ZESO_4-2015_ganz
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SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
ZeSo<br />
Zeitschrift für Sozialhilfe<br />
04/15<br />
armut und Wohnen die wohnversorgung armutsbetroffener ist<br />
prekär im interview roland A. müller, direktor des schweizerischen arbeitgeberverbands<br />
richtlinienrevision die neuen bestimmungen ab 1. januar 2016
SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
NATIONALE TAGUNG<br />
Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene<br />
Schritt um Schritt in den Arbeitsmarkt<br />
Donnerstag, 17. März 2016, Kongresshaus Biel<br />
Die hohe Sozialhilfequote und die tiefe Erwerbsquote von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen<br />
sind arbeitsmarkt- und sozialpolitisch nicht haltbar: Einerseits können die Potenziale von Personen aus<br />
dem Asylbereich nicht für den hiesigen Arbeitsmarkt genutzt werden. Andererseits sind arbeitslose<br />
Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene langfristig auf Sozialhilfe angewiesen, was für die Kantone<br />
und vor allem für die Gemeinden zur Belastung werden kann. Diese Herausforderung kann nur durch<br />
die Kooperation aller staatlichen Ebenen, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft gemeistert werden.<br />
Die nationale SKOS-Tagung bietet eine Plattform zur Präsentation und Diskussion von Handlungsmöglichkeiten<br />
und Best-Practice-Ansätzen.<br />
Programm und Anmeldungen unter www.skos.ch Veranstaltungen<br />
SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
Beobachter-Ratgeber<br />
Sozialhilfe – Rechte, Chancen und Grenzen<br />
Was die Sozialhilfe für rund 250 000 Menschen in der Schweiz leistet und bedeutet, zeigt der<br />
Beobachter-Ratgeber «Sozialhilfe – Rechte, Chancen und Grenzen». Der Leitfaden informiert über<br />
die Möglichkeiten der Sozialhilfe und beantwortet Fragen zur Sozialhilfe-Praxis. Er richtet sich in erster<br />
Linie an Betroffene, ist aber auch eine wichtige Praxishilfe für Behördenmitglieder und andere<br />
Interessierte. Der Beobachter-Ratgeber ist in Zusammenarbeit mit der SKOS entstanden.<br />
Toni Wirz, Sozialhilfe – Rechte, Chancen und Grenzen,<br />
Beobachter-Buchverlag, 5. aktualisierte Auflage 2012, 112 Seiten, CHF 24.–<br />
(für SKOS-Mitglieder CHF 20.–).<br />
Buch bestellen: www.skos.ch Publikationen
Michael Fritschi<br />
Verantwortlicher Redaktor<br />
Der beste Anker ist das Haus<br />
Schöner wohnen. Wer bei diesem Slogan an Interieur-<br />
Magazine und an Window-Shopping beim Designermöbelgeschäft<br />
denkt, dem geht es in der Regel gut. Für Personen<br />
hingegen, die sich aufgrund ihrer Einkommenssituation<br />
keine Wohnung leisten können oder denen aufgrund von<br />
Risikofaktoren wie Schulden oder Hautfarbe der Zugang zu<br />
eigenen vier Wänden verwehrt wird, hat der Slogan eine<br />
völlig andere Bedeutung. Schön ist’s, überhaupt ein Dach<br />
über dem Kopf zu haben, unter dem man sich wohlfühlt.<br />
Eine stabile Wohnsituation trägt wesentlich zur Integration<br />
bei und wirkt der gesellschaftlichen Entwurzelung entgegen.<br />
Im Schwerpunkt dieser Nummer präsentieren wir Ihnen<br />
exklusiv erste Ergebnisse aus der Studie «Wohnversorgung<br />
in der Schweiz – Bestandsaufnahme über Haushalte von<br />
Menschen in Armut und in prekären Lebenslagen», die im<br />
Rahmen des nationalen Programms zur Prävention und<br />
Bekämpfung von Armut in der Schweiz realisiert wurde. Die<br />
Studie zeigt, was eine angemessene Wohnversorgung ist,<br />
und welche Risikogruppen häufig ungenügend wohnversorgt<br />
sind. Die wissenschaftlichen Ergebnisse werden<br />
mit Einschätzungen aus der Sicht der Sozialhilfe und mit<br />
Beobachtungen zum Wohnungsmarkt und Konzepten zur<br />
Wohnungsvermittlung ergänzt.<br />
Im September hat die zweite Sozialkonferenz eine Teilrevision<br />
der SKOS-Richtlinien beschlossen. Um Sie umfassend<br />
zu orientieren, welche Bestimmungen genau ändern und<br />
was die Revision für die SKOS und die Sozialhilfe bedeutet,<br />
haben wir den üblichen Seitenablauf der Zeso leicht umgestellt.<br />
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.<br />
editorial 4/15 ZeSo<br />
1
SCHWERPUNKT14–25<br />
Armut und WOHnen<br />
Ein Grossteil der armutsbetroffenen Menschen in<br />
der Schweiz ist nicht angemessen wohnversorgt.<br />
Sie leben in qualitativ schlechten Wohnungen<br />
oder unsicheren Wohnverhältnissen. Sie bezahlen<br />
überteuerte Mieten und habe wenig Chancen,<br />
eine passendere Wohnung zu finden. Der Schwerpunkt<br />
präsentiert Zahlen und Fakten zur Situation<br />
benachteiligter Menschen auf dem Wohnungsmarkt<br />
und beleuchtet mögliche wohnpolitische<br />
Massnahmen.<br />
<strong>ZESO</strong><br />
zeitschrift für sozialhilfe<br />
Bild:<br />
Herausgeberin Schweizerische konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />
www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS,<br />
Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch,<br />
Tel. 031 326 19 19 Redaktion Michael Fritschi, Regine Gerber<br />
Redaktionelle begleitung Dorothee Guggisberg Autorinnen<br />
und Autoren in dieser Ausgabe Monika Bachmann, Annalis<br />
Dürr, Lea Gerber, Peter Gomm, Claudia Hänzi, Christin Kehrli,<br />
Sonja Matter, Hansjürg Rohner, René Scheu, Nathalie Schneuwly,<br />
Bernadette von Deschwanden, Robert Weinert, Felix Wolffers<br />
Titelbild Rudolf Steiner layout Marco Bernet, mbdesign Zürich<br />
Korrektorat Karin Meier Druck und Aboverwaltung Rub<br />
Media, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86<br />
preise Jahresabonnement CHF 82.– (SKOS-Mitglieder CHF 69.–),<br />
Jahresabonnement ausland CHF 120.–, Einzelnummer CHF 25.–.<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN 1422-0636 / 112. Jahrgang<br />
Keystone<br />
Erscheinungsdatum: 7. Dezember <strong>2015</strong><br />
Die nächste Ausgabe erscheint im März 2016.<br />
2 ZeSo 4/15 inhalt
INHALT<br />
5 Sozialhilfe-Richtlinien reformieren,<br />
weiterentwickeln und stärken.<br />
Kommentar von Peter Gomm<br />
6 Die Revision der SKOS-Richtlinien ist<br />
eine ausgewogene Lösung<br />
7 Die SKOS ist zu raschen und<br />
grundlegenden Reformen fähig<br />
8 Die Debatte muss auch den<br />
Grundrechtsschutz beachten<br />
10 13 Fragen an Nathalie Schneuwly<br />
12 Praxis: Anrechnung zu hoher Wohnkosten<br />
bei hängigem IV-Verfahren<br />
13 Serie «Monitoring Sozialhilfe»:<br />
Bei der Rückerstattung stellt sich die<br />
Frage der Rechtsgleichheit<br />
14 SCHWERPUNKT:<br />
Armut und Wohnen<br />
16 Die Wohnversorgung ist bei armutsbetroffenen<br />
Haushalten oft<br />
ungenügend<br />
18 Wohnversorgung aus Sicht der<br />
Sozialhilfe<br />
20 Das Wohnungsangebot entspricht oft<br />
nicht den Nachfragebedürfnissen<br />
22 Günstige Wohungen bereitstellen<br />
oder bei der Miete unterstützen?<br />
24 Eine Wohnung ist nicht alles, aber<br />
ohne Wohnung ist alles nichts<br />
26 «Potenzial bedeutet zuallererst<br />
einmal Möglichkeiten»<br />
Interview mit Roland A. Müller<br />
30 Reportage: Medaillenränge für den<br />
Luzerner Rodel<br />
32 Plattform: Entlastungsdienst<br />
Schweiz<br />
34 Forum: «Geberqualitäten aktivieren».<br />
Betrachtungen zur Sozialhilfe von<br />
René Scheu<br />
35 Lesetipps und Veranstaltungen<br />
36 Porträt: Hanna ist Telefonberaterin<br />
bei der Dargebotenen Hand<br />
ReVISION SKOS-Richtlinien<br />
DEr ARBEITGEBER-CHEF<br />
RODELFIEBER<br />
DIe ZUHörerin<br />
Claudia Hänzi, Präsidentin der Kommission<br />
Richtlinien und Praxis, schildert den Prozess<br />
und die in der Kommission geführten<br />
Debatten zur Richtlinienrevision. Felix<br />
Wolffers, Co-Präsident der SKOS, legt dar,<br />
wie die Anpassungen dazu beitragen,<br />
das bewährte Sozialhilfesystem neu zu<br />
positionieren.<br />
6<br />
Roland A. Müller, Direktor des Arbeitgeberverbands<br />
SAV, beobachtet die<br />
Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt<br />
aus unternehmerischem Blickwinkel.<br />
Im Interview spricht er über<br />
Integrationschancen für inländische<br />
Arbeitskräfte und den Anpassungsbedarf bei<br />
den arbeitsmarktlichen Massnahmen.<br />
26<br />
Individuell angefertigt, hochwertig und<br />
hoffentlich rasend schnell ist der «Luzerner<br />
Rodel». Hergestellt wird der Schlitten von<br />
erwerbslosen Menschen, die in den ersten<br />
Arbeitsmarkt zurückfinden wollen. Ein<br />
Besuch in der Caritas-Schreinerei in Luzern.<br />
30<br />
Wer die 143 wählt, landet vielleicht bei<br />
Hanna. Sie ist eine der über 600 Freiwilligen,<br />
die bei der Dargebotenen Hand rund um die<br />
Uhr den Problemen der Anruferinnen und<br />
Anrufer zuhört. Mit Ratschlägen eindecken<br />
will sie die Menschen aber nicht.<br />
36<br />
inhalt 4/15 ZeSo<br />
3
NACHRICHTEN<br />
Die Förderung von Grundkompetenzen<br />
stärken<br />
Weiterbildung und das Sicherstellen von<br />
Grundkompetenzen bei Erwachsenen sind<br />
zentrale Anliegen der Sozialhilfe. Qualifizierte<br />
Sozialhilfebeziehende finden einfacher<br />
Zugang zum Arbeitsmarkt und benötigen<br />
tendenziell eher bloss ergänzend oder<br />
vorübergehend Sozialhilfe. Die SKOS begrüsst<br />
deshalb den Entwurf zur Verordnung<br />
zum neuen Weiterbildungsgesetz (WeBiV).<br />
Um die gewünschte Wirkung zu erzielen,<br />
müssen allerdings mehr Mittel als vorgesehen<br />
in die Weiterbildung fliessen. Insbesondere<br />
muss intensiver in die Förderung<br />
von Grundkompetenzen investiert werden,<br />
damit Menschen mit ungenügenden<br />
Grundkompetenzen ihre Chancen auf eine<br />
Integration in den Arbeitsmarkt verbessern<br />
können.<br />
Mit familienpolitischen<br />
Massnahmen gegen Armut<br />
Der Caritas-Bericht «Wohin steuert die<br />
Schweiz in der Armutspolitik?» attestiert<br />
den Kantonen Fortschritte in der Armutspolitik,<br />
stellt aber auch fest, dass die meisten<br />
Kantone keine Familienpolitik betreiben, die<br />
systematisch darauf abzielt, Armut zu verhindern.<br />
Einzig der Kanton Bern verfüge über<br />
ein strategisches Dokument zur Familienpolitik<br />
aus der Armutsperspektive. Die Kantone<br />
könnten Familienarmut nur dann wirksam<br />
bekämpfen, wenn sie über Strategien<br />
verfügen, die auf einer fundierten Situationsanalyse<br />
basieren, Ziele vorgeben und<br />
Massnahmen definieren, die regelmässig<br />
evaluiert werden, schreibt Caritas und fordert<br />
neben den Kantonen auch den Bund auf, sich<br />
vertieft mit den Ursachen von Familienarmut<br />
zu beschäftigen und entsprechende Massnahmen<br />
zu treffen.<br />
Mit gutem Beispiel voran<br />
Das Logistikunternehmen Planzer und der<br />
Möbelhersteller Ikea haben öffentlich Interesse<br />
bekundet, Flüchtlinge als Arbeitskräfte<br />
einzustellen. Planzer hat gemäss eigenen<br />
Angaben viele Arbeitsplätze, bei denen Sprachkenntnisse<br />
nicht im Vordergrund stehen,<br />
etwa im Bereich Kommissionierung und<br />
Konfektionierung oder in Lagerhäusern und<br />
bei der Reinigung. Ikea will Praktikumsprogramme<br />
für Flüchtlinge anbieten und die<br />
Teilnehmenden später auch in der Logistik<br />
oder im Verkauf einsetzen.<br />
«Arbeit statt Sozialhilfe»: Die SKOS skizziert<br />
Lösungswege für die Flüchtlingsintegration<br />
Angesichts der stark steigenden Zahl von<br />
Asylsuchenden hat die Schweizerische Konferenz<br />
für Sozialhilfe SKOS Vorschläge für<br />
eine rasche und nachhaltige Integration von<br />
Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen<br />
in den Arbeitsmarkt veröffentlicht.<br />
Gleichzeitig fordert die SKOS einen «Runden<br />
Tisch Arbeitsintegration», in dessen<br />
Rahmen der Bund, die Kantone und Gemeinden<br />
sowie die Wirtschaft und die politischen<br />
Parteien gemeinsam Lösungen zur<br />
besseren Integration dieser Personen in den<br />
Arbeitsmarkt entwickeln können. Die SKOS<br />
ist besorgt über die grosse Zahl von Flüchtlingen<br />
und vorläufig Aufgenommenen, die<br />
während längerer Zeit arbeitslos sind und<br />
die nach Ablauf der Finanzierungszuständigkeit<br />
des Bundes durch die kantonale und<br />
kommunale Sozialhilfe in ihrer Existenz<br />
gesichert werden müssen. Wenn die derzeit<br />
sehr tiefe Erwerbsquote von Personen aus<br />
dem Asylbereich nicht rasch und breitflächig<br />
gesteigert werden kann, kommen in<br />
den nächsten Jahren erhebliche finanzielle<br />
Zusatzbelastungen auf die Kantone und<br />
Gemeinden zu. Im Diskussionspapier<br />
«Arbeit statt Sozialhilfe», das die SKOS am<br />
27. November in Bern den Medien vorge-<br />
Damit die Integration gelingt, braucht es auch<br />
die aktive Beteiligung der Wirtschaft. <br />
Bild: Daniel Desborough<br />
stellt hat, skizziert die SKOS Lösungswege<br />
zu Handen der politisch verantwortlichen<br />
Akteure. Diese orientieren sich an einer zentralen<br />
Erkenntnis der Sozialämter betreffend<br />
Arbeitsintegration: Wer längere Zeit arbeitslos<br />
ist, beruflich unzureichend qualifiziert<br />
ist und die Sprache nicht beherrscht,<br />
hat besondere Schwierigkeiten, eine Stelle<br />
zu finden. Die meisten Asylsuchenden sind<br />
jung und arbeitsfähig, aber beruflich nur<br />
schlecht qualifiziert. Damit Flüchtlinge und<br />
vorläufig Aufgenommene in den Arbeitsmarkt<br />
integriert werden können, braucht es<br />
Programme zur Qualifizierung dieser Personen.<br />
Die Vorschläge der SKOS orientieren<br />
sich an folgenden Eckpunkten:<br />
• Rascher Asylentscheid: Damit asylsuchende<br />
Personen ohne Verzögerung in<br />
den Arbeitsprozess integriert werden<br />
können, muss innert kurzer Zeit nach<br />
der Einreise darüber entschieden werden,<br />
wer längerfristig in der Schweiz<br />
bleiben darf.<br />
• Rasche Qualifizierung: Die berufliche<br />
Integration muss unmittelbar nach<br />
dem Entscheid über den Verbleib in der<br />
Schweiz beginnen.<br />
• Verpflichtung zur beruflichen Qualifizierung:<br />
Die Teilnahme an einem beruflichen<br />
Qualifizierungsangebot muss<br />
für alle arbeitsfähigen Flüchtlinge und<br />
vorläufig Aufgenommenen zur gesetzlich<br />
verankerten Pflicht gemacht werden.<br />
Das entspricht dem in der Sozialhilfe<br />
verankerten Grundsatz von Fördern<br />
und Fordern.<br />
• Aktive Beteiligung der Wirtschaft: Damit<br />
die angestrebte Integration gelingt,<br />
braucht es eine verbindliche und aktive<br />
Beteiligung der Wirtschaft.<br />
• Abbau von administrativen Hürden:<br />
Die Hürden zur Beschäftigung von<br />
Personen aus dem Asylbereich müssen<br />
konsequent abgebaut werden.<br />
Die SKOS will mit ihren Vorschlägen<br />
und Empfehlungen einen Beitrag dazu leisten,<br />
die berufliche Integration von Flüchtlingen<br />
zu verbessern, und ist sie bereit, mit<br />
ihrem Fachwissen aktiv an der Lösungs-findung<br />
mitzuarbeiten. <br />
•<br />
Papier «Arbeit statt Sozialhilfe» www.skos.ch<br />
4 ZeSo 4/15 aktuell
KOMMENTAR<br />
Die SODK will die Sozialhilfe-Richtlinien gemeinsam mit der<br />
SKOS reformieren, weiterentwickeln und stärken<br />
<strong>2015</strong> war für die Sozialhilfe ein wichtiges<br />
Jahr. Sie war in den letzten Jahren stark<br />
unter Beschuss gekommen. Einzelne Missbrauchsfälle<br />
wurden medial aufgebauscht<br />
und sind als Mittel für einen Generalangriff<br />
auf die Sozialhilfe eingesetzt worden. Auch<br />
der Spardruck auf allen drei staatlichen<br />
Ebenen hat eine Debatte rund um die Sozialhilfe<br />
ausgelöst. Die SODK plädiert für eine<br />
Versachlichung der Diskussion.<br />
Gerade unter diesen Umständen bilden<br />
die über viele Jahre entwickelten SKOS-<br />
Richtlinien ein wichtiges Instrument, um<br />
eine angemesse Gleichbehandlung zu<br />
gewährleisten und Sozialtourismus zu verhindern.<br />
Die Richtlinien sind auch eine gute<br />
Grundlage, um die Sozialhilfe in wesentlichen<br />
Teilen zu harmonisieren. Gemeinsam<br />
und auf einvernehmlichem Weg<br />
mit der SKOS will die SODK dieses<br />
Instrument stärken<br />
und weiterentwickeln,<br />
aber auch<br />
reformieren.<br />
Durch die neue Zusammenarbeit<br />
zwischen<br />
der SODK und<br />
der SKOS sowie dem<br />
2014 ausgelösten<br />
Reformprozess der<br />
SKOS-Richtlinien<br />
haben wir einen wichtigen<br />
ersten Schritt<br />
dazu getan, welcher mit<br />
der Sozialkonferenz vom<br />
21. September <strong>2015</strong> erfolgreich<br />
abgeschlossen werden<br />
konnte. Die kantonalen<br />
Sozialdirektorinnen und<br />
Sozialdirektoren haben mit<br />
Vertretern der Städte und<br />
Gemeinden auf Antrag der<br />
SKOS politisch wichtige<br />
Eckpunkte der SKOS-Richtlinien<br />
revidiert. Mit dieser<br />
Genehmigung durch die SODK<br />
werden die SKOS-Richtlinien eine<br />
grössere politische Legitimation<br />
erhalten und ihre Akzeptanz in den Kantonen<br />
und Gemeinden wird erhöht.<br />
Politisch hat sich die Situation zwischenzeitlich<br />
wesentlich entspannt, vor allem<br />
auch durch das kluge und pragmatische<br />
Vorgehen der politischen Akteurinnen und<br />
Akteure in verschiedenen Kantonen, wie<br />
unter anderem in Zürich. Unerlässlich war<br />
und ist auch das reformwillige und aktive<br />
Handeln der SKOS. Es ist nicht selbstverständlich,<br />
dass in solch kurzer Zeit 26<br />
Kantone zusammen mit Gemeinde- und<br />
Städteverband am gleichen Strick ziehen.<br />
An der Sozialkonferenz haben sich die<br />
Teilnehmenden auf eine Etappierung des<br />
Reformprozesses verständigt und den<br />
Fahrplan für die nächste Etappe festgelegt.<br />
Bis Mitte 2016 erfolgt unter anderem<br />
eine Revision der situationsbedingten<br />
Leistungen (SIL), es sollen Empfehlungen<br />
zur Verminderung von Schwelleneffekten<br />
abgegeben werden sowie die Definition der<br />
Grenzlinie zwischen der Sozialhilfe und der<br />
Nothilfe und Empfehlungen für Mietzinsmaxima<br />
erarbeitet werden.<br />
Ich halte an dieser Stelle ausdrücklich fest,<br />
dass der Kostendruck in der Sozialhilfe<br />
nicht alleine mit einer Revision der SKOS-<br />
Richtlinien geregelt werden kann. Vielmehr<br />
braucht es auch in anderen Bereichen zusätzliche,<br />
griffige Massnahmen. Zu denken<br />
ist dabei vor allem an eine Stärkung der der<br />
Sozialhilfe vorgelagerten Systeme, seien<br />
es Sozialversicherungen, andere Bedarfsleistungen<br />
oder beispielsweise auch das im<br />
ZGB geregelte Unterhaltsrecht.<br />
Peter Gomm<br />
Regierungsrat und Präsident der SODK<br />
aktuell 4/15 ZeSo<br />
5
Die Revision der SKOS-Richtlinien ist<br />
eine ausgewogene Lösung<br />
Die erste Etappe der Richtlinienrevision <strong>2015</strong>-2017 ist geschafft. Das umsichtige Vorgehen unter<br />
Einbezug aller Entscheidgremien war die Basis für eine konstruktive und lösungsorientierte Debatte.<br />
Es war ein schwieriger Auftrag mit ehrgeizigem<br />
Zeitplan, den die Kommission<br />
Richtlinien und Praxis der SKOS (RiP)<br />
erhalten hatte. Gemäss Vorgabe der Sozialkonferenz,<br />
die am 21. Mai unter der Ägide<br />
der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen<br />
und Sozialdirektoren (SODK)<br />
stattfand, sollten bis im Herbst eine Reihe<br />
neuer Bestimmungen erarbeitet werden:<br />
Ziel war eine Reduktion des Grundbedarfs<br />
bei Grossfamilien, die Senkung der Ansätze<br />
für junge Erwachsene beim Grundbedarf,<br />
die Einführung verschärfter Sanktionsmöglichkeiten<br />
und die Überarbeitung<br />
des Anreizsystems. Im Rahmen des letztgenannten<br />
Punkts sollten die minimale Integrationszulage<br />
(MIZ) in die Integrationszulage<br />
(IZU) integriert und die Voraussetzungen<br />
für den Bezug der IZU präzisiert<br />
werden. Insbesondere wurde gefordert,<br />
qualifizierende, arbeits- und leistungsorientierte<br />
Tätigkeiten festzulegen.<br />
Trotz des engen Zeitrahmens ging die<br />
RiP behutsam und ausgewogen vor und<br />
achtete darauf, dass die neuen Bestimmungen<br />
nicht zu rechtswidrigen Einschränkungen<br />
bei existenzsichernden Leistungen<br />
führen werden. Zudem war bekannt,<br />
dass einzelne Revisionspunkte in gewissen<br />
Kantonen zu grossen Veränderungen führen<br />
würden.<br />
Herangehensweise<br />
Zum Gelingen der nun abgeschlossenen<br />
ersten Etappe der Richtlinienrevision hat<br />
sicher beigetragen, dass sich die RiP bereits<br />
während einer Retraite und dann bei<br />
der Grundlagenarbeit zu den Stossrichtungen<br />
der Revision, die der SKOS-Vorstand<br />
der SODK unterbreitete, intensiv über einzelne<br />
Themen unterhalten und die «wunden<br />
Punkte» weitgehend identifiziert hatte.<br />
Dank dieser Vorphase konnten Grundsatzfragen,<br />
Wertehaltungen und die politischen<br />
Rahmenbedingungen geklärt werden. Die<br />
Aufgabe erleichtert hat auch, dass der Gesamtauftrag<br />
klar formuliert war und daraus<br />
für jedes Revisionsthema ein konkreter Arbeitsauftrag<br />
schriftlich festgehalten werden<br />
konnte. Zusätzlich hat sich die RiP<br />
fachliche Leitlinien geben, die es bei der<br />
Ausarbeitung der Richtlinien-Entwurfe zu<br />
beachten galt:<br />
• Bei den Leistungseinschränkungen sind<br />
die Bedürfnisse Minderjähriger besonders<br />
zu beachten.<br />
• Bei den Sanktionen ist das Verhältnismässigkeitsprinzip<br />
in den Vordergrund<br />
zu rücken. Zudem darf der Kerngehalt<br />
von Art. 12 Bundesverfassung (Recht auf<br />
Hilfe in Notlagen) nicht infrage gestellt<br />
sein.<br />
• Beim Anreizsystem ist eine Formulierung<br />
zu finden, die die gewünschte<br />
Leistungsorientierung hervorhebt, es<br />
allerdings ermöglicht, ein positives Verhalten,<br />
das bis dato mit einer minimalen<br />
Integrationszulage (MIZ) honoriert<br />
wurde, zukünftig mit einer IZU zu würdigen.<br />
Übergeordnet hat die RiP die Überarbeitung<br />
der Richtlinien dazu genutzt,<br />
Texte zu straffen und einfacher zu formulieren.<br />
Stark vollzugsorientierte Empfehlungen<br />
sollen künftig in einem Praxishandbuch<br />
abgebildet werden, die Richtlinien<br />
selbst mehr auf generell-abstrakte Empfehlungen<br />
konzentriert sein.<br />
Die konkrete Arbeit an den Richtlinien<br />
Um den Zeitplan einhalten zu können, hat<br />
sich die RiP in Untergruppen aufgeteilt,<br />
die die einzelnen Revisionspunkte aufbe-<br />
Was auf den 1. Januar 2016 ändert<br />
• Grundbedarf bei Grossfamilien ab 6 Personen: Bei Haushalten mit<br />
sechs und mehr Personen wird der Grundbedarf ab der sechsten<br />
Person um 76 Franken pro Person und Monat reduziert.<br />
• Junge Erwachsene: Der Ansatz für junge Erwachsene bis 25 Jahre<br />
mit eigenem Haushalt wird von heute 986 Franken um 20 Prozent<br />
auf 789 Franken reduziert. Die Voraussetzungen für das Wohnen<br />
ausserhalb des Elternhauses sind klar definiert.<br />
• Sanktionen: In schwerwiegenden Fällen können die Sanktionskürzungen<br />
bis 30 Prozent des Grundbedarfs betragen. Die konkrete<br />
Kürzung ist nach dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz festzulegen.<br />
• Integrationszulage: Mit der Integrationszulage (IZU) werden neu Leistungen<br />
anerkannt, die die Chancen auf eine erfolgreiche Integration<br />
erhöhen oder erhalten. Die minimale Integrationszulage (MIZ) wird<br />
abgeschafft. Positive Verhaltensweisen, die bis dato mit einer MIZ<br />
honoriert wurden, können zukünftig meist mit einer IZU gewürdigt<br />
werden.<br />
Die Richtlinien erhalten durch die breite Abstützung mehr Akzeptanz.<br />
Bild: SKOS<br />
6 ZeSo 4/15 Richtlinienrevision
eiteten und Richtlinientexte ausfertigten.<br />
Diese sind dann im Plenum der Kommission<br />
diskutiert und nach einer Korrekturrunde<br />
in den Untergruppen zu Handen<br />
der Geschäftsleitung der SKOS verabschiedet<br />
worden. So blieb genug Zeit für Diskussionen<br />
und für die Suche nach ausgewogenen<br />
Lösungen. Viel zu diskutieren gab das<br />
Anreizsystem, insbesondere die Konsequenzen<br />
für einzelne Kantone, aber auch<br />
der Umgang mit jungen Erwachsenen und<br />
die zukünftigen Leistungen an grosse<br />
Haushalte. Das hat in einigen wenigen<br />
Punkten zu Varianten-Vorschlägen geführt.<br />
Demgegenüber stellte sich bei den Sanktionsverschärfungen<br />
und den redaktionellen<br />
Bereinigungen sehr rasch Konsens ein.<br />
Die Debatte wurde mit hoher Fachlichkeit<br />
und Respekt geführt. Die Ergebnisse konnten<br />
zum Schluss von allen mitgetragen werden.<br />
Ausblick auf die zweite Etappe<br />
Das gewählte Vorgehen und insbesondere<br />
das saubere Definieren von Auftrag und<br />
Rahmenbedingungen haben sich gelohnt<br />
und haben der Richtlinienkommission<br />
Sicherheit bei der Erarbeitung der Revisionspunkte<br />
gewährt. Zudem wurden dadurch<br />
die Revisionsvorschläge erklärbar<br />
und konnten so zügig durch die weiteren<br />
Entscheidgremien transportiert werden.<br />
Dies muss nun auch für die zweite Etappe<br />
gelingen. Weiter müssen wir sorgfältig darauf<br />
achten, dass die Richtlinien nicht zu<br />
juristisch werden. Trotz Straffung und<br />
dem Ziel, Anwendungsempfehlungen und<br />
Richtlinien vermehrt zu trennen, ist dem<br />
interdisziplinären Ansatz Sorge zu tragen.<br />
Praktikerinnen und Praktiker der sozialen<br />
Arbeit sollen weiterhin über ein auf sie<br />
zugeschnittenes Arbeitsinstrument verfügen.<br />
•<br />
Claudia Hänzi<br />
Präsidentin Kommission<br />
Richtlinien und Praxis<br />
Die SKOS ist zu raschen und<br />
grundlegenden Reformen fähig<br />
Auslöser der laufenden Revision der<br />
SKOS-Richtlinien waren einerseits zwei<br />
Studien der SKOS zum Verhältnis der<br />
Lebenskosten und der Höhe des materiellen<br />
Grundbedarfs sowie zur Wirkung<br />
des Anreizsystem in der Praxis und<br />
andererseits der immense politische<br />
und mediale Druck, der in den letzten<br />
Monaten auf der Sozialhilfe lastete. Die<br />
Gefahr eines Auseinanderbrechens des<br />
bisherigen, auf dem Regelwerk der SKOS<br />
basierenden Systems der Sozialhilfe in<br />
der Schweiz war erheblich. Die SKOS<br />
hat nach einer Vernehmlassung bei ihren<br />
Mitgliedern Reformvorschläge ausgearbeitet,<br />
die teilweise eine Senkung<br />
von Unterstützungsleistungen vorsehen<br />
und den Sanktionsrahmen bedeutend<br />
erweitern. Mit grossem Mehr hat die<br />
Sozialdirektorenkonferenz SODK fast<br />
allen Anträgen der SKOS zugestimmt.<br />
Führt die Revision nun zu einem<br />
«sozialpolitischen Dammbruch», wie dies<br />
etwa von der Caritas befürchtet wird?<br />
Oder sind die Anpassungen notwendige<br />
und trotz der Leistungskürzungen sozialpolitisch<br />
noch vertretbare Schritte, um<br />
die Akzeptanz der Sozialhilfe zu stärken?<br />
Für eine sozialpolitische Einordnung der<br />
bisherigen Reformschritte ist es noch zu<br />
früh, aber einige Schlüsse lassen sich<br />
dennoch bereits ziehen: Das System der<br />
SKOS-Richtlinien wurde von der SODK<br />
gutgeheissen. Festgehalten wird von der<br />
SODK auch am Konzept des sozialen<br />
Existenzminimums und an der Höhe<br />
des Grundbedarfs für die überwiegende<br />
Zahl der unterstützten Personen. Die<br />
eingeleiteten Reformen sollen sicherstellen,<br />
dass es auch weiterhin eine<br />
minimale gesamtschweizerische Harmonisierung<br />
der Sozialhilfe gibt.<br />
Die revidierten SKOS-Richtlinien<br />
sind wegen der Beschlussfassung durch<br />
die SODK nun politisch bedeutend besser<br />
abgestützt als bisher. Die SODK ist<br />
aber in der Pflicht, auf die Kantone einzuwirken,<br />
damit diese die revidierten<br />
Normen auch wirklich übernehmen.<br />
Falls die nun beschlossene gemeinsame<br />
Basis in den Kantonen nicht umgesetzt<br />
wird, muss der Bund mit einem Rahmengesetz<br />
für die Sozialhilfe ordnend<br />
eingreifen, um einen Negativwettbewerb<br />
mit immer tieferen Leistungen und ein<br />
Abschieben von Unterstützungsfällen<br />
in andere Kantone zu verhindern.<br />
Bei der Beurteilung der vorliegenden<br />
Beschlüsse muss auch bedacht werden,<br />
was passiert wäre, wenn sich die SKOS<br />
nicht für ein rasches Reformtempo und<br />
Korrekturen bei den Leistungen entschieden<br />
hätte. Wir sind davon überzeugt,<br />
dass es ohne diese Reformschritte<br />
zu einer raschen Absetzbewegung von<br />
den SKOS-Richtlinien und damit zu<br />
einem wirklichen Dammbruch in der<br />
Sozialhilfe gekommen wäre. So gesehen<br />
war die Anpassung der Richtlinien<br />
dringend notwendig und hat dazu beigetragen,<br />
ein bewährtes System neu zu<br />
positionieren. Dank der Revision ist es<br />
gelungen, die Richtlinien zu stärken<br />
und eine Erosion der Sozialhilfe zu verhindern.<br />
Als Organisation hat die SKOS<br />
bewiesen, dass sie in einem partizipativen<br />
Prozess zu raschen und grundlegenden<br />
Reformen fähig ist. Das haben<br />
der SKOS nicht alle zugetraut. •<br />
Felix Wolffers<br />
Co-Präsident der SKOS<br />
Richtlinienrevision 4/15 ZeSo<br />
7
Die Debatte muss auch den<br />
Grundrechtsschutz beachten<br />
Die neuen SKOS-Richtlinien sehen für bestimmte Personengruppen Leistungskürzungen vor. Mit<br />
ihnen werden traditionelle Fürsorgeprinzipien bestärkt, die bei der Bekämpfung von Armut vor allem<br />
die Familien und Gemeinden in die Pflicht nehmen. Eine historische Einordnung der aktuellen Revision.<br />
1934 wurden erstmals Vorschläge für nationale<br />
Richtsätze in der Schweizer Sozialhilfe<br />
diskutiert. Mitten in der Wirtschaftskrise<br />
setzte die Schweizerische Armenpflegerkonferenz<br />
– wie die SKOS früher hiess –<br />
das Thema auf die Traktandenliste ihrer<br />
jährlichen Konferenz. Der eingeladene Experte,<br />
Walter Rickenbach, berechnete einen<br />
Minimalbedarf für eine vierköpfige Familie<br />
und schlug vor, diesen als Schweizer Richtsatz<br />
anzunehmen. Doch die Fürsorgebehörden<br />
aus Kantonen, die besonders hart von<br />
der Wirtschaftskrise betroffen waren, wehrten<br />
sich heftig gegen den Vorschlag. Einzelne<br />
Gemeinden hatten in den 1930er-<br />
Jahren kaum mehr Mittel für die Sozialhilfe.<br />
Zu wenig Steuerzahlende mussten zu<br />
viele Notleidende unterstützen. Die Mehrheit<br />
der versammelten Armenpfleger lehnte<br />
die vorgeschlagenen Richtlinien ab.<br />
An diesem Beispiel zeigt sich ein spezifisches<br />
Problem der SKOS-Richtlinien:<br />
Sie schlagen nationale Richtsätze für die<br />
Sozialhilfe vor, überlassen die Finanzierungsfrage<br />
aber weiterhin den Gemeinden<br />
und Kantonen. In wirtschaftlich prosperierenden<br />
Zeiten erweist sich das Spannungsverhältnis<br />
zwischen einer nationalen<br />
Normierung einerseits und einer föderalen<br />
Finanzierung andererseits als wenig problematisch.<br />
In der Hochkonjunktur der Nachkriegszeit<br />
war die Zahl der Gemeinden<br />
klein, die sich wegen der Finanzierung von<br />
Sozialhilfebeziehenden beklagten. Dementsprechend<br />
verschwand der Widerstand<br />
gegen nationale Richtsätze in den Nachkriegsjahren.<br />
Seit den 1990er-Jahren steigt die<br />
Zahl der Sozialhilfebeziehenden erneut<br />
an. Dadurch treten die Widersprüche im<br />
Schweizer Sozialhilfesystem wieder offener<br />
zu Tage. Wenn bestimmte Gemeinden<br />
zunehmend durch die Sozialhilfe belastet<br />
werden und an ihre finanziellen Grenzen<br />
stossen, sind eigentlich neue Antworten<br />
Die Reformen nehmen armutsbetroffene Familien stärker in die Pflicht.<br />
gefragt. Die politisch gängigste Forderung<br />
ist aber nach wie vor, dass bei den Sozialhilfebeziehenden<br />
gespart werden soll. Die<br />
revidierten SKOS-Richtlinien korrigieren<br />
denn auch einen Teil der Leistungen nach<br />
unten. Wirklich entlastet werden Gemeinden<br />
mit wenig potenten Steuerzahlenden<br />
und einer grossen Zahl von Sozialhilfebeziehenden<br />
dadurch freilich nicht. Dies<br />
wäre nur durch eine Revision des föderalistischen<br />
Prinzips und neuen Formen<br />
des Lastenausgleichs zu erreichen. Vorschläge<br />
dazu finden sich bereits im frühen<br />
20. Jahrhundert. Bis heute haben die Kantone<br />
aber <strong>ganz</strong> unterschiedliche Lastenausgleichssysteme<br />
verankert.<br />
Der Arbeitsmarkt als Referenzpunkt<br />
Die 1930er-Jahre sind noch aus einem<br />
weiteren Grund interessant für heutige<br />
Diskussionen. Der Referent Rickenbach<br />
Bild: Keystone<br />
stellte damals eine Forderung auf, die<br />
auch heute noch vorgebracht wird: Die<br />
Leistungen der Sozialhilfe sollen die Löhne<br />
der Arbeiterschaft nicht übersteigen.<br />
Nur so bleibe der Anreiz zur Arbeitsaufnahme<br />
bestehen. Gerade in der Wirtschaftskrise<br />
der 1930er-Jahre waren die<br />
Löhne indes vielfach nicht existenzsichernd,<br />
was allen versammelten Fürsorgern<br />
klar war. Auch heute gilt, dass nur die<br />
«würdigen» Armen, also die arbeitswilligen,<br />
aber aus bestimmten Gründen<br />
arbeitsunfähigen oder arbeitslosen Menschen,<br />
Unterstützung bekommen sollen.<br />
Der Arbeitsmarkt belohnt die Arbeitenden<br />
jedoch nicht immer mit einem existenzsichernden<br />
Lohn, so dass die Sozialhilfe<br />
einspringen muss. Der Arbeitsmarkt und<br />
seine Lohnstruktur bleiben eine zentrale<br />
und gleichzeitig problematische Referenz<br />
für die Sozialhilfe.<br />
8 ZeSo 4/15 Richtlinienrevision
Die neuen SKOS-Richtlinien kürzen die<br />
Beiträge für Jugendliche bis 25 Jahre, die<br />
alleine leben. Diese Massnahme soll disziplinierende<br />
Wirkung entfalten und die<br />
Jugendlichen zur Aufnahme einer Arbeit<br />
führen. Die Frage stellt sich allerdings,<br />
in welchen Arbeitsmarkt diese avisierte<br />
Gruppe integriert wird und ob diese<br />
Jugendlichen – insbesondere wenn sie<br />
ohne Ausbildung bleiben – längerfristig<br />
einer existenzsichernden Arbeit nachgehen<br />
können. Im frühen 20. Jahrhundert<br />
verlangten Armenbehörden vielfach, eine<br />
«prophylaktische Perspektive» in Entscheidungen<br />
einzubringen, um Personen langfristig<br />
aus der Armut zu führen. Während<br />
dieses Credo die Ausgestaltung der Sozialversicherungen<br />
stark prägte, blieb es in<br />
der Sozialhilfe meist unerfüllt. Historische<br />
Untersuchungen zeigen, dass zahlreiche<br />
Menschen über Jahrzehnte immer wieder<br />
auf Sozialhilfe angewiesen waren. Die<br />
Frage, wie gerade Jugendliche langfristig<br />
aus der Sozialhilfe geführt werden, droht in<br />
gegenwärtigen Debatten unterzugehen.<br />
Druck auf Familien<br />
Mit der Kürzung der Beiträge von Jugendlichen<br />
sollen schliesslich die Familien wiederum<br />
stärker in die Pflicht genommen<br />
werden. Auch andere Reformmassnahmen<br />
setzen armutsbetroffene Familien vermehrt<br />
unter Druck. 2016 werden die Beiträge<br />
für Grossfamilien gekürzt. Zudem<br />
ergab eine Untersuchung des Bundesamts<br />
für Statistik, dass zur Deckung des Grundbedarfs<br />
für kleinere Haushalte eine leichte<br />
Erhöhung der Sozialhilfebeiträge notwendig<br />
wäre. Die neuen SKOS-Richtlinien<br />
verzichten jedoch auf eine entsprechende<br />
Erhöhung. Damit werden Entwicklungen<br />
gefördert, die die Sozialhilfe lange Zeit<br />
dominierten. Bis weit ins 20. Jahrhundert<br />
reichten die Leistungen der Sozialhilfe<br />
nicht aus, um das soziale Existenzminimum<br />
zu sichern. Nur wenn Arme auf zusätzliche<br />
Unterstützungssysteme zurückgreifen<br />
konnten, gelang es ihnen, in der<br />
Gesellschaft integriert zu bleiben. Wichtig<br />
waren die Leistungen von Verwandten und<br />
von gemeinnützigen Organisationen. Fehlten<br />
diese zusätzlichen Ressourcen, landeten<br />
die Menschen vielfach im kommunalen<br />
Armenhaus. Damit war zwar das physische<br />
Existenzminimum gesichert. Die<br />
Menschen waren aber gänzlich aus der Gesellschaft<br />
ausgeschlossen.<br />
In historischer Perspektive wird die<br />
Hartherzigkeit der früheren Armenbehörden<br />
oft kritisiert. Tatsächlich ist die Liste<br />
von Grundrechtsverletzungen lang, die<br />
Sozialhilfebeziehende erlitten. Auch im<br />
modernen Sozialstaat des 20. Jahrhunderts<br />
verloren sie die Niederlassungsfreiheit und<br />
wurden vielfach in ihre Heimatgemeinden<br />
ausgewiesen. Zahlreiche renitente<br />
Sozialhilfebeziehende verschwanden über<br />
das Instrument der administrativen Versorgung<br />
für Jahre in Arbeitsanstalten.<br />
Gegenwärtig ist eine unabhängige Expertenkommission<br />
daran, die Geschichte der<br />
Schweizer Zwangsfürsorge aufzuarbeiten.<br />
Just in dem Moment aber, in dem sich die<br />
Schweiz kritisch mit der Geschichte der<br />
fürsorgerischen Disziplinierungsinstrumente<br />
auseinandersetzt, werden die Disziplinierungsmöglichkeiten<br />
in der Sozialhilfe<br />
wiederum ausgebaut: Die Behörden<br />
können unkooperativen Personen neu bis<br />
zu 30 Prozent der Leistungen streichen.<br />
Zahlreiche renitente<br />
Sozialhilfebeziehende<br />
verschwanden über<br />
das Instrument der<br />
administrativen<br />
Versorgung für Jahre<br />
in Arbeitsanstalten.<br />
Unrühmliche Tradition<br />
Die Frage, was die Sozialhilfe zur Integration<br />
von armutsbetroffenen Menschen leisten<br />
muss, war immer umstritten. Aus historischer<br />
Perspektive lässt sich immerhin so<br />
viel sagen. Die Schweiz hat eine unrühmliche<br />
Tradition, die Grundrechte von armutsbetroffenen<br />
Menschen zu verletzen.<br />
In gegenwärtigen Debatten um die Revision<br />
der Sozialhilfe sollten daher dem Grundrechtsschutz<br />
von Menschen erhöhte Aufmerksamkeit<br />
gegeben und die Frage der<br />
Verhältnismässigkeit der Massnahmen mit<br />
grosser Sorgfalt geprüft werden. Zudem ist<br />
klar: Soziale Teilhabe kostet etwas. Der<br />
Anspruch, dass Familien und Gemeinden<br />
die Kosten alleine schultern sollen, führte<br />
im 20. Jahrhundert vielfach zu Ungerechtigkeiten<br />
in der Armenfürsorge. Im Kontext<br />
einer neoliberalen Wirtschafts- und<br />
Gesellschaftsordnung führt ein solcher<br />
Anspruch wiederum dazu, die soziale Exklusion<br />
von Armen zu fördern. Notwendig<br />
wäre, die Frage nach den Reformen der<br />
SKOS-Richtlinien stärker mit Fragen einer<br />
sozialen Verteilungsgerechtigkeit zu verknüpfen.<br />
•<br />
Sonja Matter<br />
Historikerin an der Universität Bern<br />
Richtlinienrevision 4/15 ZeSo<br />
9
13 Fragen an Nathalie Schneuwly<br />
1<br />
2<br />
3<br />
Womit beschäftigen Sie sich im Moment?<br />
Ich arbeite zu 50 Prozent beim Kanton Genf als<br />
Juristin. Mein Amt verwaltet den Immobilienpark<br />
des Kantons. Als Kantonsrätin arbeite ich rund zwölf<br />
Stunden pro Woche in Kommissionen, dazu kommen<br />
die Grossratssitzungen an zwei Abenden im Monat.<br />
Am Donnerstagnachmittag empfange ich im Büro<br />
des Centre de Liaison des Associations Féminines<br />
Genevoises (CLAFG) Frauen, die mit ihren Anliegen<br />
zu mir kommen. Aus diesem Engagement ergibt sich<br />
auch viel Telearbeit, die ich abends zu Hause erledige.<br />
Zu alldem kommt noch mein liebster, allerdings nicht<br />
immer einfacher «Job» hinzu: Mutter und Ehefrau.<br />
Kurz, ich bin wie viele Frauen eine Multi-Taskerin.<br />
Was bewirken Sie mit Ihrer Arbeit?<br />
Als Mutter, dass meine Kinder das Leben erfolgreich<br />
meistern und sich wohl fühlen. Das ist die<br />
schönste Belohnung. Beim CLAFG, dem ich seit einem<br />
Jahr vorsitze, spielen wir eine zentrale Rolle für die<br />
Genfer Frauenverbände. Wir vernetzen die Mitglieder,<br />
informieren sie über Aktivitäten und organisieren Veranstaltungen.<br />
Unser Ziel ist, Frauen zu fördern und sie<br />
in allen Bereichen zur Übernahme von Verantwortung<br />
zu ermutigen. Am 5. Oktober haben wir unter dem<br />
Motto «Votez femmes» einen Anlass durchgeführt,<br />
um sämtliche Genfer Nationalrats-Kandidatinnen<br />
vorzustellen. Wir sind eine apolitische Vereinigung,<br />
aber wir dienen den Frauen als politisches Sprachrohr.<br />
Als Kantonsrätin sehe ich wenig Früchte dieser<br />
Arbeit. Die Macht ist sehr verstreut. Das ist an sich<br />
schon gut, aber es wird schwierig, wenn in Krisensituationen<br />
echte Entscheide gefällt werden müssen. Die<br />
vielen Parteien in Genf verhindern klare Mehrheiten<br />
und sorgen für konfuse Situationen. Es gibt keine Linie<br />
mehr. Das ist bisweilen entmutigend. Als Juristin<br />
in der Verwaltung diene ich dem Gemeinwesen.<br />
Sind Sie eher arm oder eher reich?<br />
Bis vor kurzem habe ich mich als eher wohlhabend<br />
betrachtet. Aber je älter die Kinder werden,<br />
desto leerer wird das Portemonnaie. Ich gehöre zum<br />
Genfer Mittelstand, dessen Kosten jedes Jahr steigen.<br />
Vor allem die Krankenkassenprämien belasten<br />
das Familienbudget stark, und eine Erleichterung ist<br />
nicht in Sicht.<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
Glauben Sie an die Chancengleichheit?<br />
Die Verfassung garantiert die Gleichheit von Mann<br />
und Frau. Ich dachte lange Zeit, es gäbe da keine<br />
Probleme. Ich hatte die gleichen Möglichkeiten wie<br />
mein Bruder, beispielsweise zum Studieren. Mein<br />
Mann und ich teilen uns die Hausarbeit. Aber die Gesellschaft<br />
ist auf das männliche Modell ausgerichtet,<br />
und Frauen haben einen erschwerten Zugang<br />
zu leitenden Positionen. Um das zu verändern, bin<br />
ich Präsidentin des CLAGF geworden. Wir wollen den<br />
Frauen im Sinne eines «Chors der Frauenverbände»<br />
mehr Gehör verschaffen.<br />
Können Sie gut verlieren, und woran merkt man das?<br />
Ich kann gut verlieren. Meine Erfahrung hat mir<br />
gezeigt, dass aus meinen Misserfolgen oft Stärken<br />
geworden sind.<br />
Wenn Sie in der Schweiz drei Dinge verändern könnten,<br />
welche wären das?<br />
Mehr Frauen in der Politik und in Kaderstellen in<br />
der Wirtschaft. Dynamisierung und Aufwertung des<br />
Staatsdienstes. Und schliesslich eine neue Nationalhymne,<br />
die jetzige konnte ich noch nie singen!<br />
Für welches Ereignis oder für welche Begegnung würden<br />
Sie ans andere Ende der Welt reisen?<br />
Für einen Match mit Roger Federer im Davis-Cup<br />
und hoffentlich schon bald Belinda Bencic im Fed<br />
Cup. Ich mag Tennis, in meiner Jugend habe ich<br />
selbst gespielt. Ich bin eine Gewinnernatur und stolz<br />
darauf, Schweizerin zu sein. Die Schweiz hat ihren<br />
Meister gehabt. Nun wartet sie auf ihre nächste Meisterin<br />
– nach Martina Hingis.<br />
Welche drei Gegenstände würden Sie auf eine verlassene<br />
Insel mitnehmen?<br />
Mein Kissen, denn mit zunehmendem Alter kann<br />
ich mich immer schwieriger davon trennen, und ein<br />
guter Schlaf ist entscheidend fürs Überleben! Zündhölzer,<br />
denn ich bin nicht wie eine der «Heldinnen»<br />
von Koh-Lanta in der Reality-TV-Sendung, die meine<br />
Tochter schaut, und eine Zahnbürste.<br />
Was bedeutet Ihnen Solidarität?<br />
Solidarität heisst für mich Umverteilung und<br />
Zusammenarbeit. Das kann über materielle Güter<br />
oder über Austausch und Gegenleistung, etwa Zeit<br />
oder punktuelle Hilfe geben, geschehen. Ich bedaure<br />
es, dass ich in meiner Jugend nie für humanitäre<br />
Einsätze im Ausland war und hoffe, dass ich<br />
das nach der Pensionierung nachholen kann. Ich<br />
10 ZeSo 4/15 13 fragen
Nathalie Schneuwly<br />
Bild: Ruedi Flück<br />
Nathalie Schneuwly (Jg. 1969) ist Präsidentin des Centre de Liaison des<br />
Associations Féminines Genevoises (CLAFG) und Abgeordnete der Liberalen<br />
im Genfer Grossen Rat. Die Juristin arbeitet in einer Teilzeitanstellung bei<br />
der kantonalen Liegenschaftsverwaltung (Office des bâtiments de l’Etat<br />
de Genève). Sie ist verheiratet und hat eine 15-jährige Tochter und einen<br />
13-jährigen Sohn.<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
könnte mir vorstellen, in einem Entwicklungsland<br />
Kinder oder Jugendliche zu unterrichten, beispielsweise<br />
in Demokratie oder Recht. Oder auch in einem<br />
Waisenhaus zu arbeiten, um menschliche Wärme<br />
einzubringen.<br />
An welches Ereignis im Ihrem Leben denken Sie besonders<br />
gerne zurück?<br />
Die Geburt meiner Kinder, <strong>ganz</strong> klar.<br />
Gibt es Dinge, die Ihnen den Schlaf rauben?<br />
Ungerechtigkeit. In meinem Beruf als Anwältin<br />
bin ich leider immer wieder damit konfrontiert.<br />
Heute werden so viele Gesetze erlassen, dass alles<br />
komplex wird und selbst die Richter den Überblick<br />
verlieren. Manchmal bleibt der gesunde Menschenverstand<br />
auf der Strecke. In Genf gab es einen<br />
Richter, der Geschiedenen-Alimente in zwei Zeilen<br />
gerecht festlegen konnte. Das Gericht benötigte für<br />
die Begründung danach zwei Seiten, mit demselben<br />
Ergebnis! Das System wird immer schwerfälliger,<br />
und die Resultate nicht unbedingt besser.<br />
Welcher Begriff ist für Sie ein Reizwort?<br />
«Mit dem Rücken zur Wand». Man sollte immer<br />
nach Lösungen suchen. Und jegliche Sprüche über<br />
Blondinen. Ich habe eine hübsche und intelligente,<br />
strohblonde Tochter, die darunter leidet, ständig<br />
Zielscheibe von Blondinenwitzen zu sein. Vielleicht<br />
sollte ich einen Blondinenverein gründen, der Mitglied<br />
des CLAFG würde.<br />
Haben Sie eine persönliche Vision?<br />
Freiheit ist unser grösster Reichtum, nach den<br />
Kindern. Ich träume von einer freiheitlichen Gesellschaft<br />
mit möglichst wenig Zwängen, einer von<br />
Menschlichkeit und gesundem Menschenverstand<br />
geprägten Gesellschaft, in der nicht alles geregelt<br />
werden muss. Ich wünsche mir mehr Frauen in der<br />
Politik oder in der Wirtschaft, aber ich möchte, dass<br />
das von selbst geschieht. Die Männer müssen einsehen,<br />
dass gerechtere Genderanteile für alle von<br />
Nutzen sind. So könnte vermieden werden, dass<br />
endlos über Quoten diskutiert und die Wahlfreiheit<br />
eingeschränkt wird.<br />
13 fragen 4/15 ZeSo<br />
11
Anrechnung zu hoher Wohnkosten<br />
bei hängigem IV-Verfahren<br />
Bei der Frage, ob sich eine Person mit überhöhten Wohnkosten, die einen IV-Rentenentscheid<br />
erwartet, sich günstigeren Wohnraum suchen muss, sind öffentliches Interesse und das<br />
Individualisierungsprinzip gegeneinander abzuwägen.<br />
Der alleinstehende Moritz Mächler ist seit<br />
längerem arbeitsunfähig. Die Abklärungen<br />
der IV-Stelle im Hinblick auf eine Rente<br />
sind noch nicht abgeschlossen. Den Anspruch<br />
auf Krankentaggeld hat Herr Mächler<br />
ausgeschöpft, er stellt Antrag auf Sozialhilfe.<br />
Er ist überzeugt, nur vorübergehend<br />
im Sinne einer Rentenbevorschussung auf<br />
Sozialhilfe angewiesen zu sein und möchte<br />
deshalb nicht aus seiner zu teuren Wohnung<br />
ausziehen.<br />
Frage<br />
Kann bei Personen mit hängigem IV-<br />
Verfahren von den Mietzinsrichtlinien abgewichen<br />
werden?<br />
Grundlagen<br />
Als bedarfsorientierte Leistung soll die Sozialhilfe<br />
eine individuelle, konkrete, gegenwärtig<br />
oder unmittelbar drohende Notlage<br />
beziehungsweise Bedürftigkeit vermeiden<br />
helfen. Auf deren Ursache kommt es nicht<br />
an. Massgebende und einzige Anspruchsvoraussetzung<br />
ist die aktuelle Bedürftigkeit<br />
(Bedarfsdeckungs- und Finalprinzip, SKOS-<br />
Richtlinien A.4). Dass die Bedürftigkeit<br />
von Herrn Mächler auf die Länge des IV-<br />
Abklärungsverfahrens zurückzuführen ist,<br />
hat keinen Einfluss auf die Unterstützung<br />
mit Sozialhilfe. Sie ist ursachenunabhängig<br />
und rechtsgleich zu gewähren.<br />
Überhöhte Wohnkosten sind in der Regel<br />
nur so lange anzurechnen, bis eine zumutbare<br />
günstigere Wohnung zur Verfügung<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />
und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />
Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />
(einloggen) SKOS-Line.<br />
steht. Es besteht kein Anspruch auf Übernahme<br />
der Mietkosten einer beliebigen<br />
Wohnung durch das Gemeinwesen. Bei<br />
der Ansetzung einer Frist zum Wohnungswechsel<br />
sind die üblichen Kündigungsbedingungen<br />
zu berücksichtigen und die<br />
betroffenen Personen sind bei der Suche<br />
nach günstigem Wohnraum bedarfsgerecht<br />
zu unterstützen (SKOS-Richtlinien B.3 und<br />
BGer 8C_805/2014 E. 4.1).<br />
Moritz Mächler kann also grundsätzlich<br />
zum Wohnungswechsel verpflichtet werden.<br />
Allerdings ist das in der Sozialhilfe geltende<br />
Individualisierungsprinzip zu beachten.<br />
Es verlangt, dass den Besonderheiten<br />
und Bedürfnissen des Einzelfalls angemessen<br />
Rechnung zu tragen ist. Die finanzielle<br />
und persönliche Hilfe ist nach den Erfordernissen<br />
des Einzelfalls zu beurteilen und zu<br />
bemessen (A.4).<br />
Richtlinien wie jene zum Mietzins dienen<br />
der Rechtsgleichheit. Sie relativieren den<br />
Individualisierungsgrundsatz, aber sie heben<br />
ihn nicht auf. Aus sachlichen Gründen<br />
oder wenn die Besonderheiten des Einzelfalls<br />
dies erfordern, darf beziehungswese<br />
muss von ihnen abgewichen werden.<br />
Durch das Individualisierungsprinzip erhält<br />
die zuständige Sozialbehörde Handlungsfreiheiten,<br />
die sie pflichtgemäss zu<br />
nutzen hat. Sie hat Ermessen und Beurteilungsspielräume<br />
wie folgt auszuüben:<br />
• nach Sinn und Zweck der gesetzlichen<br />
Ordnung<br />
• willkürfrei, nach sachlichen Kriterien<br />
• rechtsgleich<br />
• in verhältnismässiger Weise.<br />
Letzteres bedeutet, dass den Besonderheiten<br />
und Bedürfnissen des Einzelfalls in angemessener<br />
Weise Rechnung zu tragen ist.<br />
Unterstützte Personen sollen materiell nicht<br />
besser gestellt werden als nicht unterstützte,<br />
in bescheidenen finanziellen Verhältnissen<br />
lebende Personen (A.4). Leistungsbegrenzungen<br />
entsprechen dem Wesen der<br />
Sozialhilfe. Sozialhilfe gewährt nicht das<br />
Leistungsniveau, das sich sozialhilfeunabhängige<br />
Personen aus eigenen Mitteln leisten<br />
können und dürfen (vgl. BGE 133 V<br />
353 E. 4.2).<br />
Die Hilfe hat sich deshalb nicht nur an den<br />
Bedürfnissen der Betroffenen, sondern auch<br />
an den Zielen der Sozialhilfe im Allgemeinen<br />
– der Gewährleistung eines Existenzminimums<br />
und der Förderung von wirtschaftlicher<br />
und persönlicher Selbstständigkeit<br />
– auszurichten. Diese beiden Interessen,<br />
das private der Individualisierung und das<br />
öffentliche der Zielkonformität, sind sowohl<br />
hinsichtlich der Leistungen der Sozialhilfe<br />
als auch hinsichtlich der den bedürftigen<br />
Personen aufzuerlegenden Pflichten zu<br />
beachten und im Einzelfall gegeneinander<br />
abzuwägen.<br />
Antwort<br />
Sozialhilfe ist ursachenunabhängig zu gewähren.<br />
Ein hängiges IV-Verfahren führt<br />
nicht automatisch zur unbefristeten Anrechnung<br />
überhöhter Wohnkosten. Wenn<br />
jedoch die baldige Zusprechung einer IV-<br />
Rente an Moritz Mächler höchst wahrscheinlich<br />
ist und die zu erwartenden Mittel<br />
(wie IV-Renten und Ergänzungsleistungen)<br />
die Finanzierung seiner Wohnung<br />
längerfristig erlauben, ist ein Wohnungswechsel<br />
zur Erreichung des Ziels der wirtschaftlichen<br />
Selbstständigkeit nicht erforderlich;<br />
dann ist ein Abweichen von den<br />
Mietzinsrichtlinien angezeigt. Dies gilt<br />
auch dann, wenn ein Aus- und Umzug aufgrund<br />
<strong>ganz</strong> besonderer Umstände im Einzelfall<br />
nicht zumutbar ist.<br />
•<br />
Bernadette von Deschwanden<br />
Kommission Richtlinien und Praxis der SKOS<br />
12 ZeSo 3/15 praxis
Bei der Rückerstattung stellt sich<br />
die Frage der Rechtsgleichheit<br />
Sozialhilfe ist grundsätzlich eine Bevorschussung zur Existenzsicherung. Damit der Anspruch auf<br />
Rechtsgleichheit erfüllt ist, müssten die Kantone bei der Rückforderung von bezogener Sozialhilfe<br />
ähnliche Vorgaben und Berechnungen anwenden.<br />
Rechtmässig bezogene Sozialhilfe ist gemäss<br />
Definition eine Bevorschussung zur<br />
Existenzsicherung und muss im Rahmen<br />
der gesetzlichen Grundlagen zurückerstattet<br />
werden. Ab wann die Sozialdienste zur<br />
Eintreibung dieser «Schuld» angehalten<br />
sind und ob solche Forderungen überhaupt<br />
sinnvoll sind, ist immer wieder Gegenstand<br />
von Diskussionen. Denn wer sich von der<br />
Sozialhilfe ablösen kann, befindet sich<br />
meistens noch nicht in einer stabilen Situation<br />
und hat lediglich ein paar Franken<br />
mehr zur Verfügung als während der Unterstützung.<br />
Ein Rückfall ist schnell möglich.<br />
Daher ist es wichtig, diesen Menschen zu<br />
ermöglichen, ein bescheidenes finanzielles<br />
Polster anzulegen, um wieder eigenständig<br />
auch unvorhergesehene Auslagen auffangen<br />
zu können. Entsprechend empfehlen<br />
die SKOS-Richtlinien, keine Rückerstattung<br />
aus späterem Erwerbseinkommen einzufordern<br />
(E.3.I). Falls dennoch eine Rückerstattung<br />
aus Erwerbseinkommen gefordert<br />
wird, empfehlen die Richtlinien, die<br />
Höhe des monatlichen Rückerstattungsbetrags<br />
mit einer Bedarfsrechnung zu ermitteln<br />
(H.9). Eine Einzelperson kann, je nach<br />
Resultat dieser Berechnung, bereits ab<br />
einem monatlichen Einkommen von rund<br />
3500 Franken zur Rückerstattung angehalten<br />
werden. Erreicht eine Person ein Vermögen<br />
von 25 000 Franken oder ein Ehepaar<br />
ein Vermögen von 40 000 Franken – pro<br />
Kind können weitere 15 000 Franken hinzu<br />
gezählt werden –, empfehlen die Richtlinien,<br />
eine Rückforderung zu stellen.<br />
Grosse Vielfalt der Vorgaben<br />
Wie bei den bisherigen Beobachtungen in<br />
dieser Artikelserie übernimmt ein Teil der<br />
Kantone (15) die Empfehlungen der SKOS.<br />
Elf von ihnen fordern keine Rückerstattung<br />
aus Einkommen und vier halten sich<br />
beim Einkommen an die Berechnungsempfehlungen.<br />
Von den anderen Kantonen erheben<br />
fünf keine Forderungen auf Einkommen.<br />
Bezüglich Vermögen pflegen sie aber<br />
unterschiedliche Praktiken. Während die<br />
Kantone Aargau und Waadt eigene<br />
Limiten festlegen, liegt in den Kantonen<br />
Neuenburg, Genf und Schaffhausen die<br />
Handhabung punkto Vermögen im Ermessen<br />
des Sozialdienstes.<br />
Der Kanton Glarus übernimmt das<br />
SKOS-Modell bei der Rückforderung aus<br />
Einkommen und setzt mit 4000 Franken<br />
pro Einzelperson eine eigene (tiefe) Vermögensgrenze<br />
fest. Basel-Landschaft und<br />
Thurgau setzten eigene Einkommensgrenzen<br />
fest. Basel-Lanschaft liegt mit 6250 Franken<br />
pro Einzelperson über der Grenze der<br />
SKOS, Thurgau mit 2500 Franken steuerbarem<br />
Einkommen tendenziell darunter.<br />
Die drei Kantone Wallis, St. Gallen und<br />
Luzern stützen sich bei der Umsetzung des<br />
Auftrags beim Einkommen allein auf das<br />
Ermessen des Sozialdienstes.<br />
Auch punkto Vermögen gehen die kantonalen<br />
Vorgaben weit auseinander. In<br />
vielen Fällen meldet sich das Sozialamt<br />
erst bei Anfall einer grossen Erbschaft oder<br />
eines Lotteriegewinns zwecks Rückzahlung.<br />
In den Kantonen Thurgau, Glarus<br />
und Aarau darf sich der Sozialdienst aber<br />
schon ab einem Kontostand von 4000 bis<br />
5000 Franken melden.<br />
Unterschiede beim Inkasso<br />
Die unterschiedliche Organisation des<br />
Inkassos wie auch unterschiedliche Handlungsspielraume<br />
der Sozialdienste verstärken<br />
diese Differenzen. In sieben Kantonen<br />
wird das Inkasso vom Kanton vollzogen.<br />
Hier dürften die gesetzlichen Vorgaben<br />
eng umgesetzt werden. In den anderen<br />
Kantonen sind die Gemeinden zuständig.<br />
Während in einigen dieser Kantone die<br />
Vorgaben von allen Diensten umgesetzt<br />
werden, schöpfen die Dienste in anderen<br />
«Monitoring Sozialhilfe»<br />
Dieser Text ist der vierte im Rahmen einer Artikelserie<br />
zur konkreten Umsetzung der Sozialhilfe<br />
in den Kantonen und zur Vielfalt der Sozialhilfe in<br />
der Schweiz. Die Daten und die daraus abgeleiteten<br />
Erkenntnisse basieren auf dem 2014<br />
gestarteten «Monitoring Sozialhilfe» der SKOS.<br />
Kantonen ihre Ermessenspielräume voll<br />
aus und verzichten zum Teil auf Rückforderungen.<br />
Einschätzung<br />
Die teilweise gewichtigen Unterschiede bei<br />
den Vorgaben der Kantone widerspiegeln<br />
die föderale Vielfalt. Nicht unproblematisch<br />
ist, dass sechs Kantone die Prüfung<br />
und den Entscheid über eine Rückerstattung<br />
dem Ermessen der Sozialdienste<br />
überlassen. Denn wenn jemand in einem<br />
Kanton X keine Rückerstattung leisten<br />
muss und eine andere Person in der gleichen<br />
Situation in einem anderen Kanton Y<br />
während Jahren einen finanziellen «Tribut»<br />
für den einstigen Hilfebezug leisten<br />
muss, stellt sich die Frage nach der Rechtsgleichheit.<br />
Zumal die Konsequenzen für<br />
die Betroffenen oft langfristig sind.<br />
In diesem Zusammenhang ist es auch<br />
gut vorstellbar, dass durch eine sich abzeichnende<br />
langfristige Verschuldung<br />
aufgrund der Rückerstattungspflicht im<br />
einen oder anderen Fall der Gang zum<br />
Sozialamt zusätzlich erschwert wird<br />
und – am anderen Ende der Sozialhilfeunterstützung<br />
– die Rückerstattungspflicht<br />
in einem Kanton mit sehr tiefen Limiten<br />
die Ablösung von der Sozialhilfe erschweren<br />
kann. <br />
•<br />
Christin Kehrli<br />
Leiterin Fachbereich Grundlagen SKOS<br />
SKOS-RICHTLINIEN 3/15 ZeSo<br />
13
14 ZeSo 4/15 SCHWERPUNKT<br />
Bild: Keystone
Die Wohnversorgung ist oft ungenügend<br />
bei armutsbetroffenen Haushalten<br />
84 Prozent der armutsbetroffenen Haushalte in der Schweiz sind unzureichend wohnversorgt.<br />
Die hohe Wohnkostenbelastung ist die häufigste Ursache. Dies zeigt eine Studie zum Thema<br />
Wohnversorgung bei armutsbetroffenen Menschen. Experteninterviews haben zudem Hinweise zur<br />
Verbesserung der Situation für Benachteiligte auf dem Wohnungsmarkt geliefert.<br />
Ein Dach über dem Kopf zu haben, unter dem man sich wohlfühlt,<br />
ist ein Grundbedürfnis. Die Versorgung mit angemessenem<br />
Wohnraum ist deshalb ein zentraler Aspekt der Existenzsicherung<br />
und ein Sozialziel in der Bundesverfassung. Ob dieses Ziel für<br />
Haushalte von Menschen in Armut und in prekären Lebenslagen<br />
erreicht ist, gibt es bislang nur wenig gesichertes Wissen. Um<br />
diese Frage zu beantworten, muss zunächst definiert werden,<br />
welche Kriterien eine angemessene Wohnversorgung bestimmen<br />
und unter welchen Umständen die Wohnversorgung ungenügend<br />
ist. Die Studie «Wohnversorgung in der Schweiz» im Rahmen des<br />
nationalen Programms zur Prävention und Bekämpfung von<br />
Armut in der Schweiz entwickelt ein Modell für die Beurteilung<br />
der Wohnversorgung. Es basiert auf den fünf Dimensionen Wohnkosten,<br />
Wohnungsgrösse, Wohnungsqualität, Wohnlage und<br />
Wohnsicherheit (Grafik 1). Sind die minimalen Kriterien innerhalb<br />
dieser Dimensionen erfüllt, kann von einer angemessenen<br />
Wohnversorgung gesprochen werden.<br />
Ein Haushalt gilt als arm, wenn das Haushaltseinkommen nach<br />
Abzug der Sozialversicherungsbeiträge und der Steuern unter dem<br />
sozialen Existenzminimum, der sogenannten Armutsgrenze, liegt.<br />
In einer prekären Lebenslage befindet sich ein Haushalt, wenn das<br />
Haushaltseinkommen maximal 20 Prozent über dieser Grenze<br />
liegt. Ein einschneidendes Ereignis wie die Geburt eines Kindes<br />
oder der Verlust einer Arbeitsstelle kann also schnell in die materielle<br />
Armut führen.<br />
Angemessene Wohnversorgung<br />
Als angemessen wohnversorgt gilt ein Haushalt, wenn er in den<br />
vier quantifizierbaren Dimensionen Wohnkosten, Wohnungsgrösse,<br />
Wohnungsqualität und Wohnlage einen Mindestwert erreicht.<br />
Für die Dimension Wohnsicherheit lässt sich mangels statistisch<br />
verwertbarer Indikatoren keine Quantifizierung durchführen. Die<br />
Messung der Wohnversorgung auf der Basis der SILC-Statistik<br />
(Statistics on Income and Living Conditions) der Jahre 2007 und<br />
2012 zeigt nun, dass 84 Prozent der armutsbetroffenen Haushalte<br />
und 57 Prozent der Haushalte in prekären Lebenslagen keine<br />
angemessene Wohnversorgung aufweisen. Damit sind armutsbetroffene<br />
Haushalte vier Mal häufiger von einer unzureichenden<br />
Wohnversorgung betroffen als die Gesamtbevölkerung (Grafik 2).<br />
Hauptursache der ungenügenden Wohnversorgung ist die zu<br />
hohe Wohnkostenbelastung. 82 Prozent der armutsbetroffenen<br />
Haushalte und 48,9 Prozent der Haushalte von Menschen in<br />
prekären Lebenslagen leben in einer zu teuren Wohnung. Ihre<br />
Wohnkosten übersteigen den aufgrund breiter Recherchen als<br />
sinnvoll erachteten Grenzwert von 30 Prozent von ihrem Brutto-<br />
einkommen. Würde man den Grenzwert bei 25 Prozent des Bruttoeinkommens<br />
festlegen, hätten 90,2 Prozent der armutsbetroffenen<br />
Haushalte eine übermässig starke Wohnkostenbelastung<br />
zu tragen. Würde man hingegen einen Grenzwert von 35 Prozent<br />
als noch tragbar bezeichnen, würde der Anteil der armutsbetroffenen<br />
Haushalte mit einer zu hohen Wohnkostenbelastung auf<br />
67,7 Prozent sinken.<br />
Wohnungsgrösse, Wohnungsqualität und Wohnlage sind in<br />
dieser Reihenfolge im Vergleich zu den Wohnkosten seltenere<br />
Gründe für eine unangemessene Wohnversorgung. 12,6 Prozent<br />
der armutsbetroffenen Haushalte und 8 Prozent der Haushalte<br />
von Menschen in prekären Lebenslagen leben in zu kleinen Wohnungen:<br />
Sie haben weniger als einen Wohnraum pro Haushalt<br />
plus ein Zimmer pro Person respektive 40 m 2 für die erste Person<br />
plus 10 m 2 für jede weitere Person zur Verfügung.<br />
7,5 Prozent der armutsbetroffenen Haushalte und 7 Prozent der<br />
Haushalte von Menschen in prekären Lebenslagen bewohnen<br />
Wohnraum von schlechter Qualität. Sie sind mit baulichen Mängeln<br />
wie Kälte, Dunkelheit oder Feuchte oder mit Immissionen wie<br />
Lärm oder Staub belastet oder ihre Wohnung verfügt nicht über die<br />
minimale Grundausstattung mit Bad/WC und Küche.<br />
Besteht eine ungenügende Versorgung einzig bei der Dimension<br />
Wohnlage, kann daraus nicht zwingend auf eine ungenügende<br />
Wohnversorgung geschlossen werden. Diese Dimension wurde<br />
in der Studie unter dem Aspekt der Partizipationsmöglichkeiten<br />
(Zugang zu Kindertagessstätten, öffentlichen Verkehrsmitteln,<br />
Einkaufsmöglichkeiten usw.) operationalisiert. Dabei hat sich<br />
gezeigt, dass eine aus dieser Optik «ungünstige» Wohnlage durchaus<br />
auch Privilegien in anderen Bereichen bieten kann. Gerade<br />
wohlsituierte Haushalte entscheiden sich oft bewusst gegen die<br />
Partizipationsmöglichkeit und für mehr Ruhe und Landluft, da<br />
sie grosse Distanzen mit einem Auto und einer guten privaten<br />
Infrastruktur kompensieren können. Für die 12,4 Prozent der<br />
armutsbetroffenen Haushalte und 11,5 Prozent der Haushalte<br />
von Menschen in prekären Lebenslagen, die in dieser Dimension<br />
ungenügend versorgt sind, wird in Anbetracht derer finanzieller<br />
Situation diese Kompensation erschwert.<br />
Überwiegend ein urbanes Phänomen<br />
Insgesamt weist ein knappes Viertel der armutsbetroffenen<br />
Haushalte in zwei oder drei Wohndimensionen gleichzeitig eine<br />
unzureichende Wohnversorgung auf. Eine ungenügende Wohnversorgung<br />
ist in der Tendenz ein urbanes Phänomen. Die Versorgungswerte<br />
sind für armutsbetroffene Haushalte in städtischen<br />
Gebieten in den Dimensionen Wohnkosten, Wohnungsgrösse,<br />
16 ZeSo 4/15 SCHWERPUNKT
armut UND wohnen<br />
Wohnungsqualität und Wohnsicherheit schlechter als die entsprechenden<br />
Werte in weniger dicht besiedelten Gebieten. Im Vergleich<br />
der Daten aus den Jahren 2007 und 2012 zeigt sich keine<br />
Zunahme der ungenügenden Wohnversorgung bei armutsbetroffenen<br />
Haushalten und Haushalten von Menschen in prekären<br />
Lebenslagen. Veränderungen zeigen sich hingegen innerhalb<br />
dieser Dimensionen: Tendenziell verfügten 2012 etwas mehr<br />
Haushalte über genügend Wohnraum als 2007, dafür lebten<br />
mehr an einer ungünstigen Wohnlage.<br />
Zentrale Schwierigkeit: Wohnsicherheit<br />
Die Resultate und Erkenntnisse der quantitativen Analyse wurden<br />
von Expertinnen und Experten aus der Sozialhilfe und von Fachstellen<br />
für Wohnungswesen im Rahmen der Studie bestätigt. Die<br />
Fachleute weisen allerdings darauf hin, dass sich die Situation zwischen<br />
2007 und 2014 zugespitzt hat. Es stehe noch weniger<br />
Dimension Indikatoren Kriterien / Operationalisierung<br />
Wohnkosten<br />
Wohnungsgrösse<br />
Wohnungsqualität<br />
Wohnkostenbelastung im<br />
Vergleich zum Einkommen<br />
Wohnfläche und Anzahl<br />
Zimmer pro Person<br />
Wohnungsausstattung<br />
Baulicher Zustand<br />
Wohnimmissionen<br />
30% des Bruttoeinkommens<br />
Mindestquadratmeter nach Haushaltsgrösse,<br />
Zimmerzahl nach Alter und Geschlecht<br />
Minimale Grundausstattung<br />
Dunkelheit, Kälte, Feuchtigkeit<br />
Lärm- und Staubbelastung<br />
günstiger Wohnraum für Armutsbetroffene zu Verfügung, da diskriminierende<br />
Marktmechanismen in angespannten Wohnungsmärkten<br />
stärker wirken. Die Experteninterviews zeigen zudem,<br />
dass die im Modell berücksichtigte, quantitativ aber nicht messbare<br />
Dimension Wohnsicherheit für armutsbetroffene Menschen und<br />
Menschen in prekären Lebenslagen noch kritischer ist als jene der<br />
Wohnkostenbelastung: Oft sind bereits der Zugang zu Wohnraum<br />
und das anschliessende Halten des Wohnraums erheblich erschwert.<br />
Dieser Befund bildet sich in der Arbeit dieser Fachstellen<br />
und der Sozialdienste klar ab (mehr zu diesem Thema auf Seiten<br />
22ff. - Red.).<br />
Enge Wohnverhältnisse bei Migrantinnen und Migranten<br />
Das Risiko, arm zu sein, ist nicht für alle Bevölkerungsgruppen<br />
gleich hoch. Aus der Armutsforschung ist bekannt, dass Einelternfamilien,<br />
Paarhaushalte mit drei und mehr Kindern, aber auch<br />
alleinlebende Menschen oder Menschen<br />
ohne nachobligatorische Ausbildung<br />
besonders häufig zur Armutspopulation<br />
gehören. Das Gleiche gilt<br />
für Menschen mit Migrationshintergrund<br />
und für viele Rentnerinnen und<br />
Rentner. Für die Beantwortung der<br />
Frage, ob diese Gruppen auch besonders<br />
häufig ungenügend wohnversorgt<br />
sind, wurden Daten der Gesamtbevölkerung<br />
analysiert. Besonders häufig<br />
befinden sich Alleinstehende unter<br />
65 Jahren (mit einem Anteil von 31 Prozent)<br />
und Alleinerziehende (37 Prozent)<br />
in einer ungünstigen Wohnsituation. <br />
Wohnlage<br />
Soziale Infrastruktur<br />
Öffentl. Verkehrsmittel<br />
Vandalismus<br />
Schulweg*<br />
Naherholungsgebiet*<br />
Kita*<br />
* nur bei Familien<br />
Zugang zu Lebensmittelläden und zu<br />
medizinischer Versorgung<br />
Anschluss an öffentliches Verkehrsnetz<br />
Verbrechen oder Vandalismus in der<br />
Wohnumgebung<br />
Schwierigkeit beim Zugang zu Pflichtschulen<br />
Zugang zu Spielplätzen<br />
Zugang zu einer Kita<br />
Wohnsicherheit<br />
Wohnstatus<br />
Wohnkompetenzen<br />
Schulden, Betreibungen<br />
Keine Operationalisierung möglich<br />
Grafik 1: Modell für die Beurteilung der<br />
Wohnversorgung: Dimensionen, Indikatoren<br />
und Operationalisierungskriterien.<br />
Quelle: Studie «Wohnversorgung in der Schweiz»<br />
SCHWERPUNKT 4/15 ZeSo<br />
17<br />
Studie<br />
Die Studie «Wohnversorgung in der Schweiz – Bestandsaufnahme<br />
über Haushalte von Menschen in Armut und<br />
in prekären Lebenslagen» wurde von der SKOS und der<br />
Fachhochschule Nordwestschweiz unter Mithilfe der Berner<br />
Fachhochschule im Rahmen des «Nationalen Programms<br />
zur Prävention und Bekämpfung von Armut in der Schweiz»<br />
realisiert, vom Bundesamt für Sozialversicherungen BSV<br />
und vom Bundesamt für Wohnungswesen BWO finanziert.<br />
Sie wird voraussichtlich im Januar 2016 publiziert. Die<br />
Studie wird im Internet auf der Website www.gegenarmut.ch<br />
und auf der Website der SKOS verfügbar sein.<br />
Ungenügende Wohnversorgung<br />
2012<br />
Gesamt<br />
Arm<br />
Nicht arm<br />
Prekär<br />
Weder arm noch prekär<br />
15,5%<br />
82,0%<br />
8,0%<br />
48,9%<br />
5,3%<br />
6,2%<br />
12,6%<br />
5,6%<br />
8,0%<br />
5,5%<br />
4,2%<br />
7,5%<br />
3,8%<br />
7,0%<br />
3,7%<br />
9,6%<br />
12,4%<br />
9,3%<br />
11,5%<br />
9,1%<br />
Wohnkosten<br />
Wohnqualität<br />
Wohnlage<br />
Wohnungsgrösse<br />
Gesamtwohnversorgung<br />
20,8%<br />
83,5%<br />
15,5%<br />
57,1%<br />
12,9%<br />
Anteil der<br />
Haushalte<br />
100,0%<br />
10,0%<br />
90,0%<br />
6,4%<br />
83,7%<br />
Grafik 2: Ungenügende Gesamtwohnversorgung für armutsbetroffene Haushalte und Haushalte<br />
in prekären Lebenslagen und deren Begründung durch die vier Dimensionen Kosten,<br />
Grösse, Qualität und Lage im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Quelle: BFS/SILC 2012<br />
<br />
Haushalte mit Menschen ausländischer Herkunft sind mit 43 Prozent<br />
mehr als doppelt so häufig ungenügend wohnversorgt als<br />
Schweizer Haushalte (18 Prozent). Dabei fällt insbesondere der<br />
hohe Anteil von Haushalten in engen Wohnverhältnissen (23 Prozent)<br />
auf.<br />
Auch Altersrentnerinnen und -rentner sind in der Gesamtbevölkerung<br />
mit 39 Prozent überdurchschnittlich oft ungenügend<br />
wohnversorgt. In den meisten Fällen ist diese Situation auf<br />
eine zu hohe Wohnkostenbelastung zurückzuführen. Rentnerhaushalte<br />
können trotz tiefer Einkommen über Vermögen verfügen.<br />
Allerdings kann nur ein geringer Teil der Altersrentnerinnen<br />
und -rentner eine zu hohe Wohnkostenbelastung im Vergleich<br />
zum Einkommen durch einen Vermögensverzehr auffangen.<br />
Fazit<br />
Vier von fünf armutsbetroffenen Haushalten haben eine zu hohe<br />
Wohnkostenbelastung. Armutsbetroffene finden zudem oft nur<br />
schwer eine bezahlbare Wohnung oder sie müssen enge Wohnverhältnisse,<br />
mangelhafte Wohnungsqualität oder eine ungünstige<br />
Wohnlage in Kauf nehmen, um Wohnraum zu erhalten. Eine<br />
ungünstige Wohnversorgung ist somit eine wichtige Facette der<br />
Lebenslage von Armutsbetroffenen.<br />
•<br />
Wohnversorgung aus Sicht der Sozialhilfe<br />
Die im Rahmen der Untersuchung geführten Gespräche mit zehn<br />
Expertinnen und Experten aus der Sozialhilfe sowie mit zehn Fachstellen<br />
im Wohnungswesen aus der <strong>ganz</strong>en Schweiz geben auch<br />
wertvolle Hinweise, wo angesetzt werden könnte, um die Situation<br />
für Benachteiligte auf dem Wohnungsmarkt zu verbessern. Sozialhilfebeziehende<br />
gehören oft zur Gruppe der Personen, die faktisch<br />
vom freien Wohnungsmarkt ausgeschlossen sind. Es gibt jedoch<br />
auch Gemeinden, in denen einzelne Vermieter Sozialhilfebeziehende<br />
als risikoarme Gruppe identifizieren, da die involvierten Sozialdienste<br />
einen grossen Teil der Risiken der Vermietung abdecken<br />
respektive kompensieren. Generell haben Wohnungssuchende ausländischer<br />
Herkunft, unabhängig vom Aufenthaltsstatus und der<br />
Nationalität, aber insbesondere solche mit dunkler Hautfarbe, bei<br />
einem angespannten Wohnungsmarkt einen sehr schwierigen<br />
Stand. Auch Familien werden, zumindest in den Kernstädten, häufig<br />
als Risikogruppen genannt. Oft finden sie bei Zuwachs keine<br />
grössere Wohnung und leben dann in überbelegten Wohnungen.<br />
Für Personen, die in ein Betreibungsverfahren verwickelt sind, ist<br />
der selbständige Zugang zum Wohnungsmarkt faktisch unmöglich.<br />
Neben der Wohnungsgrösse wird von den Sozialdiensten und<br />
Fachstellen auch die Wohnungsqualität als häufiges Problem genannt.<br />
Dabei ist Schimmel der am häufigsten genannte Mangel<br />
bei der Wohnqualität. Diese Problematik lässt sich allerdings zum<br />
Teil auch auf fehlende Wohnkompetenzen der Mieter zurückführen.<br />
Wer beispielsweise richtig lüftet, kann das Risiko eines<br />
Schimmelbefalls verkleinern. Derartige Situationen führen auch<br />
zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen.<br />
Mieterseitig kommt es immer wieder vor, dass diese beispielsweise<br />
nicht wissen, wie sie eine Waschmaschine benutzen müssen<br />
oder welche Usanzen allgemein in der Nachbarschaft gelten, was<br />
die Ausschlusstendenz verstärkt. Neben Migrantinnen und Migranten<br />
sind Personen mit psychischen Erkrankungen oder auch<br />
<strong>ganz</strong> junge Menschen vergleichsweise häufig nicht in der Lage,<br />
sich den Anforderungen entsprechend zu verhalten.<br />
Dilemma bei den Mietzinsrichtlinien<br />
Die Sozialhilfe hat über ihre Mietzinsrichtlinien einen grossen<br />
Einfluss auf den Wohnungsmarkt. Werden die Mietzinsobergrenzen<br />
zu tief angesetzt, ist es für sozialhilfebeziehende Menschen<br />
noch schwieriger, eine Wohnung zu finden, und sie sehen sich<br />
möglicherweise gezwungen, in eine andere, «günstigere» Gemeinde<br />
umzuziehen. Werden die Mietzinsobergrenzen zu hoch angesetzt,<br />
reagieren gewinnmaximierende Vermieter, indem sie die<br />
Mietzinsen für ihre günstigsten Wohnungen erhöhen. In der<br />
Folge steigt das Mietpreisniveau weiter an.<br />
Nochmals eine andere Problematik aus der Sicht der Sozialhilfe<br />
ist die Praxis, dass manche Sozialhilfebeziehende einen Teil<br />
der Mietkosten aus ihrem Grundbedarf decken müssen. Wenn<br />
dies einem expliziten Wunsch der Unterstützten entspricht, da<br />
diese dem Wohnen mehr Bedeutung beimessen als einem anderen<br />
Bedürfnis, mag dies im Rahmen der individuellen Freiheiten<br />
zulässig sein. Unzulässig ist hingegen, wenn dies von Sozialhilfebeziehenden<br />
verlangt wird, weil für sie keine günstigere Wohnung<br />
gefunden werden kann.<br />
18 ZeSo 4/15 SCHWERPUNKT
armut UND wohnen<br />
Sozialhilfebeziehende sind faktisch oft vom freien Wohnungsmarkt<br />
ausgeschlossen sind.<br />
Bild: Keystone<br />
Um Wohnungen für Sozialhilfebeziehende zu erhalten, müssen<br />
Sozialdienste die Forderungen der Vermieter erfüllen. Das kann<br />
bedeuten, dass sie den Mietzins direkt dem Vermieter überweisen,<br />
anstatt den Beitrag an die Wohnkosten der Soziahilfe beziehenden<br />
Person zur eigenständigen Begleichung zu überlassen. Damit fällt<br />
ein wichtiges Instrument weg, mit dem die unterstützten Personen<br />
durch eigenständiges Managen des Zahlungsverkehrs auf das<br />
Leben ohne Sozialhilfe vorbereitet werden sollen. Unter diesem<br />
Aspekt ist es auch problematisch, dass immer mehr Vermieter<br />
verlangen, dass Sozialdienste oder private Fachstellen für Wohnungsfragen<br />
gemeinsam mit den Mietern Solidarmietverträge unterzeichnen<br />
und Mietkautionen hinterlegen. Neben dem grossen<br />
administrativen Aufwand ist dies unter rechtlichen Aspekten heikel.<br />
Spätestens bei der Ablösung der unterstützten Person entstehen<br />
Probleme, da die Sozialhilfe ab diesem Zeitpunkt nicht mehr<br />
zuständig ist und die Vermieter möglicherweise nicht Hand bieten,<br />
den Mietvertrag auf die bisher unterstützte Person umzuschreiben.<br />
Was die Sozialhilfe tun kann<br />
Sozialarbeitende verfügen oft über beschränkte Kenntnisse über das<br />
Funktionieren des Wohnungsmarkts und des Mietrechts. Und für<br />
den Aufbau und die Pflege von Beziehungen zu Vermietenden und<br />
Immobiliengesellschaften fehlt ihnen die Zeit. Damit beispielsweise<br />
drohende Kündigungen abgewendet werden können, muss in den<br />
Sozialdiensten das Wissen über die Mechanismen der Wohnungsvermittlung<br />
verbessert werden. Die in der Westschweiz (Lausanne,<br />
Genf) gewählte Lösung mit der Schaffung spezialisierter Abteilun-<br />
gen («Unité Logement») innerhalb der Sozialdienste kann insbesondere<br />
für grössere Sozialdienste als Vorbild dienen. Diese Abteilungen<br />
begleiten Sozialhilfebeziehende nicht nur bei der Wohnungssuche,<br />
sie knüpfen und pflegen auch Beziehungen zu Immobilienfirmen.<br />
Die Erfahrungen zeigen, dass die Beziehungspflege ein wichtiger<br />
Erfolgsfaktor für stabile Wohnsituationen ist. Aber auch allgemein<br />
müssen bei den fallführenden Sozialarbeitenden die Sensibilität<br />
und das konkrete Fachwissen verbessert werden. Nur so können<br />
Probleme frühzeitig erfasst und abgefedert werden.<br />
Auch dem Thema Wohnkompetenzen wird heute noch zu<br />
wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn Sozialdienste die Klientinnen<br />
und Klienten mit Defiziten bei den Wohnkompetenzen<br />
besser aufklären und wenn nötig schulen und sie solange begleiten,<br />
bis sie sich als eigenständige, verlässliche Mieterinnen und<br />
Mieter qualifizieren, dann verbessert sich auch deren Wohnsicherheit.<br />
Mehr Einheitlichkeit und Transparenz bei der Festlegung<br />
der Mietzinsobergrenzen würden dazu beitragen, die Rolle<br />
der Sozialhilfe als Akteurin auf dem Wohnungsmarkt zu klären.<br />
Mietzinsobergrenzen für Sozialhilfebeziehende, die nach klaren<br />
und einheitlichen Kriterien festgelegt werden, wirken dem Problem<br />
der Wohnortswahl respektive der Abschiebungsproblematik<br />
entgegen. Im Zusammenhang mit den Mietzinsobergrenzen sollte<br />
zudem geklärt werden, unter welchen Umständen und für welche<br />
Dauer ein Haushalt einen Teil seiner Mietkosten über den Grundbedarf<br />
bezahlen muss oder darf. Sozialdienste sollten grundsätzlich<br />
nur als Akteure auftreten, wenn sie beispielsweise selbst Liegenschaften<br />
zwecks Untervermietung anmieten oder diese käuflich<br />
erwerben. In der Praxis hat sich als sinnvoll erwiesen, dass Sozialdienste<br />
respektive Gemeinden über eigene Wohnungen verfügen<br />
und damit helfen können, Notfälle zu überbrücken.<br />
Schlussbemerkungen<br />
Hohe Wohnkosten und kritische Wohnsicherheit sind die beiden<br />
grössten Probleme, die einer adäquaten Wohnversorgung von armutsbetroffenen<br />
Menschen entgegenstehen. Beide Problematiken sind auf<br />
die Tatsache zurückzuführen, dass es zu wenig sehr günstigen Wohnraum<br />
gibt. Die hohen Wohnkosten wiederum sind ein treibender Faktor<br />
für den Anstieg der Sozialhilfekosten, auf den die Sozialhilfe kaum<br />
Einfluss hat. Die Sozialhilfe kann ihren Teil zur Verbesserung der Situation<br />
der Wohnversorgung Armutsbetroffener im Bereich der Wohnsicherheit<br />
beitragen, indem sie auf das Vorhandensein von Wohnkompetenzen<br />
achtet und mit einer näheren Begleitung und besserer<br />
Schulung der Klientinnen und Klienten dazu beiträgt, die Risiken für<br />
die Vermietenden klein zu halten. Für die Verbesserung des Zugangs<br />
zum Wohnungsmarkt für Armutsbetroffene und für Haushalte mit<br />
Risikofaktoren wie Schulden oder «Herkunft» müssen aber insbesondere<br />
auch die Vermieter motiviert werden, mitzuhelfen, für alle Seiten<br />
tragbare Lösungen zu finden. Solidarmietverträge sind eine Notlösung,<br />
sie dürfen aber nicht die einzige Option bleiben. Dies auch deswegen,<br />
weil bei einer Ablösung von der Sozialhilfe jeweils geklärt werden<br />
muss, ob der Vermieter bereit ist, das neue Mietverhältnis zu akzeptieren.<br />
Das Hauptproblem – fehlender günstiger Wohnraum – muss die<br />
Politik lösen, beispielsweise indem sie Anreize schafft und gesetzliche<br />
Rahmenbedingungen so anpasst, dass auch private Investoren im<br />
Segment günstiger Wohnraum vermehrt aktiv werden. •<br />
Christin Kehrli<br />
Leiterin Fachbereich Grundlagen SKOS<br />
SCHWERPUNKT 4/15 ZeSo<br />
Das Wohnungsangebot entspricht<br />
oft nicht den Nachfragebedürfnissen<br />
Die Lage auf dem Schweizer Mietwohnungsmarkt entspannt sich leicht. Dennoch bleibt es eine<br />
Herausforderung, die Nachfrage nach bezahlbaren Wohnungen zu decken. Dabei ist nicht ein<br />
flächendeckender Mangel an günstigen Wohnungen das Problem, sondern oftmals deren Standort.<br />
Die Entwicklung auf dem Mietwohnungsmarkt brachte es in den<br />
letzten Jahren mit sich, dass es sich für Mieter oft nicht lohnte, die<br />
Wohnung zu wechseln, sofern nicht triftige Gründe dafür sprachen.<br />
Denn einerseits sind die Mieten der bestehenden Mietverhältnisse<br />
seit 2008 mehrheitlich gesunken, weil sich der massgebende<br />
Referenzzinssatz, die mietrechtliche Basis für die Bestimmung<br />
der Mieten bei bestehenden Mietverträgen, in dieser Zeit halbiert<br />
hat. In vielen Fällen hat sich die Miete einer im Jahr 2008 gemieteten<br />
Wohnung seither um mehr als 15 Prozent gesenkt, sofern<br />
keine wertvermehrenden Investitionen getätigt oder allfällige Teuerungsanstiege<br />
überwälzt wurden. Wenn man andererseits die<br />
Wohnung wechseln wollte oder musste, sah man sich mit höheren<br />
Mieten bei den Wohnungsangeboten konfrontiert. Im Schweizer<br />
Durchschnitt sind die Mietpreise bei ausgeschriebenen Wohnungen<br />
zwischen 2005 und <strong>2015</strong> jährlich um 2,8 Prozent gestiegen.<br />
Im Vergleich zu den vergangenen Jahren wird es 2016 tendenziell<br />
ein wenig einfacher werden, eine passende Wohnung<br />
zu finden. Praktisch alle Indikatoren weisen darauf hin, dass der<br />
Nachfrageüberhang der vergangenen Jahre abgebaut worden ist<br />
und dass der Nachfrage nun ein deutlich breiteres Angebot gegenübersteht.<br />
Zwar sind die Mieten der angebotenen Wohnungen<br />
zwischen dem zweiten Quartal 2014 und dem zweiten Quartal<br />
<strong>2015</strong> um 1,1 Prozent angestiegen, doch werden für die zweite<br />
Jahreshälfte <strong>2015</strong> stagnierende oder gar leicht fallende Preise erwartet.<br />
Damit dürfte am Jahresende die jährliche Veränderung der<br />
Mietpreise deutlich unter dem langjährigen Schnitt liegen.<br />
Aktuelle Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt<br />
Diese «neue» Entwicklung auf dem Schweizer Mietwohnungsmarkt<br />
hat verschiedene Gründe. Erstens wurde durch die hohe<br />
Neubautätigkeit der vergangenen Jahre der Nachfrageüberhang<br />
vielerorts abgebaut. Die Bauindustrie produziert derzeit mindestens<br />
so viele Einheiten, wie der Markt nachfragt. Zweitens gibt es<br />
zwar immer noch eine hohe zusätzliche Nachfrage aufgrund der<br />
Bevölkerungsentwicklung, jedoch hat sich die Zusammensetzung<br />
der Zuwanderung verschoben. Der Anteil an Einwanderern mit einer<br />
hohen Zahlungsbereitschaft für Mietwohnungen ist geringer<br />
geworden. Weiter setzt sich die Entwicklung von 2014, dass die<br />
Anteile von Objekten in mittleren Preisklassen zulasten solcher in<br />
höheren Preisklassen wachsen, <strong>2015</strong> akzentuiert fort. Und<br />
schliesslich kann auch im Segment der kleineren Wohnungen die<br />
starke Nachfrage inzwischen vielerorts gedeckt werden. Man kann<br />
sowohl eine Erhöhung des Angebots wie auch eine leicht steigende<br />
Insertionsdauer der Wohnungen beobachten.<br />
Diese jüngste Entwicklung wird sich gemäss den Prognosen<br />
im Jahr 2016 fortsetzen. Die Mieten bei den angebotenen Woh-<br />
nungen werden voraussichtlich sinken, wenn auch nur mit einer<br />
leicht negativen Rate. Vor allem in der Romandie, aber auch ausserhalb<br />
der Grosszentren in der Deutschschweiz, ist im Zuge des<br />
erweiterten Wohnungsangebots mit nachlassenden Angebotsmieten<br />
zu rechnen.<br />
Preisgünstiges Wohnen<br />
Trotz dieser leichten Entspannung auf dem Mietwohnungsmarkt<br />
bleibt es auch in Zukunft schwierig, genügend preisgünstigen<br />
Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Ging es früher noch darum,<br />
die Existenz der Schweizer Bevölkerung abzusichern, steht heute<br />
im Fokus, allen Gesellschaftsschichten den Zugang zu für sie erschwinglichem<br />
Wohnraum zu ebnen. Denn nach wie vor ist Wohnen<br />
der bedeutendste Posten im Haushaltsbudget: Durchschnittlich<br />
werden 21,3 Prozent der Bruttohaushaltseinkommen für die<br />
Wohnkosten inklusive Nebenkosten aufgewendet (gemäss BFS).<br />
Der relative Anteil steigt bei tieferen Haushaltseinkommen. Sollen<br />
die Haushaltsbudgets entlastet werden, besteht beim Wohnen der<br />
grösste Hebel.<br />
Es mangelt nicht grundsätzlich an bezahlbarem Wohnraum,<br />
jedoch an Wohnungen, die den Ansprüchen der Nutzer entsprechen.<br />
Im Angebot der letzten zwei Jahre wies jede achte Wohnung<br />
eine Nettomiete von maximal 1000 Franken pro Monat aus.<br />
Dabei handelt sich oftmals um Altbauwohnungen mit geringer<br />
Zimmerzahl oder in peripher gelegenen Gebieten, wo die Haushalteinkommen<br />
aufgrund der dortigen Wirtschaftsstruktur unterdurchschnittlich<br />
ausfallen. Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum<br />
ist demnach kein flächendeckendes, sondern ein selektives<br />
Problem. Mit anderen Worten: Das preisgünstige Angebot befindet<br />
sich oft am falschen Ort. Besonders virulent präsentiert sich<br />
die Situation dort, wo einkommensschwächere durch einkommensstärkere<br />
Haushalte – beispielsweise aufgrund eines erhöhten<br />
Anteils an Pendlern – verdrängt werden. Weiter besteht eine<br />
Eine Schwierigkeit<br />
besteht darin, die<br />
«richtigen» Haushalte<br />
in die passenden<br />
Wohnungen zu bringen.<br />
20 ZeSo 4/15 SCHWERPUNKT
armut UND wohnen<br />
grosse Mietpreisschere. Die mittelpreisigen Mietwohnungen der<br />
teuersten Gemeinden sind heute rund viermal teurer als die Mietwohnungen<br />
in den günstigsten Gemeinden. Während die Mieten<br />
hier mehrheitlich stabil blieben, erhöhten sie sich in den teuersten<br />
Gemeinden zwischen 2007 und 2012 deutlich. Dies zeigt auch,<br />
dass die räumliche Flexibilität von Menschen auf der Suche nach<br />
preisgünstigem Wohnraum eingeschränkt ist. Je weiter weg sich<br />
preisgünstiger Wohnraum von den grossen Arbeitsplatzzentren<br />
befindet, desto weniger wird er nachgefragt.<br />
Standort als kritischer Faktor<br />
Basierend auf der Betrachtung des Schweizer Mietwohnungsmarkts<br />
können in Bezug auf preisgünstiges Wohnen zwei Schlussfolgerungen<br />
gezogen werden: Erstens mangelt es nicht grundsätzlich<br />
an bezahlbarem Wohnraum, sondern es besteht ein Mangel an<br />
Wohnungen, deren Mietzins in Anbetracht ihrer Wohnfläche und<br />
ihres Standards und vor allem ihres Standorts mit den Nachfragebedürfnissen<br />
kompatibel sind. Die Problematik liegt oft bei der<br />
Standortgebundenheit des Angebots und teilweise auch bei der<br />
Nachfrage.<br />
Zweitens besteht eine Schwierigkeit darin, die «richtigen»<br />
Haushalte in die passenden Wohnungen zu bringen, wie sich<br />
in der ineffizienten Verteilung aller gebauten und vorhandenen<br />
Wohnungen zeigt. Die Lösung kann aber nicht der langsame und<br />
langwierige Bau von preisgünstigen Wohnungen sein. Denn selbst<br />
wenn ein gesellschaftlicher Konsens in Bezug auf die Bereitstellung<br />
von preisgünstigem Wohnraum bestünde, könnte dieser<br />
Anspruch nicht über die Neubautätigkeit erreicht werden. Der<br />
erzielbare Effekt wäre zu klein und nicht schnell genug umsetzbar.<br />
Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist es effektiver, Anreizsysteme<br />
einzuführen, die zum einen dafür sorgen, dass der bestehende<br />
Wohnungsbestand effizienter genutzt wird, und zum andern, dass<br />
die Verteilung von preisgünstigem Wohnraum adressatengerecht<br />
erfolgt. Würden zum Beispiel Fördermittel für preisgünstiges<br />
Wohnen als Finanzierungszuschüsse zur Erhöhung der Belegungsdichte<br />
eingesetzt, werden jene Eigentümer oder Bewohner<br />
belohnt, die ineffizient genutzten Wohnraum zur Verfügung stellen<br />
beziehungsweise ihren Flächenkonsum pro Kopf senken. Mit<br />
finanziellen Anreizen würde damit ein Verhalten gefördert, dass<br />
grossflächig Platz schaffen kann. Diese Belohnungsart entspricht<br />
einem Bonus-Malus-System: Wer mehr Wohnfläche pro Kopf<br />
beansprucht, bezahlt auch mehr. <br />
•<br />
Robert Weinert<br />
Manager<br />
Immobilienberatung Wüest & Partner<br />
Sofern nicht triftige Gründe dafür sprachen, lohnte es sich für Mieter in<br />
den letzten Jahren nicht, die Wohnung zu wechseln. Bild: Keystone<br />
SCHWERPUNKT 4/15 ZeSo<br />
Günstige Wohnungen bereitstellen oder<br />
bei der Miete unterstützen?<br />
Die öffentliche Hand hat verschiedene Mittel, um bezahlbaren Wohnraum zu fördern. Auf den ersten<br />
Blick erscheint die Subjekthilfe im Vergleich zur Objekthilfe als treffsicheres Instrument. Doch in<br />
angespannten Wohnungsmärkten führt die Subjekthilfe in erster Linie zu höheren Mieten und nützt<br />
einkommensschwachen Haushalten somit wenig.<br />
Die Lage auf dem Wohnungsmarkt ist vielerorts angespannt.<br />
Besonders Haushalte in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen<br />
haben Mühe, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Der Anteil<br />
der Mietwohnungen zu Preisen von maximal 1000 Franken pro<br />
Monat hat sich innerhalb der letzten neun Jahre von 29 auf knapp<br />
14 Prozent halbiert (Wüest&Partner 2014). Der sinkende Anteil<br />
der günstigen Wohnungen stellt nicht nur einzelne Haushalte,<br />
sondern auch die öffentliche Hand vor Herausforderungen. Denn<br />
gemäss den Sozialzielen der Bundesverfassung müssen sich der<br />
Bund und die Kantone in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung<br />
und privater Initiative dafür einsetzen, dass Wohnungssuchende<br />
für sich und ihre Familie eine angemessene Wohnung<br />
zu tragbaren Bedingungen finden können.<br />
Die öffentliche Hand hat verschiedene Mittel, um bezahlbaren<br />
Wohnraum zu fördern. Sie kann selber Wohnungen bauen oder<br />
erwerben und diese günstig vermieten. Sie kann auch gemeinnützige<br />
Bauträger dabei unterstützen, preisgünstigen Wohnraum<br />
anzubieten. Bei dieser sogenannten Objekthilfe ist die öffentliche<br />
Unterstützung an eine Liegenschaft gekoppelt, die von einem gemeinnützigen<br />
Bauträger neu erstellt, erneuert oder erworben wird.<br />
Gängige Förderinstrumente der Objekthilfe sind zum Beispiel<br />
zinsgünstige Darlehen, Bürgschaften oder die Abgabe von Land<br />
im Baurecht. Ein anderer Ansatz ist die sogenannte Subjekthilfe.<br />
Dabei wird ein staatlicher Mietzinszuschuss direkt an Haushalte<br />
mit geringem Einkommen ausgerichtet, sodass sich diese eine<br />
angemessene Wohnung zu tragbaren Mietzinsen leisten können.<br />
Beispiele für Subjekthilfen sind die «Familienmietzinsbeiträge»<br />
im Kanton Basel-Stadt oder die «allocation logement» im Kanton<br />
Genf. Eine weitere Form von Subjekthilfe sind die Beiträge an<br />
die Wohnkosten, die im Rahmen der Ergänzungsleistungen von<br />
AHV/IV und der Sozialhilfe ausbezahlt werden.<br />
Darlehen vergeben werden, zahlen die Bauträger diese wieder<br />
zurück.<br />
Die Objekthilfe hat aber auch Nachteile, allen voran ihre<br />
beschränkte Breitenwirkung. Mit der Objekthilfe können nur so<br />
viele Haushalte mit günstigem Wohnraum versorgt werden, wie<br />
Wohnungen gefördert werden. So stellt sich die Frage, wie diese<br />
Wohnungen gerecht verteilt werden können. Kritiker der Objekthilfe<br />
argumentieren, dass oft die «Falschen» in den geförderten<br />
Wohnungen lebten und die staatlichen Mittel nicht vollumfänglich<br />
den ärmsten Bevölkerungsschichten zugutekämen. Tatsächlich<br />
wohnen in mit Objekthilfe geförderten Wohnungen auch<br />
Haushalte, die zum Mittelstand gehören. Dies ist mit Blick auf<br />
eine ausgewogene soziale Durchmischung auch vertretbar. Hinzu<br />
kommt, dass beispielsweise der Bund mit zinsgünstigen Krediten<br />
für gemeinnützige Bauträger nicht in erster Linie einzelne Wohnungen<br />
und Mieter im Visier hat, sondern den gemeinnützigen<br />
Wohnungsbau als Ganzes fördern will, da dieser vor allem in den<br />
Städten eine wichtige Funktion des Marktausgleichs erfüllt.<br />
Wohnzuschüsse führen zu höheren Mieten<br />
Auch beim Instrument der Subjekthilfe sind Vor- auch Nachteile<br />
auszumachen. Die Subjekthilfe bietet eine hohe Treffsicherheit<br />
Nachhaltig preiswerte Wohnungen dank Kostenmiete<br />
Es stellt sich die Frage, welches Förderinstrument sich besser<br />
eignet, um Haushalte mit kleinem Budget mit angemessenem<br />
Wohnraum zu versorgen. Für die Objekthilfe spricht vor allem,<br />
dass sie nachhaltig wirkt. Eine einmal preisgünstig erstellte Wohnung<br />
bleibt dank der Kostenmiete auf Dauer erschwinglich. Im<br />
Gegensatz zur Marktmiete fliessen bei der Kostenmiete nur die tatsächlich<br />
anfallenden Kosten in die Mietzinsberechnung ein. Ein<br />
weiterer Vorteil der Objekthilfe ist, dass die öffentliche Hand Einfluss<br />
auf die Qualität des geförderten Wohnraums nehmen und<br />
Auflagen etwa hinsichtlich Behindertengerechtigkeit machen<br />
kann. Die Objekthilfe garantiert zudem einen haushälterischen<br />
Umgang mit Steuergeldern. Wenn beispielsweise zinsgünstige<br />
22 ZeSo 4/15 SCHWERPUNKT
Eine Wohnung ist nicht alles, aber ohne<br />
Wohnung ist alles nichts<br />
Ohne spezialisierte Unterstützung wird es für schlecht Verdienende und sozial Benachteiligte immer<br />
schwieriger, eine Wohnung zu finden. Anbieter von nicht-monetären Dienstleistungen übernehmen<br />
hier eine wichtige Brückenfunktion zwischen Wohnungssuchenden, der Immobilienbranche und<br />
dem Sozialbereich.<br />
Wer keine dem eigenen Budget entsprechende Wohnung findet<br />
oder aus einer günstigen Wohnung ausziehen muss, dem droht<br />
der soziale Abstieg. Für die betroffenen Menschen bedeutet ein<br />
ungewollter Wohnungswechsel in der Regel eine massive Verschlechterung<br />
der Wohnsituation und hat verheerende Konsequenzen<br />
für die <strong>ganz</strong>e Lebenssituation. Sie müssen mit Notwohnungen<br />
oder mit zu kleinen oder zu lauten Wohnungen vorlieb<br />
nehmen, die Kinder müssen die Schule und ihr <strong>ganz</strong>es Umfeld<br />
wechseln. Längere Arbeitswege und der Verlust des sozialen<br />
Netzes sind weitere Auswirkungen. Darunter leiden die Kinder am<br />
meisten. Für sie sind ein Schulwechsel und der Verlust des<br />
gewohnten Umfelds oft ein einschneidendes und verunsicherndes<br />
Erlebnis, das sie in ihrer Entwicklung behindern und die Integrationsbemühungen<br />
der <strong>ganz</strong>en Familie um Jahre zurückwerfen<br />
kann. Wohnungsverlust wird so zur Armutsfalle und anstelle von<br />
Integration droht soziale Entwurzelung.<br />
Menschenwürdige und stabile Wohnverhältnisse sind deshalb<br />
eine unabdingbare Grundlage für ein erfolgreiches Leben in<br />
unserer Gesellschaft. Unter den herrschenden schwierigen Wirtschaftsverhältnissen<br />
genügt die von der Sozialhilfe geleistete materielle<br />
Unterstützung für das Wohnen oder die Bewerbung für eine<br />
Sozialwohnung allerdings oft nicht mehr, um die Problematik zu<br />
lösen. Bereits vor zwanzig Jahren gab es grosse Engpässe in der Wohnungsversorgung<br />
für benachteiligte Gruppen. Damals entstanden<br />
aus privater Initiative zum Beispiel die IG Wohnen in Basel, die<br />
Wohnungen anmietet und mit Wohnbegleitung weitervermietet,<br />
Casa Nostra in Biel, die Liegenschaften kauft und weitervermietet,<br />
und in Zürich die Stiftung Domicil, die mit Anreizen wie der Solidarhaftung<br />
günstige Wohnungen vermittelt und Wohnbegleitung<br />
nachhaltig sichert.<br />
Die Situation auf dem Wohnungsmarkt hat sich in den letzten<br />
Jahren nochmals massiv verschärft. Die Mietzinse in städtischen<br />
Ballungsgebieten sind um über 20 Prozent gestiegen und der<br />
Leerwohnungsbestand liegt an vielen Orten im Promillebereich.<br />
In dieser Notlage entstanden weitere private oder von der öffentlichen<br />
Hand unterstützte Angebote und Initiativen wie die<br />
Wohnhilfe Schlieren oder die Fondation Apollo in Vevey, die mit<br />
verschiedenen Modellen Antworten auf die Problematik suchen.<br />
Instrumente, die den Zugang zu Wohnraum erleichtern<br />
Neben politischen und strukturellen Instrumenten zur Förderung<br />
von günstigem Wohnraum (Gesetze, Subventionierung) spielen<br />
für die Betroffenen gerade die nicht-monetären Dienstleistungen<br />
eine wichtige Rolle. Im Gegensatz zu staatlichen Anlaufstellen wie<br />
Wohn- und Obdachlosenhilfe können nicht-staatliche Dienstleis-<br />
ter meist niederschwelligere und direktere Hilfe für armutsgefährdete<br />
und benachteiligte Menschen anbieten. Der wichtigste Ansatzpunkt<br />
bei allen Angeboten ist, den Zugang zu günstigem<br />
Wohnraum zu ebnen.<br />
Da die meisten Betroffenen wenig Ressourcen haben, um auf<br />
diesem hart umkämpften Terrain zu bestehen, braucht es Beratung<br />
und Unterstützung bei der Wohnungssuche: Anmeldeformulare<br />
sauber ausfüllen, die notwendigen Dokumente bereitstellen,<br />
adäquates Auftreten bei der Wohnungsbesichtigung üben usw.<br />
Die Befähigung der Wohnungssuchenden ist wichtig, aber es<br />
braucht auch Anreize für die Vermietenden, damit sie ihre günstigen<br />
Wohnungen jenen zur Verfügung stellen, die sie wirklich<br />
brauchen. Die Übernahme der Solidarhaftung im Mietvertrag,<br />
wie es die Stiftung Domicil praktiziert, impliziert nicht nur die<br />
finanzielle Absicherung der Vermietenden, sie bietet im Rahmen<br />
der Wohnraumsicherung und Wohnintegration auch eine Einführung<br />
der Mietenden ins neue Wohnumfeld und in ihre Pflichten<br />
und Rechte. Und sie umfasst auch eine Anlaufstelle im Fall von<br />
Schwierigkeiten sowie entsprechende Interventionen. Hinzu kommen<br />
Integrationsmassnahmen wie Wohntraining und Konfliktprävention.<br />
Die Solidarhaftung ist ein wichtiges strategisches Instrument,<br />
weil es die Risiken der Vermietenden minimiert und hilft, Vertrauen<br />
zu schaffen, zu erhalten und zu vertiefen. Ein weiteres<br />
wirksames Instrument ist das Anmieten von Wohnungen, gekoppelt<br />
an das Angebot der Wohnbegleitung, das zum Beispiel<br />
die IG Wohnen in Basel oder Wohnen Bern praktizieren. Auch<br />
dieses Modell bietet den Vermietern Sicherheit auf verschiedenen<br />
Ebenen. Wichtig ist bei allen nicht-monetären Dienstleistungen<br />
eine Palette von diversen Leistungen, die je nach Bedarf<br />
seitens der Klienten und je nach Bedingungen der Vermieterseite<br />
flexibel angeboten werden können.<br />
Ein entscheidendes Erfolgskriterium ist auch die systematische<br />
Pflege von Beziehungen zur Immobilienbranche und zum Sozialbereich.<br />
Wenn in der Trägerschaft Exponenten von verschiedenen<br />
Branchen vertreten sind, ist das ein wichtiger Grundstein für ein<br />
tragfähiges und nachhaltiges Netz. Jeder Kontakt ist entscheidend,<br />
zur privaten Liegenschaftsbesitzerin, zu den Mitarbeitenden<br />
einer Immobilienverwaltung oder einer Genossenschaft, zu den<br />
sozialen Behörden, aber auch zur Politik und zu den Spenderinnen<br />
und Spendern. Dass man bei Wohnungsübergaben mit dabei ist,<br />
Eigentümer- oder Genossenschaftstreffen besucht oder selbst<br />
Informationsveranstaltungen für verschiedene Interessengruppen<br />
organisiert, gehört ebenfalls zur nachhaltigen Netzwerkarbeit.<br />
24 ZeSo 4/15 SCHWERPUNKT
armut UND wohnen<br />
Wenn Menschen aus entfernten Kulturkreisen involviert sind, können in einer Wohnsituation divergierende Wertesysteme aufeinandertreffen.<br />
Bild: zvg<br />
Die Individualisierung hat sich verstärkt und die Toleranz<br />
gegenüber den Mitmenschen ist gesunken. Wenn Menschen<br />
aus entfernten Kulturkreisen involviert sind, treffen oft stark<br />
divergierende Wertesysteme aufeinander. Die Weiterführung der<br />
Begleitung und Betreuung ist deshalb ein weiterer wichtiger Aspekt<br />
in der Praxis der nicht-monetären Wohnhilfe. Mit dem Abschluss<br />
eines Mietvertrages beginnt die Arbeit oft erst so richtig. Denn Konflikte<br />
können nicht nur aufgrund einer verspäteten Überweisung<br />
der Miete entstehen: Wohnungen müssen instand gehalten und<br />
Hausordnungen sprachlich und inhaltlich verstanden und eingehalten<br />
werden. Auf dieser Ebene helfen Wohntrainings zur Förderung<br />
der Wohn- und Kommunikationskompetenzen.<br />
Wohnsituation erhalten statt neue suchen<br />
Die Erfahrung zeigt, dass es sich auf jeden Fall lohnt, um gefährdeten<br />
Wohnraum zu kämpfen und Wohnverhältnisse langfristig zu<br />
stabilisieren. Die privaten Organisationen leisten hier einen wichtigen<br />
Beitrag. Sie können aber nicht alles abdecken und kommen<br />
oft erst zum Zug, wenn es bereits zu spät ist. Deshalb muss der<br />
Prävention mehr Beachtung geschenkt werden. Die sogenannte<br />
Delogierungsprävention ist ein Instrument, das sich in Österreich<br />
und Deutschland seit vielen Jahren bewährt. Der Leitidee, eine<br />
Wohnung «zu retten» anstatt eine neue zu suchen, müssen vor<br />
allem soziale Dienste mehr Aufmerksamkeit schenken. Mit einer<br />
interdisziplinären und organisationsübergreifenden Zusammenarbeit<br />
lassen sich generell bessere Resultate erzielen.<br />
Auch sollten Wohnungsvermieter systematisch motiviert werden,<br />
sich bei Schwierigkeiten mit Mietenden mehr Unterstützung<br />
bei Sozialdiensten oder anderen Stellen zu holen. Dies würde<br />
sowohl zur Linderung der Wohnproblematik beitragen als auch<br />
einen wertvollen Beitrag zur Integration von Ausländerinnen und<br />
Ausländern darstellen.<br />
Ausblick<br />
Bei allen genannten Schwierigkeiten steht aber auch fest, dass sich<br />
mit einem gezielten und sich ergänzenden Angebot einiges erreichen<br />
lässt. Instrumente wie die Solidarhaftung bei der Wohnungsvermittlung,<br />
Wohnraumsicherung und Wohnintegration und der<br />
Wille zum sorgfältigen und kontinuierlichen Netzwerken führen<br />
immer wieder zu Erfolgen. Sorgen bereitet vor allem die Tatsache,<br />
dass die benötigte Zeit, um eine geeignete Wohnung zu finden, genauso<br />
zunimmt wie die Anzahl Menschen, die auf Unterstützung<br />
angewiesen sind. Und auch das Risiko, das eine Trägerschaft mit<br />
dem Instrument der Solidarhaftung oder dem Anmieten von Wohnungen<br />
auf sich nimmt, ist in den letzten zehn Jahren viel grösser<br />
geworden. Hier braucht es neue und kreative Ideen, die nur im<br />
Zusammenspiel aller Beteiligten entstehen können. •<br />
Annalis Dürr<br />
Geschäftsleiterin Stiftung Domicil Zürich<br />
Die Stiftung Domicil vermittelt günstigen Wohnraum und trägt<br />
mit ihren Angeboten dazu bei, Wohnraum für Menschen<br />
in prekären Lebenssituationen zu sichern.<br />
www.domicilwohnen.ch<br />
«Potenzial bedeutet zuallererst<br />
einmal Möglichkeiten»<br />
Roland A. Müller, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbands (SAV), beobachtet die Entwicklungen<br />
auf dem Arbeitsmarkt aus unternehmerischem Blickwinkel. Im <strong>ZESO</strong>-Interview spricht er über<br />
Einstellungskriterien und Intergrationschancen für inländische Arbeitskräfte.<br />
Herr Müller, welche drei Themen<br />
stehen aktuell zuoberst auf der<br />
Agenda des Schweizerischen Arbeitgeberverbands?<br />
Als erstes nenne ich die Frankenstärke<br />
und Fragen zu deren Folgen für die Arbeitgeber.<br />
Dann folgen die Masseneinwanderungsinitiative<br />
und deren Umsetzung. Das<br />
betrifft die Beziehung Schweiz-Europa<br />
und die Zukunft der bilateralen Verträge<br />
sowie Arbeitsmarktthemen wie Zuwanderung,<br />
Inländervorrang und Inländerpotenzial.<br />
Das dritte grosse Thema ist die Altersvorsorge.<br />
Sie ist über die demografische<br />
Entwicklung – Stichwort alternde Gesellschaft<br />
– ebenfalls mit dem Thema Arbeitsmarkt<br />
verbunden.<br />
Glauben Sie, dass es der Schweiz in<br />
absehbarer Zeit gelingen wird, das im<br />
Inland brachliegende Arbeitskräftepotenzial<br />
zu rekrutieren?<br />
Es wird uns gelingen, einen Teil dessen,<br />
was man als Potenzial identifizieren<br />
kann, zu rekrutieren. Potenzial bedeutet<br />
zuallererst einmal Möglichkeiten. Das Potenzial<br />
muss sich am einzelnen Menschen<br />
herauskristallisieren: Ist er bereit, stimmen<br />
die Rahmenbedingungen für ihn?<br />
Gibt es ein bedarfsgerechtes Angebot an<br />
Aus- oder Weiterbildungen für ältere Arbeitnehmende<br />
oder für Frauen, die wieder<br />
ins Berufsleben einsteigen möchten? Bei<br />
den Betreuungsangeboten etwa sind wir<br />
noch lange nicht dort, wo wir es uns wünschen<br />
würden. Ich vermute, dass man sich<br />
teilweise falsche Vorstellungen macht von<br />
dem, was möglich ist.<br />
Was muss aus Sicht der Arbeitgeber<br />
erfüllt sein, damit es in der Praxis<br />
möglichst gut funktioniert?<br />
Wenn der Arbeitgeber eine Stelle ausschreibt,<br />
sucht er ein bestimmtes Profil.<br />
Im Rekrutierungsprozess geht es darum,<br />
die am besten qualifizierten Leute zu finden.<br />
Das ist die Ausgangslage. Wir haben<br />
aber festgestellt, dass die Arbeitgeber aufgrund<br />
der laufenden Diskussionen aufmerksamer<br />
geworden sind und nicht mehr<br />
unreflektiert die jüngsten und günstigsten<br />
Bewerber rekrutieren. Man entscheidet<br />
sich bewusst für mehr Frauen und Ältere,<br />
weil sie andere Sozialkompetenzen und<br />
Erfahrungen mitbringen. Aber das Profil<br />
muss gleichwohl passen. Wenn ein älterer<br />
Stellensuchender falsche Vorstellungen<br />
hat, beispielsweise den gleichen Job ausüben<br />
möchte, den er einmal hatte, dann<br />
wird es schwierig. Generell suchen Arbeitslose<br />
zu lange auf dem bisherigen Level.<br />
Es braucht Gespräche und Offenheit auf<br />
beiden Seiten.<br />
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang<br />
die Arbeitsvermittlung?<br />
Die regionalen Arbeitsvermittlungszentren<br />
müssen wegkommen von den<br />
Kollektivkursen und stattdessen mehr<br />
persönliche Betreuung anbieten. Mit einer<br />
persönlichen Analyse kann detailliert<br />
abgeklärt werden, was jemand bereit und<br />
fähig ist zu leisten. Solche Ansätze existieren,<br />
aber sie stecken noch in den Kinderschuhen<br />
und sind von RAV zu RAV unterschiedlich.<br />
Heute besteht die Arbeit der<br />
RAV primär darin, die Menge – derzeit<br />
sind es rund 135 000 Arbeitslose – zu<br />
bewältigen. Um jene Fälle, die nicht so einfach<br />
wieder in den Arbeitsmarkt zurückfinden,<br />
kümmert man sich viel zu wenig.<br />
Inwiefern ist die Kommunikation<br />
zwischen Arbeitgebern und RAV ein<br />
Teil des Problems?<br />
Wir haben es mit gewachsenen Strukturen<br />
zu tun, die sich nur langsam verändern<br />
lassen. Im Rahmen der Diskussionen<br />
über die Fachkräfteinitiative wurde festgestellt,<br />
dass die Schnittstelle zu den RAV<br />
verbessert werden muss.<br />
Wie lautet Ihr Vorschlag?<br />
Für die Fälle, die ein Mehr an Betreuung<br />
benötigen, kann man die Invalidenversicherung<br />
als Vorbild nehmen. Sie hat ihr<br />
System grundlegend umgestellt und eine<br />
Art Case Management eingeführt. Auch<br />
bei anderen arbeitsmarktlichen Massnahmen<br />
gibt es Anpassungsbedarf. Das Instrument<br />
der Einarbeitungszuschüsse beispielsweise<br />
sollte stärker gefördert werden.<br />
Was könnten die Arbeitgeber selbst<br />
zur besseren Erschliessung des<br />
Inlandpotenzials beitragen?<br />
Im Rahmen des Programms «Zukunft<br />
Arbeitsmarkt Schweiz» haben wir zahlreiche<br />
Beispiele von Unternehmungen<br />
26 ZeSo 4/15 Interview
«Die durchgehende<br />
Betreuung muss<br />
zum normalen<br />
Schulangebot<br />
werden.»<br />
Was tut der Arbeitgeberverband für die<br />
Vereinbarkeit von Familie und Beruf?<br />
Die Arbeitgeber wenden in ihren Betrieben<br />
ja bereits flexible Arbeitsmodelle<br />
an: Teilzeitarbeit ist in der Schweiz weit<br />
verbreitet. Für die Arbeitgeber ist das Anheben<br />
von existierenden Teilzeitpensen<br />
attraktiv, beispielsweise von 40 auf 60 Prozent<br />
oder von 60 auf 80 Prozent. Eine Ausweitung<br />
des Pensums scheitert aber oft an<br />
fehlenden Betreuungsangeboten und an<br />
deren Tarifierung. Letztere ist meistens<br />
so progressiv, dass der finanzielle Anreiz,<br />
mehr zu arbeiten, wegfällt. Ebenfalls demotivierend<br />
wirkt, dass man die Gestehungsgesammelt.<br />
Sie legen den Schluss nahe,<br />
dass das Lebensalter in der Personalrekrutierung<br />
und -förderung weder im Vordergrund<br />
steht noch ein Problem ist. Viele<br />
Unternehmen führen regelmässige, altersunabhängige<br />
Standortgespräche durch.<br />
Diese Kultur ist aber noch nicht überall<br />
verankert, und Standortgespräche können<br />
insbesondere bei den älteren Arbeitnehmenden<br />
auch Ängste hervorrufen. Andere<br />
Unternehmen stellen das zur Verfügung<br />
stehende Geld für Weiterbildungen gezielt<br />
auch älteren Arbeitnehmenden zur Verfügung.<br />
Was aus unserer Sicht nicht funktioniert,<br />
sind Quoten.<br />
kosten bei der Steuererklärung nicht den<br />
Berufsauslagen anrechnen kann. – Bei<br />
fehlenden Betreuungsangeboten denke<br />
ich übrigens weniger an Krippenplätze,<br />
sondern an Ganztagesstrukturen für Kinder<br />
im Schulalter. Hierzu bringen wir uns<br />
im Rahmen der Fachkräfteinitiative und<br />
dem Programm «Zukunft Arbeitsmarkt<br />
Schweiz» ein.<br />
Sie setzen sich für Ganztagesstrukturen<br />
an Schulen ein. Das würde eine<br />
Schulreform bedingen?<br />
Die durchgehende Betreuung, die um<br />
sieben Uhr morgens beginnt, muss zum<br />
normalen Schulangebot werden. Dass<br />
es so lange dauert, hat mit den föderalen<br />
Strukturen bei den Steuer- und den Schulsystemen<br />
zu tun. Es fehlt der Druck, damit<br />
alle Stakeholder gemeinsam etwas<br />
bewegen würden. Man könnte von einer<br />
Mehrfachproblematik sprechen. Andere<br />
Faktoren, die sich negativ auf das Arbeitskräftepotenzial<br />
auswirken, sind fehlende<br />
Bildung und mangelhafte Ausbildung.<br />
Wir Arbeitgeber können diese Probleme<br />
nicht von uns aus lösen oder für die Kosten<br />
aufkommen. Aber wir sind bereit, über diese<br />
Problematik zu sprechen.<br />
Welche Verantwortung haben die<br />
Wirtschaft und die Unternehmen<br />
gegenüber der Gesellschaft?<br />
<br />
Interview 4/15 ZeSo<br />
27
«Heute sagen wir: Es ist wichtig, dass<br />
es Sozialfirmen gibt und dass wir<br />
miteinander den Dialog suchen.»<br />
<br />
Sie ist im Vergleich mit anderen Ländern<br />
hoch, sie ist ein fester gesellschaftlicher<br />
Wert. Das zeigt sich auch darin, dass<br />
es in der Schweiz wenig sozialen Unfrieden<br />
gibt und wir wenig Streiks und Demonstrationen<br />
haben. Die Zufriedenheit der Bevölkerung<br />
ist relativ hoch. Das wiederum<br />
ist durch unser Staatssystem bedingt, das<br />
es dem Volk ermöglicht, seine Befindlichkeit<br />
genügend zum Ausdruck zu bringen.<br />
Welche Rolle spielen die Unternehmen?<br />
Sie tragen ihren Teil der Verantwortung.<br />
Unsere Unternehmen sind sich bewusst,<br />
dass es nicht tolerierbar ist, gezielt<br />
Arbeitnehmerkategorien abzubauen oder<br />
unfaire Löhne zu zahlen oder Standards<br />
bei den Arbeitsbedingungen zu verletzen.<br />
Sie haben vorhin die Arbeitsintegration<br />
der IV gelobt. Ein Problem ist hier<br />
aber, dass sich die RAV, die IV, die<br />
Sozialhilfe und die Asylbehörden<br />
bei der Suche nach Plätzen für die<br />
Arbeitsintegration gegenseitig im Weg<br />
roland a. müller<br />
Roland A. Müller (Jg. 1963) ist Rechtsanwalt<br />
und Titularprofessor für Arbeits- und<br />
Sozialversicherungsrecht an der Universität<br />
Zürich. Von 2007 bis zu seiner Wahl zum<br />
Direktor im Jahr 2013 leitete er das Ressort<br />
Sozialpolitik und Sozialversicherungen des<br />
Schweizerischen Arbeitgeberverbands.<br />
Roland A. Müller ist auch nebenamtlicher<br />
Arbeitsrichter am Arbeitsgericht Zürich. Er<br />
ist verheiratet und Vater von vier schulpflichtigen<br />
Kindern.<br />
stehen. Müssten sich die Arbeitgeber<br />
nicht stärker engagieren, indem sie<br />
wieder mehr niederschwellige Arbeitsplätze<br />
schaffen?<br />
Der primäre Zweck eines Unternehmens<br />
ist es nun einmal, dafür zu sorgen,<br />
dass das Geschäft läuft. Im Konkurrenzkampf<br />
zu bestehen, ist im Hochlohn- und<br />
Hochpreisland Schweiz eine herausfordernde<br />
Aufgabe. Entsprechend mussten<br />
aus Wettbewerbsgründen niederschwellige<br />
Arbeitsplätze zum Teil abgebaut oder<br />
ins Ausland ausgelagert werden. Aber<br />
natürlich haben die Unternehmer auch<br />
eine soziale Verantwortung. Oftmals übernehmen<br />
die Medien eine soziale Kontrolle.<br />
Als Beispiel, dass der öffentliche Diskurs<br />
Schranken setzen kann, sei auf die Abzockerdebatte<br />
hingewiesen.<br />
Der Abbau von Arbeitsplätzen für wenig<br />
Qualifizierte lässt sich kaum rückgängig<br />
machen. Wo lassen sich neue<br />
niederschwellige Stellen schaffen?<br />
Gewisse Arbeiten gibt es nicht mehr.<br />
In einer sich entwickelnden Gesellschaft<br />
Bilder: Daniel Desborough<br />
ist das der Lauf der Dinge. Neue Möglichkeiten<br />
dürften sich beispielsweise im Gesundheitswesen,<br />
im Schulwesen und im<br />
Bereich Betreuung anbieten – eigentlich<br />
überall, wo soziale Kompetenzen gefragt<br />
sind. Das sind gerade auch Jobs für Leute,<br />
die den Anschluss verloren haben, die aber<br />
bereit sind, zu unterstützen. Das hat nichts<br />
mit Ausnützen zu tun, sondern damit, dass<br />
jemand seinen Platz in der Gesellschaft<br />
finden kann.<br />
Eine Anstellung im Gesundheitswesen<br />
oder in einer Schule ist heute ohne<br />
Diplom kaum mehr möglich.<br />
Vielleicht müsste man mehr Ausbildungen<br />
vom Typ Anlehre schaffen. Warum<br />
sollen wir fähige Leute nicht beispielsweise<br />
im Rahmen von Ganztagesstrukturen in<br />
Schulen arbeiten lassen, wo sie Kinder betreuen,<br />
oder in Altersheimen, wo sie ältere<br />
Menschen unterstützen? Der gesellschaftliche<br />
und technologische Wandel erfordert<br />
die Bereitschaft von allen, sich auf Neues<br />
einzulassen.<br />
Wie soll die Gesellschaft mit «nichtintegrierbaren»<br />
Menschen umgehen?<br />
Wenn Systeme wie die IV oder die ALV<br />
optimiert werden, müssen wir uns im<br />
Arbeitgeberverband auch damit auseinan-<br />
28 ZeSo 4/15 Interview
dersetzen, was diese Reformen sonst noch<br />
bewirken. Arbeitgeberpolitik muss immer<br />
auch eine nachhaltige Gesellschaftspolitik<br />
sein.<br />
Das hat aus Ihrer Ecke nicht immer so<br />
getönt.<br />
Effektiv wurde das in unseren Kreisen<br />
nicht immer so verstanden. Aber es ist eine<br />
Tatsache, dass es Leute gibt, denen der<br />
Wiedereinstieg nicht mehr gelingt. Der<br />
Meinungswandel innerhalb des Verbands<br />
zeigt sich auch darin, dass wir uns früher<br />
gegen Sozialfirmen gestellt haben. Heute<br />
sagen wir: Es ist wichtig, dass es Sozialfirmen<br />
gibt und dass wir miteinander regional<br />
den Dialog suchen, um das Konkurrenzthema<br />
zum Kleingewerbe gemeinsam<br />
zu diskutieren. Besser, wir ergänzen uns,<br />
anstatt dass niederschwellige Arbeiten ins<br />
Ausland ausgelagert werden. Wenn Sozialfirmen<br />
allerdings so aufgestellt sind, dass<br />
sie Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt<br />
gefährden, wird es natürlich problematisch.<br />
Wie definieren Sie die Funktion der<br />
Sozialhilfe?<br />
Sie hat zwei Aufgaben: Die Sicherung<br />
der existenziellen Grundbedürfnisse für<br />
Personen mit Problemen, finanziell über<br />
die Runden zu kommen. Die zweite Aufgabe<br />
ist die persönliche Unterstützung im<br />
Sinne eines Coachings. Dieser Aspekt ist<br />
ebenso wichtig.<br />
Viele Sozialarbeitende betreuen derart<br />
viele Fälle, dass sie keine Zeit haben,<br />
beratend auf nachhaltige Lösungen<br />
hin zu wirken. Wer soll diesen von<br />
Ihnen monierten Ausbau in Richtung<br />
mehr Coaching bezahlen?<br />
An diese Frage muss man unverkrampft<br />
herangehen. Jede Investition verursacht<br />
Kosten, bevor ein Nutzen resultiert. Wenn<br />
mit einer engeren und persönlichen Begleitung<br />
die Sozialhilfequote und die Ausgaben<br />
langfristig reduziert werden können,<br />
müssen die Mittel dafür zur Verfügung gestellt<br />
werden. Es ist also durchaus denkbar,<br />
dass auf diesem Weg die Gesamtkosten für<br />
die Sozialhilfe reduziert werden könnten.<br />
Der Umbau der IV hat zuerst durch den<br />
Ausbau der IV-Stellen auch zusätzliche<br />
Kosten verursacht und wird erst später<br />
durch die Reduktion der Rentenfälle zu<br />
weniger Auslagen führen.<br />
Sie verfolgen damit eine andere Stossrichtung<br />
als die laufende Revision der<br />
SKOS-Richtlinien, bei der es unter anderem<br />
um die Höhe des Grundbedarfs<br />
und um strengere Sanktionsmöglichkeiten<br />
geht. Mit Ihrem Ansatz, der<br />
Mehrkosten verursacht, lassen sich<br />
politisch kaum Lorbeeren verdienen.<br />
Es geht nicht darum, per Saldo Mehrkosten<br />
zu generieren. Wie erwähnt, kann<br />
es sein, dass zu Beginn höhere Investitionen<br />
anfallen. Mittel- und langfristig<br />
sollten jedoch durch individuelles Coaching<br />
die Betroffenen wieder auf eigenen<br />
Beinen stehen können. Langfristig spart<br />
man daher Geld. Es ist eine Tatsache, ob<br />
in der Sozialhilfe oder im Umfeld von<br />
Arbeitslosen, dass die persönliche Betreuung<br />
das A und O ist. Als Arbeitgeberverband<br />
sind wir bereit, über diese Fragen<br />
mitzudiskutieren und nach Lösungen zu<br />
suchen.<br />
Wo würden Sie sonst noch ansetzen?<br />
Ein wichtiges Thema ist das Ausmerzen<br />
der Schwelleneffekte. Arbeit muss sich lohnen.<br />
Es ist daher zu verhindern, dass beispielsweise<br />
durch Teilerwerb per Saldo ein<br />
tieferes verfügbares Einkommen resultiert<br />
als ohne. Dabei sind auch steuerliche Einflüsse<br />
zu berücksichtigen. <br />
•<br />
Das Gespräch führte<br />
Michael Fritschi<br />
Interview 4/15 ZeSo<br />
29
Medaillenränge<br />
für den Luzerner Rodel<br />
Was mit einem defekten Schlitten begann, ist heute ein Geschäftsmodell: In der Schreinerei von Caritas<br />
Luzern stellen erwerbslose Menschen hochwertige Schlitten her. Sie trainieren dabei ihre Arbeitskraft –<br />
und beglücken damit manch ein Sportlerherz.<br />
Es ist Dezember 2010. Ein Mann betritt<br />
die Schreinerei der Caritas Luzern und<br />
bringt einen Schlitten zur Reparatur. Der<br />
Mann heisst Titus Alpiger. Er ist mit Renato<br />
Stiz befreundet, der die Caritas-<br />
Schreinerei an der Grossmatte Ost in Littau<br />
führt. Stiz mag Herausforderungen<br />
und «tüftelt gerne an etwas herum», wie er<br />
sagt. Er begutachtet den defekten Schlitten<br />
und nimmt den Reparaturauftrag – wie<br />
üblich – entgegen. Einen Augenblick später,<br />
als der Schlitten inmitten von Holzbrettern,<br />
Schränken und Werkbänken in der<br />
Halle steht, bleibt Renato Stiz vor dem Objekt<br />
stehen und hat den entscheidenden<br />
Impuls: «Das ist es», denkt er. «Wir kreieren<br />
einen neuartigen Rodel.»<br />
Das Abenteuer beginnt. Renato Stiz<br />
und sein Freund Titus Alpiger – beide<br />
sind begeisterte Wintersportler – entwickeln<br />
einen Prototyp für einen Rodel. Sie<br />
zeichnen und bauen. Sie experimentieren<br />
und verfeinern. Bald führen sie erste Testfahrten<br />
durch. Sie verbessern die Rundung<br />
der Kufen und optimieren die Steuerung.<br />
Ein Jahr später ist es soweit: Die Schlittenfahrt<br />
kann beginnen. Renato Stiz setzt den<br />
Helm auf und braust die acht Kilometer<br />
lange Schlittelpiste auf der Melchsee-Frutt<br />
hinunter.<br />
Kufen und Holmen verschrauben<br />
Es ist November <strong>2015</strong>. In der Caritas-<br />
Schreinerei wird gerade eine neue Rodel-<br />
Serie produziert. Der Chef-Schreiner steht<br />
neben einem Mitarbeiter und erklärt ihm,<br />
wie die Einzelteile verschraubt werden<br />
müssen. Adrian Stocker hört aufmerksam<br />
zu, nimmt dann den Akkuschrauber in die<br />
Hand und beginnt, Kufen und Holmen<br />
miteinander zu verbinden. Der 28-jährige<br />
Mitarbeiter ist einer von vielen Stellenlosen,<br />
die für eine bestimmte Zeit in der<br />
Schreinerei mitwirken. «Die Arbeit hier ist<br />
vielseitig», sagt Stocker. «Es braucht Disziplin<br />
und Konzentration.» Wenn er Schritt<br />
für Schritt vorgehe, komme es gut, bemerkt<br />
er, und blickt zufrieden hinüber zur Wand:<br />
Da stehen die Rodel in Reih und Glied.<br />
Typisch sind die geschwungenen Holz-<br />
kufen aus einheimischem Eschenholz. Die<br />
unterschiedlich gestalteten Plachen, die als<br />
Sitzflächen dienen, sind ihr Markenzeichen.<br />
Das Wichtigste aber ist ein Schriftzug,<br />
der den Schlitten zu dem macht, was<br />
er ist: zum «Luzerner Rodel».<br />
Zurück auf den ersten Arbeitsmarkt<br />
Adrian Stocker wurde vom Sozialdienst seiner<br />
Wohngemeinde an die Caritas vermittelt.<br />
«Ich war zuvor drei Jahre lang arbeitslos»,<br />
sagt er. Und lässt durchblicken, wie<br />
sehr ihm diese Situation zu schaffen gemacht<br />
hatte. Seit er hier arbeite, komme er<br />
wieder aus dem Haus und treffe andere<br />
Leute. Caritas Luzern bietet in verschiedenen<br />
Betrieben unterschiedliche Angebote<br />
der beruflichen und sozialen Integration.<br />
In der Schreinerei und Malerei, die<br />
eng zusammenarbeiten, gibt es insgesamt<br />
28 Plätze. Die Teilnehmenden besetzen ihrer<br />
Situation entsprechend unterschiedliche<br />
Programme. Bettina Fenk, Leiterin<br />
Betriebe und Service bei Caritas, sagt:<br />
«Während die einen zur kurzfristigen Ab-<br />
Renato Stiz (oben), Adrian Stocker (rechts) und<br />
weitere Mitarbeitende bei der Herstellung des<br />
Luzerner Rodels. <br />
Bilder: Daniel Desborough<br />
30 ZeSo 4/15 reportage
klärung hier sind, machen andere ein Job-<br />
Training oder haben einen Dauerarbeitsplatz.»<br />
Ergänzend zur praktischen Tätigkeit<br />
profitieren die Teilnehmenden von gezielten<br />
Job-Coachings und Bildungsmassnahmen,<br />
und sie erhalten Unterstützung bei<br />
der Stellensuche. Die Klientinnen und Klienten,<br />
die bei Caritas arbeiten, werden je<br />
zur Hälfte von den regionalen Arbeitsvermittlungszentren<br />
und den Sozialdiensten<br />
im Kanton Luzern vermittelt. Die beiden<br />
Institutionen haben das gleiche Ziel: Sie<br />
möchten die Leute auf den ersten Arbeitsmarkt<br />
zurückführen. Die Erfolgsquote<br />
liegt gemäss Bettina Fenk bei rund 20 Prozent:<br />
«Die Integration von Langzeitarbeitslosen<br />
ist aufgrund der Lage im ersten<br />
Arbeitsmarkt sehr anspruchsvoll.»<br />
Einsatzplätze für<br />
Erwerbslose<br />
Caritas Luzern führt nebst der Schreinerei und<br />
Malerei auch ein Näh- und Kreativatelier,<br />
eine Schlosserei, eine Elektrowerkstatt, einen<br />
Velodienst und zwei Restaurants. Sie bietet zudem<br />
verschiedene Dienstleistungen wie etwa<br />
Wohnungsräumungen und einen Reinigungsservice<br />
an. In den Betrieben werden erwerbslose<br />
Personen beschäftigt – mit dem Ziel der sozialen<br />
und beruflichen Integration. Der Luzerner<br />
Rodel ist in drei verschiedenen Grössen und in<br />
unterschiedlichen Ausführungen zu haben. Die<br />
Sitzfläche kann individuell bedruckt werden.<br />
Kaufpreis: 495 Franken.<br />
Weitere Informationen: www.caritas-luzern.ch<br />
Jedes Stück ist ein Unikat<br />
Damit die Arbeitsplätze in der Caritas-<br />
Schreinerei auf Dauer erhalten bleiben<br />
können, braucht es zwei Dinge: erstens<br />
Arbeit und zweitens einen Markt, auf dem<br />
die Ware abgesetzt werden kann. Kein einfaches<br />
Unterfangen, wenn man bedenkt,<br />
dass in der Schreinerei vor allem Menschen<br />
am Werk sind, die keine Ausbildung<br />
in diesem Bereich haben und vorwiegend<br />
in Hilfsfunktionen tätig waren.<br />
Renato Stiz muss also Produkte entwickeln,<br />
die serienmässig hergestellt werden<br />
können und sich gleichzeitig von der Konkurrenz<br />
unterscheiden. Mit dem Luzerner<br />
Rodel ist das gelungen. Jetzt steht der<br />
50-Jährige in der Werkstatt, lässt seinen<br />
Blick über die fertigen Objekte schweifen<br />
und greift nach einem Rodel. Mit der<br />
Hand fährt er über die Sitzfläche mit hellblauem<br />
Edelweiss-Sujet und sagt: «Wir<br />
fertigen jede Plache individuell an.» Das<br />
heisst: Je nach Kundenwunsch hat der<br />
Schlitten ein anderes Design. Sämtliche<br />
Bestandteile der Rodel würden in eigenen<br />
Betrieben angefertigt, sagt Stiz: «Plachen<br />
und Holmenschutz in der Näherei, das<br />
Material für das Lenkseil und die Schienen<br />
für die Kufen in der Metallwerkstatt.»<br />
Wer einen farbigen Rodel haben möchte,<br />
lässt ihn in der Caritas-Malerei nach<br />
Wunsch spritzen.<br />
Das Rodel-Fieber grassiert<br />
Die erste Testfahrt gehört längst der<br />
Vergangenheit an. Inzwischen erfüllt der<br />
Luzerner Rodel die Bedingungen der<br />
«International Sledge Sports Union» und<br />
kann an Wettkämpfen eingesetzt werden.<br />
«Am letztjährigen Rennen auf der Melchsee-Frutt<br />
haben wir Gold und Bronze<br />
geholt», sagt ein stolzer Renato Stiz.<br />
Nebenbei bemerkt er, dass dieser Schlitten<br />
mit einem Tempo von 70 Stundenkilometern<br />
den Berg hinab sausen kann. Man<br />
spürt es: Hier an der Grossmatte Ost grassiert<br />
das Rodel-Fieber seit geraumer Zeit.<br />
Im Winter, wenn es draussen dunkel wird,<br />
trifft man sich am Freitagabend nicht etwa<br />
zum Feierabendbier in der Stadt, sondern<br />
zum Nachtschlitteln auf der Melchsee-<br />
Frutt. Nicht selten wird daraus ein gemütlicher<br />
Raclette-Abend. <br />
•<br />
Monika Bachmann<br />
reportage 4/15 ZeSo<br />
31
Ein Netzwerk im Dienst der zuhause<br />
betreuenden Angehörigen<br />
Vier grosse Entlastungsdienste haben sich letztes Jahr zu einem Dachverband zusammengeschlossen<br />
und mit dem Aufbau eines nationalen Netzwerks begonnen. Angestrebt werden eine überregionale<br />
Kooperation und in deren Folge eine nachhaltige sozialpolitische Verankerung der Arbeit und der Rolle<br />
der Entlastungsdienste in der Schweiz.<br />
PLATTFORM<br />
Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />
diese Rubrik als Plattform an, auf der sie sich<br />
und ihre Tätigkeit vorstellen können: in dieser<br />
Ausgabe dem Entlastungsdienst Schweiz.<br />
Angehörige leisten einen grossen Beitrag<br />
an das Funktionieren der professionellen<br />
ambulanten Pflege, indem sie selbst einen<br />
Teil der Arbeit übernehmen und alte und<br />
aus anderen Gründen pflegebedürftige<br />
Verwandte betreuen und pflegen. Die<br />
durch Familienmitglieder – meistens Mütter<br />
oder Töchter – erbrachten Leistungen<br />
entlasten das Gesundheitssystem um hochgerechnet<br />
gut 4,5 Milliarden Franken,<br />
einem Betrag, der dem jährlichen Militärbudget<br />
der Schweiz entspricht. Was sich<br />
heroisch und edel anhört, ist häufig verbunden<br />
mit einem fast übermenschlichen<br />
Kraftakt. Viele der Betreuenden leben am<br />
physischen und häufig auch am finanziellen<br />
Limit. Für sie sind die vielen Angebote,<br />
die vor allem im Altersbereich bestehen,<br />
aus finanziellen Gründen oft keine Alternative.<br />
Die Entlastungsdienste, die unter<br />
diesem Namen tätig sind, sind in den<br />
späten 1970er-Jahren im Umfeld der<br />
Pro Infirmis entstanden. Deren Sozialdienst<br />
beobachtete, dass Familien, die<br />
ein behindertes Kind zuhause betreuten,<br />
immer mehr an die Grenzen ihrer finanziellen,<br />
physischen und psychischen Ressourcen<br />
gelangten und an der Aufgabe<br />
zu zerbrechen drohten. Heute bestehen<br />
in zehn Kantonen professionell geführte<br />
Entlastungsdienste der Pro Infirmis. Allen<br />
Diensten gemeinsam ist die Ausrichtung<br />
der Leistungen: Sie unterstützen Familien<br />
und Einzelpersonen, die ihre behinderten<br />
Angehörigen zu Hause betreuen, mit dem<br />
Ziel, die Lebensqualität aller Beteiligten zu<br />
erhalten und Erschöpfungszuständen vorzubeugen.<br />
Die Entlastungsdienste sollen<br />
dazu beitragen, dass betreuende Angehörige<br />
ihre sozialen Beziehungen weiterhin<br />
pflegen können, auch Zeit für sich selbst<br />
haben und arbeiten und sich weiterbilden<br />
können. Die Grundlagen der Finanzierung<br />
und die Organisationformen der Entlastungsdienste<br />
sind in den einzelnen<br />
Kantonen sehr unterschiedlich.<br />
Herausforderungen<br />
In jenen Kantonen, in denen Pro Infirmis<br />
keine eigenen Entlastungsdienste führt,<br />
werden Entlastungsdienste durch private<br />
Non-Profit-Organisationen, in der Mehrzahl<br />
Vereine, getragen. Sie bieten in teils<br />
professioneller, teils semiprofessioneller<br />
Weise ähnliche Dienstleistungen an. Viele<br />
Dienste, namentlich solche, die nicht von<br />
Pro Infirmis geführt werden, haben ihr<br />
Aufgabengebiet in den letzten Jahren auf<br />
die Entlastung von betreuenden Angehörigen<br />
von älteren Menschen erweitert. Diese<br />
Angebotserweiterung hat auf Seiten der<br />
Entlastungsdienste zu neuen Herausforderungen<br />
geführt, insbesondere im Hinblick<br />
auf die gezielte Weiterbildung von Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeitern.<br />
Für viele der nicht durch Pro Infirmis<br />
geführten Entlastungsdienste ist auch die<br />
Finanzierung der Organisation eine grosse<br />
Herausforderung. Im wachsenden Markt<br />
der ambulanten Begleitung von älteren<br />
Menschen ist ein Konkurrenzkampf um die<br />
zu betreuenden Familien und Angehörigen<br />
entstanden, der an der Preisfront und auf<br />
dem Gebiet der angebotenen Dienstleistungen<br />
ausgefochten wird. Neben einigen<br />
grossen Organisationen, die ihr Angebot<br />
vor allem im «Komfortbereich» anbieten<br />
(24-Stunden-Betreuung, individuelle, hoch<br />
personalisierte Wunscherfüllung u.a.), sind<br />
auch Player im Geschäft, die mit qualitativ<br />
eher schwachen und knappen Dienstleistungen<br />
ihr Glück versuchen.<br />
Da die meisten der nicht an Pro Infirmis<br />
gebundenen Entlastungsdienste ihr Angebot<br />
vor allem eher schwachbemittelten<br />
Personen und Familien anbieten, sind sie<br />
auf Spenden und Beiträge der Kantone und<br />
Kommunen angewiesen. Nur so können<br />
sie ihre Mitarbeitenden gerecht entlohnen.<br />
Diese Finanzierungsproblematik betrifft<br />
vor allem die Betreuung von älteren Menschen,<br />
denn Pro Infirmis finanziert über<br />
einen Unterleistungsvertrag nicht selbst<br />
geführte, aber anerkannte Entlastungsdienste<br />
bei der Arbeit im Behindertenbereich<br />
mit. Diese Unterstützung besteht<br />
im Altersbereich nicht. Ein weiterer Aspekt,<br />
der die Finanzierung erschweren kann, ist,<br />
dass jede kantonale Organisation direkt<br />
mit Pro Infirmis über die Unterleistungsverträge<br />
verhandeln muss und dass die<br />
Kantone die unabhängigen Entlastungsdienste<br />
aufgrund von kantonalen Gesetzen<br />
und Reglementen sehr unterschiedlich<br />
unterstützen.<br />
Gründung des Entlastungsdienstes<br />
Schweiz<br />
Aufgrund dieser Herausforderungen haben<br />
sich letztes Jahr die vier Entlastungsdienste<br />
der Kantone Bern, Zürich, Aargau<br />
und der Stadt St. Gallen zum «Entlastungsdienst<br />
Schweiz» zusammengeschlossen.<br />
32 ZeSo 4/15 plattform
Der Entlastungsdienst Schweiz wurde am<br />
1. Juli 2014 als gemeinnütziger Verein<br />
gegründet. Ziel und Zweck des Zusammenschlusses<br />
sind die aktive Kooperation bei der<br />
Öffentlichkeitsarbeit, dem Marketing und der<br />
Entwicklung von Dienstleistungen. Durch die<br />
Vernetzung der verschiedenen Akteure im Bereich<br />
der ambulanten Betreuungsarbeit sollen<br />
die Rahmenbedingungen für betreuende<br />
Angehörige verbessert und die Entlastungsdienste<br />
und ihre wichtige Rolle bei der Betreuung<br />
von Angehörigen zuhause sozialpolitisch<br />
nachhaltig verankert werden.<br />
Pflegededürftige Verwandte zu betreuen ist oft mit einem fast übermenschlichen Kraftakt<br />
verbunden. <br />
Bild: Jiri Vurma<br />
Ziel dieses Zusammenschlusses ist die Kooperation<br />
bei der Öffentlichkeitsarbeit,<br />
dem Marketing, der Entwicklung von neuen<br />
Dienstleistungen und der Qualität der<br />
Dienstleistungen. Durch die Vernetzung<br />
der verschiedenen Akteure im Bereich der<br />
ambulanten Betreuungsarbeit soll die Basis<br />
für eine bessere sozialpolitische Verankerung<br />
der Entlastungsdienste geschaffen<br />
werden. Ein weiteres Ziel des Vereins ist, in<br />
den verschiedenen Kantonen finanzpolitische<br />
Grundlagen zu begünstigen, damit<br />
die primär anvisierten Kundinnen und<br />
Kunden die Dienstleistungen entsprechend<br />
ihren Bedürfnissen gerecht beziehen<br />
können.<br />
Der Verein Entlastungsdienst Schweiz<br />
steht am Anfang seiner Geschichte und<br />
lädt andere Entlastungsdienste ein, dazu<br />
zu stossen. Es soll ein Netzwerk entstehen,<br />
das durch Kooperation und Austausch<br />
untereinander zur Weiterentwicklung<br />
und Stabilität der angeschlossenen Organisationen<br />
beitragen soll. Zum heutigen<br />
Zeitpunkt ist der Name Entlastungsdienst<br />
Schweiz also noch ein wenig hochgegriffen,<br />
insbesondere, weil auch die <strong>ganz</strong>e<br />
lateinische Schweiz noch nicht vertreten<br />
ist. Das Ziel ist jedoch, dass das entstehende<br />
Netzwerk einst alle Entlastungsdienste<br />
umfassen soll. Willkommen sind auch<br />
grössere Organisationen wie zum Beispiel<br />
die Pro Infirmis oder das Schweizerische<br />
Rote Kreuz. Die Gründungsmitglieder des<br />
Entlastungsdienstes Schweiz sind überzeugt,<br />
dass nur mit einer sinnvollen und<br />
kooperativen Zusammenarbeit der Entwicklung<br />
im ambulanten Betreuungsbereich<br />
begegnet werden kann. •<br />
Hansjürg Rohner<br />
Vorstandsmitglied Entlastungsdienst Schweiz<br />
Statistische Informationen (Basis: 2014)<br />
Kanton Bern:<br />
Betreute Familien/Personen: 306<br />
Entlastungsstunden: 44 265<br />
Mitarbeitende: 200<br />
Umsatz: 1,719 Mio. Franken<br />
Kanton Zürich:<br />
Betreute Familien/Personen: 216<br />
Entlastungsstunden: 24 005<br />
Mitarbeitende: 179<br />
Umsatz: 1,317 Mio. Franken<br />
Kanton Aargau<br />
Betreute Familien/Personen: 286<br />
Entlastungsstunden: 40 935<br />
Mitarbeitende: 195<br />
Umsatz: 1,122 Mio. Franken<br />
www.entlastungsdienst.ch<br />
plattform 4/15 ZeSo<br />
33
FORUM<br />
Geberqualitäten aktivieren!<br />
Karl Marx sah im Kapitalisten dieselbe<br />
Figur am Werk wie im Feudalherrn:<br />
den Frührentner. Darunter verstand er<br />
jemanden, der die Arbeit nach Kräften<br />
meidet und dank Ausbeutung der<br />
Produktiven vom eigenen Nichtstun dennoch<br />
fürstlich leben kann. Natürlich werden<br />
auch 150 Jahre nach Marx an den<br />
Spitzen der zunehmend verbürokratisierten<br />
anonymen Unternehmenswelt viel<br />
zu viele leistungslose Grundeinkommen<br />
ausbezahlt. Doch im modernen Wohlfahrts-<br />
und Umverteilungsstaat zeigt sich<br />
strukturell, dass sich die Unproduktivität<br />
von der Spitze der Gesellschaft zur Basis<br />
verlagert hat. Eine beachtlich hohe Zahl<br />
von Menschen führt das Dasein von<br />
Frührentnern, die sich teilweise oder<br />
<strong>ganz</strong> ausserhalb der wirtschaftlichen<br />
Wertschöpfungssphäre bewegen – gleich<br />
von Anfang an und für immer.<br />
Die Sozialhilfequote liegt in der Schweiz<br />
bei 3,2 Prozent. Handelt es sich bei IV<br />
und ALV um Versicherungslösungen, auf<br />
die der Betroffene mit guten Gründen<br />
einen Rechtsanspruch geltend machen<br />
kann, liegen die Dinge im Falle der wirtschaftlichen<br />
Sozialhilfe anders. Hier lebt<br />
der Sozialhilfeempfänger buchstäblich<br />
auf Kosten der unbekannten Allgemeinheit<br />
der Steuerzahler in seiner Wohngemeinde.<br />
Der Betroffene befindet sich in<br />
der harten Position des Empfangenden –<br />
wobei diese Situation schnell zum Dauerzustand<br />
wird. Der Mensch wird auf seine<br />
Nehmerqualitäten reduziert.<br />
René Scheu ist Philosoph<br />
und Herausgeber<br />
des liberalen<br />
Debattenmagazins<br />
«Schweizer Monat».<br />
Foto: T. Burla<br />
Das Existenzminimum, das sich nach<br />
SKOS-Richtlinien am Konsumverhalten<br />
der einkommensschwächsten<br />
zehn Prozent der Schweizer Haushalte<br />
orientiert (rund 2500 Franken für eine<br />
Person), ist ein leistungs-, wenn auch<br />
kein bedingungsloses Grundeinkommen.<br />
Mit den ständig steigenden Lasten<br />
des Sozialstaats kommt die Finanzierung<br />
unter stärkeren politischen Druck, und<br />
die Sozialhilfeempfänger, die kaum eine<br />
Menschliche Würde<br />
und Selbstwertschätzung<br />
lassen<br />
sich nicht durch<br />
Barüberweisungen<br />
herstellen.<br />
Lobby haben, sind jeweils die ersten,<br />
die es trifft. Dass selbst Sozialstaaten<br />
rechnen müssen, ist allen klar. Die<br />
geplante Revision der SKOS-Richtlinien<br />
– Reduktion des Grundbedarfs bei<br />
Grossfamilien, Senkung der Ansätze<br />
für junge Erwachsene, Möglichkeit zur<br />
Verschärfung der Sanktionen – geht angesichts<br />
des wachsenden Aufwands und<br />
neuer Klientel zweifellos in die richtige<br />
Richtung. Dennoch bleibt die Reform<br />
einer zu simplen anthropologischen<br />
Sicht verhaftet. Menschliche Würde und<br />
Selbstwertschätzung lassen sich nicht<br />
durch Barüberweisungen herstellen, und<br />
dies nicht einmal dann, wenn man sich<br />
besonders grosszügig zeigt und damit<br />
ein Minimum an gesellschaftlicher Partizipation<br />
ermöglichen will. Was fehlt, ist<br />
für den Einzelnen eine Perspektive – die<br />
Perspektive, nicht nur zu nehmen (und<br />
zu konsumieren), sondern auch zu geben<br />
(und zu produzieren).<br />
Marx wusste, dass der Mensch – im<br />
Idealfall – in der Arbeit jenseits der<br />
Entfremdung <strong>ganz</strong> bei sich ist. Arbeit<br />
verheisst ihm Mitwirkung, Aufgabe,<br />
Austausch, Lernen, persönliche Entwicklung.<br />
Sozialunternehmen wie die Dock-<br />
Gruppe in St.Gallen haben aus diesem<br />
Grundgedanken ein neues Arbeitsmodell<br />
gezimmert: Statt Betroffene endlos lange<br />
und teuer zu betreuen, lernen diese, sich<br />
durch selbstverantwortetes Tätigsein<br />
selbst aufzurichten, indem sie einfache<br />
Qualitätsarbeit für die Schweizer Industrie<br />
in eigenen Werkstätten erbringen.<br />
Die Tätigkeit ist hart, zuweilen auch<br />
monoton, aber sie gibt dem Leben<br />
Struktur und Sinn. Die Finanzierung<br />
ist ebenso simpel wie transparent: Die<br />
Sozialhilfe fliesst an die Sozialfirma, die<br />
ihre Arbeitnehmer versichert und ihnen<br />
regulär – allerdings bescheidene – Saläre<br />
bezahlt. Aufgabe der Sozialunternehmer<br />
ist es, über den erzielten Erlös die<br />
Struktur und den Overhead der Firmen<br />
zu finanzieren und monetäre Anreize für<br />
Mehrarbeit unter ihren Angestellten zu<br />
schaffen. Die Nähe der Sozialfirmen zum<br />
Staat bedarf zweifellos eines kritischen<br />
zivilgesellschaftlichen Blicks – dennoch<br />
birgt das Modell viel Potenzial. Es setzt<br />
die parastaatliche Betreuungsindustrie<br />
unter Druck, weil es Kosten sparen hilft.<br />
Aber vor allem: Es gibt den Menschen<br />
ihre Würde zurück, die genau darin<br />
besteht, als Wesen ernst genommen zu<br />
werden, das nicht nur nehmen kann,<br />
sondern auch viel zu geben hat. •<br />
In dieser Rubrik schafft die <strong>ZESO</strong> Raum für Debatten<br />
und Meinungen. Der Inhalt gibt die Meinung des<br />
Autors resp. der Autorin wieder.<br />
34 ZeSo 4/15 FORUM
lesetipps<br />
Standort Strasse<br />
Tag für Tag stehen die Verkäuferinnen und<br />
Verkäufer des Strassenmagazins Surprise mit<br />
dem Heft in der Hand auf der Strasse. Zwanzig<br />
von ihnen stellt dieser Porträtband vor. Die<br />
Lebensgeschichten zeichnen ein Bild der Armut<br />
in der Schweiz. Sie zeigen, wie unterschiedlich<br />
die Gründe für den sozialen Abstieg sind und<br />
wie schwierig es sein kann, wieder auf die<br />
Beine zu kommen. Das Buch erzählt aber auch von den Perspektiven,<br />
die die Menschen durch den Heftverkauf finden, von alternativen<br />
Lebensentwürfen und von manch überraschender Wende im Leben der<br />
Porträtierten.<br />
Verein Surprise (Hrsg.), Standort Strasse, Menschen in Not nehmen das Heft in die<br />
Hand, Christoph Merian, <strong>2015</strong>, 152 Seiten, CHF 29.−<br />
ISBN 978-3-85616-679-3<br />
Armut und Diskriminierung<br />
Fragen zum gerechten Umgang mit armen<br />
Menschen werden in der Politik regelmässig debattiert,<br />
während sich die Rechtswissenschaft<br />
erst am Rande mit ihnen befasst. Doch der<br />
Umgang mit armen Menschen wird auch durch<br />
die Rechtsordnung, etwa durch den verfassungsrechtlichen<br />
Diskriminierungsschutz, geprägt.<br />
Die Studie zeigt, dass armutsspezifische<br />
Benachteiligungen oft mit öffentlichen und wirtschaftlich motivierten<br />
Interessen begründet werden. Die dabei angeführten Argumente und<br />
Interessenabwägungen müssen kritisch hinterfragt und der Diskriminierungsschutz<br />
bedürftiger Menschen anerkannt werden.<br />
Alexander Suter, Armut und Diskriminierung, eine Untersuchung zum Diskriminierungsschutz<br />
für bedürftige Menschen in der Schweiz, Dike, <strong>2015</strong>, 392 Seiten, CHF 89.−<br />
ISBN: 978-3-03751-757-4<br />
Parteieneffekte in der<br />
Sozialpolitik<br />
Welche Unterschiede bewirken Parteien in der<br />
Sozialpolitik? Diese in der Forschung kontrovers<br />
diskutierte Frage analysiert das Buch anhand<br />
vergleichender Fallstudien der Arbeitsmarktund<br />
Rentenpolitik in Grossbritannien, Schweden<br />
und Deutschland. Die Studie zeigt, dass es keine<br />
generalisierende Antwort gibt. Vielmehr prägt<br />
der jeweilige wohlfahrtsstaatliche Kontext die sozialpolitischen Konfliktmuster<br />
und die Parteieneffekte. Die Konflikte beschränken sich dabei<br />
nicht auf die Leistungsgenerosität, sondern umfassen auch die Finanzierung<br />
sowie die Verwaltung wohlfahrtsstaatlicher Programme.<br />
Frank Bandau, Wohlfahrtsstaatliche Strukturen und Parteieneffekte, Nomos,<br />
<strong>2015</strong>, 378 Seiten, CHF 89.−<br />
ISBN 978-3-8487-2367-6<br />
Günstig und gut essen<br />
Gut, gesund und günstig: Wer nach diesen<br />
Kriterien einkaufen und kochen will, hat mit dem<br />
Ratgeber der Stiftung für Konsumentenschutz<br />
ein nützliches Hilfsmittel zur Hand. Der Ratgeber<br />
zeigt, wie man Geld sparen kann, ohne dass<br />
man Einbussen bei der Qualität oder der Vielfalt<br />
in Kauf nehmen muss. Das Büchlein vermittelt<br />
neben Ernährungswissen auch Wissenswertes<br />
zu Budgetfragen und dazu, wie Marketingfallen beim Einkauf umgangen<br />
werden können. Hinzu kommen Tipps und Rezepte rund um die ausgewogene<br />
Verpflegung zu Hause oder auswärts.<br />
Stiftung für Konsumentenschutz (Hrsg.), Gut, gesund und günstig essen, Clever<br />
einkaufen und ausgewogen essen, Ott, 2011, 120 Seiten, CHF 24.−<br />
ISBN 978-3-7225-0123-9<br />
www.gggessen.ch<br />
Plattform<br />
Fremdplatzierung<br />
Studien belegen, dass bis zu 75 Prozent der<br />
fremdplatzierten Kinder und Jugendlichen traumatisiert<br />
sind. Daher sind neue Strategien und<br />
Kooperationen gefordert, um Platzierungen<br />
erfolgreich durchführen zu können. An der<br />
Tagung wird die Zusammenarbeit der Partner aus<br />
unterschiedlichen Professionen beleuchtet und<br />
es wird diskutiert, wie es gelingt, eine gemeinsame<br />
Haltung zu entwickeln und abgestimmte<br />
Interventionen zu erarbeiten.<br />
Integras-Tagung: Plattform Fremdplatzierung<br />
Dienstag, 19. Januar 2016, Kultur-Casino Bern<br />
www.integras.ch<br />
Familie – ein Luxus?<br />
Eine Viertelmillion Eltern und Kinder leben in<br />
der Schweiz in Armut. Kinder aufzuziehen ist<br />
eines der grössten Armutsrisiken in der Schweiz.<br />
Dennoch investiert die Schweiz im internationalen<br />
Vergleich wenig in Familien, was zu Kritik<br />
der OECD an der Schweizer Familienpolitik führt.<br />
Das Caritas-Forum beleuchtet Gründe und Folgen<br />
der Familienarmut und stellt Ansprüche und<br />
Erwartungen an die Familien, den Staat und die<br />
Wirtschaft zur Diskussion.<br />
Caritas-Forum: Familie ist kein Luxus<br />
Freitag, 29. Januar 2016, Kultur-Casino Bern<br />
www.caritas.ch<br />
veranstaltungen<br />
Familienrechtlicher Unterhalt<br />
und Sozialhilfe<br />
Familienrechtliche Unterhaltspflichten gehen<br />
der Sozialhilfe vor und es kann verlangt werden,<br />
Unterhaltsansprüche geltend zu machen. Die<br />
Tagung verschafft eine Übersicht zu Fragen der<br />
familienrechtlichen Unterhaltspflichten sowie<br />
zur Koordination von Unterhaltsleistungen mit<br />
der Sozialhilfe. Sie fokussiert auf praxisrelevante<br />
Aspekte, die die sachgerechte Berechnung,<br />
Beurteilung und Koordination von Unterhaltsleistungen<br />
in der Sozialhilfe unterstützen.<br />
Luzerner Tagung zum Sozialhilferecht<br />
Donnerstag, 17. März 2016, Hochschule Luzern<br />
www.hslu.ch<br />
service 4/15 ZeSo<br />
35
Die Anonymität erleichtert den Anrufern den Kontakt und bietet der Beraterin Schutz. <br />
Bild: Annette Boutellier<br />
Die Zuhörerin<br />
Nächtelang hört Hanna bei der Dargebotenen Hand den Problemen ihrer Anrufer zu. Aus der Ruhe<br />
bringen lässt sie sich dabei kaum. Die Geschichten mit offenem Ausgang hallen aber manchmal nach.<br />
Vor jedem Dienst versucht Hanna, sich<br />
eine halbe Stunde Zeit zu nehmen. Sie<br />
geht im Quartier einen Kaffee trinken,<br />
macht danach den Schreibtisch parat und<br />
bespricht kurz die Schichtübergabe. Ein<br />
Ritual, um zur Ruhe zu kommen. «Wenn<br />
ich ruhig bin, laufen die Gespräche besser.»<br />
In den fünf Jahren, in denen Hanna<br />
als Freiwillige bei Tel. 143 − Dargebotene<br />
Hand Bern Hilfesuchende berät, hat sie<br />
gelernt, einfach einmal anzuhören, was ihr<br />
vom anderen Ende der Telefonleitung entgegenkommt.<br />
Präsent zu sein. Schnell aus<br />
der Ruhe bringen, das sieht man rasch,<br />
lässt sich die 59-Jährige mit dem aufmerksamen<br />
Blick und der gelassenen Art<br />
nicht. «Dennoch gibt es Situationen»,<br />
sagt sie, «die einen reinziehen wie ein<br />
Wirbel».<br />
Es sind verschiedenste Menschen, die<br />
die 143 wählen und in ihrer Leitung landen.<br />
Die depressive Frau, die sich trotz<br />
Therapie nicht besser fühlt. Der Mann,<br />
der den Gleisen entlanggeht, entschlossen,<br />
dem Leben ein Ende zu setzen. Die Berufseinsteigerin,<br />
die mit ihrer Stelle nicht<br />
glücklich ist, aber den Mut nicht hat, etwas<br />
zu ändern. Jemand, der über seinen Sozialarbeiter<br />
schimpft. Und viele Einsame, die<br />
bloss einmal am Tag eine Stimme hören<br />
wollen. Hanna versucht sich in ihre Welt<br />
hineinzudenken und stellt Fragen. Vor<br />
allem aber hört sie zu. «Wichtig ist, die<br />
Leute nicht mit Ratschlägen einzudecken<br />
und nicht zu werten», sagt sie. Im Optimalfall<br />
gelinge es, dass der Anrufer am<br />
Ende des Gesprächs eine Idee hat, was der<br />
nächste Schritt sein könnte.<br />
Kurzer Einblick in andere Leben<br />
Hanna ist das Pseudonym, unter dem die<br />
Beraterin arbeitet. Anonymität hat bei 143<br />
einen grossen Stellenwert – und zwar auf<br />
beiden Seiten. Für die Anrufer erleichtert<br />
sie den Kontakt. Niederschwellig und vertraulich<br />
soll das Angebot sein und keine<br />
Abhängigkeiten schaffen. Aber auch den<br />
Beratern bietet die Anonymität Schutz und<br />
sie schafft Distanz. Hanna sagt es so: «Im<br />
Moment des Gesprächs bin ich da und mache,<br />
was ich kann. Darüber hinaus kann<br />
ich keine Verantwortung tragen.» Der Preis<br />
für dieses Arrangement: viele offene Geschichten.<br />
Wenn das Gespräch beendet ist,<br />
hat Hanna einen kurzen Einblick in ein<br />
Leben erhalten, weiss aber nicht, wie es<br />
weitergeht. In der Regel könne sie gut abschalten,<br />
sagt sie. «Doch es gibt Geschichten,<br />
denen ich noch lange nachhänge.»<br />
Wie die Leute ticken, was sie mit ihrem<br />
Leben machen und wie sie mit bestimmten<br />
Situationen umgehen, hat Hanna schon<br />
immer interessiert: als sie in der Pflege<br />
arbeitete und später beim Psychologiestudium.<br />
Heute ist sie als Dozentin an einer<br />
Hochschule tätig. «Irgendwann habe ich<br />
wieder nach einem ergänzenden Praxisfeld<br />
gesucht», erzählt sie. Die Möglichkeit, sich<br />
bei der Dargebotenen Hand zu engagieren,<br />
hatte sie schon länger im Auge gehabt.<br />
2010 absolvierte sie die einjährige Ausbildung<br />
zur Telefonberaterin. Nebst den<br />
Telefondiensten macht sie heute bei 143<br />
auch E-Mail- und Chat-Beratungen.<br />
Wie alle der über 600 freiwilligen Beraterinnen<br />
und Berater der Dargebotenen<br />
Hand leistet Hanna pro Monat rund dreissig<br />
Stunden unentgeltlichen Einsatz – und<br />
dies neben ihrem 70-Prozent-Pensum an<br />
der Hochschule. «Eine Sonderleistung ist<br />
das nicht», sagt sie bescheiden. «Viele<br />
Menschen leisten Freiwilligenarbeit.» Und<br />
sie bekomme auch viel zurück: «Oft fühle<br />
ich mich reich beschenkt, weil die Menschen<br />
mich an ihrem Leben Anteil nehmen<br />
lassen.»<br />
Dass die Dienste oft happig sind, räumt<br />
Hanna aber ein. In der Abendschicht<br />
wechselt sie häufig fliegend von einem Gespräch<br />
zum nächsten. Gleichzeitig muss sie<br />
Anrufe auf der zweiten Leitung entgegennehmen,<br />
um abzuwägen, ob jenes Gespräch<br />
dringender wäre. Und nach den<br />
Nachtdiensten ist sie oft erschöpft, gerade<br />
weil da das Telefon auch mal drei Stunden<br />
stumm bleibt. Für den nächsten Tag plant<br />
sie höchstens eine Velotour. Sich bewegen,<br />
in die Natur gehen, das ist Hanna wichtig.<br />
«Dort kann ich die vielen Geschichten am<br />
besten wieder loslassen.» <br />
•<br />
Regine Gerber<br />
36 ZeSo 4/15 porträt
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