obligatorische Krankenpflegeversicherung<br />
(KVG) und Gesundheitskosten allgemein<br />
betreffen. Für die Sicherstellung des Krankenversicherungsobligatoriums<br />
ist der zivilrechtliche<br />
Wohnkanton zuständig. Fehlen<br />
der inhaftierten Person die notwendigen<br />
eigenen Mittel, muss also bei ihrem zivilrechtlichen<br />
Wohnsitz ein Gesuch um Prämienübernahme<br />
oder -verbilligung eingereicht<br />
werden.<br />
Ambulante oder stationäre Behandlungen<br />
mit medizinischer Indikation<br />
werden über die Krankenversicherung<br />
finanziert. Die inhaftierte Person trägt<br />
allerdings die üblichen Kostenbeteiligungen<br />
(Franchise und Selbstbehalte)<br />
sowie die Kosten für von der Krankenversicherung<br />
nicht gedeckte Leistungen wie<br />
Zahnbehandlungen oder medizinische<br />
Hilfsmittel wie Brillen und Hörgeräte.<br />
Verfügt die inhaftierte Person nicht über<br />
die erforderlichen Mittel zum Bezahlen<br />
dieser Auslagen, so hat sie Anspruch auf<br />
Sozialhilfeleistungen. Sie muss über die<br />
zuständige Stelle des Justizvollzugs –<br />
soweit kein Notfall vorliegt – vorgängig ein<br />
begründetes Gesuch beim zuständigen Sozialhilfeorgan<br />
einreichen.<br />
Bei vorübergehenden Aufenthalten von<br />
Personen in einem Spital oder einer Klinik<br />
übernimmt die Vollzugseinrichtung den<br />
allfälligen Spitalbeitrag von 15 Franken<br />
pro Tag, wenn der Justizvollzug der Vollzugseinrichtung<br />
für die Aufenthaltszeit<br />
weiter das Kostgeld ausrichtet. Bei stationären<br />
Spitalbehandlungen rechnen die<br />
Spitäler oder Kliniken ihre Leistungen mit<br />
der Krankenversicherung ab und ersuchen<br />
nötigenfalls beim (zivilrechtlichen) Wohnkanton<br />
einer ausserkantonal wohnhaften<br />
Person um Übernahme des Kantonsanteils.<br />
Werden die Kosten von der Krankenversicherung<br />
und vom Wohnkanton<br />
nicht vollumfänglich gedeckt, kommt der<br />
einweisende Kanton für die Differenz auf.<br />
Die Krankenversicherung stellt der inhaftierten<br />
Person die Kostenbeteiligungen in<br />
Rechnung.<br />
Weitere Themenfelder des Berichtes (s.<br />
Box) betreffen beispielsweise Fragen zur<br />
Deckung des AHV-Mindestbeitrags (wird<br />
nicht aus Mitteln der Sozialhilfe finanziert)<br />
oder zur sozialen Betreuung während und<br />
nach dem Vollzug (wird zwischen den Organen<br />
der Sozialhilfe und des Justizvollzugs<br />
respektive der Bewährungshilfe und<br />
dem Sozialhilfeorgan koordiniert). •<br />
Nadine Zimmermann<br />
Leiterin Öffentliche Sozialhilfe,<br />
Sozialamt des Kantons Zürich<br />
Präsidentin Kommission Rechtsfragen SKOS<br />
Justizvollzug 3/16 ZeSo<br />
29
«Ein gutes Leben haben!»<br />
Immer mehr unbegleitete Kinder und Jugendliche (MNA) suchen Asyl in der Schweiz.<br />
Das Projekt «Speak out!» der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV)<br />
gibt ihnen eine Stimme.<br />
Ein Samstagnachmittag auf dem Basler<br />
Barfüsserplatz. Gutgelaunte Menschen<br />
schlendern zwischen den Ständen des Antirassismus-Festivals<br />
Imagine umher. Aus<br />
grossen Pfannen strömen Currydüfte. Etwas<br />
abseits der Festivalbühne bildet eine<br />
Gruppe Jugendlicher tanzend und klatschend<br />
einen Kreis. Es sind unbegleitete<br />
minderjährige Asylsuchende aus Eritrea,<br />
Somalia, Afghanistan, Iran. Auf dem Programmzettel<br />
steht Breakdance. Doch aus<br />
den Boxen kommen orientalische Klänge:<br />
Gilaki, ein iranischer Hochzeitstanz.<br />
Auch Jonathan* geniesst die Musik. Er<br />
ist bald 16, stammt aus Eritrea. Jetzt lebt<br />
er in Basel in einem Wohnheim für unbegleitete<br />
minderjährige Asylsuchende. Er<br />
fühlt sich wohl dort. Rassismus? Ja, den<br />
kennt er. Zum Beispiel im Bus, wenn Leute<br />
nicht neben ihm sitzen wollen. Das tut<br />
weh, aber er sei es gewohnt. Er schaut lieber<br />
vorwärts, will Mechaniker werden. «Ich<br />
muss viel wissen, mich engagieren, dann<br />
geht es», sagt er zuversichtlich.<br />
Sein Landsmann Abiel* ist 15. Er<br />
möchte Elektriker lernen und macht sich<br />
bereits Sorgen, ob er mit 18 eine Wohnung<br />
findet. «Sie nehmen nur Reiche, solche<br />
im Anzug. Aber wenn ich eine Lehre<br />
habe, dann werde ich auch reich!», ist er<br />
überzeugt. Waris* ist 17. Sie stammt aus<br />
Somalia. Dass sie ihren Weg ohne Familie<br />
machen muss, macht ihr Druck, grossen<br />
Druck. Sie möchte FaGe werden, Fachangestellte<br />
Gesundheit, in einem Altersheim.<br />
«Aber das Kopftuch macht es schwierig,<br />
eine Lehrstelle zu finden», sagt Waris.<br />
Jonathan, Abiel und Waris gehören<br />
zu einer Gruppe von 40 minderjährigen<br />
Asylsuchenden, die auf Einladung des<br />
Projektes «Speak out!» ans Antirassismus-<br />
Festival Imagine gekommen sind. «Es geht<br />
Den isolierten Alltag für<br />
einmal vergessen.<br />
Bild: Ursula Markus<br />
30 ZeSo 3/16 reportage
uns vor allem um Integrationsförderung»,<br />
sagt Georgiana Ursprung, Projektleiterin<br />
von «Speak out!». Die jungen Asylsuchenden<br />
sollen gemeinsam mit anderen Jugendlichen<br />
etwas auf die Beine stellen und dabei<br />
ihren isolierten Alltag ein wenig vergessen,<br />
aber auch eine Plattform bekommen, wo<br />
sie ihre Anliegen kommunizieren können.<br />
Die Volljährigkeit macht Angst<br />
Gegründet wurde «Speak out!» 2009 auf<br />
Initiative von verschiedenen NGOs. Sie<br />
hatten immer wieder die mangelnden Mitbestimmungsmöglichkeiten<br />
der MNA und<br />
damit die Verletzung der UN-Kinderrechtskonvention<br />
kritisiert. Um die Situation<br />
zu verbessern, schloss man sich zur Association<br />
pour les Droits des Enfants<br />
Migrants zusammen. Nach einer Bedürfnisabklärung<br />
unter den MNA entwickelte<br />
Terre des Hommes das Projekt «Speak<br />
out!», welches seit 2010 durch die SAJV<br />
umgesetzt wird. Projektleiterin Georgiana<br />
Ursprung hat ein 40-Prozent-Pensum, seit<br />
kurzem wird sie unterstützt durch eine<br />
Mitarbeiterin mit Migrationshintergrund.<br />
Zum Team gehören auch vier soziokulturelle<br />
Animatorinnen und Animatoren, die<br />
die Anlässe und Auftritte mit den Jugendlichen<br />
planen und durchführen.<br />
Mitwirkung ist das Kernanliegen von<br />
«Speak out!». Ein erster grosser Erfolg<br />
war die Erarbeitung der MNA-Charta: In<br />
zwei Workshops brachten 30 junge Asylsuchende<br />
auf den Punkt, was ihnen unter<br />
den Nägeln brennt. Dabei traten, wie ein<br />
roter Faden, die grossen kantonalen Unterschiede<br />
bezüglich Unterbringung und<br />
Betreuung zutage: Je nach Region leben<br />
die MNA in spezifischen Heimen. In kleineren,<br />
ländlichen Kantonen hingegen<br />
müssen sie öfters ein Zimmer mit Erwachsenen<br />
teilen, was zu Problemen führen<br />
kann. Auch die Betreuungssituation<br />
variiert stark. Statt eines verbindlichen<br />
Beistandes erhalten die Jugendlichen in<br />
gewissen Kantonen lediglich eine Vertrauensperson.<br />
Unverständlich finden die<br />
Ein erster grosser<br />
Erfolg war die<br />
Erarbeitung der<br />
MNA-Charta.<br />
MNA auch die grossen kantonalen Unterschiede<br />
im Ausbildungsbereich. Und der<br />
18. Geburtstag macht ihnen häufig grosse<br />
Angst statt Freude, da sie mit der Volljährigkeit<br />
ihren Schutzstatus verlieren und<br />
für sich selber verantwortlich sind. Kommt<br />
ein negativer Asylentscheid hinzu, tauchen<br />
viele unter.<br />
Die MNA-Charta zeigte Wirkung. Für<br />
die Jugendlichen war es ein grosser Tag,<br />
als sie ihre Anliegen im Herbst 2014 vor<br />
70 Migrationsfachleuten präsentieren<br />
konnten. «Zu sehen, wie die jungen Leute<br />
ohne Angst auf der Bühne standen − das<br />
war Empowerment», freut sich Projektleiterin<br />
Georgiana Ursprung.<br />
Die Konferenz der Kantonalen Sozialdirektorinnen<br />
und Sozialdirektoren (SODK)<br />
nahm in ihren im Frühling <strong>2016</strong> verabschiedeten<br />
MNA-Empfehlungen einige<br />
Anliegen der MNA auf, etwa die Unterbringung<br />
in Gastfamilien, die sofortige<br />
Zuteilung eines Beistandes oder die sozialpädagogische<br />
Begleitung auch über die<br />
Volljährigkeit hinaus. Im Herbst findet<br />
ein offizielles Treffen zum Thema Harmonisierung<br />
und Mindeststandards statt.<br />
«Wir bleiben dran», verspricht Georgiana<br />
Ursprung.<br />
Im Projektalltag erlebt sie die jungen<br />
Asylsuchenden als sehr selbständig und<br />
hilfsbereit. Disziplinarprobleme gebe es<br />
an den Anlässen nur selten. Allerdings<br />
erreiche «Speak out!» eher MNA in günstigen<br />
Strukturen, relativiert die Projektleiterin.<br />
«Gewisse Zentren schicken uns<br />
niemanden. Entweder, weil sie zu knappe<br />
Ressourcen haben oder weil sie nicht<br />
möchten, dass die Jugendlichen ihre Situationen<br />
vergleichen.» Letztlich hänge das<br />
Engagement auch vom politischen Klima<br />
ab.<br />
Starker Tätigkeitsdrang<br />
Immer wieder fällt Georgiana Ursprung<br />
der starke Tätigkeitsdrang der MNA auf.<br />
Viele stünden unter grossem psychischem<br />
Druck, rasch Geld zu verdienen, damit ihre<br />
Familie die Flucht bezahlen kann: «Sie wollen<br />
arbeiten oder eine Ausbildung fertig<br />
machen und verstehen nicht, weshalb sie<br />
durch das hiesige System ausgebremst<br />
werden.» «Speak out!» führt deshalb jugendgerechte<br />
Workshops zu rechtlichen<br />
Aspekten des Asylprozesses durch. Es gelte<br />
allerdings, keine falschen Erwartungen zu<br />
wecken, denn das Projekt könne den Jugendlichen<br />
zwar eine Plattform bieten,<br />
aber keinen Einfluss auf ihr Verfahren oder<br />
auf Arbeitsmöglichkeiten nehmen, gibt die<br />
Projektleiterin zu bedenken.<br />
Neben der politischen Arbeit engagiert<br />
man sich auch auf der sozialen Ebene.<br />
«Speak out!» sei ein Jugendprojekt, sagt<br />
Georgina Ursprung. «Unsere Angebote<br />
sollen nicht nur kopflastig sein, sondern<br />
auch Spass machen.» Zum Angebot gehören<br />
denn auch Fussballturniere mit anderen<br />
Jugendorganisationen sowie Ausflüge<br />
oder Lager.<br />
Hat die «Speak out!»-Leiterin − auch<br />
angesichts der steigenden Fallzahlen − einen<br />
Wunsch an die Sozialtätigen? Jugendliche<br />
Asylsuchende, antwortet Georgina<br />
Ursprung, sollten trotz aller Probleme und<br />
erlittenen Traumatisierungen nicht einseitig<br />
als Opfer gesehen werden. «Sie sind<br />
primär Jugendliche in der Pubertät, die<br />
gerne Spass haben. Es wäre schade, wenn<br />
unsere Gesellschaft ihre Tatkraft nicht<br />
nutzen würde.» Jonathan, Abiel und Waris<br />
ihrerseits haben nur einen Wunsch an die<br />
Schweiz: «Ein gutes Leben haben!» •<br />
Paula Lanfranconi<br />
* Namen geändert<br />
reportage 3/16 ZeSo<br />
31
Gesundheitsinformationen für<br />
Migranten zugänglich machen<br />
Das Informationsportal migesplus.ch des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) unterstützt<br />
Fachpersonen dabei, Migrantinnen und Migranten den Zugang zu Gesundheitsinformationen zu<br />
erleichtern.<br />
PLATTFORM<br />
Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />
diese Rubrik als Plattform an, auf der sie sich<br />
und ihre Tätigkeit vorstellen können: in dieser<br />
Ausgabe dem Informationsportal migesplus.ch<br />
des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK).<br />
derung der Gesundheitskompetenz leisten.<br />
Gesundheitskompetenz meint die Fähigkeit<br />
des Einzelnen, im täglichen Leben<br />
Entscheidungen zu treffen, die sich positiv<br />
auf die Gesundheit auswirken.<br />
Zielgruppen besser erreichen<br />
Gesundheit und soziale Lebensbedingungen<br />
sind eng miteinander verknüpft:<br />
Soziale Benachteiligung und unzureichende<br />
Integration können die Gesundheit<br />
beeinträchtigen. Umgekehrt können<br />
ernsthafte Erkrankungen zu sozialen Notlagen<br />
führen. Hier bietet die Plattform<br />
migesplus.ch des Schweizerischen Roten<br />
Kreuzes (SRK) Unterstützung. Die Plattform<br />
informiert über das Thema Migration<br />
und Gesundheit und stellt praxisnahe<br />
Dienstleistungen in verschiedenen Bereichen<br />
zur Verfügung:<br />
migesInfo bietet rund 300 Publikationen<br />
verschiedener Herausgeber in bis<br />
zu 18 Sprachen an. Dabei handelt es sich<br />
beispielsweise um übersetzte Broschüren,<br />
Flyer und Ratgeber. Gesundheitsinformationen<br />
in der Sprache der Klientin und<br />
des Klienten anzubieten, ist vor allem im<br />
Beratungskontext ein sinnvolles Mittel zur<br />
Stärkung der Gesundheitskompetenz. Die<br />
meisten dieser Infomaterialien können<br />
kostenlos heruntergeladen oder als Druckversion<br />
bestellt werden.<br />
migesExpert liefert Informationen und<br />
Tipps für Fachpersonen, die Menschen<br />
mit Migrationshintergrund beraten, begleiten<br />
und behandeln. Beispielsweise<br />
werden Aspekte einer gelingenden Kommunikation<br />
beleuchtet oder Empfehlungen<br />
zur Zusammenarbeit mit Dolmetschenden<br />
abgegeben. Es wird thematisiert,<br />
wie Fachpersonen migrationsspezifische<br />
Faktoren in Beratungsgesprächen bestmöglich<br />
berücksichtigen und so zu<br />
einer vertrauensvollen Gesprächsgrundlage<br />
beitragen können. Informationen<br />
Menschen mit Migrationshintergrund gehören<br />
zum alltäglichen Klientel in der sozialen<br />
Arbeit. Aufgrund sprachlicher und<br />
struktureller Barrieren können die Kommunikation<br />
und ein gelingendes Beratungsgespräch<br />
erschwert sein. Gemäss<br />
Schätzungen des Bundesamts für Gesundheit<br />
sprechen in der Schweiz rund<br />
700 000 Personen als Hauptsprache keine<br />
der Schweizer Landessprachen, mindestens<br />
200 000 sprechen oder verstehen<br />
weder eine Landessprache noch Englisch.<br />
Oft können diese Personen auch bei ärztlichen<br />
Konsultationen ihre Anliegen dem<br />
Arzt oder der Ärztin nicht verständlich machen<br />
und sie verstehen die Informationen<br />
des Arztes manchmal nur ungenügend.<br />
Die Folgen solcher Zugangs- und Verständigungsbarrieren<br />
können gravierend sein<br />
und reichen von Fehldiagnosen über mangelnde<br />
Therapietreue bis hin zu Behandlungsfehlern,<br />
die das Gesundheitssystem<br />
zusätzlich belasten.<br />
Auch im Bereich der gesundheitlichen<br />
Vorsorge und Prävention erreichen die bestehenden<br />
Angebote die Migrationsbevölkerung<br />
unzureichend. Die verschiedenen<br />
Gesundheitsorganisationen sind aufgefordert,<br />
ihre Präventionsangebote so auszugestalten,<br />
dass die gesamte Bevölkerung, einschliesslich<br />
Migrantinnen und Migranten<br />
sowie sozial Benachteiligte, davon profitieren<br />
kann. Erst wenn Gesundheitsinformationen<br />
verstanden und im Alltag integriert<br />
werden, können sie einen Beitrag zur Förmigesplus.ch<br />
Die Plattform migesplus.ch des Schweizerischen<br />
Roten Kreuzes informiert über<br />
das Thema Migration und Gesundheit. Die<br />
Dienstleistungen richten sich an Migrantinnen<br />
und Migranten sowie an Fachpersonen, die<br />
Migranten beraten, betreuen oder behandeln.<br />
Das Projekt wird im Rahmen des nationalen<br />
Programms Migration und Gesundheit vom<br />
Bundesamt für Gesundheit unterstützt.<br />
www.migesplus.ch<br />
www.migesinfo.ch<br />
www.migesexpert.ch<br />
www.migesmedia.ch<br />
zu Aufenthaltsstatus und Sozialversicherungen<br />
runden dieses Angebot ab.<br />
migesMedia gibt eine Übersicht über<br />
die Medien der Migrationsbevölkerung in<br />
der Schweiz und kann Gesundheitsorganisationen<br />
dabei unterstützen, diese Medien<br />
im Rahmen ihrer Kommunikationsarbeit<br />
zu berücksichtigen. Das Ziel dieses Ansatzes<br />
ist, neue Zugangswege zu finden,<br />
um die Zielgruppen besser zu erreichen.<br />
So können Medienkooperationen, Kampagnen,<br />
Publireportagen und Werbeaufträge<br />
entstehen. Beispielsweise kann eine nationale<br />
Rauchstopp-Kampagne via «African<br />
Mirror TV» in der afrikanischen Diaspora<br />
verbreitet werden. <br />
•<br />
Katharina Liewald<br />
Projektleiterin migesplus.ch<br />
32 ZeSo 3/16 plattform
Überhöhte Mietzinse:<br />
So können sich Mieter wehren<br />
Die Mietzinshöhe ist nur bedingt Verhandlungssache. Gegen Mietzinse, die während des laufenden<br />
Mietverhältnisses zu hoch werden, oder gegen einen Anfangsmietzins, bei dessen Festlegung<br />
zwingende gesetzliche Vorgaben nicht eingehalten wurden, können sich Mieter allerdings wehren.<br />
Verfügt ein Sozialdienst intern nicht über<br />
das notwendige Know-how zum Abklären<br />
juristischer Fragen, kann er sich vom Beobachter-Beratungszentrum<br />
unterstützen lassen.<br />
Im folgenden Beitrag werden drei<br />
mietrechtliche Fragen beantwortet, die<br />
dem Beratungszentrum von SKOS-Mitgliedern<br />
gestellt wurden.<br />
Immer wieder kommen Klienten mit<br />
Mietverträgen vorbei, deren Mietzinse<br />
auf einem alten, zu hohen hypothekarischen<br />
Referenzzinssatz basieren.<br />
Der Vermieter weigert sich aber, den<br />
Mietzins zu senken. Was sollen die<br />
Klienten tun?<br />
Sobald der Referenzzinssatz fällt, können<br />
Mieter eine Reduktion des Nettomietzinses<br />
verlangen. Der Vermieter darf die<br />
Teuerung dagegen verrechnen. Zudem<br />
akzeptieren viele Schlichtungsbehörden<br />
eine allgemeine Kostensteigerungspauschale,<br />
oft 0,5 Prozent pro Jahr. Vermieter<br />
müssen den Mietzins nicht von sich aus<br />
reduzieren. Vielmehr müssen Mieterinnen<br />
die gewünschte Anpassung auf den nächstmöglichen<br />
Kündigungstermin und unter<br />
Einhaltung der Kündigungsfrist schriftlich<br />
verlangen. Entspricht der Vermieter<br />
dem Begehren nicht oder antwortet er<br />
nicht innert 30 Tagen, kann die Mieterin<br />
innert weiteren 30 Tagen an die Schlichtungsbehörde<br />
gelangen.<br />
Es ist anzunehmen, dass der Referenzzinssatz<br />
in den nächsten Jahren eher<br />
wieder steigt. Kann es sich lohnen,<br />
sich gegen zu erwartende Mietzinserhöhungen<br />
zu wehren?<br />
Kaum, sofern die Erhöhung rechtzeitig<br />
auf dem kantonal genehmigten Formular<br />
angezeigt und begründet wird und die<br />
Berechnung stimmt. Hat die Vermieterin<br />
hingegen die Formularpflicht missachtet,<br />
so ist die Mitteilung nichtig und hat<br />
keinerlei Wirkung. Um auf den nächstmöglichen<br />
Kündigungstermin in Kraft<br />
zu treten, muss das Formular zehn Tage<br />
vor Beginn der Kündigungsfrist bei der<br />
Mieterschaft eingetroffen sein. Trifft das<br />
Formular zu spät ein, wird die Erhöhung<br />
erst auf den übernächsten Kündigungstermin<br />
wirksam. Manchmal steckt der Teufel<br />
jedoch im Detail: Beruht die Berechnung<br />
des Vermieters auf veralteten Kostenständen<br />
(Referenzzinssatz, Teuerungsausgleich,<br />
Kostensteigerung), greift also<br />
weiter zurück als das Datum des Vertragsabschlusses,<br />
und wurde diese Differenz<br />
nicht als Mietzinsreserve oder -vorbehalt<br />
im Vertrag erwähnt, so ist die Erhöhung im<br />
entsprechenden Umfang missbräuchlich<br />
und kann mit Erfolg angefochten werden.<br />
Manchmal werden auch zu hohe Kostensteigerungspauschalen<br />
verrechnet (beispielsweise<br />
1 Prozent statt 0,25 Prozent<br />
pro Jahr – je nach Praxis der lokalen Behörden).<br />
Erhebliche Mietzinserhöhungen<br />
sollten daher immer von einer Fachperson<br />
überprüft werden.<br />
Eine Klientin hat einen Mietvertrag für<br />
eine Wohnung unterschrieben, deren<br />
Mietzins deutlich zu hoch scheint.<br />
Kann sie dagegen noch etwas unternehmen?<br />
Die Klientin kann den Anfangsmietzins<br />
innert 30 Tagen seit Mietbeginn bei<br />
der Schlichtungsbehörde anfechten. Dort<br />
muss sie eine der folgenden Voraussetzungen<br />
glaubhaft machen:<br />
- Sie war wegen einer persönlichen oder<br />
familiären Notlage gezwungen, den<br />
Mietvertrag zu unterzeichnen.<br />
- Sie war wegen der örtlichen Wohnungsnot<br />
zum Abschluss des Mietvertrages<br />
gezwungen. Wohnungsnot liegt vor,<br />
wenn weniger als 1,5 Prozent der Wohnungen<br />
leer stehen. Hat der Kanton<br />
eine Formularpflicht eingeführt (Formular<br />
zur Mitteilung des Anfangsmietzinses,<br />
auf dem auch der Mietzins des<br />
früheren Mieters aufzuführen ist),<br />
reicht dies bereits zur Annahme, dass<br />
Wohnungsnot herrscht.<br />
- Sie zahlt deutlich mehr als ihr Vormieter<br />
(10 Prozent oder mehr).<br />
Liegt einer dieser drei Gründe vor, prüft die<br />
Schlichtungsbehörde den Mietzins auf<br />
Missbräuchlichkeit. Je nach Umständen<br />
muss der Vermieter Bruttorendite, Nettorendite<br />
oder Orts- und Quartierüblichkeit<br />
nachweisen. Letzteres ist sehr schwierig: An<br />
die in der Regel geforderten fünf unabhängigen<br />
Vergleichsobjekte werden sehr hohe<br />
Anforderungen gestellt. Das Resultat einer<br />
Renditerechnung kann der Mieter hingegen<br />
kaum je im Voraus abschätzen. •<br />
Patrick Strub<br />
Beobachter-Beratungszentrum<br />
BEObachter-<br />
Beratungszentrum<br />
Das Beobachter-Beratungszentrum<br />
unterstützt Fachleute sozialer Institutionen<br />
im Rahmen von abstufbaren Beratungsabonnementen<br />
bei der Beantwortung von Rechtsfragen<br />
ihrer Klientinnen und Klienten. SKOS-<br />
Mitglieder, die den Beratungsdienst nutzen,<br />
profitieren von vergünstigten Konditionen.<br />
Weitere Informationen:<br />
www.beobachter.ch/skos<br />
Mietrecht 3/16 ZeSo<br />
33
FORUM<br />
lagen ignoriert. Zudem gibt die Schweiz<br />
gemäss Bundesamt für Sozialversicherungen<br />
(BSV) seit über zehn Jahren − trotz<br />
steigenden gesellschaftlichen Reichtums<br />
− tendenziell weniger Anteile des Bruttoinlandproduktes<br />
für die soziale Sicherheit<br />
aus.<br />
Sozialhilfe ausweiten<br />
«Den Letzten beissen die Hunde», sagt<br />
der Volksmund. Der Ausspruch benennt,<br />
worunter die Sozialhilfe selbst leidet. Sie<br />
muss die Folgen des sozialen Wandels<br />
auffangen und auch das, was vorgelagerte<br />
Systeme der sozialen Sicherheit abtreten.<br />
Die Studentin Vera Nina Looser beschrieb<br />
mir, wie sie während der Basler<br />
Herbstmesse 2015 vor der Universitäts-<br />
Bibliothek einen älteren Mann am Boden<br />
liegen sah. Er hatte sich am Kopf verletzt.<br />
Die Studentin alarmierte den Notfall und<br />
dann das Altersheim, in dem der Verunfallte<br />
lebt. Die Person, die dort den Anruf<br />
entgegen nahm, sagte gleich: «Oh, das<br />
kostet wieder.» Sie dachte zuerst ans Geld.<br />
Nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte<br />
in der Schweiz ein politisch liberaler<br />
Kompromiss. Ein ausgewogenes Verhältnis<br />
zwischen Kapital und Arbeit sollte den<br />
sozialen Ausgleich und den Arbeitsfrieden<br />
fördern. Breite Bevölkerungskreise konnten<br />
damals ihre materielle Lebenssituation<br />
verbessern. Seit den 1980er-Jahren<br />
verbreitet sich indes ein finanzgetriebenes<br />
Wirtschaftsdenken. Es nimmt an, der<br />
Markt bestimme den Wert der Arbeit. Die<br />
neue Gläubigkeit ökonomisiert soziale Fragen<br />
und strapaziert den gesellschaftlichen<br />
Zusammenhalt. Auch, weil sich Erwerbslosigkeit<br />
verbreitet.<br />
Ueli Mäder,<br />
emeritierter Professor<br />
für Soziologie. Er leitete<br />
mehrere Armutsstudien<br />
und arbeitete von 1989-<br />
<strong>2016</strong> an der Universität<br />
Basel und der Hochschule<br />
für Soziale Arbeit.<br />
Bild: zvg<br />
Wenn Maschinen manuelle Arbeit ersetzen,<br />
könnte uns das zwar mehr Freiheit<br />
bescheren; zumal die Produktivität steigt.<br />
Es hapert aber mit der Verteilung. Auch<br />
durchschnittlich steigende Nominallöhne<br />
halten mit den Lebenshaltungskosten<br />
kaum Schritt. Das führt zu Working Poor,<br />
die viel arbeiten und wenig verdienen.<br />
Laut dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund<br />
(SGB) sind heute die untersten zehn<br />
Prozent der verfügbaren Einkommen vierzig<br />
Franken tiefer als vor fünfzehn Jahren.<br />
Etliche Betroffene kommen auch deshalb<br />
in Bedrängnis, weil sich das System der<br />
sozialen Sicherheit einseitig an der Erwerbsarbeit<br />
orientiert und neue Lebens-<br />
Die neue Gläubigkeit<br />
ökonomisiert<br />
soziale Fragen und<br />
strapaziert den<br />
gesellschaftlichen<br />
Zusammenhalt.<br />
Bei der Basler Armutsstudie 1991 nahmen<br />
wir an, erwerbstätige Arme bräuchten<br />
wie Alleinerziehende vorwiegend Geld. Bei<br />
unserer Studie über Working Poor 2004<br />
zeigte sich der hohe Wert einer gründlichen<br />
Beratung. Sie unterstützt Wege aus<br />
der Abhängigkeit, sofern der Arbeitsmarkt<br />
mitspielt. 2009 untersuchten wir auch,<br />
was passiert, wenn sich die Sozialhilfe<br />
mit finanziellen Anreizen auf jene<br />
konzentriert, die noch Chancen im ersten<br />
Arbeitsmarkt haben. Etliche Unterstützte<br />
entwickeln so einen unternehmerischen<br />
Geist, der forciert aber öfters in risikoreiche<br />
und prekäre Verhältnisse führt.<br />
Je nach Situation ist es unabdingbar, dass<br />
die Sozialhilfe primär den materiellen<br />
Rückhalt garantiert und die soziale Integration<br />
favorisiert. So entlastet, eröffnete<br />
sich etwa einem arbeitslosen Journalisten<br />
nach einer gewährten Auszeit eine neue<br />
Perspektive als Gärtner. Trügerische<br />
Debatten drängen jedoch auf kurzatmige<br />
Erfolge und bürokratische Kontrollen.<br />
Manche wollen Sozialdetektive, die vor<br />
einem Vierteljahrhundert abgeschafft<br />
wurden, wieder einführen. Diese aufwändigen<br />
Kontrollen mögen die aufgewiegelte<br />
Volksseele ein wenig beruhigen. Wirksamer<br />
sind längerfristige Unterstützungen.<br />
Wie umfassende Weiterbildungen. Sie<br />
verbessern berufliche Aussichten und vor<br />
allem auch das psychische Wohl sozial<br />
Benachteiligter.<br />
Unterstützung benötigt aber auch die<br />
Sozialhilfe. Sinnvoll wäre ein Ausbau<br />
der (AHV/IV-)Ergänzungsleistungen.<br />
Zumindest für alle Haushalte mit Kindern.<br />
So könnte sich die Sozialhilfe gezielter<br />
um die gesellschaftliche Integration sozial<br />
Benachteiligter kümmern. <br />
•<br />
In dieser Rubrik schafft die <strong>ZESO</strong> Raum für Debatten<br />
und Meinungen. Der Inhalt gibt die Meinung des<br />
Autors resp. der Autorin wieder.<br />
34 ZeSo 3/16 FORUM
lesetipps<br />
Berufsabschluss für<br />
Erwachsene<br />
In der Schweiz sind mehr als eine halbe Million<br />
Erwachsene gering qualifiziert oder haben keinen<br />
zeitgemässen Abschluss. Es existieren nur<br />
wenige Angebote, um einen Abschluss nachzuholen<br />
oder bereits erworbene Kompetenzen<br />
anerkennen zu lassen. Die Autoren präsentieren<br />
Vorschläge, wie die berufliche Grundbildung<br />
vermehrt auf Erwachsene ausgerichtet werden kann. Der Fokus liegt<br />
dabei auf den Abschlüssen der formalen beruflichen Grundbildung (EFZ/<br />
EBA) in der Schweiz, es werden aber auch nicht formale Abschlüsse in<br />
die Analyse einbezogen.<br />
Markus Maurer, Emil Wettstein, Helena Neuhaus, Berufsabschluss für Erwachsene<br />
in der Schweiz – Bestandesaufnahme und Blick nach vorn, hep, <strong>2016</strong>, 192<br />
Seiten, CHF 42.−, ISBN 978-3-0355-0353-1<br />
Arbeits(un)fähig?<br />
Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen<br />
und Behinderungen sollen zunehmend<br />
Martina Koch<br />
› Arbeits(un)fähigkeit herstellen<br />
Arbeitsintegration von gesundheitlich eingeschränkten<br />
Erwerbslosen aus ethnografischer Perspektive<br />
Schriften zur Sozialen Frage<br />
aktiviert und beruflich integriert werden. Diese<br />
politische Forderung stellt Institutionen und<br />
Fachkräfte vor grosse Herausforderungen.<br />
In der Folge werden die Instrumente und<br />
Methoden zur Feststellung von Arbeitsfähigkeit<br />
verfeinert. Die ethnografische Studie geht der<br />
Frage nach, wie Organisationen die Arbeits(un)fähigkeit ihrer Klienten<br />
konstruieren. Im Fokus stehen die organisationalen Problematisierungsund<br />
Bearbeitungsstrategien und dahinterstehende Logiken.<br />
Martina Koch, Arbeits(un)fähigkeit herstellen, Arbeitsintegration von gesundheitlich<br />
eingeschränkten Erwerbslosen aus ethnografischer Perspektive, Seismo, <strong>2016</strong>, 268<br />
Seiten, CHF 38.−, ISBN 978-3-03777-155-6<br />
Ratgeber zu den<br />
Ergänzungsleistungen<br />
Seit 50 Jahren haben AHV- und IV-Rentner Anrecht<br />
auf Ergänzungsleistungen (EL), wenn das<br />
Geld nicht reicht. Es handelt sich dabei um einen<br />
Rechtsanspruch, über den viele Betroffene<br />
und ihre Angehörigen nicht Bescheid wissen.<br />
Dieses Buch, das aus der Beratungspraxis des<br />
Beobachters entstanden ist, hilft, vorhandene<br />
Wissenslücken zu stopfen. Es erklärt, wie das System der EL funktioniert<br />
und wer Anspruch auf Ergänzungsleistungen hat. Der Ratgeber<br />
beantwortet zudem oft gestellte Fragen: Was zahlt die EL? Was rechnet<br />
sie an und was bedeutet der freiwillige Vermögensverzicht?<br />
Anita Hubert, Ergänzungsleistungen, Wenn die AHV oder IV nicht reicht, Beobachter-Edition,<br />
<strong>2016</strong>, 128 Seiten, CHF 28.−, ISBN 978-3-85569-904-9<br />
Sara Galle<br />
Kindswegnahmen<br />
Das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der<br />
Stiftung Pro Juventute im Kontext<br />
der schweizerischen Jugendfürsorge<br />
Kindswegnahmen<br />
Fast 600 Kinder wurden zwischen 1926 und<br />
1973 von der Stiftung Pro Juventute ihren Eltern<br />
weggenommen und in Erziehungsheimen,<br />
Arbeitsanstalten und Gefängnissen untergebracht.<br />
Kritik an der Aktion übte bis Anfang der<br />
1970er-Jahre kaum jemand. Das diskriminierende<br />
Vorgehen der Pro Juventute wurde von<br />
den Behörden und Fachleuten unterstützt. Die<br />
Studie legt dar, welche Familien betroffen waren und wie die Kindswegnahmen<br />
begründet wurden. Zudem wird das Wirken der Pro Juventute in<br />
der damaligen Praxis der Sozialhilfe und Jugendfürsorge verortet.<br />
Sara Galle, Kindswegnahmen, Das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der<br />
Stiftung Pro Juventute im Kontext der schweizerischen Jugendfürsorge, Chronos,<br />
<strong>2016</strong>, 712 Seiten, CHF 68.−, ISBN 978-3-0340-1327-7<br />
15 Jahre Reform der<br />
Invalidenversicherung<br />
Die Invalidenversicherung (IV) hat im Laufe der<br />
letzten Jahre tiefgreifende Änderungen erfahren.<br />
Mit drei Reformen innerhalb von 10 Jahren<br />
wurden der Auftrag und die Instrumente der IV<br />
grundlegend neu definiert. Diese Entwicklung<br />
setzt sich mit einem aktuell zur Diskussion<br />
stehenden Revisionsentwurf fort. Die Schweizerische<br />
Vereinigung für Sozialpolitik (SVSP)<br />
zieht an ihrer Jahrestagung Bilanz: Wo steht die<br />
IV heute und wie sehen die Perspektiven in den<br />
kommenden Jahren aus?<br />
SVSP-Jahrestagung<br />
Mittwoch, 2. November <strong>2016</strong>, Berner Fachhochschule<br />
www.svsp.ch<br />
Nationalen Konferenz<br />
gegen Armut<br />
Das Nationale Programm gegen Armut (2014-<br />
2018) will die Wirkung der bestehenden Präventions-<br />
und Bekämpfungsmassnahmen verstärken<br />
und dazu beitragen, dass die Massnahmen<br />
besser koordiniert werden. An der nationalen<br />
Konferenz gegen Armut wird eine Zwischenbilanz<br />
gezogen. Im Vordergrund stehen unter anderem<br />
die Themen Nachholbildung, Integration, Wohnen,<br />
Familienarmut, Informationszugang für Armutsbetroffene<br />
und Armutsberichterstattung.<br />
Nationale Konferenz gegen Armut<br />
Dienstag, 22. November <strong>2016</strong>; Kongresshaus Biel<br />
www.gegenarmut.ch<br />
veranstaltungen<br />
Soziale<br />
Begleitung<br />
Hat soziale Begleitung für Institutionen, Fachpersonen<br />
und für den begleiteten Menschen<br />
die gleiche Bedeutung? Welche Legitimität hat<br />
Begleitung, wenn Selbstständigkeit das Ziel ist?<br />
Und ist Selbstständigkeit ein erstrebenswertes<br />
Ideal oder eine sozioökonomische Regel? Diesen<br />
Fragen geht die «Association romande et tessinoise<br />
des institutions d‘action sociale» (Artias)<br />
an ihrer Herbsttagung nach und stellt innovative<br />
Lösungsansätze aus der Westschweiz vor.<br />
Artias-Tagung<br />
Donnerstag, 24. November <strong>2016</strong><br />
Musée Olympique Lausanne<br />
www.artias.ch<br />
service 3/16 ZeSo<br />
35
Für Projektleiterin Sandra Kern ist die Gassenküche Frauenfeld auch ein Ort zum Auftanken. Bild: Vera Markus<br />
Die Gastgeberin<br />
Eine warme Mahlzeit für drei Franken und viel Wertschätzung – das bietet Sandra Kern in der<br />
Gassenküche Frauenfeld all jenen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Sie weiss aus eigener<br />
Erfahrung, was es heisst, im Leben nicht auf der Überholspur unterwegs zu sein.<br />
«Bei 260 km kam ich an meine Grenze.»<br />
Sandra Kerns Augen leuchten, wenn sie<br />
von Pferdestärken und ihrem Mercedes-<br />
Benz erzählt. Es sei ein SLK Kompressor<br />
Jahrgang 2002 mit besonders viel PS.<br />
Feingliedrig, eine sanfte Stimme und überlegte<br />
Wortwahl – eine Raserin stellt man<br />
sich anders vor. Das ist Sandra Kern auch<br />
nicht. Vollgas gibt sie nur auf den Rennstrecken<br />
von Dijon-Prenois und Hockenheim.<br />
«Ich suchte dort meine persönliche<br />
Grenze und war viel schneller, als ich gedacht<br />
hatte».<br />
Die Erfahrung, mehr zu können, als sie<br />
sich zutraut, war ein Schlüsselerlebnis im<br />
Leben der heute 48-Jährigen. Sie fühlte<br />
sich ermutigt, eine zusätzliche Ausbildung<br />
in Sozialmanagement zu machen. Das<br />
Resultat: Als Abschlussarbeit des Studiums<br />
gründete sie die erste Gassenküche<br />
im Kanton Thurgau. Schon als sie bei<br />
der Vormundschaft arbeitete, hatte sie erkannt,<br />
dass es Bedarf für kostengünstige<br />
Mahlzeiten gibt. Das Projekt gibt ihr recht.<br />
Seit knapp sechs Jahren wird mitten in der<br />
Altstadt von Frauenfeld jeden Mittwochmittag<br />
ein Viergangmenü serviert.<br />
Alle sind willkommen<br />
Die Nachfrage ist gross. Jede Woche kommen<br />
rund 80 Besucher. Der jüngste ist 24,<br />
der älteste 84 Jahre alt. Es sind jeweils<br />
alle Stühle besetzt im Lokal des JUTG, des<br />
Vereins zur Förderung der Jugendarbeit<br />
im Thurgau. Dort ist die Gassenküche zur<br />
Untermiete. Die Besucher – Kern spricht<br />
von ihren Gästen – sind Sozialhilfeempfänger<br />
und Menschen, die am Existenzminimum<br />
leben. Für einige unter ihnen ist<br />
das Essen in der Gassenküche die einzige<br />
warme Mahlzeit der <strong>ganz</strong>en Woche. Allen<br />
Gästen gemeinsam ist die Erfahrung,<br />
am Rande der Gesellschaft zu stehen und<br />
ausgegrenzt zu werden. In der Gassenküche<br />
sind sie ausnahmslos willkommen.<br />
Die meisten gehen jede Woche hin.<br />
Von Gästen und Klienten<br />
Sandy, so nennen die Gäste Sandra Kern,<br />
kennt viele schwere Schicksale. Sie müsse<br />
sich von den Problemen abgrenzen, sonst<br />
würden aus Sandys Gästen Sandra Kerns<br />
Klienten. Die Bezeichnung Klienten ist<br />
den Kindern und Jugendlichen vorbehalten,<br />
für die sich Kern hauptberuflich als<br />
Beiständin einsetzt. Eine Ausnahme macht<br />
sie bei denjenigen Gästen, die ins Gefängnis<br />
müssen. Diese geht sie in der Strafanstalt<br />
besuchen. Ansonsten zieht sie eine<br />
klare Grenze. Nur so könne die Gassenküche<br />
für sie selber ein Ort bleiben, an dem<br />
sie auftanken und «die lustige und unbeschwerte<br />
Atmosphäre» geniessen kann.<br />
Kern fiel der Umgang mit Menschen am<br />
Rand der Gesellschaft schon immer leicht.<br />
«Ich bin mit Abgrenzen aufgewachsen.»<br />
Die Erfahrungen mit ihrem alkoholkranken<br />
Vater und der ständigen Geldnot hätten<br />
sie geprägt, aber nicht traumatisiert.<br />
Woche für Woche steht sie mit einem Team<br />
von Freiwilligen in der Gassenküche<br />
und sorgt dafür, dass sich Alkoholiker,<br />
Drogensüchtige, Obdachlose und Sozialhilfempfänger<br />
für ein paar Stunden<br />
wohl fühlen. Das tut sie, indem sie Tischläufer<br />
und Blumen auf die Tische stellt.<br />
Manchmal auch Kerzen. Jeder Gast wird<br />
namentlich begrüsst und am Tisch bedient.<br />
Das hätten sie verdient, sagt sie.<br />
In allen Gassenküchen koste eine Mahlzeit<br />
fünf Franken, so Kern. Sie macht es<br />
anders: «Mit drei Franken bleibt noch etwas<br />
übrig. Geld, das die Besucher sonst<br />
anderweitig auftreiben müssten.» Doch<br />
die drei Franken sind bei weitem nicht<br />
kostendeckend. Zusammen mit den Geldund<br />
Sachspenden von rund 70 Privatpersonen<br />
und Institutionen reichen sie<br />
aus, um die Gassenküche finanziell zu<br />
tragen. Sollte das Geld nicht reichen, haftet<br />
Kern privat für das Projekt. Es ist ihr<br />
Herzblut, und dafür geht sie aufs Ganze.<br />
Wie auf den Rennstrecken von Dijon-<br />
Prenois und Hockenheim.<br />
•<br />
Maya Bosshart<br />
36 ZeSo 3/16 porträt
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