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ZESO_3-2016_ganz

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SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

ZeSo<br />

Zeitschrift für Sozialhilfe<br />

03/16<br />

arbeitsintegration Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene Im<br />

Fokus STRAFvollzug und Sozialhilfe Empfehlungen für den UMGANG mit<br />

schnittstellen im interview philosophin und TV-moderatorin BArbara BLEISCh


SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

SKOS-WEITERBILDUNG<br />

Einführung in die öffentliche Sozialhilfe<br />

Montag, 31. Oktober <strong>2016</strong>, 13 bis 18 Uhr<br />

Hotel Arte in Olten<br />

In der Praxis stellen sich Fachleuten und Behördenmitgliedern komplexe Fragen. Rechtliches Wissen<br />

ist ebenso gefragt wie methodisches Handeln und Kenntnisse des Systems der sozialen Sicherheit.<br />

Die Weiterbildung der SKOS nimmt diese Themen auf und vermittelt Grundlagen zur Ausgestaltung der<br />

Sozialhilfe und zur Umsetzung der SKOS-Richtlinien, zu Verfahrensgrundsätzen und zum Prinzip der<br />

Subsidiarität. Insbesondere werden auch die Änderungen der aktuellen Richtlinienrevision erläutert.<br />

Die Veranstaltung richtet sich an Mitglieder von Sozialbehörden, Fachleute und Sachbearbeitende von<br />

Sozialdiensten, die neu in der Sozialhilfe tätig sind oder ihr Fachwissen auffrischen wollen.<br />

Programm und Anmeldung: www.skos.ch Veranstaltungen<br />

SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

<strong>ZESO</strong>-SPEZIALPREISE<br />

Sie möchten die <strong>ZESO</strong> lesen – aber wo ist sie bloss?<br />

Dieses Problem stellt sich grösseren Sozialdiensten und Institutionen <strong>ganz</strong> besonders – weil eine <strong>ZESO</strong><br />

für eine <strong>ganz</strong>e Abteilung kaum ausreicht. Die SKOS bietet ihren Mitgliedern deshalb verschiedene Kategorien<br />

von Abonnementen an. Profitieren Sie jetzt davon! So haben Ihre Mitarbeitenden jederzeit Zugang zu<br />

einer aktuellen Ausgabe der <strong>ZESO</strong> – und bleiben damit am Ball.<br />

Jahresabonnement SKOS-Mitglieder:<br />

Jahresabonnement Nichtmitglieder:<br />

69 Franken<br />

82 Franken<br />

2 bis 5 Exemplare: 15 Prozent Rabatt<br />

6 bis 10 Exemplare: 20 Prozent Rabatt<br />

ab 11 Exemplaren: 25 Prozent Rabatt<br />

Weitere Infos und Bestellung: www.skos.ch/admin@skos.ch


Regine Gerber<br />

Redaktorin<br />

Veränderungen angehen<br />

There is no alternative! Das berühmte TINA-Prinzip steht für<br />

die Haltung, dass es weder Alternativen zum Status quo<br />

noch Handlungsspielraum gibt. Und es ist eine Phrase, die<br />

jede individuelle, gesellschaftliche und politische Veränderung<br />

im Keim erstickt. Warum aber die Überzeugung wichtig<br />

ist, dass sich auch scheinbar in Stein gemeisselte Dinge<br />

verändern und vielleicht verbessern lassen, darüber spricht<br />

Philosophin und TV-Moderatorin Barbara Bleisch im Interview<br />

(S. 12-15).<br />

Dass sich die Arbeitsintegration von Flüchtlingen und vorläufig<br />

Aufgenommenen dringend verbessern muss, darüber<br />

sind sich die Autorinnen und Autoren unserer Schwerpunktbeiträge<br />

(S. 16-27) einig. Sie legen dar, welche Lösungsansätze<br />

und Massnahmen bestehen, um die Arbeitsmarktchancen<br />

dieser Personen zu erhöhen. Die Beiträge zeigen<br />

aber auch, dass nach wie vor grosser Handlungsbedarf besteht<br />

und Hindernisse abgebaut werden müssen. Nebst<br />

dem gemeinsamen Willen, Veränderungen in Angriff zu nehmen,<br />

ist vor allem das koordinierte Handeln aller beteiligten<br />

Akteure notwendig.<br />

Veränderungen gibt es auch auf der SKOS-Geschäftsstelle.<br />

Ende Oktober verlässt Geschäftsführerin Dorothee Guggisberg<br />

die SKOS. Zum Abschied schaut sie auf Herausforderungen<br />

und Highlights ihrer siebenjährigen Amtszeit zurück<br />

(S. 4). Weiter nimmt auch sie Stellung zur aktuellen Situation<br />

der Arbeitsintegration von Flüchtlingen und vorläufig<br />

Aufgenommenen (S. 24-25). Per 1. September hat zudem<br />

Ingrid Hess die Leitung der Kommunikation übernommen.<br />

Sie wird Sie, liebe Leserinnen und Leser, in der nächsten<br />

Ausgabe an dieser Stelle begrüssen. Ich wünsche Ihnen<br />

eine spannende Lektüre.<br />

editorial 3/16 ZeSo<br />

1


SCHWERPUNKT16–27<br />

Arbeitsintegration<br />

Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene müssen<br />

möglichst rasch in den Schweizer Arbeitsmarkt<br />

integriert werden. Ansonsten drohen nicht nur<br />

Probleme auf gesellschaftlicher Ebene, sondern<br />

auch grosse Folgekosten. Doch wie gelingt diese<br />

Arbeitsintegration? Der Schwerpunkt zeigt Massnahmen<br />

und Hindernisse für die Betroffenen auf<br />

und beleuchtet sozialpolitische Perspektiven.<br />

<strong>ZESO</strong><br />

zeitschrift für sozialhilfe<br />

Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />

www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS,<br />

Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch,<br />

Tel. 031 326 19 19 Redaktion Michael Fritschi, Regine Gerber<br />

Redaktionelle begleitung Dorothee Guggisberg Autorinnen<br />

und Autoren in dieser Ausgabe Isabel Bartal, Albert Baumann,<br />

Maya Bosshart, Franziska Brägger, Anja Conzett, Gianni D‘ Amato,<br />

Therese Frösch, Adrian Gerber, Peter Gomm, Barbara Hamm, Paula<br />

Lanfranconi, Katharina Liewald, Ueli Mäder, Fabio Malinconico,<br />

Myriam Schleiss, Cristina Spagnolo, Patrick Strub, Alexander Suter,<br />

Felix Wolffers, Guido Wizent, Nadine Zimmermann, Titelbild Rudolf<br />

Steiner layout Marco Bernet, mbdesign Zürich Korrektorat<br />

Karin Meier Druck und Aboverwaltung Rub Media, Postfach,<br />

3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 preise Jahresabonnement<br />

CHF 82.– (SKOS-Mitglieder CHF 69.–), Jahresabonnement<br />

ausland CHF 120.–, Einzelnummer CHF 25.–.<br />

© SKOS. Nachdruck nur mit genehmigung der Herausgeberin.<br />

Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />

ISSN 1422-0636 / 113. Jahrgang<br />

Bild: Keystone<br />

Erscheinungsdatum: 12. September <strong>2016</strong><br />

Die nächste Ausgabe erscheint im Dezember <strong>2016</strong>.<br />

2 ZeSo 3/16 inhalt


INHALT<br />

4 Dorothee Guggisberg verlässt die<br />

SKOS<br />

5 Was hat die Revision gebracht?<br />

Kommentar von Therese Frösch und<br />

Felix Wolffers<br />

6 13 Fragen an Anja Conzett<br />

8 Praxis: Anrechnung vom Kindesvermögen<br />

im Sozialhilfebudget<br />

9 Neues Rechtsberatungsangebot für<br />

SKOS-Mitglieder<br />

10 Ausschaffungsinitiative:<br />

Herausforderungen für die Sozialhilfe<br />

11 Keine Einstellung der Nothilfe wegen<br />

Arbeitsverweigerung<br />

12 «Das utopische Denken ist uns<br />

abhandengekommen»<br />

Interview mit Barbara Bleisch<br />

NEUE RECHTSBERATUNG<br />

DIE PHILOSOPHIN<br />

Die rechtlichen Fragen werden komplizierter<br />

und der Beratungsbedarf grösser. Die SKOS<br />

bietet ihren Mitgliedern daher ein neues<br />

elektronisches Rechtsberatungsangebot<br />

an. Die SKOS-Line plus kann für Abklärungen<br />

bei komplexen Sozialhilfefällen beigezogen<br />

werden.<br />

9<br />

Trägt der Einzelne Mitschuld am globalen<br />

Elend? Barbara Bleisch, Philosophin<br />

und Moderatorin der «Sternstunde<br />

Philosophie», reflektiert im Interview, wie<br />

Verantwortungszuschreibung funktioniert.<br />

Und sie erklärt, warum wir an einer<br />

Zeitwende stehen und der liberale Traum<br />

zunehmend unter Druck gerät.<br />

16 SCHWERPUNKT:<br />

ARbeitsintegration<br />

18 Gemeinsame Anstrengungen für den<br />

Zugang der Flüchtlinge zum Arbeitsmarkt<br />

19 Arbeitsmarktintegration: Eine lohnenswerte<br />

Investition<br />

20 Mit beruflicher Grundausbildung zur<br />

nachhaltigen Integration<br />

22 Integration ist ein<br />

zeitintensiver Prozess<br />

24 Bei der Arbeitsintegration besteht ein<br />

Steuerungsdefizit<br />

26 Dürfen Flüchtlinge zur<br />

beruflichen Qualifikation<br />

verpflichtet werden?<br />

27 Die Arbeitsintegration in den<br />

ersten Arbeitsmarkt ist möglich<br />

28 Kompass für Fragen, die Personen im<br />

Strafvollzug betreffen<br />

30 «Ein gutes Leben haben!» Reportage<br />

über minderjährige Asylsuchende<br />

32 Plattform: migesplus.ch des SRK<br />

33 Überhöhte Mietzinse: So können sich<br />

Mieter wehren<br />

34 Sozialhilfe ausweiten. Von Ueli Mäder<br />

35 Lesetipps und Veranstaltungen<br />

36 Porträt: Sandra Kern betreibt eine<br />

Gassenküche in Frauenfeld<br />

jugendliche asylsuchende<br />

Die gastgeberin<br />

12<br />

Eine Lehrstelle finden und ein gutes Leben<br />

haben: Das wünschen sich Jonathan,<br />

Abiel und Waris. Sie gehören zu einer<br />

Gruppe von unbegleiteten minderjährigen<br />

Asylsuchenden, die sich im Rahmen des<br />

Projektes «Speak out!» an die Öffentlichkeit<br />

wenden.<br />

30<br />

Den Schwung von den Rennstrecken<br />

Dijon-Prenois und Hockenheim hat Sandra<br />

Kern mit in ihren Alltag genommen− und<br />

die erste Gassenküche im Kanton Thurgau<br />

gegründet. Dort bewirtet die herzliche<br />

Gastgeberin Menschen, die am Rand der<br />

Gesellschaft stehen, jede Woche mit einem<br />

Viergangmenü.<br />

36<br />

inhalt 3/16 ZeSo<br />

3


4 FRAGEN ZUM ABSCHIED<br />

Dorothee Guggisberg verlässt die SKOS<br />

Dorothee Guggisberg, was war die<br />

grösste Herausforderung in Ihrer Zeit<br />

als Geschäftsführerin der SKOS?<br />

Armut zu bekämpfen in einer Zeit, in<br />

der die politischen Zeiger anders stehen.<br />

Am stärksten traf uns die aufgeheizte<br />

Diskussion zur Sozialhilfe in den letzten<br />

zwei Jahren. Wir mussten in Kürze eine<br />

Strategie mit tragfähigen Lösungsansätzen<br />

aufbauen. Verbandsarbeit bedeutet,<br />

alle Akteure im Auge zu haben,<br />

mehrheitsfähige Wege zu finden und<br />

Entwicklungen zu erkennen und zu steuern.<br />

Letztlich – und das war für mich das<br />

Kernstück – galt es, für eine faire und<br />

wirksame Sozialhilfe einzustehen, die<br />

den Betroffenen Perspektiven erlaubt.<br />

Hat sich das sozialpolitische Klima in<br />

den letzten Jahren verändert?<br />

Der politische Druck und die Bestrebungen<br />

zum Leistungsabbau haben zugenommen.<br />

Der Ausschluss von armutsbetroffenen<br />

Menschen hätte aber fatale<br />

Folgen und kann nicht im Interesse eines<br />

modernen und demokratischen Staates<br />

sein. Ein System, das Ausgleich und Integration<br />

schafft, trägt zum Wohlstand und<br />

zum sozialen Frieden in der Schweiz bei.<br />

Sie haben die Geschäftsstelle der SKOS<br />

seit 2010 geführt. Gab es für Sie ein<br />

persönliches Highlight?<br />

Es gab viele Highlights. Zu sehen,<br />

wie der Verband die Diskussion in einer<br />

hohen Qualität führt und welch grosses<br />

fachliches wie auch persönliches Engagement<br />

geleistet wird, fand ich immer<br />

sehr erfreulich. Auch in schwierigen<br />

Zeiten der politischen und öffentlichen<br />

Debatte hat der Verband immer funktioniert.<br />

Die Nähe zur Sozialpolitik und die<br />

Arbeit auf den drei föderalen Ebenen<br />

machten die SKOS für mich zu einem<br />

sehr spannenden Arbeitsfeld.<br />

Dorothee Guggisberg verlässt die SKOS,<br />

nicht aber die Sozialhilfe. Sie hat ihre Stelle<br />

als Geschäftsführerin unseres Verbands<br />

per Ende Oktober gekündigt und übernimmt<br />

danach die Leitung des Departements<br />

Soziale Arbeit an der Hochschule<br />

Luzern – als Nachfolgerin des langjährigen<br />

SKOS-Präsidenten Walter Schmid. Zu diesem<br />

Karriereschritt gratulieren wir Dorothee<br />

Guggisberg <strong>ganz</strong> herzlich. Wir bedauern<br />

es sehr, eine hervorragende Mitarbeiterin<br />

zu verlieren, die die SKOS in den letzten<br />

Jahren mit viel Engagement und<br />

Fachwissen massgeblich mitgeprägt und<br />

auch turbulente Phasen erfolgreich gemeistert<br />

hat.<br />

Dorothee Guggisberg setzte sich seit<br />

ihrem Stellenantritt im Januar 2010 mit<br />

unermüdlichem Einsatz für die Anliegen<br />

der Sozialhilfe ein. Dabei hat sie viel erreicht<br />

und viele Projekte erfolgreich durchgeführt.<br />

Zu erwähnen sind beispielsweise<br />

die Wanderausstellung «Im Fall», die Weiterentwicklung<br />

der SKOS-Richtlinien, der<br />

Ausbau der Dienstleistungen der SKOS,<br />

die Lancierung von elektronischen Mitteln<br />

für die Information der Mitglieder oder die<br />

erfolgreiche Durchführung von Tagungen.<br />

Dorothee Guggisberg sorgte auch in admi-<br />

nistrativer Hinsicht mit grosser Weit- und<br />

Umsicht dafür, dass bei der SKOS immer<br />

alles klappte. Darüber hinaus engagierte<br />

sie sich gleichermassen für einen leistungsfähigen<br />

Verband nach innen wie auch für<br />

seinen Auftritt nach aussen.<br />

Auch wenn die SKOS durch den Weggang<br />

von Dorothee Guggisberg eine wichtige<br />

Stütze verliert, freuen wir uns doch<br />

auch darüber, dass sie der Sozialhilfe erhalten<br />

bleibt. In Luzern wird sie in einer<br />

Schlüsselstelle bei der Weiterentwicklung<br />

der Sozialhilfe mithelfen, in Lehre, Forschung<br />

und durch Dienstleistungen zu<br />

Gunsten der Sozialhilfepraxis. Wir sind<br />

überzeugt, dass sie auch aufgrund ihrer<br />

Erfahrung als SKOS-Geschäftsführerin<br />

wichtige Impulse setzen wird für die Entwicklung<br />

des Sozialwesens und die weitere<br />

Professionalisierung der Sozialen Arbeit.<br />

So verabschieden wir uns also dankbar<br />

und mit einem weinenden und einem lachenden<br />

Auge von Dorothee Guggisberg.<br />

Wir wünschen ihr <strong>ganz</strong> herzlich alles Gute<br />

und viel Befriedigung in der neuen beruflichen<br />

Funktion.<br />

•<br />

Therese Frösch und Felix Wolffers<br />

Co-Präsidium der SKOS<br />

Wohin entwickelt sich die SKOS?<br />

Die Sozialhilfe wird ein Aushandlungsprozess<br />

bleiben. Die anhaltende<br />

Kürzungsdiskussion macht mir Sorgen.<br />

Ich wünsche der SKOS, dass sie die Fachlichkeit<br />

und wissenschaftliche Fundierung<br />

mit aller Kraft in den Vordergrund<br />

stellen kann, wo immer das möglich ist.<br />

Ein Fachverband muss sich politisch bewegen<br />

und sich positionieren können.<br />

Aber er ist auch für die Fachleute da, die<br />

an der Basis eine sehr komplexe und anspruchsvolle<br />

Arbeit leisten.<br />

Mit grossem Engagement hat Dorothee Guggisberg die SKOS seit 2010 mitgeprägt. <br />

Bild: Keystone<br />

4 ZeSo 3/16 aktuell


KOMMENTAR<br />

Was hat die Revision der SKOS-Richtlinien gebracht?<br />

Die SKOS-Richtlinien wurden 2015 und<br />

<strong>2016</strong> in zwei Etappen revidiert. Noch<br />

können die Auswirkungen des Reformprozesses<br />

nur ansatzweise abgeschätzt<br />

werden. Dennoch lohnt es sich, eine kurze<br />

Zwischenbilanz zu ziehen. Die Revision<br />

der Richtlinien führte für die Betroffenen<br />

zu schmerzhaften Leistungskürzungen<br />

und zu einer Verschärfung der Sanktionen.<br />

Insgesamt darf aber festgehalten werden,<br />

dass die SKOS-Richtlinien auch weiterhin<br />

ein angemessenes Existenzminimum<br />

gewährleisten und dass am Prinzip des<br />

sozialen Existenzminimums festgehalten<br />

wurde. Aus einer sozialpolitischen Sicht<br />

muss zwar ein Abbau in der Sozialhilfe festgestellt<br />

werden, es handelt sich aber nicht<br />

um einen sozialpolitischen Kahlschlag.<br />

Dank der Revision der Richtlinien konnte<br />

die teilweise überbordende Kritik an der<br />

Sozialhilfe eingedämmt und entschärft<br />

werden. Ohne den Revisionsprozess, das<br />

darf vermutet werden, wäre der Abbau bei<br />

den Leistungen und damit der Schaden für<br />

die sozial Schwächsten in vielen Kantonen<br />

deutlich grösser gewesen. So gesehen hat<br />

die Richtlinienrevision eine das System<br />

Sozialhilfe stabilisierende positive Wirkung.<br />

Die Revision erfolgte in einer kritischen<br />

Phase, in welcher verschiedene Kantone<br />

und Gemeinden daran waren, sich von den<br />

SKOS-Richtlinien abzuwenden. Dadurch<br />

wäre ein schädlicher sozialpolitischer<br />

Negativwettbewerb unter den Kantonen<br />

ausgelöst worden. Eine Auswertung<br />

der SKOS zeigt,<br />

dass die meisten<br />

Kantone die revidierten Richtlinien rasch<br />

übernommen haben. Dadurch wird die<br />

Harmonisierung der Sozialhilfe gestärkt<br />

und ein Mindestmass an Gleichbehandlung<br />

über die Kantonsgrenzen hinweg sichergestellt.<br />

Es liegt nun an den Kantonen und<br />

an der SODK, allenfalls auch am Bund, mit<br />

Nachdruck dafür zu sorgen, dass die Harmonisierung<br />

nicht durch einzelne Kantone<br />

unterlaufen wird.<br />

Dank der Revision ist das Regelwerk der<br />

SKOS heute wieder der unbestrittene<br />

Referenzrahmen für die Bemessung des<br />

Existenzminimums in der Sozialhilfe.<br />

Obschon die SKOS wesentliche Entscheidkompetenzen<br />

an die SODK abgetreten<br />

hat, ist auch sie als Fachorganisation aus<br />

dem Revisionsprozess gestärkt hervorgegangen.<br />

Das hängt wesentlich damit<br />

zusammen, dass die SKOS in der Öffentlichkeit<br />

weitgehend mit ihren Richtlinien<br />

identifiziert wird. Dass die Abtretung von<br />

Kompetenzen an die SODK und die kompromissbereite<br />

Haltung der SKOS in Fachkreisen<br />

auch kritisiert wird, ist nachvollziehbar.<br />

Aus Sicht der SKOS gab es dazu allerdings<br />

keine erfolgversprechende Alternative. Als<br />

Fazit lässt sich deshalb festhalten: Die<br />

Revision war politisch notwendig. Sie hat<br />

zu einem für die Betroffenen schmerzhaften<br />

Leistungsabbau geführt, das<br />

System Sozialhilfe aber wesentlich<br />

stabilisiert.<br />

Therese Frösch und Felix Wolffers<br />

Co-Präsidium der SKOS<br />

aktuell 3/16 ZeSo<br />

5


13 Fragen an Anja Conzett<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

Womit beschäftigen Sie sich im Moment?<br />

Mit der Gesellschaft. Konkret schreibe ich als<br />

freie Journalistin für verschiedene Magazine.<br />

Schwerpunktmässig beschäftige ich mich mit den<br />

Bereichen Politik und Wirtschaft, mein Steckenpferd<br />

sind aber längere Reportagen und Milieustudien<br />

über die Freuden und Tücken des Zusammenlebens.<br />

Kürzlich habe ich eine Reportagensammlung über<br />

das Phänomen Lohndumping auf Baustellen herausgegeben,<br />

in der sämtliche Interessensvertreter zu<br />

Wort kommen, vom polnischen Bauarbeiter bis zum<br />

millionenschweren Generalunternehmer. In dieser<br />

Form wird es in absehbarer Zeit sicher wieder etwas<br />

geben.<br />

Was bewirken Sie mit Ihrer Arbeit?<br />

Weniger als mir lieb ist, aber hoffentlich gelingt es<br />

mir hin und wieder, ein paar Horizonte zu erweitern,<br />

die richtigen Fragen zu stellen, oder einfach ein paar<br />

Herzen zu erfreuen.<br />

Sind Sie eher arm oder eher reich?<br />

Ich habe wenig Geld, aber viel Schönheit und<br />

Freude in meinem Alltag. Letztendlich ist Reichtum<br />

− wie alles andere auch − eine Frage der Auslegung.<br />

Glauben Sie an die Chancengleichheit?<br />

Ich glaube an die Notwendigkeit einer steten Annäherung<br />

daran. Dass sie vollständig erreichbar ist,<br />

nein, daran glaube ich nicht. Ein Beispiel: Ich habe<br />

von meinem Vater ein miserables musikalisches<br />

Gehör vererbt bekommen. Meine Chancen, eine<br />

grosse Komponistin zu werden, waren von Geburt<br />

weg nahe Null. Das ist zwar schade, aber solange<br />

man mich nicht an meiner Fähigkeit misst, Operetten<br />

zu schreiben, ist es nicht weiter schlimm. Wenn<br />

ich nun aber ein perfektes Gehör hätte, aber nicht<br />

die Möglichkeit, mich zur Komponistin zu schulen,<br />

dann wäre dieser Zustand unhaltbar. Und glücklicherweise<br />

änderbar.<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

Können Sie gut verlieren, und woran merkt man das?<br />

Beim Jassen kann ich gut verlieren. Dort empfinde<br />

ich eine Niederlage nicht als Frust, sondern als<br />

Ansporn, die Karten neu zu mischen, aus meinen<br />

Spielzügen und denen meiner Gegner zu lernen. Verlieren<br />

ist immer besser als gar nicht erst mitzumachen.<br />

Leider war das aber nicht immer schon meine<br />

Einstellung. Nachdem ich meinem jüngeren Bruder<br />

Schach beigebracht hatte und er in kürzester Zeit<br />

besser war als ich, habe ich einfach aufgehört, mit<br />

ihm zu spielen. Ein dunkles Kapitel meiner Kindheit.<br />

Wenn Sie in der Schweiz drei Dinge verändern könnten,<br />

welche wären das?<br />

Ich wünsche mir mehr Gerechtigkeit. Abstammung,<br />

Geschlecht, Herkunft – alles, worauf wir<br />

keinen Einfluss haben, sollte möglichst wenig Auswirkung<br />

auf unser Leben haben. Es sind also nicht<br />

drei Dinge, sondern tausend Handlungen und letztendlich<br />

doch nur eine Sache. Nebst dem dürfte der<br />

Sommer zwei Monate länger dauern.<br />

Für welches Ereignis oder für welche Begegnung würden<br />

Sie ans andere Ende der Welt reisen?<br />

Ganz banal: für ein Konzert von Tom Waits. Oder<br />

eines von Beck oder Ennio Morricone. Oder für eine<br />

herausragende Ausstellung. Für wirklich gute Kunst<br />

ist kein Weg zu weit. Aber eigentlich ist bis ans andere<br />

Ende der Welt zu reisen schon ein ausreichend<br />

attraktiver Grund, bis ans andere Ende der Welt zu<br />

reisen.<br />

Welche drei Gegenstände würden Sie auf eine verlassene<br />

Insel mitnehmen?<br />

Da bin ich Pragmatikerin. Einen Wasserfilter, ein<br />

grosses Mehrzweckmesser und ein Fass Whiskey,<br />

Lagavulin, 18 Jahre alt. Für den Fall, dass überraschend<br />

Besuch vorbeischaut.<br />

Was bedeutet Ihnen Solidarität?<br />

Sie ist die Essenz. Was wäre das Leben für eine<br />

freudlose Angelegenheit ohne das Gefühl von Verbundenheit,<br />

das Bekenntnis zu einem Wert, der<br />

grösser ist als das Selbst? Ohne Solidarität lässt<br />

es sich höchstens dann leben, wenn man alleine<br />

auf einer verlassenen Insel lebt und ein Fass guten<br />

Whiskey dabei hat.<br />

6 ZeSo 3/16 13 fragen


Anja Conzett<br />

Bild: zvg<br />

Anja Conzett, geboren 1988, lebt und arbeitet als freie Journalistin und<br />

Autorin in Graubünden und Zürich. 2015 wurde sie vom Kanton Graubünden<br />

mit dem Kulturförderpreis für aussergewöhnliches journalistisches Schaffen<br />

ausgezeichnet. <strong>2016</strong> erschien im Rotpunktverlag ihr Reportagenbuch<br />

«Lohndumping – eine Spurensuche auf dem Bau». Darin bündelt Anja Conzett<br />

Fakten zum Thema, analysiert Ursachen und lässt zentrale Akteure aus<br />

dem Baugewerbe zu Wort kommen.<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

An welches Ereignis in Ihrem Leben denken Sie besonders<br />

gerne zurück?<br />

Ein hitzesatter Tag im August. Unter mir die Blumenwiese,<br />

vor mir die Sonne, hinter mir das Gewitter,<br />

über mir der Regenbogen, Vogel, Grille, Schmetterling.<br />

In der Ferne ein Reh, das den Kopf reckt und<br />

mich mustert, bevor es weiter am Klee zupft. Ich<br />

fühle mich verschwindend klein und zum ersten Mal<br />

erhaben. Nicht <strong>ganz</strong> so spektakulär, aber auch <strong>ganz</strong><br />

schön – mein erstes Buch in den Händen zu halten.<br />

Gibt es Dinge, die Ihnen den Schlaf rauben?<br />

Mehr, als mir lieb ist. Als Journalistin muss ich<br />

nahe am Weltgeschehen sein und werde somit täglich<br />

mit Krisen, Katastrophen und Missständen konfrontiert.<br />

Welcher Begriff ist für Sie ein Reizwort?<br />

Unmensch. Ob Gutmenschen oder Schlechtmenschen<br />

ist einerlei. Solange wir nur davon ausgehen,<br />

es immer mit Menschen zu tun zu haben.<br />

Haben Sie eine persönliche Vision?<br />

Mehr Genuss, weniger Konsum. Mehr Wertschätzung,<br />

weniger Neid. Mehr Geduld, weniger Angst. Der<br />

Mensch ist dann am besten, wenn er sich bewusst<br />

ist, dass es ihm eigentlich <strong>ganz</strong> gut geht.<br />

13 fragen 3/16 ZeSo<br />

7


Anrechnung von Kindesvermögen<br />

im Sozialhilfebudget der Eltern<br />

Die 4-jährige Leonie erhält von ihrer gerade verstorbenen Grossmutter ein Sparkonto mit einem<br />

Guthaben von 50 000 Franken als Vermächtnis zur Verwendung für ihre spätere Ausbildung sowie<br />

zum Kauf eines Autos, wenn sie volljährig wird. Sie lebt bei ihrer Mutter und beide werden von der<br />

Sozialhilfe unterstützt.<br />

Frage<br />

Sind die Vermögenswerte und die Vermögenserträge<br />

von Leonie im Sozialhilfebudget<br />

der Unterstützungseinheit Mutter<br />

und Kind zu berücksichtigen? Und ändert<br />

sich die Handhabung, wenn Leonie das<br />

Vermächtnis der Grossmutter ohne Bestimmungsverwendung<br />

erhalten hätte?<br />

PRAXIS<br />

In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />

der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />

und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />

Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />

Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />

(einloggen) SKOS-Line.<br />

Grundlagen<br />

Grundsätzlich sind bei der Bemessung von<br />

Sozialhilfeleistungen alle verfügbaren Einnahmen<br />

einzubeziehen. Anrechenbare<br />

Vermögenswerte sind aufgrund der Subsidiarität<br />

der Sozialhilfe ebenfalls bis auf den<br />

Freibetrag zu verwerten, bevor wirtschaftliche<br />

Hilfe ausgerichtet wird (SKOS-Richtlinien<br />

E.1 und E.2). Besondere Regeln gelten<br />

allerdings für das Kindesvermögen, das<br />

alle dem Kind zustehenden Vermögenswerte<br />

umfasst. Es darf von der Sozialhilfe<br />

nur im Rahmen des Kindesrechts angerechnet<br />

werden (Art. 319 ff. ZGB).<br />

Von der Anrechnung sind jene Vermögenswerte<br />

und deren Erträge ausgeschlossen,<br />

die zum «freien Kindesvermögen»<br />

gehören. Dieses untersteht alleine der Verwaltung<br />

und Nutzung des Kindes, weil sie<br />

diesem – mündlich oder schriftlich – mit<br />

besonderer Bestimmung zugewendet werden<br />

(Art. 321 ZGB). Es dürfen auch jene<br />

Beträge nicht angerechnet werden, die<br />

dem Kind als Pflichtteil aus einem Erbe<br />

zufallen, der gemäss Testament oder Erbvertrag<br />

von der Verwaltung der Eltern ausgenommen<br />

ist (Art. 322 ZGB).<br />

Die SKOS-Richtlinien sehen vor, dass<br />

Erwerbseinkommen oder andere Einkünfte<br />

von Minderjährigen, die mit unterstützungsbedürftigen<br />

Eltern im gleichen<br />

Haushalt leben, grundsätzlich bis zur<br />

Höhe des auf diese Person entfallenden<br />

Anteils anzurechnen sind (E.1.3). Ein allfälliger<br />

Überschuss darf jedoch nicht angerechnet<br />

werden, sondern ist dem Kind als<br />

freies Kindesvermögen zu belassen (Art.<br />

323 ZGB).<br />

Nur Abfindungen, Schadensersatz und<br />

ähnliche Leistungen dürfen – den laufenden<br />

Bedürfnissen entsprechend – für<br />

den Unterhalt des Kindes verwendet werden<br />

(Art. 320 Abs. 1 ZGB). Vom übrigen<br />

Kindesvermögen dürfen die Erträge, namentlich<br />

Zinsen, für Unterhalt, Erziehung<br />

und Ausbildung des Kindes herangezogen<br />

werden, ausnahmsweise auch für die Bedürfnisse<br />

des Haushaltes (Art. 319 ZGB).<br />

Letzteres insbesondere dann, wenn zwischen<br />

der Leistungsfähigkeit von Eltern<br />

und Kind ein erhebliches Ungleichgewicht<br />

besteht.<br />

Das übrige Kindesvermögen darf von<br />

den Eltern und der Sozialhilfe nur dann<br />

für den Unterhalt, die Erziehung oder<br />

die Ausbildung des Kindes angerechnet<br />

werden, wenn die Kindesschutzbehörde<br />

einem entsprechenden Antrag zustimmt<br />

(Art. 320 Abs. 2 ZGB). Solche Anträge<br />

werden nur sehr zurückhaltend gewährt,<br />

um dem Kind später bessere Chancen zu<br />

ermöglichen. Die Kindesschutzbehörde<br />

hat in erster Linie das Kindeswohl und die<br />

Entwicklungs- und Fördermöglichkeiten<br />

des Kindes im Auge. Für die Gewährung<br />

des Antrags würde insbesondere ein krasses<br />

Missverhältnis zwischen Kindesvermögen<br />

einerseits und Sozialhilfebezug<br />

andererseits sprechen. Die Kindesschutzbehörde<br />

entscheidet aufgrund bundesrechtlicher<br />

ZGB-Vorschriften und kann<br />

durch das kantonale und kommunale<br />

Sozialhilferecht nicht gebunden werden.<br />

Aufgrund des Vorranges des Bundesrechtes<br />

sind die Sozialhilfebehörden an<br />

die Entscheide der Kindesschutzbehörde<br />

gebunden.<br />

Antwort<br />

Das Vermächtnis der Grossmutter mit Bestimmungsverwendung<br />

an Leonie darf weder<br />

mit dem Ertrag noch hinsichtlich Substanzverwertung<br />

im Sozialhilfebudget berücksichtigt<br />

werden.<br />

Wenn Leonie die Zuwendung ohne<br />

besondere Bestimmung erhalten hätte,<br />

könnten die Erträge für den Lebensunterhalt<br />

des Kindes im Budget berücksichtigt<br />

werden. Für die Substanzverwertung des<br />

Vermögens selbst müsste ein Antrag an<br />

die Kindesschutzbehörde gestellt werden.<br />

Einem solchen würde aber nur in Ausnahmefällen<br />

stattgegeben.<br />

•<br />

Franziska Brägger, Barbara Hamm<br />

Kommission Richtlinien und Praxis der SKOS<br />

8 ZeSo 3/16 praxis


Neues Rechtsberatungsangebot<br />

für SKOS-Mitglieder<br />

Die SKOS bietet ihren Mitgliedern ein neues elektronisches Rechtsberatungsangebot an. Die SKOS-<br />

Line plus kann für Abklärungen bei komplexen Sozialhilfefällen beigezogen werden. Die SKOS reagiert<br />

damit auf immer komplexere rechtliche Fragen und einen zunehmenden Beratungsbedarf.<br />

Seit mehr als zehn Jahren haben die SKOS-<br />

Mitglieder die Möglichkeit, sich bei Fragen<br />

zur Anwendung der SKOS-Richtlinien<br />

von der SKOS-Line beraten zu lassen. Ausgewählte<br />

Fragen und Antworten werden<br />

zudem in der Zeitschrift <strong>ZESO</strong> und auf der<br />

SKOS-Website als Praxisbeispiele publiziert.<br />

Die FAQ zu den SKOS-Richtlinien,<br />

die sich im Mitgliederbereich der SKOS-<br />

Webseite befinden, ergänzen das breite<br />

Angebot an Beratungs- und Informationsdienstleistungen,<br />

auf das die Verbandsmitglieder<br />

zurückgreifen können (s. Grafik).<br />

Über die Jahre ist die Zahl der Anfragen<br />

an die SKOS-Line und deren Komplexität<br />

stark gestiegen. Verantwortlich dafür<br />

ist nicht zuletzt eine zunehmende Regulierungsdichte<br />

in der Sozialhilfe, die verschiedene<br />

Auswirkungen mit sich bringt.<br />

Sie kann die Rechtssicherheit für Behörden<br />

sowie für Klientinnen und Klienten<br />

erhöhen, sie macht die Unterstützungsund<br />

Beratungsarbeit für die Sozialdienste<br />

aber auch anspruchsvoller. Mitarbeitende<br />

von Sozialdiensten sehen sich in ihrem<br />

Arbeitsalltag zunehmend mit Fragen konfrontiert,<br />

deren Bearbeitung juristisches<br />

Wissen aus verschiedenen Rechtsgebieten<br />

verlangt. Wo entsprechendes Fachwissen<br />

fehlt, beispielsweise bei Sozialdiensten<br />

kleiner Gemeinden ohne eigenen Rechtsdienst,<br />

oder wo ein Bedürfnis nach zusätzlicher<br />

Rechtssicherheit besteht, will die<br />

SKOS ihren Mitgliedern Unterstützung<br />

bieten. Das bestehende Beratungsangebot<br />

der SKOS wird daher mit der neuen<br />

elektronischen Beratungsdienstleistung<br />

SKOS-Line plus ergänzt.<br />

Vertiefte juristische Abklärungen<br />

Die SKOS-Line plus kann für Fragen, die<br />

über die Anwendung der Richtlinien hinausgehen,<br />

und für vertiefte juristische Abklärungen<br />

beigezogen werden. Neu sind<br />

auch spezifische Recherchen und fallbezogene<br />

Abklärungen unter Beizug von Klientendossiers<br />

möglich, sofern die hierfür notwendigen<br />

Voraussetzungen geregelt werden.<br />

Weil die Dossiers schützenswerte Personendaten<br />

von Klientinnen und Klienten<br />

enthalten, muss sichergestellt werden, dass<br />

eine Beratung unter Wahrung der kantonalen<br />

Datenschutz- und Geheimhaltungsvorgaben<br />

erfolgt. Die SKOS verpflichtet sich<br />

zur Einhaltung dieser Anforderungen und<br />

stellt eine Dienstleistung zur Verfügung,<br />

die einen verschlüsselten Mailverkehr ermöglicht.<br />

Die Beratung der SKOS-Line plus muss<br />

in einer vertraglichen Vereinbarung zwischen<br />

dem Mitglied und der SKOS geregelt<br />

werden. Diese enthält Abmachungen<br />

zum Umfang, zum Ablauf und zu den<br />

Kosten der Beratungstätigkeit. Während<br />

die SKOS-Line weiterhin kostenlos genutzt<br />

werden kann und auch der Zugriff auf die<br />

Informationsdienstleistungen kostenlos<br />

bleibt, werden die vertieften Beratungen<br />

der SKOS-Line plus zu einem Ansatz von<br />

140 Franken pro Stunde in Rechnung gestellt.<br />

Die Beratungen erfolgen per E-Mail<br />

über die bisherige Adresse der SKOS-Line.<br />

Die SKOS informiert darüber, ob eine eingehende<br />

Anfrage kostenlos beantwortet<br />

werden kann, oder ob das kostenpflichtige<br />

Angebot in Anspruch genommen werden<br />

muss. Um diese Triage und in der Folge<br />

auch eine fundierte Beratung zu ermöglichen,<br />

ist die SKOS auf eine prägnante<br />

Umschreibung des Sachverhalts und der<br />

Fragestellung sowie allenfalls auf das Bereitstellen<br />

von weiteren Informationen,<br />

beispielsweise Dossier-Auszügen, angewiesen.<br />

•<br />

Alexander Suter<br />

Verantwortlicher SKOS-Line<br />

SKOS-Line plus<br />

Die neue elektronische Beratungsdienstleistung<br />

SKOS-Line plus wurde<br />

Anfang Juli <strong>2016</strong> lanciert und steht<br />

allen Verbandsmitgliedern zur<br />

Verfügung. Der Zugang erfolgt über<br />

die Adresse der SKOS-Line, die im<br />

Mitgliederbereich der SKOS-Webseite<br />

aufgerufen werden kann. Dort finden<br />

sich auch weiterführende Informationen<br />

zu den Beratungs- und Informationsdienstleistungen<br />

der SKOS.<br />

Beratungsdienstleistungen<br />

Informationsdienstleistungen<br />

SKOS-Line SKOS-Line plus FAQ Praxisbeispiele<br />

Abklärungen zur<br />

Anwendung der<br />

SKOS-Richtlinien<br />

und Beantwortung<br />

einfacher Fragen<br />

zum Sozialhilferecht<br />

Vertiefte juristische<br />

Abklärungen,<br />

Dossierberatung und<br />

weitere Leistungen<br />

gemäss Abmachung<br />

Regelmässig<br />

aktualisierte<br />

und erweiterte<br />

Sammlung von<br />

Antworten auf häufig<br />

gestellte Fragen<br />

Jede Ausgabe<br />

der <strong>ZESO</strong> enthält<br />

ein ausführlich<br />

behandeltes<br />

Praxisbeispiel.<br />

RECHTSBERATUNG 3/16 ZeSo<br />

9


Ausschaffungsinitiative:<br />

Herausforderungen für die Sozialhilfe<br />

Die Akteure der Sozialhilfe sind bei der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative besonders gefordert, weil<br />

der Betrug und der unrechtmässige Bezug von Sozialhilfeleistungen zu jenen Delikten gehören, die neu<br />

zu einer Ausschaffung führen können. Mitarbeitende von Sozialdiensten erhalten dadurch neue Aufgaben<br />

und Verantwortlichkeiten.<br />

Per 1. Oktober <strong>2016</strong> wird die vom Parlament<br />

beschlossene Umsetzung der Ausschaffungsinitiative<br />

in Kraft treten. Damit<br />

wird der neue Straftatbestand des unrechtmässigen<br />

Bezugs (Art. 148a StGB) ins<br />

Bundesrecht aufgenommen. Beim missbräuchlichen<br />

Beziehen von Sozialhilfeleistungen<br />

drohen für alle Personen Geld- und<br />

Freiheitsstrafen, bei straffälligen Ausländerinnen<br />

und Ausländern kann dieser<br />

Straftatbestand darüber hinaus neu zur<br />

Ausschaffung führen (Art. 66a StGB). Die<br />

Einführung dieses separaten, überaus harschen<br />

Sanktionsregimes für ausländische<br />

Klientinnen und Klienten wird die Zusammenarbeit<br />

in der Sozialarbeit erschweren<br />

und für die Mitarbeitenden von Sozialdiensten<br />

eine neue Verantwortlichkeit mit<br />

sich bringen.<br />

Mehr Anzeigen, härtere Strafen<br />

In denjenigen Kantonen, in denen bisher<br />

zwar der Betrug, nicht aber der unrechtmässige<br />

Bezug im Strafrecht geregelt war, wird<br />

sich die Starfbarkeit ausweiten. Ein Betrug<br />

setzt voraus, dass Mitarbeitende eines Sozialdienstes<br />

durch arglistiges Handeln zur<br />

Leistung von Unterstützung veranlasst werden,<br />

auf die gar kein Anspruch besteht (Art.<br />

146 StGB). Arglistig sind beispielsweise<br />

besonders raffinierte Lügen oder die Täuschung<br />

mittels zusätzlicher Kniffe wie etwa<br />

dem Vorweisen von gefälschten Dokumenten.<br />

Die neue Strafnorm des unrechtmässigen<br />

Bezugs verlangt hingegen keine Arglist;<br />

selbst das Verschweigen von Tatsachen<br />

kann für eine Strafbarkeit ausreichend sein.<br />

Die Ausweitung der Strafbarkeit hat zur<br />

Folge, dass viele Sozialdienste ab Oktober<br />

<strong>2016</strong> mehr Strafanzeigen einreichen<br />

müssen. Dies ist für die Mitarbeitenden<br />

aufwendig, weil dabei formelle und inhaltliche<br />

Anforderungen zu erfüllen sind.<br />

Schon beim Verfassen einer Strafanzeige<br />

muss zudem berücksichtigt werden, dass<br />

das Gericht im Fall einer Verurteilung<br />

eines Ausländers oder einer Ausländerin<br />

die Verhältnismässigkeit einer Ausschaffung<br />

prüfen muss. In der Strafanzeige sind<br />

daher nicht nur die Tatbestandsmerkmale<br />

einer Straftat darzulegen, sondern das angezeigte<br />

Vergehen sollte auch in die Lebenssituation<br />

der betreffenden Person eingeordnet<br />

werden. Letztlich ist relevant, ob<br />

sich das delinquente Verhalten aufgrund<br />

einer besonderen Lebenssituation erklären<br />

lässt und wie das Risiko eines erneuten<br />

Vergehens beurteilt wird.<br />

Prävention ist zentral<br />

Die strafrechtlichen Sanktionsinstrumente<br />

erfahren durch die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative<br />

einen massiven Ausbau,<br />

dem vonseiten der Sozialdienste mit<br />

verstärkten Bemühungen in der Missbrauchsprävention<br />

zu begegnen ist. Dies<br />

ist mit Blick auf das von den SKOS-Richtlinien<br />

empfohlene Zusammenspiel von Prävention,<br />

Kontrolle und Sanktion notwendig.<br />

Der alleinige Ausbau von strafrechtlichen<br />

Sanktionen ist nicht ausreichend, um<br />

Missbräuche im Bereich der Sozialhilfe zu<br />

bekämpfen.<br />

Die Ziele der Sozialhilfe lassen sich nur<br />

gestützt auf ein Gleichgewicht von Rechten<br />

und Pflichten erreichen. Eine wirksame<br />

Prävention von Sozialhilfemissbrauch<br />

verlangt eine frühzeitige und umfassende<br />

Information der Klientinnen und Klienten<br />

über ihre Rechte und Pflichten. Ausländerinnen<br />

und Ausländer müssen zudem auf<br />

die weitreichenden Konsequenzen hingewiesen<br />

werden, die bereits geringfügige<br />

Missbrauchsdelikte für sie und ihre Angehörigen<br />

haben können. Ebenso notwendig<br />

ist eine professionelle und individualisierte<br />

Unterstützung, um sowohl den allgemeinen<br />

Zielen der Sozialhilfe wie auch<br />

Erschwerte Zusammenarbeit. <br />

Bild: Keystone<br />

den Bedürfnissen von Klientinnen und<br />

Klienten entsprechen zu können. Die Unterstützung<br />

muss durch regelmässige Kontrollen<br />

und bei Bedarf auch mit verhältnismässigen<br />

Sanktionen begleitet werden.<br />

Konsequent umgesetzt, entfalten diese<br />

Massnahmen eine präventive Wirkung<br />

und können Missbräuche und damit auch<br />

Ausschaffungen verhindern, die für die<br />

Betroffenen und deren Angehörigen gravierende<br />

Folgen hätten. <br />

•<br />

Alexander Suter<br />

Juristischer Mitarbeiter der SKOS<br />

Umsetzung der Ausschaffungsinitiative:<br />

Die SKOS hat die wichtigsten Informationen im<br />

Hinblick auf die veränderten Bedingungen im<br />

Rahmen der Sozialhilfearbeit infolge der Umsetzung<br />

der Ausschaffungsinitiative zusammengetragen.<br />

www.skos.ch Sozialhilfe und PraxisRechtliches<br />

10 ZeSo 3/16 SOZIALHILFE


Keine Einstellung der Nothilfe<br />

wegen Arbeitsverweigerung<br />

Bei beharrlicher beruflicher Verweigerungshaltung kann die Sozialhilfe im Sinne einer Ultima-Ratio-<br />

Massnahme <strong>ganz</strong> eingestellt werden. Der Anspruch auf Nothilfe kann hingegen nur entfallen, wenn<br />

ein nicht angetretenes Beschäftigungsprogramm entlohnt gewesen und somit die Notlage hinfällig<br />

geworden wäre. Dies bestätigt ein Urteil des Bundesgerichts.<br />

Eine Zürcher Gemeinde kürzte einem<br />

Mann für sechs Monate die Sozialhilfe um<br />

15 Prozent, weil er sich an einem Beschäftigungsprogramm<br />

ungenügend beteiligte.<br />

Der erneuten Weisung, halbtags in einem<br />

nicht entlohnten Beschäftigungsprogramm<br />

zu arbeiten, ist er nicht gefolgt. Daraufhin<br />

wurde die Unterstützung wegen<br />

Verweigerung der Arbeitsleistung gänzlich<br />

eingestellt. Vor Bundesgericht (BGE 142<br />

I 1) erhielt der Mann insofern recht, als wenigstens<br />

Nothilfe gewährt werden müsse,<br />

weil «die erfolgte Verweigerung (...), ohne<br />

dass das Subsidiaritätsprinzip zum Tragen<br />

käme, gegen Art. 12 BV» verstosse. Daran<br />

ändere die gesundheitliche Zumutbarkeit<br />

nichts. Die Sozialhilfe dürfe hingegen gestützt<br />

auf die entsprechende Bestimmung<br />

im Zürcher Sozialhilfegesetz (Art. 24a<br />

Abs. 1) eingestellt werden.<br />

Finanzielle Notlage ist entscheidend<br />

Das Bundesgericht bestätigt und präzisiert<br />

seine Rechtsprechung und ruft in Erinnerung,<br />

dass der Anspruch auf Nothilfe lediglich<br />

eine finanzielle Notlage voraussetzt.<br />

Damit erteilt es einer subjektiven Bedürftigkeitskonzeption<br />

mit Recht eine klare Absage:<br />

Der Anspruch auf Nothilfe entfällt<br />

nur, wenn rechtzeitig und in zumutbarer<br />

Weise tatsächlich Eigenmittel (Einnahmen<br />

und Vermögen) vorhanden sind. Nur in<br />

diesem Fall ist das Subsidiaritätsprinzip<br />

betroffen respektive liegt gar keine Notlage<br />

vor. Die subjektive Arbeitsbereitschaft allein<br />

ist folglich kein Kriterium dafür, ob eine<br />

Bedarfslage vorliegt.<br />

Die Verständnisschwierigkeiten liegen<br />

unter anderem darin begründet, dass<br />

im Begriff der Notlage zwingend eine<br />

Selbsthilfeobliegenheit enthalten ist. Diese<br />

bezieht sich indes nur auf tatsächlich<br />

vorhandene Eigenmittel: So müssen etwa<br />

die Wertpapiere verkauft oder eben die<br />

angebotene Arbeitsstelle angetreten werden,<br />

um den Lebensunterhalt zu decken.<br />

In diesem Fall liegt objektiv keine Notlage<br />

vor, weshalb eine Teilnahmeverweigerung<br />

an einem entlohnten Beschäftigungsprogramm<br />

zum Verlust des Nothilfeanspruchs<br />

führen kann.<br />

Verletzung der Integrationspflicht<br />

Mit Aufnahme der Unterstützung wird ein<br />

Beitrag zur Verminderung und Behebung<br />

der Bedürftigkeit verlangt (vgl. Kap. A.5.2<br />

SKOS-Richtlinien). Zu dieser sozialhilferechtlichen<br />

Minderungspflicht gehört<br />

auch die berufliche Integrationspflicht, deren<br />

schuldhafte Verletzung unter Umständen<br />

bis zu einer Leistungseinstellung führen<br />

kann, sofern dies im Sozialhilfegesetz<br />

hinreichend verankert und konkret verhältnismässig<br />

ist. Sind keine Eigenmittel verfügbar,<br />

gründet die Einstellung dogmatisch<br />

nicht auf der mangelnden Bedürftigkeit,<br />

sondern auf der Verletzung der Integrationspflicht.<br />

Bestätigte Rechtssprechung.<br />

Bild: Keystone<br />

Rein subjektive Verweigerungshaltungen,<br />

die von der beruflichen Integrationspflicht<br />

erfasst werden, können somit zwar zur Einstellung<br />

der Sozialhilfe führen. Das Bundesgericht<br />

bestätigt aber, dass im Rahmen<br />

von Art. 12 BV ein solches Verhalten bei<br />

hinreichender Rechtsgrundlage lediglich<br />

durch Massnahmen sanktioniert werden<br />

kann, die den Anspruch auf Nothilfe als<br />

solchen nicht tangieren, sondern beispielsweise<br />

die Art und Weise der Leistungserbringung<br />

betreffen (z.B. Naturalleistungen).<br />

Keine Automatismen<br />

Es muss zwischen der bedürftigkeitsrechtlichen<br />

Anrechnung vorrangiger Eigenmittel<br />

(Subsidiaritätsprinzip) und der beruflichen<br />

Integrationspflicht unterschieden<br />

werden. Der Art. 24a Sozialhilfegesetz Zürich<br />

ist in diesem Punkt nicht kohärent: Es<br />

geht nicht klar hervor, dass die als solche<br />

bezeichnete «Einstellung» bei rein subjektiven<br />

beruflichen Verweigerungshaltungen<br />

dogmatisch letztlich nichts anderes als eine<br />

vollständige Kürzung der Sozialhilfe im<br />

Sinne einer Totalsanktion darstellt.<br />

Der verfassungsrechtliche Minimalanspruch<br />

ist hingegen «sanktionsfest»,<br />

weshalb auch im Bereich der sozialhilferechtlichen<br />

Eigenverantwortung keine<br />

Automatismen bestehen: Art. 12 BV enthält<br />

den unantastbaren, aufs Engste mit<br />

dem Schutz der Menschenwürde (Art. 7<br />

BV) verbundenen Kern der umfassenden<br />

Sozialhilfe – ein Kern an unabdingbaren<br />

Leistungen, der auch Menschen zusteht,<br />

die unserem gängigen Arbeitsethos nicht<br />

entsprechen. <br />

•<br />

Guido Wizent<br />

Kommission Rechtsfragen der SKOS<br />

SOZIALHILFE 3/16 ZeSo<br />

11


«Das utopische Denken ist uns<br />

abhandengekommen»<br />

Mit den grossen Flüchtlingsströmen klopfe die Ungerechtigkeit an unsere Türen, sagt Barbara Bleisch,<br />

Moderatorin der «Sternstunde Philosophie». Im Interview spricht sie über die Verantwortungsdiffusion für<br />

das globale Elend, Schattenseiten der Freiheit und über die gesellschaftliche Bedeutung von Sehnsucht.<br />

Frau Bleisch, was ist Philosophie?<br />

Philosophie ist der Versuch, die Welt und<br />

uns Menschen in ihr denkend zu erfassen.<br />

Mit Kant kann man vier Fragen stellen: Was<br />

kann ich wissen und wo liegen die Grenzen<br />

meiner Erkenntnis? Was soll ich tun, wie<br />

muss ich andere behandeln? Was darf ich<br />

hoffen – kommt etwas nach dem Tod, gibt<br />

es Gott? Und viertens: Was ist der Mensch?<br />

Wären etwa Menschen, denen man einen<br />

Computerchip ins Hirn einpflanzt, noch<br />

Menschen? Direkt übersetzt bedeutet Philosophie<br />

übrigens «Liebe zur Weisheit».<br />

Das Denken wird uns zunehmend von<br />

Computern respektive von Algorithmen<br />

abgenommen. Welchen Einfluss<br />

hat diese Entwicklung auf den Fortbestand<br />

der klassischen Philosophie und<br />

<strong>ganz</strong> allgemein auf unser Denken?<br />

Ich glaube nicht, dass Algorithmen uns<br />

wirklich das Denken abnehmen. Denn<br />

Denken ist nicht nur Entscheiden, sondern<br />

bietet auch Orientierung. Und grad das<br />

Einordnen von einzelnen Entscheidungen<br />

in ein grosses Ganzes beherrschen Algorithmen<br />

nicht. Ausserdem zeigt sich, dass<br />

viele Leute grosse Schwierigkeiten mit der<br />

Vorstellung haben, dass Algorithmen ihnen<br />

das Denken abnehmen – was für Philosophen<br />

wiederum informativ ist.<br />

Inwiefern?<br />

Man fühlt sich fremdbestimmt oder in<br />

die Irre geführt. Wenn ich bei Suchanfragen<br />

nur noch eine gefilterte Auswahl an Ergebnissen<br />

erhalte, ist mein Anspruch, mich<br />

selbstbestimmt zu informieren, dahin.<br />

Der aufklärerische Gestus «sapere aude» –<br />

«Wage zu wissen!» – beinhaltet auch, sich<br />

Informationen beschaffen zu können, die<br />

nichts vertuschen oder beschönigen. Mündige<br />

Bürger müssen im Übrigen solche<br />

sein, die wirklich etwas wissen wollen und<br />

sich nicht kaufen lassen.<br />

12 ZeSo 3/16 interview<br />

Welchen staatspolitischen Einfluss<br />

hat die Philosophie heute?<br />

Ich bezweifle, dass ihr direkter Einfluss<br />

gross ist. Unsere politischen Modelle, unsere<br />

Vorstellungen von Partizipation oder<br />

guter Regierung fussen aber in älteren politikphilosophischen<br />

Ideen. In der Politik<br />

ist heute wieder eine stärkere Hinwendung<br />

zum sogenannten Realismus zu erkennen:<br />

Man sieht die Aufgabe der Politik primär<br />

darin, die Interessen des eigenen Staates<br />

zu verteidigen. Der direkte Bezug auf moralische<br />

Imperative hat abgenommen. Das<br />

hat auch damit zu tun, dass im Lauf der<br />

Geschichte negative Erfahrungen damit<br />

gemacht wurden, im Namen der Moral<br />

Politik zu betreiben. Es stellt sich natürlich<br />

die Frage, ob dies an den jeweiligen Imperativen<br />

liegt – oder daran, dass diese nicht<br />

ehrlich zur Anwendung kamen. Ein gutes<br />

Beispiel ist die «Humanitäre Intervention»:<br />

Ist es wirklich richtig, im Namen der<br />

Menschlichkeit militärisch einzugreifen?<br />

Oder tut man dies nur vordergründig im<br />

Namen der Menschlichkeit und eigentlich<br />

aus Eigennutz?<br />

Sie moderieren die TV-Sendung «Sternstunde<br />

Philosophie» beim Schweizer<br />

Radio und Fernsehen SRF. Wie funktioniert<br />

dieses Format in der heutigen,<br />

quotengetriebenen Medienwelt?<br />

Wir präsentieren keine akademische<br />

Philosophie, sondern führen Gespräche<br />

mit den grossen Stimmen unserer Zeit.<br />

Dass wir eine Stunde Zeit haben, lässt<br />

Vertiefung zu – und Raum für eine echte<br />

Begegnung. Ich glaube, das authentische,<br />

lange Gespräch ist eine Marke, die mittlerweile<br />

viele schätzen, die mit Kurzfutter<br />

allein nicht zufrieden sind. Das sehen wir<br />

auch daran, dass wir gute Zahlen bei den<br />

Podcast-Abrufen vorweisen können. Unsere<br />

Sendung erfährt im gesamten deutschsprachigen<br />

Raum grosse Wertschätzung.<br />

Wie sieht die Zukunft des vertieften<br />

Gedankenaustauschs aus? Sind die<br />

schnelllebigen sozialen Medien dabei<br />

förderlich oder hinderlich?<br />

Die sozialen Medien funktionieren<br />

vor allem mit Kurzstatements. Deshalb<br />

schneiden wir für die sozialen Medien jeweils<br />

markante Passagen aus den langen<br />

Gesprächen heraus. Wer das Langformat<br />

schätzt, kann es dann bei uns abrufen. Wir<br />

Bilder: Meinrad Schade


produzieren aber auch Formate nur fürs<br />

Internet. Unter dem Label «Filosofix» haben<br />

wir etwa in kurzen, animierten Filmen<br />

die wichtigsten Gedankenexperimente der<br />

Philosophie vorgestellt. Das funktionierte<br />

sehr gut in den sozialen Medien.<br />

Sie haben im Rahmen eines Nationalfonds-Projekts<br />

Fragen der Ethik<br />

in Familienbeziehungen untersucht.<br />

Worum ging es dabei?<br />

Wir haben versucht, die normative Struktur<br />

der Familie herauszuarbeiten. Damit<br />

sind Fragen gemeint wie: Gelten in Familiengefügen<br />

spezielle moralische Pflichten,<br />

die in anderen Beziehungen nicht greifen?<br />

Mich interessiert in diesem Rahmen speziell<br />

die Frage, ob erwachsene Kinder ihren<br />

Eltern etwas schulden – eine Idee, die ja<br />

beispielsweise im Recht verankert ist.<br />

Zu welchem Fazit sind Sie gelangt?<br />

Es gibt keine unmittelbare Dankbarkeitspflicht<br />

oder Rückzahlungspflicht auf<br />

der Seite der Kinder. Denn die Kinder<br />

haben nicht darum gebeten, geboren zu<br />

werden, und die Eltern haben ihrerseits<br />

in aller Regel die Kinder gewollt. Die Beziehung<br />

zwischen Kindern und Eltern ist<br />

aber eine sehr spezielle und unvergleichbar<br />

mit anderen Beziehungen. Sie ist<br />

nicht gewählt und unaufkündbar: Man<br />

kann sich weder die Kinder noch die Eltern<br />

aussuchen, und man wird sich gegen-<br />

seitig auch zeitlebens nicht mehr los. Das<br />

geht mit einer spezifischen Verletzlichkeit<br />

der Familienmitglieder einher, die dazu<br />

führt, dass wir gute Gründe haben, uns<br />

umeinander zu kümmern – aber keine<br />

Verpflichtung.<br />

Lässt sich dieses Modell auf die gesamte<br />

Gesellschaft umlagern? Gilt es<br />

generell?<br />

Es gibt unterschiedliche Begriffe von<br />

Verletzlichkeit. Wir alle sind als Lebewesen<br />

verletzlich und auf andere angewiesen<br />

– das widerspricht übrigens ein Stück weit<br />

der liberalen Vorstellung des ungebundenen<br />

autonomen Subjekts, das völlig auf<br />

sich gestellt sein Leben entwirft. Im gesell- <br />

interview 3/16 ZeSo<br />

13


«Erst mal glaube ich, dass wir<br />

in der Schweiz im Moment keine<br />

Flüchtlingskrise haben. Dennoch<br />

glaube ich, dass wir an<br />

einer Zeitenwende stehen.»<br />

<br />

schaftlichen Zusammenhang würde ich<br />

aber mit Blick auf gegenseitige Pflichten<br />

eher mit Begriffen wie Grundbedürfnisse<br />

oder Menschenwürde argumentieren. Die<br />

Frage, was wir uns als Gesellschaftsmitglieder<br />

gegenseitig schulden, ist eben eine<br />

andere als jene, was wir uns in Familiengefügen<br />

schulden.<br />

Wie wirkt sich die Globalisierung auf<br />

unser Verständnis von Moral und moralischem<br />

Handeln aus?<br />

Die Moralphilosophie hat sich ursprünglich<br />

mit Blick auf klar umrissene<br />

Gemeinschaften entwickelt: die Polis, den<br />

Staat, aber auch die Freundschaft oder Vertragspartnerschaften.<br />

Im Zusammenhang<br />

mit der Globalisierung spricht man zwar<br />

vom Global Village, aber wir wissen alle,<br />

dass dieser Begriff nur die ökonomische<br />

Vernetzung betrifft und wir uns nicht als<br />

globale Dorfbewohner fühlen.<br />

Woran machen Sie das fest?<br />

Wir reagieren nicht mit derselben Empörung<br />

auf schlimmes Leiden in fernen<br />

Ländern als wenn sich dieses hier zutragen<br />

würde. Das kann man kritisieren und auf<br />

die Gleichheit der Menschen pochen. Vor<br />

allem aber sehen wir heute, dass wir dieses<br />

Leid nicht auf ewig von unserem Alltag<br />

fernhalten können, wie wir es lange Zeit<br />

konnten. Mit den grossen Flüchtlingsströmen<br />

klopft die Ungerechtigkeit an unsere<br />

Türen und rüttelt an den Grundfesten<br />

dessen, von dem wir bis jetzt ausgegangen<br />

sind: dass es schon irgendwie funktioniert<br />

mit diesen sehr unterschiedlichen Wohlstandsniveaus.<br />

Wie viel Mitschuld haben wir alle am<br />

globalen Elend auf der Welt?<br />

Mit Mitschuld meint man meist so etwas<br />

wie: ein Stück der Verantwortung. Verantwortung<br />

wird traditionell im Rahmen<br />

von sozialen Rollen zugeschrieben. Die<br />

Eltern sind verantwortlich für ihr Kind,<br />

der Badmeister dafür, dass niemand ertrinkt,<br />

Swissmedic für eine korrekte Arzneimittelkontrolle.<br />

Diese Rollenverantwortungen<br />

führen zu einem ausgeklügelten<br />

System von Verantwortungszuschreibung,<br />

das uns immer auch entlastet. Wir wissen<br />

nicht nur, was unsere Aufgabe ist, sondern<br />

auch, wofür wir nicht verantwortlich sind.<br />

Auf globaler Ebene fehlen diese Rollenverantwortungen<br />

– oder sie werden nicht<br />

wahrgenommen. Dann versucht man, von<br />

kausaler Verantwortung auf moralische<br />

Verantwortung zu schliessen. Doch das ist<br />

nicht einfach. Die Verantwortungsketten<br />

sind zu komplex.<br />

Aber das entlastet uns nicht…<br />

Ja, genau. Wenn wir sehen, dass jene,<br />

die eigentlich verantwortlich wären, sich<br />

aus der Verantwortung ziehen – korrupte<br />

Regierungen, transnationale Unternehmen<br />

– dann gibt es kein Entlastungssystem.<br />

Und auch in der globalen Wirtschaft<br />

zeigen sich Löcher in der Verantwortungszuschreibung.<br />

Man kann sagen,<br />

es herrscht ein Zustand von kompletter<br />

Verantwortungsdiffusion. Und so stimmt<br />

es zum einen, dass wir alle ein wenig<br />

schuld sind, insofern wir von einer globalen<br />

Ordnung profitieren, die für andere<br />

nachteilig ausfällt. Aber zum anderen ist<br />

der Begriff der moralischen Schuld hier<br />

nicht sehr hilfreich, weil wir gar nicht wissen,<br />

was wir tun müssten, um unsere Mitschuld<br />

abzutragen. Was wir benötigen, ist<br />

eine institutionalisierte Verantwortungszuschreibung.<br />

Damit meine ich globale<br />

Spielregeln, die das Wohl der Bevölkerung<br />

im Blick haben, nicht nur jenes der<br />

Eliten. Als Bürger eines demokratischen<br />

Landes haben wir meiner Meinung nach<br />

die Pflicht, unsere Stimme für einen solchen<br />

politischen Veränderungsprozess<br />

einzubringen.<br />

Was sind Ihre persönlichen Gedanken<br />

zur Flüchtlingskrise?<br />

Erst mal glaube ich, dass wir in der<br />

Schweiz im Moment keine Krise haben.<br />

Dennoch glaube ich, dass wir an einer<br />

Zeitenwende stehen – weniger wegen der<br />

Flüchtlinge als wegen der Terroranschläge<br />

und der brutalen Kriege, die zu Migration<br />

führen. Wir hatten diesen liberalen Traum<br />

einer pluralistischen und aufgeklärten Gesellschaft,<br />

tolerant gegenüber religiösen<br />

Haltungen, die wir als Privatsache betrachten.<br />

Im Kern sind wir der Freiheit des<br />

Einzelnen verpflichtet, und wir hofften:<br />

Irgendwann werden vielleicht alle Länder<br />

dieser Welt ähnliche Verfassungen kennen<br />

wie wir. Nun werden wir mit einem anderen,<br />

einem autoritären Traum konfrontiert.<br />

Mit Menschen, die sich an autoritären<br />

Regimes orientieren und sich deren<br />

Machtstrukturen unterwerfen und sogar<br />

bereit sind, für sie zu sterben – weil sie<br />

religiös aufgeladen sind. In diesem Traum<br />

zählt die Zugehörigkeit zur Gruppe, nicht<br />

das Individuum. Und insofern macht dieser<br />

Traum auch Angst.<br />

14 ZeSo 3/16 interview


Barbara Bleisch<br />

Barbara Bleisch, geboren 1973, promovierte im<br />

Bereich Philosophie zum Thema «Pflichten auf<br />

Distanz. Weltarmut und individuelle Verantwortung».<br />

Sie moderiert seit 2010 die Sendung<br />

«Sternstunde Philosophie» beim Schweizer Radio<br />

und Fernsehen SRF. Bleisch arbeitet daneben<br />

am Ethik-Zentrum der Universität Zürich, unter<br />

anderem zum Thema Familienethik, und hat<br />

Lehraufträge für Ethik an verschiedenen Hochschulen.<br />

Sie lebt mit ihrer Familie in Zürich.<br />

Und was machen wir mit dieser Angst?<br />

Wir verteidigen oft reflexartig unsere<br />

offene Gesellschaft, ohne genau zu wissen,<br />

was wir darunter verstehen. Mir fällt auf,<br />

dass plötzlich auch in intellektuellen Kreisen<br />

Begriffe wie Leitkultur oder Heimat<br />

eine Rolle spielen. Offenbar suchen wir<br />

nach dem, was uns eint und was wir verteidigen<br />

wollen und mit guten Gründen<br />

auch verteidigen sollen. Möglicherweise<br />

sind wir aber selbst nicht mehr <strong>ganz</strong> so vorbehaltlos<br />

glücklich mit unserem liberalen<br />

Traum und sehen, dass wir ihn erweitern<br />

müssen. Freiheit hat ja auch ihre Schattenseite,<br />

sie überfordert uns zunehmend, weil<br />

sie in einen Druck ausartet, sich immer<br />

wieder neu zu erfinden. Obwohl wir reich<br />

sind, sind viele Menschen überfordert<br />

und erschöpft. So gesehen ist der liberale<br />

Traum nicht nur von aussen, sondern auch<br />

von innen unter Druck.<br />

Was gehört zu einer sicheren Existenz?<br />

Neben verschiedenen materiellen<br />

Gütern gehört für mich auch Anerkennung<br />

dazu. Niemand möchte einfach Empfänger<br />

von Almosen sein, sondern man<br />

möchte auch dazugehören, ein taugliches<br />

Mitglied in einer Gesellschaft sein. Ich<br />

glaube, die meisten Menschen möchten<br />

im Leben eine Aufgabe haben, gebraucht<br />

werden.<br />

In der Sozialhilfe ist das Existenzminimum<br />

ein fester Begriff, der sich über<br />

einen materiellen Grundbedarf ableitet.<br />

Gibt es in der Philosophie Wurzeln<br />

für diese Haltung?<br />

Es gibt dazu unterschiedlichste Vorschläge.<br />

Die einen orientieren sich an den<br />

Menschenrechten, andere an der Menschenwürde,<br />

wieder andere an den «basic<br />

needs», die sich ein Stück weit auch aus der<br />

menschlichen Natur ableiten. Von grosser<br />

Bedeutung ist auch der «capability approach»<br />

von Martha Nussbaum und Amartya<br />

Sen, der von den Grundfähigkeiten eines<br />

Menschen ausgeht und damit umfassender<br />

ist als der Bedürfnisansatz. Bei Nussbaum<br />

und Sen gehört zum sozialen Minimum<br />

auch dazu, dass Menschen die Möglichkeit<br />

haben müssen, Beziehungen zu leben, zu<br />

spielen, die Natur zu erfahren, etc. Wenn<br />

Menschen nicht genug haben zum Leben,<br />

werden sie nicht fähig sein, miteinander zu<br />

lachen, zu lieben und zu feiern.<br />

Lassen Sie uns mit einer letzten philosophischen<br />

Frage abschliessen. Was<br />

ist wirklich wichtig?<br />

Für mich persönlich: Weiterkommen.<br />

Die Dichterin Nelly Sachs sagte: «Alles beginnt<br />

mit der Sehnsucht.» Ich glaube, das<br />

stimmt. Deshalb sollten wir nicht aufhören,<br />

unsere Sehnsucht zu nähren. Sowohl<br />

im eigenen Leben – etwas aus sich machen<br />

wollen. Aber nicht grob und mit dem<br />

Plan im Kopf, dass eine bestimmte Karriere<br />

dabei herausspringen muss. Sondern<br />

sanft und eben: sehnsüchtig. Aber auch<br />

gesellschaftlich ist die Sehnsucht wichtig.<br />

Ihr steht das pragmatische TINA-Prinzip<br />

gegenüber: There is no alternative! Die<br />

Haltung, dass es keine Alternativen geben<br />

kann zur heutigen gesellschaftspolitischen<br />

und sozioökonomischen Ordnung. Das<br />

utopische Denken ist uns gesellschaftlich<br />

ziemlich abhandengekommen. Zwar sind<br />

viele unzufrieden, aber sie glauben nicht<br />

mehr, dass sich die Dinge anders und<br />

besser organisieren liessen. Das sollten wir<br />

ändern. <br />

•<br />

Das Gespräch führte<br />

Michael Fritschi<br />

interview 3/16 ZeSo<br />

15


Bild: Keystone<br />

16 ZeSo 3/16 SCHWERPUNKT


Gemeinsame Anstrengungen für den<br />

Zugang der Flüchtlinge zum Arbeitsmarkt<br />

Zwischen 2014 und 2015 hat sich die Zahl der Asylgesuche in Europa mehr als verdoppelt. Auch die<br />

Schutzquote steigt an. Damit die Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen ihren Platz in der<br />

Gesellschaft und auf dem Schweizer Arbeitsmarkt finden, müssen alle Anstrengungen vereint werden.<br />

Seit Anfang <strong>2016</strong> haben 3252 Menschen in unserem Land Asyl<br />

erhalten, 3618 weitere wurden vorläufig aufgenommen. Sie kommen<br />

vorwiegend aus Eritrea, Syrien, Sri Lanka, der Türkei und Afghanistan.<br />

Gleichzeitig warten infolge der vielen Asylgesuche nahezu<br />

30 000 Personen auf einen Asylentscheid. Ein grosser Teil<br />

von ihnen – auch die vorläufig aufgenommenen Personen – werden<br />

längerfristig in der Schweiz bleiben. Ihre möglichst frühzeitige<br />

und nachhaltige Integration ist deshalb entscheidend. Die<br />

Eingliederung in den Arbeitsmarkt ist ein zentrales Ziel des Integrationsprozesses,<br />

doch sie gelingt nur, wenn alle beteiligten Akteure<br />

ihren Beitrag dazu leisten.<br />

Potenziale erkennen und fördern<br />

Eine 2014 vom Staatssekretariat für Migration (SEM) in Auftrag<br />

gegebene Studie hat erstmals ein umfassendes Bild über die Entwicklung<br />

der Arbeitsintegration von Flüchtlingen und vorläufig<br />

Aufgenommenen über zehn Jahre hinweg geliefert. Da die meisten<br />

Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen mittellos in der<br />

Schweiz ankommen, sind sie in der Regel zunächst auf Sozialhilfe<br />

angewiesen. Die Studie zeigt: Fünf Jahre nach ihrer Einreise haben<br />

30 Prozent der Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen den<br />

Schritt in den Arbeitsmarkt geschafft. Bis dieser Anteil auf 50 Prozent<br />

ansteigt, dauert es jedoch mindestens doppelt so lange.<br />

Potenzialabklärungen, Coachings, Sprachkurse, Berufsausbildungen<br />

und Praktika sind entscheidende Massnahmen, um<br />

die Chancen der Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen.<br />

Eine <strong>2016</strong> vom SEM in mehreren Kantonen durchgeführte Studie<br />

zur Potenzialabklärung von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen<br />

zeigt, dass sich Potenzialabklärungen positiv auf<br />

die folgenden Entscheide und die verfügten Massnahmen im<br />

beruflichen Integrationsprozess auswirken. Entscheidend für die<br />

Wirksamkeit der Potenzialabklärung sind jedoch die enge Zusammenarbeit<br />

und ein gezielter Informationsaustausch zwischen<br />

den verschiedenen Stellen. Angesichts der zunehmenden Zahl von<br />

Asylentscheiden haben deshalb viele Kantone im Rahmen der kantonalen<br />

Integrationsprogramme (KIP) ihre internen Abläufe und<br />

Prozesse zwischen den beteiligten Akteuren analysiert und verbessert.<br />

Dies hauptsächlich mit dem Ziel, Leerläufe und Unterbrüche<br />

für die Betroffenen möglichst zu vermeiden.<br />

Da die Mehrheit der Menschen aus dem Asylbereich sozialhilfeabhängig<br />

ist, kommt der Sozialhilfe in der interinstitutionellen<br />

Zusammenarbeit eine Schlüsselrolle zu. Die Potenzialabklärung<br />

und -förderung jedes Einzelnen ist für die Sozialdienste zweifellos<br />

mit Aufwand verbunden. Sozialarbeitende sind meistens die<br />

ersten Bezugspersonen der Flüchtlinge und spielen deshalb eine<br />

zentrale Rolle. In der heutigen Situation ist die SKOS ein we-<br />

sentlicher Partner in der interinstitutionellen Zusammenarbeit,<br />

da sämtliche Akteure der Sozialhilfe – einschliesslich der Sozialdienste<br />

im Asylbereich – in der SKOS vertreten sind. Eine wichtige<br />

Aufgabe des Fachverbandes bestünde darin, ihre Mitglieder über<br />

die Entwicklungen und Massnahmen auf gesamtschweizerischer<br />

Ebene zu informieren, ihre Bedürfnisse zu erfassen und sie mit<br />

Angeboten, Informations- und Hilfsmitteln, Weiterbildungen<br />

oder auf andere Art und Weise zu unterstützen.<br />

Ein hindernisreicher Weg<br />

Die berufliche Integration der Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen<br />

ist, bedingt durch ihren rechtlichen Status, zuweilen<br />

auch ein administrativer Hürdenlauf. Studien haben gezeigt, dass<br />

Arbeitgebende wegen kosten- und zeitintensiven administrativen<br />

Auflagen Bewerbenden, die nicht aus dem Asylbereich stammen,<br />

den Vorzug geben. Zur Verbesserung dieser Situation hat der Bundesrat<br />

Anfang März <strong>2016</strong> in der Botschaft zu den Bestimmungen<br />

des Ausländergesetzes (AuG) vorgeschlagen, die Bewilligungsverfahren<br />

zu vereinfachen und die obligatorische Sonderabgabe von<br />

10 Prozent auf das Einkommen der vorläufig Aufgenommenen<br />

abzuschaffen. Gestützt auf die Empfehlungen der Vereinigung der<br />

kantonalen Migrationsbehörden (VKM) und des Verbands der<br />

schweizerischen Arbeitsmarktbehörden (VSAA) prüft das SEM zusammen<br />

mit seinen Partnern weitere konkrete Wege, um den Zugang<br />

der Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen zum Arbeitsmarkt<br />

zu erleichtern. Dazu gehören beispielsweise die Frage der<br />

Beschäftigung in einem anderen Kanton oder die Klärung der<br />

Rahmenbedingungen für den Zugang zu einem Praktikum.<br />

Weiter hat der Bundesrat 2015 beschlossen, ein Pilotprogramm<br />

zur Unterstützung und Ergänzung der bestehenden Strukturen<br />

zu starten. Vorgesehen ist einerseits die Einführung einer<br />

Integrationsvorlehre, die den Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen<br />

den Zugang zu einer Berufsausbildung mit EBA- oder<br />

EFZ-Abschluss erleichtern soll. Diese Integrationsvorlehre, zu der<br />

auch Sprachunterricht und die Förderung von praktischen Grundkompetenzen<br />

gehören, erlaubt es den Teilnehmenden, sich mit<br />

der Arbeitswelt in der Schweiz vertraut zu machen und bei einem<br />

Praktikum konkrete Erfahrungen zu sammeln. Für die Umsetzung<br />

des Pilotprogramms hat das SEM zusammen mit dem Staatssekretariat<br />

für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) eine breit<br />

angelegte Konsultation bei seinen Partnern in den Kantonen und<br />

den Organisationen der Arbeitswelt (OdA) durchgeführt. Andererseits<br />

zielt der zweite Teil des Pilotprogramms darauf ab, die<br />

Wartezeit zwischen der Ankunft in der Schweiz und dem Asylentscheid<br />

zu nutzen, um die Sprachkompetenzen von Asylsuchenden<br />

mit guter Bleibeperspektive zu stärken. Beide Teile des insgesamt<br />

18 ZeSo 3/16 SCHWERPUNKT


Arbeitsintegration<br />

vier Jahre dauernden Programms (2018-2021) betreffen je rund<br />

1000 Personen und sollen bis Ende 2017 ausgearbeitet werden.<br />

Eine Chance für alle<br />

Die berufliche Integration der Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen<br />

entlastet mittelfristig die Sozialhilfe. Zudem stellt das<br />

Potenzial dieser oft sehr jungen Menschen eine Chance für Branchen<br />

und Betriebe dar, die mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen<br />

haben oder Arbeitskräfte im Ausland rekrutieren müssen. Der<br />

Übergang von der Sozialhilfe zur nachhaltigen finanziellen Selbstständigkeit<br />

verläuft in erster Linie über eine Ausbildung. Im Bewusstsein<br />

dessen hat die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren<br />

(EDK) im Juni <strong>2016</strong> im Einverständnis mit dem SEM<br />

und dem SBFI Empfehlungen für einen verbesserten Zugang von<br />

spät zugewanderten Jugendlichen und jungen Erwachsenen, darunter<br />

namentlich auch von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen,<br />

in die postobligatorische Ausbildung und in den Arbeitsmarkt<br />

gutgeheissen. Unter den avisierten Massnahmen sind der<br />

Ausbau und die Koordination der bestehenden Angebote an den<br />

Nahtstellen, die Berufsberatung und das Case Management sowie<br />

das Gespräch mit den Wirtschaftspartnern besonders wichtig.<br />

Die enge Zusammenarbeit der verschiedenen Partner und die<br />

Abstimmung der Massnahmen erhöhen die Arbeitsmarktchancen<br />

der Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen. Die Asylstatistiken<br />

der letzten Jahre zeigen, dass trotz insgesamt steigender<br />

Anzahl von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen es<br />

weiterhin gelingt, dass ein konstanter Anteil dieser Personen im<br />

Schweizer Arbeitsmarkt Fuss fassen kann.<br />

•<br />

Adrian Gerber<br />

Chef der Abteilung Integration,<br />

Staatssekretariat für Migration (SEM)<br />

Myriam Schleiss<br />

Fachreferentin in der Abteilung Integration,<br />

Staatssekretariat für Migration (SEM)<br />

Arbeitsmarktintegration von Personen aus dem<br />

Asylbereich: Eine lohnenswerte Investition<br />

Die Integration von Personen aus dem Asylbereich in den Arbeitsmarkt<br />

ist eine aus gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Perspektive<br />

lohnenswerte Investition. Scheitert sie, so hat die öffentliche<br />

Hand – insbesondere auch die Kantone – die Folgekosten zu tragen,<br />

etwa in Form von langjährigen Sozialhilfeleistungen.<br />

Die nachhaltige Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen und<br />

vorläufig aufgenommenen Personen gelingt viel eher, wenn diese<br />

eine Tätigkeit ausüben, die ihren Fähigkeiten und Interessen entspricht.<br />

Deshalb ist es unabdingbar, dass vorhandene Qualifikationen,<br />

fachliche Fähigkeiten sowie die bisherige Berufserfahrung<br />

mittels Standortbestimmungen und vertieften Potenzialabklärungen<br />

erkannt und letztlich auch anerkannt werden. Eine enge<br />

und individuelle Begleitung der zu integrierenden Personen mittels<br />

Jobcoaching und Case Management kann dabei zielführend<br />

sein.<br />

Alle involvierten staatlichen Akteure müssen darauf hinarbeiten,<br />

dass Unternehmen die Arbeitsintegration von Personen aus<br />

dem Asylbereich als Teil ihrer längerfristigen Personalpolitik verstehen<br />

und sich verbindlich engagieren. Anhand von Beratungsund<br />

Informationsangeboten für Arbeitgebende sowie durch<br />

finanzielle Unterstützung für Integrationsarbeit in den Unternehmen<br />

könnte der Staat die Wirtschaft in diesem Bestreben noch<br />

besser unterstützen. Zudem sollen berufliche Qualifizierungsprogramme<br />

und Berufseinstiegskurse stärker auf die Bedürfnisse des<br />

Arbeitsmarktes und der Arbeitgebenden ausgerichtet werden.<br />

Ein spezielles Augenmerk ist auf die Integration von schutzbedürftigen<br />

Jugendlichen, die nach der obligatorischen Schulpflicht<br />

in die Schweiz eingewandert sind, sowie von unbegleiteten minderjährigen<br />

Personen aus dem Asylbereich zu legen. Diese Kinder<br />

und Jugendlichen – die grossmehrheitlich ihre Zukunft in der<br />

Schweiz verbringen werden – haben spezifische Bedürfnisse, aber<br />

auch Potenziale, die für eine erfolgreiche Integration zu berücksichtigen<br />

sind.<br />

Die Kosten einer gescheiterten Integration übersteigen die Aufwendungen<br />

für Integrationsmassnahmen bei Weitem. Deshalb<br />

sollten wir Flüchtlingen und vorläufig aufgenommenen Personen<br />

den Weg in unsere Arbeitswelt ebnen und ihnen die Möglichkeit<br />

für eine erfolgreiche Integration bieten. <br />

•<br />

Peter Gomm<br />

Präsident Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und<br />

Sozialdirektoren (SODK)<br />

SCHWERPUNKT 3/16 ZeSo<br />


Mit beruflicher Grundausbildung zur<br />

nachhaltigen Integration<br />

Mit dem Ausbildungs- und Integrationsprojekt «Maflü» hat die Micarna in Zusammenarbeit mit<br />

Kantonen und gemeinnützigen Organisationen eine berufliche Grundausbildung für Flüchtlinge<br />

entwickelt, die diesen eine wirtschaftliche Perspektive in der Schweiz ermöglichen soll.<br />

Kaum ein anderes Land gilt als so sicher wie die Schweiz. Nicht<br />

nur die politische Stabilität scheint langfristig gegeben, auch<br />

die wirtschaftliche Entwicklung ist stabil. Demgegenüber stehen<br />

politische Unruheherde in Osteuropa, dem Nahen Osten und in<br />

Afrika, oft kombiniert mit wirtschaftlichen Krisensituationen.<br />

Immer mehr Menschen sind dadurch gezwungen, aus ihrem<br />

Heimatland zu fliehen. Ohne Sprachkenntnisse, ohne finanzielle<br />

Mittel, ohne berufliche Perspektiven. Ein Ansatz, wie die<br />

Privatwirtschaft aus eigener Initiative ein Integrationsprojekt<br />

lancieren und umsetzen kann, ist das Projekt Maflü der Micarna-<br />

Gruppe, dem Fleischverarbeitungsbetrieb der Migros, der an<br />

mehreren Standorten rund 3000 Mitarbeitende beschäftigt.<br />

Maflü steht für «Micarna Ausbildung für Flüchtende».<br />

Die Entscheidung, selber aktiv zu werden, wurde der Micarna<br />

dadurch erleichtert, dass ihre Voraussetzungen für eine rasche Konzipierung<br />

und Umsetzung eines solchen Projekts gut sind. Bereits<br />

heute arbeiten Menschen aus über 70 verschiedenen Nationen<br />

an verschiedenen Standorten. In Courtepin im Kanton Freiburg<br />

arbeitet die Micarna zudem seit längerem mit einer regionalen<br />

Temporärfirma zusammen, die Asylbewerber der Kategorie F<br />

(vorläufig Aufgenommene) beschäftigt. Damit sind zwei entscheidende<br />

Grundvoraussetzungen für ein nachhaltig erfolgreiches<br />

Integrationsprojekt erfüllt: Micarna bietet ein Arbeitsumfeld, das<br />

den Einsatz von Menschen mit minimalen Sprachkenntnissen erlaubt,<br />

und sie hat langjährige Erfahrung mit der Ausbildung und<br />

Arbeitsintegration von Migranten.<br />

erster Linie sind diese Personen aber für eine Ausbildung in den<br />

Bereichen Fleischverarbeitung, Lebensmitteltechnologie, Technik<br />

sowie in der Hauswirtschaft prädestiniert.<br />

Caritas als wichtigstes Bindeglied<br />

Gerade die Lebensmittelindustrie und die Gastronomie bieten gute<br />

Voraussetzungen für Ausbildungs- und Integrationsprojekte<br />

dieser Art. Bei Micarna kommt hinzu, dass das Unternehmen aktiv<br />

nach Fachkräften sucht. Es liegt im betriebseigenen Interesse, motivierte<br />

Menschen aufzunehmen, auszubilden und ihnen eine berufliche<br />

Perspektive zu bieten. So ist ein langfristiges Ziel auch, die<br />

Absolventen des Maflü-Projekts später weiter zu beschäftigen und<br />

entsprechend weiter zu fördern. Wenn das Interesse und die fachlichen<br />

und sprachlichen Kompetenzen vorhanden sind, kann darauf<br />

aufgebaut und beispielsweise eine Ausbildung mit eidgenössischem<br />

Fähigkeitszeugnis angestrebt werden. Ganz ohne<br />

Herausforderungen ist ein solches Integrationsprojekt allerdings<br />

auch für ein Unternehmen wie die Micarna nicht. So braucht es neben<br />

der Detailkoordination zwischen Unternehmen und Kanton<br />

auch einen intensiven Austausch mit Organisationen, die sich in<br />

Alle Berufe stehen zur Auswahl<br />

Der Kern des Maflü-Projekts besteht denn auch aus einer beruflichen<br />

Grundausbildung, verbunden mit Massnahmen zur sprachlichen<br />

und gesellschaftlichen Integration in den Gemeinden. Bei<br />

der Grundausbildung handelt es sich um eine Attestausbildung<br />

oder Vorlehre, ausgerichtet auf Menschen, denen nicht nur die<br />

Schweiz, sondern auch unsere Landessprachen fremd sind. Im Gegensatz<br />

zur klassischen Berufslehre (Sprachniveau B1) reichen für<br />

eine Attestausbildung Sprachkenntnisse auf Niveau A1/A2.<br />

Der Aufbau dieser Ausbildung ist vorerst individuell angedacht.<br />

Das bedeutet, dass ein Teilnehmer beispielsweise vier Tage<br />

in der Woche im Betrieb arbeitet und einen Tag einen intensiven<br />

Sprachkurs besucht. Eine andere Möglichkeit ist, dass die Sprachkurse<br />

auf mehrere Tage verteilt werden. Bereits im August hat ein<br />

Eritreer mit der Ausbildung zum Anlageführer begonnen. Für weitere<br />

Interessenten stehen die Micarna und der Kanton Freiburg<br />

in Kontakt; hier werden Einstiegs- und Ausbildungsmöglichkeiten<br />

für die zweite Jahreshälfte geprüft. Grundsätzlich stehen alle 18<br />

Ausbildungsberufe der Micarna auch den Flüchtlingen offen. In<br />

20 ZeSo 3/16 SCHWERPUNKT


Integration ist ein zeitintensiver Prozess<br />

Die Integration von anerkannten Flüchtlingen gelingt, wenn alle Beteiligten ihre Verantwortung<br />

wahrnehmen. Allerdings sollte man sich von der Illusion verabschieden, dass nachhaltige Integration<br />

generell im Eilzugstempo möglich ist.<br />

Eine junge Frau flüchtet aus ihrem Heimatland und reist einige<br />

Zeit später in die Schweiz ein. Hier beantragt sie Asyl. Die 25-Jährige<br />

wird dem Kanton Bern zugewiesen. Bereits während dem<br />

hängigen Verfahren profitiert sie von einzelnen Deutschlektionen.<br />

Bald erhält sie einen positiven Asylentscheid. Sie wird nun vom<br />

Flüchtlingssozialdienst des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK)<br />

Kanton Bern betreut (s. Box). Die Klientin wünscht sich, so rasch<br />

wie möglich einer Arbeit nachzugehen. Es folgen erste Schritte<br />

der beruflichen Integration: Sie besucht Sprachkurse und anschliessend<br />

den Fachkurs Pflege des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks<br />

SAH Bern, welcher ein fünfmonatiges Praktikum einschliesst.<br />

Nach intensiver Suche findet sie eine Lehrstelle. Die<br />

Eritreerin befindet sich nun in Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit.<br />

Dieses Beispiel* illustriert, wie die Integration von anerkannten<br />

Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen im Idealfall verlaufen<br />

kann. Die Weichen für eine positive Entwicklung werden<br />

meist schon zu Beginn gestellt. Seit der letzten Asylgesetzrevision<br />

behandeln die Bundesbehörden Gesuche, die keine Chance auf<br />

Anerkennung haben, schneller. Somit kann man davon ausgehen,<br />

dass Asylsuchende, die einem Kanton zugeteilt werden, mit einem<br />

positiven Entscheid rechnen dürfen. Deshalb sollte bei diesen Personen<br />

der Spracherwerb sofort gefördert werden, denn ohne minimale<br />

Deutschkenntnisse ist weder eine berufliche Qualifizierung<br />

noch eine soziale Integration möglich. Im Fall der eritreischen<br />

Frau hat das geklappt: Sie konnte bereits im Durchgangszentrum<br />

von Sprachkursen profitieren, was ihr den Weg in die Arbeitswelt<br />

geebnet hat.<br />

Flüchtlinge sind andere Migranten<br />

Einen entscheidenden Beitrag zur Integration leisten die betroffenen<br />

Menschen selbst. Dabei ist zu beachten, dass anerkannte<br />

Flüchtlinge nicht Migrantinnen und Migranten im klassischen<br />

Sinn sind. Ihre Emigration erfolgt nicht primär aus wirtschaftlichen,<br />

sondern aus politischen Gründen, oder sie werden durch<br />

Krieg und Gewalt vertrieben. Diese Traumatisierung führt häufig<br />

zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Ausserdem werden Betroffene<br />

abrupt aus dem Erwerbsleben gerissen. Es ist hinlänglich<br />

bekannt, welche gravierenden Folgen Arbeitslosigkeit und insbesondere<br />

Langzeitarbeitslosigkeit haben kann. Aus diesen Gründen<br />

müssen Flüchtlinge enorme Leistungen erbringen, um sich in einem<br />

neuen Umfeld orientieren und Schritte in Richtung Integration<br />

machen zu können.<br />

Was das konkret heissen kann, zeigt das Beispiel der 25-jährigen<br />

Eritreerin. Sie träumte davon, in der Schweiz Medizin zu<br />

studieren. Die Realität sieht aber anders aus. Es folgte ein Prozess<br />

der Desillusionierung. Die zuständige Sozialarbeiterin beim SRK<br />

Kanton Bern hatte die herausfordernde Aufgabe, der Frau die begrenzten<br />

Möglichkeiten aufzuzeigen, ohne sie dabei zu entmuti-<br />

Empfehlungen für eine bessere<br />

Integration<br />

Jugendliche und junge Erwachsene sollen frühzeitig in den<br />

Bildungsprozess integriert werden. Dazu ist eine Lockerung<br />

der Altersbeschränkung für den Eintritt in die obligatorische<br />

Schule oder für den Zugang zu berufsspezifischen Stützkursen<br />

(BSI) notwendig. Auch zusätzliche Angebote für die Altersgruppe<br />

25+ sind wünschenswert, beispielsweise Kurse, die<br />

Sprachkenntnisse und arbeitstechnisches Wissen verbinden.<br />

Frauen mit familiären Verpflichtungen muss der Zugang zu<br />

Integrationsprogrammen ermöglicht werden. Die Fremdbetreuung<br />

der Kinder sollte im Rahmen der Sozialhilfe über situationsbedingte<br />

Leistungen (SIL) finanziert werden. Wenn Kinder<br />

Kitas und Spielgruppen besuchen, fördert dies die Integration<br />

der <strong>ganz</strong>en Familie.<br />

Ein Schulterschluss mit der Wirtschaft ist die Basis für eine<br />

nachhaltige Integration. Betriebe sollten durch Anreizsysteme<br />

ermutigt werden, vermehrt Flüchtlinge anzustellen. Entsprechende<br />

Innovationen und Projekte sowie neue Finanzierungsmodelle<br />

zur Arbeitsintegration sind systematisch zu fördern.<br />

Aufhebung der Arbeitsbewilligung: Es ist unverständlich, weshalb<br />

es für die Anstellung eines anerkannten Flüchtlings eine<br />

Arbeitsbewilligung braucht. Solche administrativen Hürden<br />

müssen abgeschafft werden.<br />

Die Zivilgesellschaft sollte systematisch in den Integrationsprozess<br />

eingebunden werden, beispielsweise durch das<br />

Engagement von Freiwilligen.<br />

gen. Wenn es gelingt, diesen Personen neue Perspektiven aufzuzeigen,<br />

weckt dies Motivation und Selbstsicherheit.<br />

Motivierte Mitarbeitende<br />

Unter den Flüchtlingen befinden sich viele Frauen und Männer,<br />

die nur wenig oder gar keine schulische und berufliche Bildung<br />

mitbringen. Diese Lücken können nicht in kurzer Zeit geschlossen<br />

werden, umso mehr, weil das Anforderungsprofil an Arbeitnehmende<br />

in der Schweiz hoch ist. Kurzfristige Qualifizierungskurse<br />

sind zwar besser als gar keine, doch sie stossen in der Wirtschaft<br />

auf Skepsis und die Chancen auf eine langfristige Integration und<br />

damit auf finanzielle Unabhängigkeit sind gering. Die besten Aussichten<br />

bestehen dann, wenn eine reguläre Ausbildung absolviert<br />

werden kann. Die Integrationsförderung von anerkannten Flücht-<br />

22 ZeSo 3/16 SCHWERPUNKT


«Bei der Arbeitsintegration besteht<br />

ein Steuerungsdefizit»<br />

Qualifizierungsmassnahmen für Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene sind unumgänglich, um<br />

langanhaltende Sozialhilfeabhängigkeit zu vermeiden, sagt die abtretende SKOS-Geschäftsführerin<br />

Dorothee Guggisberg. Sie spricht über die Rolle der Sozialhilfe im Integrationsprozess und weist<br />

darauf hin, dass Bund und Kantone mehr Verantwortung übernehmen müssen.<br />

Die SKOS hat in ihrem Diskussionspapier «Arbeit statt Sozialhilfe»<br />

darauf hingewiesen, dass mit der grossen Zahl von<br />

Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen eine enorme<br />

Herausforderung auf die Schweiz zukommt. Warum hat die<br />

SKOS diese Diskussion lanciert?<br />

Dorothee Guggisberg: Die Asylgesuche und insbesondere die<br />

Schutzquote, die momentan bei rund 50 Prozent liegt, haben<br />

stark zugenommen. Wenn es nicht gelingt, die Menschen mit<br />

Bleiberecht in den Arbeitsmarkt zu integrieren, kommen innerhalb<br />

weniger Jahre enorme finanzielle Folgen auf die Kantone<br />

und die Gemeinden zu. Es ist die Aufgabe der SKOS, prospektiv<br />

zu denken und zur Diskussion und Lösungsfindung beizutragen.<br />

Warum ist die Erwerbsquote von Flüchtlingen und vorläufig<br />

Aufgenommenen so tief?<br />

Es spielen verschiedene Gründe eine Rolle. Für Asylsuchende<br />

sind praktisch keine Integrationsmassnahmen vorgesehen. Bis<br />

der Asylentscheid gefällt ist, gehen somit wichtige Jahre für den<br />

Integrationsprozess verloren. Mit der Revision des Asylgesetzes<br />

und schnelleren Asylverfahren wurde hier ein wichtiger Schritt gemacht.<br />

Weiter haben viele Flüchtlinge wenig Schulbildung oder<br />

sprechen keine europäische Sprache, manche sind Analphabeten.<br />

Viele haben auch keine Arbeitserfahrung, denn 55 Prozent der<br />

Menschen, die momentan ein Asylgesuch stellen, sind unter 25<br />

Jahre alt. Wer aufgrund einer Verfolgungssituation oder anderer<br />

schwieriger Umstände in die Schweiz kommt, ist zudem häufig<br />

belastet durch traumatische Erlebnisse, was die Lernfähigkeit beeinträchtigen<br />

kann. Auch der Schweizer Arbeitsmarkt macht es<br />

nicht einfach: Für Stellen, die nur geringe Qualifikationen erfordern,<br />

besteht eine grosse Konkurrenzsituation. Gefragt sind Fachkräfte.<br />

Qualifizierungsmassnahmen sind daher unumgänglich,<br />

wenn wir nicht wollen, dass diese Menschen in den nächsten 40<br />

Jahren von der Sozialhilfe abhängig sind.<br />

Welche Rolle spielt die Sozialhilfe im Integrationsprozess?<br />

Die Sozialhilfe ist der Ballungspunkt, weil die meisten Flüchtlinge<br />

und vorläufig Aufgenommenen zunächst in der Sozialhilfe<br />

sind. Also muss dort angesetzt werden. Die Sozialämter haben<br />

viel Erfahrung in der Arbeitsintegration und die Sozialarbeit bietet<br />

gute Methoden und Instrumente, um den Integrationsprozess<br />

zu begleiten, beispielsweise das Case Management oder Potenzialabklärungen.<br />

Die Sozialhilfe kann auch potenzielle Arbeitgeber<br />

unterstützen und eine aktive Rolle bei der Schaffung von Qualifizierungsplätzen<br />

übernehmen. Dies setzt aber entsprechende<br />

Zeitressourcen und spezialisiertes Personal voraus, denn Arbeitsintegration<br />

ist eine komplexe Aufgabe. Einfache Rezepte zur Integration<br />

gibt es nicht. Integration ist immer ein langer Prozess<br />

mit Hürden, Brücken und verschiedenen Phasen, denen genug<br />

Aufmerksamkeit und Zeit eingeräumt werden muss. Integration<br />

muss mit der Existenzsicherung einhergehen.<br />

Ist es unter diesen Vorzeichen möglich, die Flüchtlinge und<br />

vorläufig Aufgenommenen rasch in den Arbeitsmarkt zu<br />

integrieren?<br />

In der Praxis hat man festgestellt, dass eine Mehrheit der<br />

Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen nicht sofort arbeitsmarktfähig<br />

oder bereit für eine Berufslehre ist. Zuerst muss eine<br />

Ausbildungsfähigkeit geschaffen werden. Das bedeutet, dass<br />

sprachliche Voraussetzungen vorhanden sein müssen, aber auch<br />

soziale Kenntnisse: Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Verhalten am<br />

Arbeitsplatz. Das alles muss gelernt werden, was Zeit und Training<br />

erfordert.<br />

Selbst wenn es gelingt, die entsprechenden Qualifizierungsprogramme<br />

anzubieten – wie sieht es mit den Perspektiven<br />

danach aus?<br />

Die SKOS fordert, dass Qualifizierungsmassnahmen für<br />

Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene verpflichtend sind.<br />

Dies bedeutet auch, dass auf der anderen Seite ebenso eine Pflicht<br />

entsteht: Es muss entsprechende Möglichkeiten zur Ausbildung<br />

geben. Die Qualifizierungsprogramme dürfen nicht isoliert sein,<br />

sondern müssen Anschlussmöglichkeiten bieten und möglichst<br />

schnell in die Regelstruktur überführt werden. Dafür braucht es<br />

die Zusammenarbeit und eine gute Koordination aller Akteure aus<br />

dem Sozial-, Migrations- und dem Bildungsbereich.<br />

Für Qualifizierungsprogramme sind Investitionen notwendig.<br />

Wer soll die Kosten tragen?<br />

Es entstehen Kosten, ob wir die Menschen integrieren oder<br />

nicht. Die Frage ist, ob im Hinblick auf die Abnahme der Folgekosten<br />

investiert werden soll. Diese werden auch die Gemeinden<br />

tragen müssen. Man kann aber die Probleme, die aus globalen<br />

Kriegen und Armut entstehen, nicht alleine die Gemeinden lösen<br />

lassen. Der Bund und die Kantone müssen Verantwortung tragen.<br />

Der Bund muss seine Beteiligung noch ausdehnen und sich stärker<br />

an den Integrationskosten beteiligen.<br />

Mit der Forderung nach Qualifizierung verfolgt die SKOS die<br />

gleiche Stossrichtung wie das Staatssekretariat für Migration,<br />

das die Integrationsvorlehren einführt (s. Beitrag S.18).<br />

24 ZeSo 3/16 SCHWERPUNKT


Arbeitsintegration<br />

Für die Arbeitsmarktintegration braucht es auch die Wirtschaft.<br />

Ist das Engagement von dieser Seite vorhanden?<br />

Niemand hat auf die Flüchtlinge gewartet. Die Solidarität seitens<br />

Wirtschaft ist in den letzten zwei Jahren dennoch da gewesen.<br />

Viele Unternehmen und KMU bemühen sich, Hand zu bieten.<br />

In einigen Branchen besteht ein grösseres Interesse, weil es<br />

ein Überangebot an Lehrstellen und ein Mangel an Fachkräften<br />

gibt. Vielfach ist es jedoch auch bei Einzelinitiativen oder Versprechen<br />

geblieben. Für die Arbeitsintegration ist es unabdingbar,<br />

dass der Arbeitsmarkt diese Menschen aufnimmt. Das ist nicht<br />

erst entscheidend, wenn es um Stellen geht, sondern es sind bereits<br />

in jedem Qualifizierungsschritt Praktika und Schnuppermöglichkeiten<br />

nötig. Die Zusammenarbeit mit Arbeitgeber- und<br />

Branchenverbänden muss verstärkt werden. Und <strong>ganz</strong> wichtig<br />

ist: Administrative Hindernisse müssen weiter abgebaut werden.<br />

Arbeitgebende dürfen keinen grossen Mehraufwand und keine<br />

Zusatzkosten haben, wenn sie Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene<br />

einstellen.<br />

Dorothee Guggisberg, abtretende SKOS-Geschäftsführerin. Bild: Keystone<br />

Ja, es ist die gleiche Stossrichtung. In unseren Augen dauert<br />

die Umsetzung des Programms aber zu lange und es bietet viel zu<br />

wenige Plätze. Es müssen Wege gefunden werden, um den Rahmen<br />

auszudehnen. Es gibt bereits heute viele gute Integrationsprogramme,<br />

aber wir haben ein quantitatives Problem bezüglich<br />

der Plätze. Es muss den politischen Entscheidungsträgern bewusst<br />

sein, dass wir wertvolle Zeit verlieren, um Folgeprobleme zu<br />

verhindern, wenn wir nicht rasch breitflächig mit der Integration<br />

beginnen.<br />

Warum wird die Arbeitsintegration nicht stärker vorangetrieben?<br />

Es wird zwar viel getan und Lösungsansätze werden diskutiert.<br />

Aber es besteht ein Steuerungsdefizit, was eine effiziente und<br />

nachhaltige Lösungsentwicklung behindert. Es ist unklar, wer die<br />

Hauptverantwortung trägt: Ist es der Bund, sind es die Kantone?<br />

Diese Frage muss geklärt werden. Eine reine Koordinationsstruktur<br />

nützt aber nichts. Steuerung bedingt auch entsprechende<br />

Kompetenzen. Klar ist, das Thema betrifft viele verschiedene Akteure.<br />

Deshalb fordert die SKOS einen runden Tisch, damit diese<br />

Akteure zusammenkommen.<br />

Was bringt es der Wirtschaft unter dem Strich, Flüchtlinge<br />

und vorläufig Aufgenommene einzustellen?<br />

Selbstverständlich kann die Einstellung von Flüchtlingen und<br />

vorläufig Aufgenommenen nicht rein monetär motiviert sein. Integration<br />

erfolgt weitsichtig. Man könnte es mit Lehrstellen vergleichen:<br />

Dort investiert die Wirtschaft auch, ohne dass in jedem<br />

Fall unmittelbar eine grosse Wertschöpfung entsteht. Mittelfristig<br />

aber rechnet sich die Arbeitsintegration sowohl finanziell wie<br />

auch sozial. Sie leistet einen Beitrag zur Behebung des Fachkräftemangels.<br />

Und die Wirtschaft ist auf soziale Stabilität und Sicherheit<br />

angewiesen, also muss sie auch Hand bieten für die Integration.<br />

Integration ist Teil einer integralen Wirtschafts-, Finanz- und<br />

Gesellschaftspolitik. <br />

•<br />

Arbeit statt Sozialhilfe<br />

SCHWERPUNKT 3/16 ZeSo<br />

Interview<br />

Regine Gerber<br />

Im Diskussionspapier «Arbeit statt Sozialhilfe» hat die SKOS im<br />

November 2015 Vorschläge für eine rasche und nachhaltige Arbeitsintegration<br />

von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen<br />

veröffentlicht. Das Papier ist auf der SKOS-Website abrufbar.<br />

www.skos.ch Grundlagen und Positionen Positionen<br />

25<br />


Dürfen Flüchtlinge zur beruflichen<br />

Qualifikation verpflichtet werden?<br />

Die SKOS fordert im Diskussionspapier «Arbeit statt Sozialhilfe», dass alle arbeitsfähigen<br />

Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen gesetzlich verpflichtet werden, an einem beruflichen<br />

Qualifizierungsprogamm teilzunehmen. Ist dieser Ansatz zweckmässig und zulässig?<br />

pro<br />

contra<br />

Gianni D’Amato<br />

Direktor des Schweizerischen Forums für<br />

Migrations- und Bevölkerungsstudien und<br />

Professor an der Universität Neuchâtel.<br />

Isabel Bartal<br />

Soziologin und selbständige Beraterin<br />

für Sozial,- Migrations- und Integrationsfragen.<br />

Eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik ist in Zeiten hoher Fluchtzuwanderung<br />

der Königsweg. Für die rasche Arbeitsmarktintegration<br />

von Flüchtlingen ist ein Zweischritt erforderlich: Erstens müssen<br />

die Qualifikationen der Flüchtlinge in einem dafür vorgesehenen<br />

Profiling schnellstmöglich erfasst werden. Anschliessend soll im<br />

Sinne einer Investition das Humankapital gefördert werden, insbesondere<br />

die Sprachkenntnisse und die zeitgleiche (Re-)Qualifizierung,<br />

um den Einstieg in das Berufsleben zu sichern und somit die<br />

gesellschaftliche Integration zu gewährleisten.<br />

Die Verpflichtung zur Teilnahme an Qualifizierungsprogrammen ist<br />

notwendig, weil dadurch am ehesten jene gesellschaftliche Autonomie<br />

hergestellt wird, die Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene<br />

aus der Bevormundung rettet. Allerdings ist darauf zu achten, dass<br />

seriös abgeklärt wird, wer für ein solches Programm aufgrund von<br />

Traumata, Behinderungen und Krankheiten nicht in Frage kommen<br />

darf. Im Hinblick auf Familien muss sichergestellt werden, dass<br />

es Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder gibt, so dass auch<br />

Mütter an den Programmen teilnehmen können und nicht auf ihre<br />

Geschlechterrolle innerhalb der Familie reduziert werden.<br />

Zur beruflichen Qualifizierung würde aber auch gehören, dass man<br />

Flüchtlinge in Unternehmen schickt und dass die Unternehmen<br />

sich ansehen, wie man die Fähigkeiten der Flüchtlinge zertifizieren<br />

kann. Wie indes die Wirtschaft in diese integrationspolitische<br />

Aufgabe im Detail eingebunden werden soll, lässt das Diskussionspapier<br />

der SKOS leider offen. Der Kern des Papiers betrifft die<br />

Innovation, indirekt durch den Abbau von Bürokratie und direkt über<br />

qualifizierende Massnahmen, die staatlichen Behörden in die Pflicht<br />

zu nehmen. Ein solcher Systemwechsel kann jedoch nur unter der<br />

Voraussetzung funktionieren, dass Asylentscheide schnell fallen,<br />

was leider gegenwärtig bei voraussichtlich positiven Entscheiden<br />

nicht der Fall ist. Daher wäre es klug, insbesondere bei jungen<br />

Menschen vom Status abzusehen und auch Asylsuchende in solche<br />

Programme aufzunehmen.<br />

Zwang ist keine Ansichtssache. Oft wurden Menschen wegen ihrer<br />

sozialen Lage, Ethnie oder Abstammung gezwungen zu arbeiten oder<br />

sie wurden in Ausbildungsstätten eingesperrt. In der Schweiz sind<br />

wir gerade daran, die Geschichte der Verdingkinder aufzuarbeiten.<br />

Ungerechtigkeit kennt viele Begründungen und sie sind immer falsch.<br />

Im Art. 4 der Menschenrechtskonvention wird die staatlich angeordnete<br />

oder geduldete Zwangsarbeit sowie eine Arbeitspflicht verboten.<br />

Es kommt nicht darauf an, welche Ziele verfolgt werden, Zwang wirkt<br />

sich immer negativ auf die Menschen aus und weckt Widerstand.<br />

Dasselbe gilt für die Bildung. Experten sind sich einig: Zwangslernen<br />

macht dumm. Lern- und Verhaltenstheorien besagen, dass insbesondere<br />

Erwachsene am besten das lernen, was ihrem Leben unmittelbar<br />

etwas bringt.<br />

Die meisten Flüchtlinge möchten sich weiterbilden und arbeiten.<br />

Die Ämter hingegen hindern sie oft daran. Die Flüchtlingskrise in der<br />

Schweiz ist höchstens eine Krise der mangelnden Möglichkeiten.<br />

Denn Flüchtlinge sind gegenüber anderen Migrationsgruppen beim<br />

Zugang zu Arbeit und Bildung durch Sonderabgaben auf Löhne und<br />

durch die Arbeitsbewilligungspflicht deutlich benachteiligt. Flüchtlinge<br />

sind mehrheitlich jung, 90 Prozent sind unter 39 Jahre. Viele<br />

sind gut qualifiziert. Ist es ihre Schuld, dass sie mehrheitlich von der<br />

Sozialhilfe leben? Nein, schleppende Integration ist in erster Linie<br />

hausgemacht und hat strukturelle Gründe. Der unterschiedliche<br />

Erfolg in den Kantonen verdeutlicht dies. Im Kanton Graubünden<br />

beispielsweise gibt es keine Hürden im Arbeitsmarkt. Dort liegt die<br />

Erwerbsquote der vorläufig aufgenommenen Personen bei 60 und<br />

nicht 26 Prozent wie im schweizerischen Durchschnitt.<br />

Es wäre falsch zu behaupten, dass das Potenzial ausgeschöpft ist<br />

und nur noch Zwang Lösungen bringt. Es braucht in erster Linie einen<br />

Abbau von Integrationsbarrieren und es braucht Koordination: Koordination<br />

zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden, den verschiedenen<br />

Angeboten und zwischen allen beteiligten Stellen. Verlieren wir keine<br />

Zeit, investieren wir in Chancen auf Bildung und Arbeit.<br />

26 ZeSo 3/16 SCHWERPUNKT


Die Arbeitsintegration in den ersten<br />

Arbeitsmarkt ist möglich<br />

Arbeitsintegration<br />

Beim Konzept nach «Supported Employment» werden Strukturen und Erfahrungen aus der<br />

Temporär-Arbeitsvermittlung genutzt, um Flüchtlinge direkt in den ersten Arbeitsmarkt zu<br />

vermitteln. Damit der Ansatz Modellcharakter bekommt, müssen administrative Hürden abgebaut<br />

und die Bedingungen für interessierte Arbeitgeber erleichtert werden.<br />

Die Ausgangslage ist bekannt. Die meisten Flüchtlinge sind gesund,<br />

arbeitsfähig und arbeitswillig. Um ihre Integration in den<br />

Arbeitsmarkt zu fördern, existieren erste, unterschiedliche Ansätze.<br />

Im Folgenden wird das Konzept nach Supported Employment<br />

vorgestellt, das den Behörden Anstösse liefern kann, eine einheitlich<br />

anwendbare Strategie für die Integration von Flüchtlingen zu<br />

entwickeln.<br />

Während viele Integrationsansätze aufgrund von fehlenden<br />

beruflichen und sprachlichen Qualifikationen der Flüchtlinge auf<br />

Strukturen des zweiten Arbeitsmarkts abstützen, fokussiert der<br />

Ansatz des Supported Employment von Beginn weg auf den ersten<br />

Arbeitsmarkt. Der zweite Arbeitsmarkt bietet wohl gute Vorqualifizierungsmassnahmen,<br />

aber diese Institutionen wurden in erster<br />

Linie für geistig oder körperlich eingeschränkte Personen entwickelt.<br />

Wenn es gelingt, Flüchtlinge im Rahmen der beruflichen<br />

Qualifikation direkt in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln, so<br />

haben sie bessere Chancen auf eine reguläre Beschäftigung.<br />

Der Personalvermittler Workbox AG in St. Gallen, auf dessen<br />

Erfahrungen dieser Bericht abstützt, arbeitet mit einer mehrdimensionalen<br />

Vermittlungsstrategie, die sich sowohl an der Arbeitsmarktfähigkeit<br />

der Klienten wie an den Bedürfnissen der<br />

Wirtschaft ausrichtet. Zum einen müssen die vorhandenen Kompetenzen<br />

der Flüchtlinge erkannt werden, damit eine für sie sinnvolle<br />

Betätigung gefunden werden kann. Für Klienten, die im Heimatland<br />

nicht arbeitstätig waren – das sind primär Jugendliche<br />

– wurden Module entwickelt, um sie vorzuqualifizieren und sie<br />

so auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Die Vorqualifikation orientiert<br />

sich am dualen Ausbildungssystem: Die Flüchtlinge werden<br />

an zwei Tagen geschult, die restlichen Tage verbringen sie in<br />

einem Praktikumsbetrieb.<br />

Erfolgsfaktor Arbeitgeberanreiz<br />

Zum andern – und das ist ebenso wichtig – müssen die Arbeitgeber<br />

von möglichst allem zusätzlichen Aufwand, der mit der Beschäftigung<br />

eines Flüchtlings anfällt, entlastet werden. Der Vermittler<br />

übernimmt das gesamte Payrolling, indem die Anstellung<br />

über ihn läuft, und er agiert als Jobcoach. Zur administrativen und<br />

betreuungsseitigen Entlastung der Arbeitgeber wird also die bewährte<br />

Form der Temporär-Arbeitsvermittlung genutzt. Das Konzept<br />

lehnt sich auch an die Integrationsmuster der IV an, ist aber<br />

auf die Gegebenheiten der Flüchtlinge adaptiert. Das Ziel besteht<br />

darin, die richtige Person in einer geeigneten Anstellungsform in<br />

ein passendes Unternehmen zu vermitteln. Möglich sind sowohl<br />

Praktika wie auch befristete und unbefristete reguläre Anstellungen.<br />

Wirken die Arbeitgeberanreize gut, wirkt sich das auch auf die<br />

Erfolgschancen der Klienten aus. Sie werden trotz sprachlicher Defizite<br />

und Mangel an Schweizer Berufserfahrung konkurrenzfähig.<br />

Soll das Integrationskonzept nach Supported Employment auf<br />

nationaler Ebene Fuss fassen, müssen die nach wie vor vorhandenen<br />

Hürden (hohe Bewilligungskosten, Wartezeit bei einem<br />

Stellenantritt von bis zu einem Monat) dringend abgebaut werden.<br />

Im Temporärgeschäft wird das Personal in der Regel in einer<br />

Zeitspanne von zwei bis fünf Tagen disponiert.<br />

Wichtige Rolle des Jobcoaches<br />

Zudem muss die Rolle des Jobcoaches, der die Arbeitsmarktgegebenheiten<br />

branchenübergreifend kennt und der für die eigentliche<br />

Integration nach Supported Employment verantwortlich ist,<br />

gestärkt werden. Die Erfahrung zeigt auch, dass die Akzeptanz bei<br />

den Arbeitgebern, sich auf einen Versuch mit einem Flüchtling<br />

einzulassen, höher ist, wenn eine «neutrale», aber doch im Umgang<br />

mit Flüchtlingen erfahrene Person anstelle einer verwatungsnahen<br />

Institution als Vermittler auftritt. Die besten Resultate werden<br />

durch eine sukzessive und konstante Begleitung erzielt.<br />

Insbesondere für den Anstellungstyp Praktikumsbeschäftigung,<br />

der zum Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt wird, müssen<br />

die zuständigen Entscheidungsträger einen gemeinsamen<br />

Modus finden, der sich am Ansatz der interinstitutionellen Zusammenarbeit<br />

(IIZ) orientiert. Am zweckmässigsten wäre eine einzige<br />

Anlaufstelle auf Seiten der Behörden und Institutionen. Denn<br />

dies ist ein weiteres Hindernis: Ohne den Konsens aller beteiligten<br />

Institutionen wird die Arbeit des Jobcoaches behindert und die<br />

Motivation der Arbeitgeber, Flüchtlinge anzustellen, untergraben.<br />

Supported Employment kann einen entscheidenden Beitrag<br />

zur Arbeitsintegration von Flüchtlingen leisten. Dazu braucht es<br />

auf nationaler Ebene einheitliche schulische Prozesse, wirksame<br />

Anreize für Arbeitgeber, bessere gesetzliche Grundlagen und Finanzierungsmodelle<br />

sowie eine von den Behörden anerkannte Begleitung<br />

durch den Jobcoach. <br />

•<br />

Fabio Malinconico<br />

Work-Box Personal AG, St. Gallen<br />


Kompass für Fragen, die Personen<br />

im Strafvollzug betreffen<br />

Bei der Betreuung von Personen im Straf- und Massnahmenvollzug entstehen durch die Vielzahl der<br />

gesetzlichen Grundlagen und wegen unterschiedlicher Zuständigkeitsordnungen diverse Abgrenzungsund<br />

Schnittstellenprobleme zwischen dem Justizvollzug und der Sozialhilfe.<br />

Die kantonalen Sozialhilfegesetze und die<br />

SKOS-Richtlinien regeln die Sozialhilfeunterstützung.<br />

Befindet sich eine bedürftige<br />

Person allerdings im Justizvollzug, können<br />

durch die zusätzlich zur Anwendung kommenden<br />

gesetzlichen Grundlagen und Zuständigkeitsbestimmungen<br />

Abgrenzungsund<br />

Schnittstellenprobleme entstehen. Für<br />

Sozialarbeitende ohne fundierte juristische<br />

Kenntnisse kann die Klärung der Zuständigkeit<br />

rasch sehr aufwändig werden. Oft<br />

geht es dabei um Fragen, die eine Kostenübernahme<br />

betreffen: Wer muss bei einer<br />

bedürftigen Person eine Zahnbehandlung<br />

oder eine Brille bezahlen? In welchem Umfang<br />

kann das Arbeitsentgelt zur Kostendeckung<br />

verwendet werden?<br />

Im Bestreben, eine klare Auslegeordnung<br />

über die behördlichen Zuständigkeiten zu<br />

schaffen und eine landesweit einheitliche<br />

Anwendungspraxis zu fördern, haben die<br />

SKOS und die Konferenz der Kantonalen<br />

Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren<br />

(KKJPD) den Bericht «Empfehlungen<br />

zur Schnittstelle Justizvollzug – Sozialhilfe»<br />

erarbeitet. Dieser wird von der Konferenz<br />

der Kantonalen Sozialdirektorinnen und<br />

-direktoren (SODK) mitgetragen.<br />

Grundsätze und Zuständigkeit<br />

Die Basis der gemeinsamen Empfehlungen<br />

bilden eine Reihe zentraler Grundsätze<br />

und Zuständigkeitsfeststellungen:<br />

- Vollzugskosten und vollzugsbedingte<br />

Nebenkosten werden durch die einweisenden<br />

Behörden oder die Vollzugseinrichtungen<br />

getragen.<br />

- Für nicht vollzugsbedingte Kosten<br />

muss die inhaftierte Person mit eigenen<br />

Mitteln aufkommen: Namentlich mit<br />

dem Arbeitsentgelt – soweit es nicht als<br />

Rücklage für die Zeit nach der Entlassung<br />

gesperrt ist –, mit allfälligen Versicherungsleistungen,<br />

Vermögen oder<br />

Unterhaltsbeiträgen.<br />

- Aus Sozialhilfemitteln können aufgrund<br />

des Subsidiaritätsprinzips nur<br />

Leistungen bewilligt werden, für die<br />

kein Dritter aufkommen muss und zu<br />

deren Begleichung die inhaftierte Person<br />

selber nicht in der Lage ist.<br />

- Bei der Prüfung, ob jemand bedürftig<br />

im Sinne der Sozialhilfegesetzgebung<br />

ist, wird der persönliche Bedarf ermittelt.<br />

- Im Rahmen der Nothilfe gelten besondere<br />

Bestimmungen.<br />

Vollzugskosten sind jene Kosten, die<br />

durch den Vollzug einer strafrechtlichen<br />

Sanktion oder Haft verursacht werden.<br />

Das sind Kosten für die Gewährleistung<br />

der Sicherheit, Bewachung, Verpflegung,<br />

Betreuung und Beschäftigung der inhaftierten<br />

Person sowie Auslagen für justizspezifische<br />

Leistungen von psychiatrischen<br />

Kliniken oder Suchteinrichtungen. Vollzugsbedingte<br />

Nebenkosten hängen unmittelbar<br />

mit dem Haftzweck oder dem Vollzug<br />

einer Massnahme zusammen. Dies sind<br />

beispielsweise Kosten für eine einfache<br />

Grundausstattung an Kleidern (Trainer,<br />

Unterwäsche, Hausschuhe ohne Ersatzanschaffungen)<br />

oder Kosten für Fahrten zu<br />

Gerichtsterminen oder zum Besuch von<br />

Ärzten. Die Urteilskantone beziehungsweise<br />

die Einweisungsbehörden tragen auch<br />

die Kosten, die anfallen, wenn gerichtlich<br />

angeordnete Behandlungsmassnahmen<br />

in einer psychiatrischen Klinik oder einer<br />

Suchttherapieeinrichtung durchgeführt<br />

werden, soweit diese nicht von einer Krankenversicherung<br />

gedeckt werden.<br />

Persönliche Auslagen hingegen müssen<br />

grundsätzlich durch die inhaftierte Person<br />

getragen werden. Darunter fallen zum Beispiel<br />

Zigaretten, Gebühren für Telefon und<br />

Fernseher oder Zeitungsabonnemente.<br />

Verfügt die inhaftierte Person nicht über<br />

die erforderlichen Mittel, um persönliche<br />

Auslagen zu finanzieren, muss sie über<br />

die zuständige Stelle des Justizvollzugs<br />

ein Unterstützungsgesuch beim zuständigen<br />

Sozialhilfeorgan einreichen. Das Gesuch<br />

muss rechtzeitig, begründet und mit<br />

den für den Nachweis der Bedürftigkeit<br />

notwendigen Unterlagen versehen sein.<br />

Die Anspruchsprüfung erfolgt nach den<br />

kantonalen sozialhilferechtlichen Grundsätzen.<br />

Unterstützungsleistungen durch<br />

die Sozialhilfe können auch im Hinblick<br />

auf die Haftentlassung nötig werden, beispielsweise<br />

für die Erteilung einer Kostengutsprache<br />

für eine Wohnung oder für die<br />

Finanzierung von Einrichtungsgegenständen<br />

bei einem Neubezug einer Wohnung.<br />

KVG und Gesundheitskosten<br />

Viele Berührungspunkte zwischen dem<br />

Strafvollzug und der Sozialhilfe stehen im<br />

Zusammenhang mit Fragen, die die<br />

28 ZeSo 3/16 Justizvollzug


Schnittstelle<br />

Justizvollzug – Sozialhilfe<br />

Der Schlussbericht der Arbeitsgruppe zu Handen der KKJPD, der<br />

SODK und der SKOS gibt Empfehlungen rund um die Zuständigkeiten<br />

an der Schnittstelle zwischen Justizvollzug und Sozialhilfe ab.<br />

Dadurch wird er zu einem praktischen Kompass für Sozialarbeitende<br />

und Mitarbeitende des Justizvollzugs bei der Klärung auftretender<br />

Fragen, namentlich im Hinblick auf die Geltendmachung von Ansprüchen.<br />

Im Anhang des 66-seitigen Berichts befinden sich des Weiteren<br />

Vorlagen für einen Unterstützungsantrag und für ein Gesuch zur<br />

Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht sowie eine Gegenüberstellung<br />

der geltenden Bestimmungen zum zivilrechtlichen<br />

Wohnsitz nach ZGB und dem Unterstützungswohnsitz nach ZUG. Der<br />

Bericht ist auf der Website der SKOS verfügbar.<br />

www.skos.ch sozialhilfe-und-praxis rechtliches<br />

Bei bedürftigen Personen im Justizvollzug können<br />

Zuständigkeitsfragen entstehen. <br />

Bild: Keystone<br />

obligatorische Krankenpflegeversicherung<br />

(KVG) und Gesundheitskosten allgemein<br />

betreffen. Für die Sicherstellung des Krankenversicherungsobligatoriums<br />

ist der zivilrechtliche<br />

Wohnkanton zuständig. Fehlen<br />

der inhaftierten Person die notwendigen<br />

eigenen Mittel, muss also bei ihrem zivilrechtlichen<br />

Wohnsitz ein Gesuch um Prämienübernahme<br />

oder -verbilligung eingereicht<br />

werden.<br />

Ambulante oder stationäre Behandlungen<br />

mit medizinischer Indikation<br />

werden über die Krankenversicherung<br />

finanziert. Die inhaftierte Person trägt<br />

allerdings die üblichen Kostenbeteiligungen<br />

(Franchise und Selbstbehalte)<br />

sowie die Kosten für von der Krankenversicherung<br />

nicht gedeckte Leistungen wie<br />

Zahnbehandlungen oder medizinische<br />

Hilfsmittel wie Brillen und Hörgeräte.<br />

Verfügt die inhaftierte Person nicht über<br />

die erforderlichen Mittel zum Bezahlen<br />

dieser Auslagen, so hat sie Anspruch auf<br />

Sozialhilfeleistungen. Sie muss über die<br />

zuständige Stelle des Justizvollzugs –<br />

soweit kein Notfall vorliegt – vorgängig ein<br />

begründetes Gesuch beim zuständigen Sozialhilfeorgan<br />

einreichen.<br />

Bei vorübergehenden Aufenthalten von<br />

Personen in einem Spital oder einer Klinik<br />

übernimmt die Vollzugseinrichtung den<br />

allfälligen Spitalbeitrag von 15 Franken<br />

pro Tag, wenn der Justizvollzug der Vollzugseinrichtung<br />

für die Aufenthaltszeit<br />

weiter das Kostgeld ausrichtet. Bei stationären<br />

Spitalbehandlungen rechnen die<br />

Spitäler oder Kliniken ihre Leistungen mit<br />

der Krankenversicherung ab und ersuchen<br />

nötigenfalls beim (zivilrechtlichen) Wohnkanton<br />

einer ausserkantonal wohnhaften<br />

Person um Übernahme des Kantonsanteils.<br />

Werden die Kosten von der Krankenversicherung<br />

und vom Wohnkanton<br />

nicht vollumfänglich gedeckt, kommt der<br />

einweisende Kanton für die Differenz auf.<br />

Die Krankenversicherung stellt der inhaftierten<br />

Person die Kostenbeteiligungen in<br />

Rechnung.<br />

Weitere Themenfelder des Berichtes (s.<br />

Box) betreffen beispielsweise Fragen zur<br />

Deckung des AHV-Mindestbeitrags (wird<br />

nicht aus Mitteln der Sozialhilfe finanziert)<br />

oder zur sozialen Betreuung während und<br />

nach dem Vollzug (wird zwischen den Organen<br />

der Sozialhilfe und des Justizvollzugs<br />

respektive der Bewährungshilfe und<br />

dem Sozialhilfeorgan koordiniert). •<br />

Nadine Zimmermann<br />

Leiterin Öffentliche Sozialhilfe,<br />

Sozialamt des Kantons Zürich<br />

Präsidentin Kommission Rechtsfragen SKOS<br />

Justizvollzug 3/16 ZeSo<br />

29


«Ein gutes Leben haben!»<br />

Immer mehr unbegleitete Kinder und Jugendliche (MNA) suchen Asyl in der Schweiz.<br />

Das Projekt «Speak out!» der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV)<br />

gibt ihnen eine Stimme.<br />

Ein Samstagnachmittag auf dem Basler<br />

Barfüsserplatz. Gutgelaunte Menschen<br />

schlendern zwischen den Ständen des Antirassismus-Festivals<br />

Imagine umher. Aus<br />

grossen Pfannen strömen Currydüfte. Etwas<br />

abseits der Festivalbühne bildet eine<br />

Gruppe Jugendlicher tanzend und klatschend<br />

einen Kreis. Es sind unbegleitete<br />

minderjährige Asylsuchende aus Eritrea,<br />

Somalia, Afghanistan, Iran. Auf dem Programmzettel<br />

steht Breakdance. Doch aus<br />

den Boxen kommen orientalische Klänge:<br />

Gilaki, ein iranischer Hochzeitstanz.<br />

Auch Jonathan* geniesst die Musik. Er<br />

ist bald 16, stammt aus Eritrea. Jetzt lebt<br />

er in Basel in einem Wohnheim für unbegleitete<br />

minderjährige Asylsuchende. Er<br />

fühlt sich wohl dort. Rassismus? Ja, den<br />

kennt er. Zum Beispiel im Bus, wenn Leute<br />

nicht neben ihm sitzen wollen. Das tut<br />

weh, aber er sei es gewohnt. Er schaut lieber<br />

vorwärts, will Mechaniker werden. «Ich<br />

muss viel wissen, mich engagieren, dann<br />

geht es», sagt er zuversichtlich.<br />

Sein Landsmann Abiel* ist 15. Er<br />

möchte Elektriker lernen und macht sich<br />

bereits Sorgen, ob er mit 18 eine Wohnung<br />

findet. «Sie nehmen nur Reiche, solche<br />

im Anzug. Aber wenn ich eine Lehre<br />

habe, dann werde ich auch reich!», ist er<br />

überzeugt. Waris* ist 17. Sie stammt aus<br />

Somalia. Dass sie ihren Weg ohne Familie<br />

machen muss, macht ihr Druck, grossen<br />

Druck. Sie möchte FaGe werden, Fachangestellte<br />

Gesundheit, in einem Altersheim.<br />

«Aber das Kopftuch macht es schwierig,<br />

eine Lehrstelle zu finden», sagt Waris.<br />

Jonathan, Abiel und Waris gehören<br />

zu einer Gruppe von 40 minderjährigen<br />

Asylsuchenden, die auf Einladung des<br />

Projektes «Speak out!» ans Antirassismus-<br />

Festival Imagine gekommen sind. «Es geht<br />

Den isolierten Alltag für<br />

einmal vergessen.<br />

Bild: Ursula Markus<br />

30 ZeSo 3/16 reportage


uns vor allem um Integrationsförderung»,<br />

sagt Georgiana Ursprung, Projektleiterin<br />

von «Speak out!». Die jungen Asylsuchenden<br />

sollen gemeinsam mit anderen Jugendlichen<br />

etwas auf die Beine stellen und dabei<br />

ihren isolierten Alltag ein wenig vergessen,<br />

aber auch eine Plattform bekommen, wo<br />

sie ihre Anliegen kommunizieren können.<br />

Die Volljährigkeit macht Angst<br />

Gegründet wurde «Speak out!» 2009 auf<br />

Initiative von verschiedenen NGOs. Sie<br />

hatten immer wieder die mangelnden Mitbestimmungsmöglichkeiten<br />

der MNA und<br />

damit die Verletzung der UN-Kinderrechtskonvention<br />

kritisiert. Um die Situation<br />

zu verbessern, schloss man sich zur Association<br />

pour les Droits des Enfants<br />

Migrants zusammen. Nach einer Bedürfnisabklärung<br />

unter den MNA entwickelte<br />

Terre des Hommes das Projekt «Speak<br />

out!», welches seit 2010 durch die SAJV<br />

umgesetzt wird. Projektleiterin Georgiana<br />

Ursprung hat ein 40-Prozent-Pensum, seit<br />

kurzem wird sie unterstützt durch eine<br />

Mitarbeiterin mit Migrationshintergrund.<br />

Zum Team gehören auch vier soziokulturelle<br />

Animatorinnen und Animatoren, die<br />

die Anlässe und Auftritte mit den Jugendlichen<br />

planen und durchführen.<br />

Mitwirkung ist das Kernanliegen von<br />

«Speak out!». Ein erster grosser Erfolg<br />

war die Erarbeitung der MNA-Charta: In<br />

zwei Workshops brachten 30 junge Asylsuchende<br />

auf den Punkt, was ihnen unter<br />

den Nägeln brennt. Dabei traten, wie ein<br />

roter Faden, die grossen kantonalen Unterschiede<br />

bezüglich Unterbringung und<br />

Betreuung zutage: Je nach Region leben<br />

die MNA in spezifischen Heimen. In kleineren,<br />

ländlichen Kantonen hingegen<br />

müssen sie öfters ein Zimmer mit Erwachsenen<br />

teilen, was zu Problemen führen<br />

kann. Auch die Betreuungssituation<br />

variiert stark. Statt eines verbindlichen<br />

Beistandes erhalten die Jugendlichen in<br />

gewissen Kantonen lediglich eine Vertrauensperson.<br />

Unverständlich finden die<br />

Ein erster grosser<br />

Erfolg war die<br />

Erarbeitung der<br />

MNA-Charta.<br />

MNA auch die grossen kantonalen Unterschiede<br />

im Ausbildungsbereich. Und der<br />

18. Geburtstag macht ihnen häufig grosse<br />

Angst statt Freude, da sie mit der Volljährigkeit<br />

ihren Schutzstatus verlieren und<br />

für sich selber verantwortlich sind. Kommt<br />

ein negativer Asylentscheid hinzu, tauchen<br />

viele unter.<br />

Die MNA-Charta zeigte Wirkung. Für<br />

die Jugendlichen war es ein grosser Tag,<br />

als sie ihre Anliegen im Herbst 2014 vor<br />

70 Migrationsfachleuten präsentieren<br />

konnten. «Zu sehen, wie die jungen Leute<br />

ohne Angst auf der Bühne standen − das<br />

war Empowerment», freut sich Projektleiterin<br />

Georgiana Ursprung.<br />

Die Konferenz der Kantonalen Sozialdirektorinnen<br />

und Sozialdirektoren (SODK)<br />

nahm in ihren im Frühling <strong>2016</strong> verabschiedeten<br />

MNA-Empfehlungen einige<br />

Anliegen der MNA auf, etwa die Unterbringung<br />

in Gastfamilien, die sofortige<br />

Zuteilung eines Beistandes oder die sozialpädagogische<br />

Begleitung auch über die<br />

Volljährigkeit hinaus. Im Herbst findet<br />

ein offizielles Treffen zum Thema Harmonisierung<br />

und Mindeststandards statt.<br />

«Wir bleiben dran», verspricht Georgiana<br />

Ursprung.<br />

Im Projektalltag erlebt sie die jungen<br />

Asylsuchenden als sehr selbständig und<br />

hilfsbereit. Disziplinarprobleme gebe es<br />

an den Anlässen nur selten. Allerdings<br />

erreiche «Speak out!» eher MNA in günstigen<br />

Strukturen, relativiert die Projektleiterin.<br />

«Gewisse Zentren schicken uns<br />

niemanden. Entweder, weil sie zu knappe<br />

Ressourcen haben oder weil sie nicht<br />

möchten, dass die Jugendlichen ihre Situationen<br />

vergleichen.» Letztlich hänge das<br />

Engagement auch vom politischen Klima<br />

ab.<br />

Starker Tätigkeitsdrang<br />

Immer wieder fällt Georgiana Ursprung<br />

der starke Tätigkeitsdrang der MNA auf.<br />

Viele stünden unter grossem psychischem<br />

Druck, rasch Geld zu verdienen, damit ihre<br />

Familie die Flucht bezahlen kann: «Sie wollen<br />

arbeiten oder eine Ausbildung fertig<br />

machen und verstehen nicht, weshalb sie<br />

durch das hiesige System ausgebremst<br />

werden.» «Speak out!» führt deshalb jugendgerechte<br />

Workshops zu rechtlichen<br />

Aspekten des Asylprozesses durch. Es gelte<br />

allerdings, keine falschen Erwartungen zu<br />

wecken, denn das Projekt könne den Jugendlichen<br />

zwar eine Plattform bieten,<br />

aber keinen Einfluss auf ihr Verfahren oder<br />

auf Arbeitsmöglichkeiten nehmen, gibt die<br />

Projektleiterin zu bedenken.<br />

Neben der politischen Arbeit engagiert<br />

man sich auch auf der sozialen Ebene.<br />

«Speak out!» sei ein Jugendprojekt, sagt<br />

Georgina Ursprung. «Unsere Angebote<br />

sollen nicht nur kopflastig sein, sondern<br />

auch Spass machen.» Zum Angebot gehören<br />

denn auch Fussballturniere mit anderen<br />

Jugendorganisationen sowie Ausflüge<br />

oder Lager.<br />

Hat die «Speak out!»-Leiterin − auch<br />

angesichts der steigenden Fallzahlen − einen<br />

Wunsch an die Sozialtätigen? Jugendliche<br />

Asylsuchende, antwortet Georgina<br />

Ursprung, sollten trotz aller Probleme und<br />

erlittenen Traumatisierungen nicht einseitig<br />

als Opfer gesehen werden. «Sie sind<br />

primär Jugendliche in der Pubertät, die<br />

gerne Spass haben. Es wäre schade, wenn<br />

unsere Gesellschaft ihre Tatkraft nicht<br />

nutzen würde.» Jonathan, Abiel und Waris<br />

ihrerseits haben nur einen Wunsch an die<br />

Schweiz: «Ein gutes Leben haben!» •<br />

Paula Lanfranconi<br />

* Namen geändert<br />

reportage 3/16 ZeSo<br />

31


Gesundheitsinformationen für<br />

Migranten zugänglich machen<br />

Das Informationsportal migesplus.ch des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) unterstützt<br />

Fachpersonen dabei, Migrantinnen und Migranten den Zugang zu Gesundheitsinformationen zu<br />

erleichtern.<br />

PLATTFORM<br />

Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />

diese Rubrik als Plattform an, auf der sie sich<br />

und ihre Tätigkeit vorstellen können: in dieser<br />

Ausgabe dem Informationsportal migesplus.ch<br />

des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK).<br />

derung der Gesundheitskompetenz leisten.<br />

Gesundheitskompetenz meint die Fähigkeit<br />

des Einzelnen, im täglichen Leben<br />

Entscheidungen zu treffen, die sich positiv<br />

auf die Gesundheit auswirken.<br />

Zielgruppen besser erreichen<br />

Gesundheit und soziale Lebensbedingungen<br />

sind eng miteinander verknüpft:<br />

Soziale Benachteiligung und unzureichende<br />

Integration können die Gesundheit<br />

beeinträchtigen. Umgekehrt können<br />

ernsthafte Erkrankungen zu sozialen Notlagen<br />

führen. Hier bietet die Plattform<br />

migesplus.ch des Schweizerischen Roten<br />

Kreuzes (SRK) Unterstützung. Die Plattform<br />

informiert über das Thema Migration<br />

und Gesundheit und stellt praxisnahe<br />

Dienstleistungen in verschiedenen Bereichen<br />

zur Verfügung:<br />

migesInfo bietet rund 300 Publikationen<br />

verschiedener Herausgeber in bis<br />

zu 18 Sprachen an. Dabei handelt es sich<br />

beispielsweise um übersetzte Broschüren,<br />

Flyer und Ratgeber. Gesundheitsinformationen<br />

in der Sprache der Klientin und<br />

des Klienten anzubieten, ist vor allem im<br />

Beratungskontext ein sinnvolles Mittel zur<br />

Stärkung der Gesundheitskompetenz. Die<br />

meisten dieser Infomaterialien können<br />

kostenlos heruntergeladen oder als Druckversion<br />

bestellt werden.<br />

migesExpert liefert Informationen und<br />

Tipps für Fachpersonen, die Menschen<br />

mit Migrationshintergrund beraten, begleiten<br />

und behandeln. Beispielsweise<br />

werden Aspekte einer gelingenden Kommunikation<br />

beleuchtet oder Empfehlungen<br />

zur Zusammenarbeit mit Dolmetschenden<br />

abgegeben. Es wird thematisiert,<br />

wie Fachpersonen migrationsspezifische<br />

Faktoren in Beratungsgesprächen bestmöglich<br />

berücksichtigen und so zu<br />

einer vertrauensvollen Gesprächsgrundlage<br />

beitragen können. Informationen<br />

Menschen mit Migrationshintergrund gehören<br />

zum alltäglichen Klientel in der sozialen<br />

Arbeit. Aufgrund sprachlicher und<br />

struktureller Barrieren können die Kommunikation<br />

und ein gelingendes Beratungsgespräch<br />

erschwert sein. Gemäss<br />

Schätzungen des Bundesamts für Gesundheit<br />

sprechen in der Schweiz rund<br />

700 000 Personen als Hauptsprache keine<br />

der Schweizer Landessprachen, mindestens<br />

200 000 sprechen oder verstehen<br />

weder eine Landessprache noch Englisch.<br />

Oft können diese Personen auch bei ärztlichen<br />

Konsultationen ihre Anliegen dem<br />

Arzt oder der Ärztin nicht verständlich machen<br />

und sie verstehen die Informationen<br />

des Arztes manchmal nur ungenügend.<br />

Die Folgen solcher Zugangs- und Verständigungsbarrieren<br />

können gravierend sein<br />

und reichen von Fehldiagnosen über mangelnde<br />

Therapietreue bis hin zu Behandlungsfehlern,<br />

die das Gesundheitssystem<br />

zusätzlich belasten.<br />

Auch im Bereich der gesundheitlichen<br />

Vorsorge und Prävention erreichen die bestehenden<br />

Angebote die Migrationsbevölkerung<br />

unzureichend. Die verschiedenen<br />

Gesundheitsorganisationen sind aufgefordert,<br />

ihre Präventionsangebote so auszugestalten,<br />

dass die gesamte Bevölkerung, einschliesslich<br />

Migrantinnen und Migranten<br />

sowie sozial Benachteiligte, davon profitieren<br />

kann. Erst wenn Gesundheitsinformationen<br />

verstanden und im Alltag integriert<br />

werden, können sie einen Beitrag zur Förmigesplus.ch<br />

Die Plattform migesplus.ch des Schweizerischen<br />

Roten Kreuzes informiert über<br />

das Thema Migration und Gesundheit. Die<br />

Dienstleistungen richten sich an Migrantinnen<br />

und Migranten sowie an Fachpersonen, die<br />

Migranten beraten, betreuen oder behandeln.<br />

Das Projekt wird im Rahmen des nationalen<br />

Programms Migration und Gesundheit vom<br />

Bundesamt für Gesundheit unterstützt.<br />

www.migesplus.ch<br />

www.migesinfo.ch<br />

www.migesexpert.ch<br />

www.migesmedia.ch<br />

zu Aufenthaltsstatus und Sozialversicherungen<br />

runden dieses Angebot ab.<br />

migesMedia gibt eine Übersicht über<br />

die Medien der Migrationsbevölkerung in<br />

der Schweiz und kann Gesundheitsorganisationen<br />

dabei unterstützen, diese Medien<br />

im Rahmen ihrer Kommunikationsarbeit<br />

zu berücksichtigen. Das Ziel dieses Ansatzes<br />

ist, neue Zugangswege zu finden,<br />

um die Zielgruppen besser zu erreichen.<br />

So können Medienkooperationen, Kampagnen,<br />

Publireportagen und Werbeaufträge<br />

entstehen. Beispielsweise kann eine nationale<br />

Rauchstopp-Kampagne via «African<br />

Mirror TV» in der afrikanischen Diaspora<br />

verbreitet werden. <br />

•<br />

Katharina Liewald<br />

Projektleiterin migesplus.ch<br />

32 ZeSo 3/16 plattform


Überhöhte Mietzinse:<br />

So können sich Mieter wehren<br />

Die Mietzinshöhe ist nur bedingt Verhandlungssache. Gegen Mietzinse, die während des laufenden<br />

Mietverhältnisses zu hoch werden, oder gegen einen Anfangsmietzins, bei dessen Festlegung<br />

zwingende gesetzliche Vorgaben nicht eingehalten wurden, können sich Mieter allerdings wehren.<br />

Verfügt ein Sozialdienst intern nicht über<br />

das notwendige Know-how zum Abklären<br />

juristischer Fragen, kann er sich vom Beobachter-Beratungszentrum<br />

unterstützen lassen.<br />

Im folgenden Beitrag werden drei<br />

mietrechtliche Fragen beantwortet, die<br />

dem Beratungszentrum von SKOS-Mitgliedern<br />

gestellt wurden.<br />

Immer wieder kommen Klienten mit<br />

Mietverträgen vorbei, deren Mietzinse<br />

auf einem alten, zu hohen hypothekarischen<br />

Referenzzinssatz basieren.<br />

Der Vermieter weigert sich aber, den<br />

Mietzins zu senken. Was sollen die<br />

Klienten tun?<br />

Sobald der Referenzzinssatz fällt, können<br />

Mieter eine Reduktion des Nettomietzinses<br />

verlangen. Der Vermieter darf die<br />

Teuerung dagegen verrechnen. Zudem<br />

akzeptieren viele Schlichtungsbehörden<br />

eine allgemeine Kostensteigerungspauschale,<br />

oft 0,5 Prozent pro Jahr. Vermieter<br />

müssen den Mietzins nicht von sich aus<br />

reduzieren. Vielmehr müssen Mieterinnen<br />

die gewünschte Anpassung auf den nächstmöglichen<br />

Kündigungstermin und unter<br />

Einhaltung der Kündigungsfrist schriftlich<br />

verlangen. Entspricht der Vermieter<br />

dem Begehren nicht oder antwortet er<br />

nicht innert 30 Tagen, kann die Mieterin<br />

innert weiteren 30 Tagen an die Schlichtungsbehörde<br />

gelangen.<br />

Es ist anzunehmen, dass der Referenzzinssatz<br />

in den nächsten Jahren eher<br />

wieder steigt. Kann es sich lohnen,<br />

sich gegen zu erwartende Mietzinserhöhungen<br />

zu wehren?<br />

Kaum, sofern die Erhöhung rechtzeitig<br />

auf dem kantonal genehmigten Formular<br />

angezeigt und begründet wird und die<br />

Berechnung stimmt. Hat die Vermieterin<br />

hingegen die Formularpflicht missachtet,<br />

so ist die Mitteilung nichtig und hat<br />

keinerlei Wirkung. Um auf den nächstmöglichen<br />

Kündigungstermin in Kraft<br />

zu treten, muss das Formular zehn Tage<br />

vor Beginn der Kündigungsfrist bei der<br />

Mieterschaft eingetroffen sein. Trifft das<br />

Formular zu spät ein, wird die Erhöhung<br />

erst auf den übernächsten Kündigungstermin<br />

wirksam. Manchmal steckt der Teufel<br />

jedoch im Detail: Beruht die Berechnung<br />

des Vermieters auf veralteten Kostenständen<br />

(Referenzzinssatz, Teuerungsausgleich,<br />

Kostensteigerung), greift also<br />

weiter zurück als das Datum des Vertragsabschlusses,<br />

und wurde diese Differenz<br />

nicht als Mietzinsreserve oder -vorbehalt<br />

im Vertrag erwähnt, so ist die Erhöhung im<br />

entsprechenden Umfang missbräuchlich<br />

und kann mit Erfolg angefochten werden.<br />

Manchmal werden auch zu hohe Kostensteigerungspauschalen<br />

verrechnet (beispielsweise<br />

1 Prozent statt 0,25 Prozent<br />

pro Jahr – je nach Praxis der lokalen Behörden).<br />

Erhebliche Mietzinserhöhungen<br />

sollten daher immer von einer Fachperson<br />

überprüft werden.<br />

Eine Klientin hat einen Mietvertrag für<br />

eine Wohnung unterschrieben, deren<br />

Mietzins deutlich zu hoch scheint.<br />

Kann sie dagegen noch etwas unternehmen?<br />

Die Klientin kann den Anfangsmietzins<br />

innert 30 Tagen seit Mietbeginn bei<br />

der Schlichtungsbehörde anfechten. Dort<br />

muss sie eine der folgenden Voraussetzungen<br />

glaubhaft machen:<br />

- Sie war wegen einer persönlichen oder<br />

familiären Notlage gezwungen, den<br />

Mietvertrag zu unterzeichnen.<br />

- Sie war wegen der örtlichen Wohnungsnot<br />

zum Abschluss des Mietvertrages<br />

gezwungen. Wohnungsnot liegt vor,<br />

wenn weniger als 1,5 Prozent der Wohnungen<br />

leer stehen. Hat der Kanton<br />

eine Formularpflicht eingeführt (Formular<br />

zur Mitteilung des Anfangsmietzinses,<br />

auf dem auch der Mietzins des<br />

früheren Mieters aufzuführen ist),<br />

reicht dies bereits zur Annahme, dass<br />

Wohnungsnot herrscht.<br />

- Sie zahlt deutlich mehr als ihr Vormieter<br />

(10 Prozent oder mehr).<br />

Liegt einer dieser drei Gründe vor, prüft die<br />

Schlichtungsbehörde den Mietzins auf<br />

Missbräuchlichkeit. Je nach Umständen<br />

muss der Vermieter Bruttorendite, Nettorendite<br />

oder Orts- und Quartierüblichkeit<br />

nachweisen. Letzteres ist sehr schwierig: An<br />

die in der Regel geforderten fünf unabhängigen<br />

Vergleichsobjekte werden sehr hohe<br />

Anforderungen gestellt. Das Resultat einer<br />

Renditerechnung kann der Mieter hingegen<br />

kaum je im Voraus abschätzen. •<br />

Patrick Strub<br />

Beobachter-Beratungszentrum<br />

BEObachter-<br />

Beratungszentrum<br />

Das Beobachter-Beratungszentrum<br />

unterstützt Fachleute sozialer Institutionen<br />

im Rahmen von abstufbaren Beratungsabonnementen<br />

bei der Beantwortung von Rechtsfragen<br />

ihrer Klientinnen und Klienten. SKOS-<br />

Mitglieder, die den Beratungsdienst nutzen,<br />

profitieren von vergünstigten Konditionen.<br />

Weitere Informationen:<br />

www.beobachter.ch/skos<br />

Mietrecht 3/16 ZeSo<br />

33


FORUM<br />

lagen ignoriert. Zudem gibt die Schweiz<br />

gemäss Bundesamt für Sozialversicherungen<br />

(BSV) seit über zehn Jahren − trotz<br />

steigenden gesellschaftlichen Reichtums<br />

− tendenziell weniger Anteile des Bruttoinlandproduktes<br />

für die soziale Sicherheit<br />

aus.<br />

Sozialhilfe ausweiten<br />

«Den Letzten beissen die Hunde», sagt<br />

der Volksmund. Der Ausspruch benennt,<br />

worunter die Sozialhilfe selbst leidet. Sie<br />

muss die Folgen des sozialen Wandels<br />

auffangen und auch das, was vorgelagerte<br />

Systeme der sozialen Sicherheit abtreten.<br />

Die Studentin Vera Nina Looser beschrieb<br />

mir, wie sie während der Basler<br />

Herbstmesse 2015 vor der Universitäts-<br />

Bibliothek einen älteren Mann am Boden<br />

liegen sah. Er hatte sich am Kopf verletzt.<br />

Die Studentin alarmierte den Notfall und<br />

dann das Altersheim, in dem der Verunfallte<br />

lebt. Die Person, die dort den Anruf<br />

entgegen nahm, sagte gleich: «Oh, das<br />

kostet wieder.» Sie dachte zuerst ans Geld.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte<br />

in der Schweiz ein politisch liberaler<br />

Kompromiss. Ein ausgewogenes Verhältnis<br />

zwischen Kapital und Arbeit sollte den<br />

sozialen Ausgleich und den Arbeitsfrieden<br />

fördern. Breite Bevölkerungskreise konnten<br />

damals ihre materielle Lebenssituation<br />

verbessern. Seit den 1980er-Jahren<br />

verbreitet sich indes ein finanzgetriebenes<br />

Wirtschaftsdenken. Es nimmt an, der<br />

Markt bestimme den Wert der Arbeit. Die<br />

neue Gläubigkeit ökonomisiert soziale Fragen<br />

und strapaziert den gesellschaftlichen<br />

Zusammenhalt. Auch, weil sich Erwerbslosigkeit<br />

verbreitet.<br />

Ueli Mäder,<br />

emeritierter Professor<br />

für Soziologie. Er leitete<br />

mehrere Armutsstudien<br />

und arbeitete von 1989-<br />

<strong>2016</strong> an der Universität<br />

Basel und der Hochschule<br />

für Soziale Arbeit.<br />

Bild: zvg<br />

Wenn Maschinen manuelle Arbeit ersetzen,<br />

könnte uns das zwar mehr Freiheit<br />

bescheren; zumal die Produktivität steigt.<br />

Es hapert aber mit der Verteilung. Auch<br />

durchschnittlich steigende Nominallöhne<br />

halten mit den Lebenshaltungskosten<br />

kaum Schritt. Das führt zu Working Poor,<br />

die viel arbeiten und wenig verdienen.<br />

Laut dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund<br />

(SGB) sind heute die untersten zehn<br />

Prozent der verfügbaren Einkommen vierzig<br />

Franken tiefer als vor fünfzehn Jahren.<br />

Etliche Betroffene kommen auch deshalb<br />

in Bedrängnis, weil sich das System der<br />

sozialen Sicherheit einseitig an der Erwerbsarbeit<br />

orientiert und neue Lebens-<br />

Die neue Gläubigkeit<br />

ökonomisiert<br />

soziale Fragen und<br />

strapaziert den<br />

gesellschaftlichen<br />

Zusammenhalt.<br />

Bei der Basler Armutsstudie 1991 nahmen<br />

wir an, erwerbstätige Arme bräuchten<br />

wie Alleinerziehende vorwiegend Geld. Bei<br />

unserer Studie über Working Poor 2004<br />

zeigte sich der hohe Wert einer gründlichen<br />

Beratung. Sie unterstützt Wege aus<br />

der Abhängigkeit, sofern der Arbeitsmarkt<br />

mitspielt. 2009 untersuchten wir auch,<br />

was passiert, wenn sich die Sozialhilfe<br />

mit finanziellen Anreizen auf jene<br />

konzentriert, die noch Chancen im ersten<br />

Arbeitsmarkt haben. Etliche Unterstützte<br />

entwickeln so einen unternehmerischen<br />

Geist, der forciert aber öfters in risikoreiche<br />

und prekäre Verhältnisse führt.<br />

Je nach Situation ist es unabdingbar, dass<br />

die Sozialhilfe primär den materiellen<br />

Rückhalt garantiert und die soziale Integration<br />

favorisiert. So entlastet, eröffnete<br />

sich etwa einem arbeitslosen Journalisten<br />

nach einer gewährten Auszeit eine neue<br />

Perspektive als Gärtner. Trügerische<br />

Debatten drängen jedoch auf kurzatmige<br />

Erfolge und bürokratische Kontrollen.<br />

Manche wollen Sozialdetektive, die vor<br />

einem Vierteljahrhundert abgeschafft<br />

wurden, wieder einführen. Diese aufwändigen<br />

Kontrollen mögen die aufgewiegelte<br />

Volksseele ein wenig beruhigen. Wirksamer<br />

sind längerfristige Unterstützungen.<br />

Wie umfassende Weiterbildungen. Sie<br />

verbessern berufliche Aussichten und vor<br />

allem auch das psychische Wohl sozial<br />

Benachteiligter.<br />

Unterstützung benötigt aber auch die<br />

Sozialhilfe. Sinnvoll wäre ein Ausbau<br />

der (AHV/IV-)Ergänzungsleistungen.<br />

Zumindest für alle Haushalte mit Kindern.<br />

So könnte sich die Sozialhilfe gezielter<br />

um die gesellschaftliche Integration sozial<br />

Benachteiligter kümmern. <br />

•<br />

In dieser Rubrik schafft die <strong>ZESO</strong> Raum für Debatten<br />

und Meinungen. Der Inhalt gibt die Meinung des<br />

Autors resp. der Autorin wieder.<br />

34 ZeSo 3/16 FORUM


lesetipps<br />

Berufsabschluss für<br />

Erwachsene<br />

In der Schweiz sind mehr als eine halbe Million<br />

Erwachsene gering qualifiziert oder haben keinen<br />

zeitgemässen Abschluss. Es existieren nur<br />

wenige Angebote, um einen Abschluss nachzuholen<br />

oder bereits erworbene Kompetenzen<br />

anerkennen zu lassen. Die Autoren präsentieren<br />

Vorschläge, wie die berufliche Grundbildung<br />

vermehrt auf Erwachsene ausgerichtet werden kann. Der Fokus liegt<br />

dabei auf den Abschlüssen der formalen beruflichen Grundbildung (EFZ/<br />

EBA) in der Schweiz, es werden aber auch nicht formale Abschlüsse in<br />

die Analyse einbezogen.<br />

Markus Maurer, Emil Wettstein, Helena Neuhaus, Berufsabschluss für Erwachsene<br />

in der Schweiz – Bestandesaufnahme und Blick nach vorn, hep, <strong>2016</strong>, 192<br />

Seiten, CHF 42.−, ISBN 978-3-0355-0353-1<br />

Arbeits(un)fähig?<br />

Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen<br />

und Behinderungen sollen zunehmend<br />

Martina Koch<br />

› Arbeits(un)fähigkeit herstellen<br />

Arbeitsintegration von gesundheitlich eingeschränkten<br />

Erwerbslosen aus ethnografischer Perspektive<br />

Schriften zur Sozialen Frage<br />

aktiviert und beruflich integriert werden. Diese<br />

politische Forderung stellt Institutionen und<br />

Fachkräfte vor grosse Herausforderungen.<br />

In der Folge werden die Instrumente und<br />

Methoden zur Feststellung von Arbeitsfähigkeit<br />

verfeinert. Die ethnografische Studie geht der<br />

Frage nach, wie Organisationen die Arbeits(un)fähigkeit ihrer Klienten<br />

konstruieren. Im Fokus stehen die organisationalen Problematisierungsund<br />

Bearbeitungsstrategien und dahinterstehende Logiken.<br />

Martina Koch, Arbeits(un)fähigkeit herstellen, Arbeitsintegration von gesundheitlich<br />

eingeschränkten Erwerbslosen aus ethnografischer Perspektive, Seismo, <strong>2016</strong>, 268<br />

Seiten, CHF 38.−, ISBN 978-3-03777-155-6<br />

Ratgeber zu den<br />

Ergänzungsleistungen<br />

Seit 50 Jahren haben AHV- und IV-Rentner Anrecht<br />

auf Ergänzungsleistungen (EL), wenn das<br />

Geld nicht reicht. Es handelt sich dabei um einen<br />

Rechtsanspruch, über den viele Betroffene<br />

und ihre Angehörigen nicht Bescheid wissen.<br />

Dieses Buch, das aus der Beratungspraxis des<br />

Beobachters entstanden ist, hilft, vorhandene<br />

Wissenslücken zu stopfen. Es erklärt, wie das System der EL funktioniert<br />

und wer Anspruch auf Ergänzungsleistungen hat. Der Ratgeber<br />

beantwortet zudem oft gestellte Fragen: Was zahlt die EL? Was rechnet<br />

sie an und was bedeutet der freiwillige Vermögensverzicht?<br />

Anita Hubert, Ergänzungsleistungen, Wenn die AHV oder IV nicht reicht, Beobachter-Edition,<br />

<strong>2016</strong>, 128 Seiten, CHF 28.−, ISBN 978-3-85569-904-9<br />

Sara Galle<br />

Kindswegnahmen<br />

Das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der<br />

Stiftung Pro Juventute im Kontext<br />

der schweizerischen Jugendfürsorge<br />

Kindswegnahmen<br />

Fast 600 Kinder wurden zwischen 1926 und<br />

1973 von der Stiftung Pro Juventute ihren Eltern<br />

weggenommen und in Erziehungsheimen,<br />

Arbeitsanstalten und Gefängnissen untergebracht.<br />

Kritik an der Aktion übte bis Anfang der<br />

1970er-Jahre kaum jemand. Das diskriminierende<br />

Vorgehen der Pro Juventute wurde von<br />

den Behörden und Fachleuten unterstützt. Die<br />

Studie legt dar, welche Familien betroffen waren und wie die Kindswegnahmen<br />

begründet wurden. Zudem wird das Wirken der Pro Juventute in<br />

der damaligen Praxis der Sozialhilfe und Jugendfürsorge verortet.<br />

Sara Galle, Kindswegnahmen, Das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der<br />

Stiftung Pro Juventute im Kontext der schweizerischen Jugendfürsorge, Chronos,<br />

<strong>2016</strong>, 712 Seiten, CHF 68.−, ISBN 978-3-0340-1327-7<br />

15 Jahre Reform der<br />

Invalidenversicherung<br />

Die Invalidenversicherung (IV) hat im Laufe der<br />

letzten Jahre tiefgreifende Änderungen erfahren.<br />

Mit drei Reformen innerhalb von 10 Jahren<br />

wurden der Auftrag und die Instrumente der IV<br />

grundlegend neu definiert. Diese Entwicklung<br />

setzt sich mit einem aktuell zur Diskussion<br />

stehenden Revisionsentwurf fort. Die Schweizerische<br />

Vereinigung für Sozialpolitik (SVSP)<br />

zieht an ihrer Jahrestagung Bilanz: Wo steht die<br />

IV heute und wie sehen die Perspektiven in den<br />

kommenden Jahren aus?<br />

SVSP-Jahrestagung<br />

Mittwoch, 2. November <strong>2016</strong>, Berner Fachhochschule<br />

www.svsp.ch<br />

Nationalen Konferenz<br />

gegen Armut<br />

Das Nationale Programm gegen Armut (2014-<br />

2018) will die Wirkung der bestehenden Präventions-<br />

und Bekämpfungsmassnahmen verstärken<br />

und dazu beitragen, dass die Massnahmen<br />

besser koordiniert werden. An der nationalen<br />

Konferenz gegen Armut wird eine Zwischenbilanz<br />

gezogen. Im Vordergrund stehen unter anderem<br />

die Themen Nachholbildung, Integration, Wohnen,<br />

Familienarmut, Informationszugang für Armutsbetroffene<br />

und Armutsberichterstattung.<br />

Nationale Konferenz gegen Armut<br />

Dienstag, 22. November <strong>2016</strong>; Kongresshaus Biel<br />

www.gegenarmut.ch<br />

veranstaltungen<br />

Soziale<br />

Begleitung<br />

Hat soziale Begleitung für Institutionen, Fachpersonen<br />

und für den begleiteten Menschen<br />

die gleiche Bedeutung? Welche Legitimität hat<br />

Begleitung, wenn Selbstständigkeit das Ziel ist?<br />

Und ist Selbstständigkeit ein erstrebenswertes<br />

Ideal oder eine sozioökonomische Regel? Diesen<br />

Fragen geht die «Association romande et tessinoise<br />

des institutions d‘action sociale» (Artias)<br />

an ihrer Herbsttagung nach und stellt innovative<br />

Lösungsansätze aus der Westschweiz vor.<br />

Artias-Tagung<br />

Donnerstag, 24. November <strong>2016</strong><br />

Musée Olympique Lausanne<br />

www.artias.ch<br />

service 3/16 ZeSo<br />

35


Für Projektleiterin Sandra Kern ist die Gassenküche Frauenfeld auch ein Ort zum Auftanken. Bild: Vera Markus<br />

Die Gastgeberin<br />

Eine warme Mahlzeit für drei Franken und viel Wertschätzung – das bietet Sandra Kern in der<br />

Gassenküche Frauenfeld all jenen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Sie weiss aus eigener<br />

Erfahrung, was es heisst, im Leben nicht auf der Überholspur unterwegs zu sein.<br />

«Bei 260 km kam ich an meine Grenze.»<br />

Sandra Kerns Augen leuchten, wenn sie<br />

von Pferdestärken und ihrem Mercedes-<br />

Benz erzählt. Es sei ein SLK Kompressor<br />

Jahrgang 2002 mit besonders viel PS.<br />

Feingliedrig, eine sanfte Stimme und überlegte<br />

Wortwahl – eine Raserin stellt man<br />

sich anders vor. Das ist Sandra Kern auch<br />

nicht. Vollgas gibt sie nur auf den Rennstrecken<br />

von Dijon-Prenois und Hockenheim.<br />

«Ich suchte dort meine persönliche<br />

Grenze und war viel schneller, als ich gedacht<br />

hatte».<br />

Die Erfahrung, mehr zu können, als sie<br />

sich zutraut, war ein Schlüsselerlebnis im<br />

Leben der heute 48-Jährigen. Sie fühlte<br />

sich ermutigt, eine zusätzliche Ausbildung<br />

in Sozialmanagement zu machen. Das<br />

Resultat: Als Abschlussarbeit des Studiums<br />

gründete sie die erste Gassenküche<br />

im Kanton Thurgau. Schon als sie bei<br />

der Vormundschaft arbeitete, hatte sie erkannt,<br />

dass es Bedarf für kostengünstige<br />

Mahlzeiten gibt. Das Projekt gibt ihr recht.<br />

Seit knapp sechs Jahren wird mitten in der<br />

Altstadt von Frauenfeld jeden Mittwochmittag<br />

ein Viergangmenü serviert.<br />

Alle sind willkommen<br />

Die Nachfrage ist gross. Jede Woche kommen<br />

rund 80 Besucher. Der jüngste ist 24,<br />

der älteste 84 Jahre alt. Es sind jeweils<br />

alle Stühle besetzt im Lokal des JUTG, des<br />

Vereins zur Förderung der Jugendarbeit<br />

im Thurgau. Dort ist die Gassenküche zur<br />

Untermiete. Die Besucher – Kern spricht<br />

von ihren Gästen – sind Sozialhilfeempfänger<br />

und Menschen, die am Existenzminimum<br />

leben. Für einige unter ihnen ist<br />

das Essen in der Gassenküche die einzige<br />

warme Mahlzeit der <strong>ganz</strong>en Woche. Allen<br />

Gästen gemeinsam ist die Erfahrung,<br />

am Rande der Gesellschaft zu stehen und<br />

ausgegrenzt zu werden. In der Gassenküche<br />

sind sie ausnahmslos willkommen.<br />

Die meisten gehen jede Woche hin.<br />

Von Gästen und Klienten<br />

Sandy, so nennen die Gäste Sandra Kern,<br />

kennt viele schwere Schicksale. Sie müsse<br />

sich von den Problemen abgrenzen, sonst<br />

würden aus Sandys Gästen Sandra Kerns<br />

Klienten. Die Bezeichnung Klienten ist<br />

den Kindern und Jugendlichen vorbehalten,<br />

für die sich Kern hauptberuflich als<br />

Beiständin einsetzt. Eine Ausnahme macht<br />

sie bei denjenigen Gästen, die ins Gefängnis<br />

müssen. Diese geht sie in der Strafanstalt<br />

besuchen. Ansonsten zieht sie eine<br />

klare Grenze. Nur so könne die Gassenküche<br />

für sie selber ein Ort bleiben, an dem<br />

sie auftanken und «die lustige und unbeschwerte<br />

Atmosphäre» geniessen kann.<br />

Kern fiel der Umgang mit Menschen am<br />

Rand der Gesellschaft schon immer leicht.<br />

«Ich bin mit Abgrenzen aufgewachsen.»<br />

Die Erfahrungen mit ihrem alkoholkranken<br />

Vater und der ständigen Geldnot hätten<br />

sie geprägt, aber nicht traumatisiert.<br />

Woche für Woche steht sie mit einem Team<br />

von Freiwilligen in der Gassenküche<br />

und sorgt dafür, dass sich Alkoholiker,<br />

Drogensüchtige, Obdachlose und Sozialhilfempfänger<br />

für ein paar Stunden<br />

wohl fühlen. Das tut sie, indem sie Tischläufer<br />

und Blumen auf die Tische stellt.<br />

Manchmal auch Kerzen. Jeder Gast wird<br />

namentlich begrüsst und am Tisch bedient.<br />

Das hätten sie verdient, sagt sie.<br />

In allen Gassenküchen koste eine Mahlzeit<br />

fünf Franken, so Kern. Sie macht es<br />

anders: «Mit drei Franken bleibt noch etwas<br />

übrig. Geld, das die Besucher sonst<br />

anderweitig auftreiben müssten.» Doch<br />

die drei Franken sind bei weitem nicht<br />

kostendeckend. Zusammen mit den Geldund<br />

Sachspenden von rund 70 Privatpersonen<br />

und Institutionen reichen sie<br />

aus, um die Gassenküche finanziell zu<br />

tragen. Sollte das Geld nicht reichen, haftet<br />

Kern privat für das Projekt. Es ist ihr<br />

Herzblut, und dafür geht sie aufs Ganze.<br />

Wie auf den Rennstrecken von Dijon-<br />

Prenois und Hockenheim.<br />

•<br />

Maya Bosshart<br />

36 ZeSo 3/16 porträt


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