ZESO_3-2015_ganz
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SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
ZeSo<br />
Zeitschrift für Sozialhilfe<br />
03/15<br />
Grundkompetenzen bildungsDefizite sind ein armutsrisiko iiz das<br />
seco publiziert einen IIZ-leitfaden privates engagement für die integration eine<br />
reportage, ein porträt und das zeso-interview zeigen, wie es funktionieren kann
SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
SKOS-WEITERBILDUNG<br />
Einführung in die öffentliche Sozialhilfe<br />
Montag, 9. November <strong>2015</strong> , 13 Uhr bis 18 Uhr<br />
Hotel Arte in Olten<br />
In der Praxis stellen sich Fachleuten und Behördenmitgliedern komplexe Fragen. Rechtliches Wissen ist<br />
ebenso gefragt wie methodisches Handeln und Kenntnisse des Systems der sozialen Sicherheit. Die<br />
Weiterbildung der SKOS nimmt diese Themen auf. Es werden Grundlagen zur Armutsproblematik und<br />
zur Ausgestaltung der Sozialhilfe vermittelt, Verfahrensgrundsätze thematisiert und das Prinzip der<br />
Subsidiarität erläutert. Die Veranstaltung richtet sich an Mitglieder von Sozialbehörden, Fachleute der<br />
Sozialen Arbeit und Sachbearbeitende von Sozialdiensten, die neu in der Sozialhilfe tätig sind.<br />
Programm und Anmeldung: www.skos.ch Veranstaltungen<br />
SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
<strong>ZESO</strong>-SPEZIALPREISE<br />
Sie möchten die <strong>ZESO</strong> lesen – aber wo ist sie bloss?<br />
Insbesondere in grösseren Sozialdiensten und Institutionen reicht ein <strong>ZESO</strong>-Einzelabonnement selten für<br />
den <strong>ganz</strong>en Betrieb. Die SKOS bietet Ihnen auf Abonnemente, die mehr als ein Exemplar miteinschliessen,<br />
Mengenrabatte. Profitieren Sie davon! So haben Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jederzeit Zugang<br />
zu einer aktuellen Ausgabe der <strong>ZESO</strong> – und sind damit gut und aktuell informiert.<br />
Jahresabonnement SKOS-Mitglieder:<br />
Jahresabonnement Nichtmitglieder:<br />
69 Franken<br />
82 Franken<br />
2 bis 5 Exemplare: 15 % Rabatt<br />
6 bis 10 Exemplare: 20 % Rabatt<br />
ab 11 Exemplaren: 25 % Rabatt<br />
Weitere Informationen und Online-Shop: www.skos.ch Zeitschrift <strong>ZESO</strong>
Michael Fritschi<br />
Verantwortlicher Redaktor<br />
Integration ALS Prävention<br />
In der neuen <strong>ZESO</strong> präsentieren wir Ihnen diesmal gleich<br />
zwei Schwerpunktthemen. Zum einen ist die aktuelle<br />
Ausgabe der Problematik fehlender Grundkompetenzen<br />
und der Diskussion von Lösungsansätzen gewidmet, wie<br />
betroffene Menschen besser in die Gesellschaft und in die<br />
Arbeitswelt (re-)integriert werden können. Eine ungenügende<br />
Grundausbildung kann sich in verschiedener Hinsicht<br />
negativ bemerkbar machen. Für die direkt Betroffenen<br />
bedeutet sie in vielen Fällen Prekarität und schleichender<br />
gesellschaftlicher Ausschluss. Für soziale Institutionen, die<br />
mit diesen Menschen zusammenarbeiten, sind fehlende<br />
Grundkompetenzen eine stete Herausforderung im administrativen<br />
Kontakt, aber auch bei der Suche nach Angeboten<br />
und Massnahmen, die wirklich nachhaltig etwas zur Verbesserung<br />
der Situation beitragen. Volkswirtschaftlich betrachtet<br />
verursachen ungenügende Grundkompetenzen Erwerbsausfälle<br />
und soziale Folgekosten.<br />
Als zweites, quasi übergeordnetes Thema durchzieht der<br />
Integrationsgedanke weitere Beiträge in dieser <strong>ZESO</strong>,<br />
beispielsweise das Interview mit Hedy Graber, Chefin des<br />
Migros-Kulturprozents (ab S. 10), und zwei Beiträge, die<br />
Wege zur Verbesserung der interinstitutionellen Zusammenarbeit<br />
zwischen Sozialdiensten und regionalen Arbeitsvermittlungszentren<br />
aufzeigen (ab S.26). Im Porträt (S. 36)<br />
stellen wir Ihnen eine unermüdliche Vermittlerin zwischen<br />
den Kulturen vor, und in der Rubrik Plattform (S. 32) eine<br />
Organisation, die sich der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit<br />
widmet. In all diesen Ansätzen steckt neben den<br />
Integrationszielen ein ausgeprägter Präventionsgedanke.<br />
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.<br />
editorial 3/15 ZeSo<br />
1
SCHWERPUNKT14–25<br />
GRUNDkompetenzen<br />
Das Risiko, von der Sozialhilfe abhängig zu<br />
werden, wird vom Faktor ungenügende Grundkompetenzen<br />
stark mitbestimmt. Rund ein Drittel<br />
der Sozialhilfebeziehenden hat Defizite bei den<br />
Grundkompetenzen. Je länger jemand von der<br />
Sozialhilfe abhängig ist, desto grösser ist die<br />
Wahrscheinlichkeit, dass ein Förderbedarf bei<br />
den Grundkompetenzen besteht. Aus Sicht der<br />
Sozialdienste stellt sich die Frage, mit welchen<br />
Massnahmen und Konzepten sie die Förderung<br />
von Grundkompetenzen bei ihren Klientinnen und<br />
Klienten verbessern können, damit diese bessere<br />
Chancen auf eine Intergration in den Arbeitsmarkt<br />
haben.<br />
<strong>ZESO</strong> zeitschrift für sozialhilfe<br />
Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />
www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS,<br />
Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch,<br />
Tel. 031 326 19 19 Redaktion Michael Fritschi, Regine Gerber<br />
Redaktionelle begleitung Dorothee Guggisberg Autorinnen<br />
und Autoren in dieser Ausgabe Anne Beney, Willy Benz, Aurélia<br />
Bétrisey, Heinrich Dubacher, Anna Fliedner, Bernhard Grämiger,<br />
Dorothee Guggisberg, Fredy Huber, Christin Kehrli, Paula Lanfranconi,<br />
Cäcilia Märki, Karin Meier, Fritz Mühlemann, Anne Müller,<br />
Andreas Rupp, Cyrille Salort, Mira Schär, Beat Walti Titelbild<br />
Rudolf Steiner layout Marco Bernet, mbdesign Zürich Korrektorat<br />
Karin Meier Druck und Aboverwaltung Rub Media, Postfach,<br />
3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 preise<br />
Jahresabonnement CHF 82.– (für SKOS-Mitglieder CHF 69.–),<br />
Einzelnummer CHF 25.–. Jahresabonnement ausland CHF 120.–.<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN 1422-0636 / 112. Jahrgang<br />
Bild: Keystone<br />
Erscheinungsdatum: 7. September <strong>2015</strong><br />
Die nächste Ausgabe erscheint im Dezember <strong>2015</strong>.<br />
2 ZeSo 3/15 inhalt
INHALT<br />
5 Bildung als Potenzial stärken.<br />
Kommentar von Dorothee Guggisberg<br />
6 13 Fragen an Willy Benz<br />
8 Praxis: Den Lehrabschluss nicht<br />
bestanden: Müssen die Eltern ihren<br />
Sohn weiter unterstützen?<br />
9 Serie «Monitoring Sozialhilfe»:<br />
Unterschiedliche kantonale<br />
Vorschriften bei der Verwandtenunterstützung<br />
10 «Teilhaben kann man nur, wenn man<br />
auch die Chance dazu erhält»<br />
Interview mit Hedy Graber<br />
14 SCHWERPUNKT:<br />
Grundkompetenzen<br />
16 Das Fehlen von Grundkompetenzen<br />
ist ein gesamtgesellschaftliches<br />
Problem<br />
18 Förderung der Grundkompetenzen im<br />
Kontext der Sozialhilfe<br />
20 Vom «Illettrismuskurs» bis zur Vorbereitung<br />
auf die Berufsfachschule<br />
22 Tippen ist für sie noch keine<br />
Selbstverständlichkeit<br />
24 Es braucht mehr Übungs- und<br />
Anwendungsmöglichkeiten<br />
DIE KULTURCHEFIN<br />
IIZ-Leitfaden<br />
DIE FREIWILLIGE PATIN<br />
Das Migros-Kulturprozent fördert mit seinen<br />
Projekten die gesellschaftliche Teilhabe<br />
und folgt damit einem Leitgedanken, der<br />
demjenigen der Sozialhilfe nicht unähnlich<br />
ist. Im <strong>ZESO</strong>-Interview spricht Leiterin<br />
Hedy Graber über soziales Engagement,<br />
Individualisierungstendenzen und darüber,<br />
wie sich der Kulturbegriff verändert hat.<br />
10<br />
Sozialdienste und RAV sollen bei der<br />
arbeitsmarktlichen Beratung und der<br />
Stellenvermittlung enger zusammenarbeiten<br />
und mit ihren Kernkompetenzen zur<br />
Optimierung des Integrationsprozesses von<br />
Erwerbslosen beitragen. Das Seco fördert<br />
diese Zusammenarbeit mit einem Leitfaden.<br />
26<br />
Das Caritas-Projekt «mit mir» vermittelt<br />
Kindern aus finanziell oder sozial belasteten<br />
Familien eine Patin oder einen Paten. Dass<br />
dabei Beziehungen entstehen können, die<br />
für beide Seiten bereichernd sind, zeigt<br />
ein Besuch bei Mariann Bahr und ihrem<br />
Patenmädchen Beatriz in Luzern.<br />
26 Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe<br />
unterstützen sich gegenseitig<br />
28 Die Betreuung durch Tandems führt<br />
zu effizienteren Lösungen<br />
30 Reportage: Zweitausend Ideen für die<br />
gemeinsame Zeit<br />
32 «Check Your Chance» – Gemeinsam<br />
gegen die Jugendarbeitslosigkeit<br />
34 Forum: Gedanken zur<br />
Sozialhilfedebatte von Beat Walti<br />
35 Lesetipps und Veranstaltungen<br />
36 Porträt: Ruth Schucan leitet einen<br />
Mittagstisch für Asylsuchende<br />
DIE UNERMüdliche<br />
30<br />
Ruth Schucan engagiert sich immer wieder<br />
für Menschen mit schwierigem Schicksal.<br />
Das neuste Projekt der 72-Jährigen ist<br />
ein Mittagstisch für Asylsuchende, der<br />
sich inzwischen zum wohl grössten<br />
Klassenzimmer Zürichs entwickelt hat.<br />
36<br />
inhalt 3/15 ZeSo<br />
3
NACHRICHTEN<br />
Revision SKOS-Richtlinien<br />
Die Schweizerische Konferenz der Sozialdirektorinnen<br />
und Sozialdirektoren SODK<br />
berät an der 2. Sozialkonferenz am 21. September<br />
gemeinsam mit der SKOS und weiteren<br />
Partnerorganisationen über die im<br />
Sommer erarbeiteten neuen Bestimmungen<br />
der SKOS-Richtlinien. Revisionspunkte sind<br />
namentlich die Höhe des Grundbedarfs, der<br />
Sanktionsabzug und das Anreizsystem. Die<br />
von der Sozialkonferenz beschlossenen Änderungen<br />
treten am 1. Januar 2016 in Kraft.<br />
Die SKOS publiziert aktuelle Informationen<br />
über die konkreten Beschlüsse auf der<br />
Website www.skos.ch und via Newsletter.<br />
Gesamtrechnung der<br />
sozialen Sicherheit<br />
Die Ausgaben für die Leistungen der sozialen<br />
Sicherheit in der Schweiz sind gemäss<br />
Bundesamt für Statistik erneut gestiegen.<br />
Sie betrugen im Jahr 2013 rund 171 Milliarden<br />
Franken. Das entspricht einem knappen<br />
Viertel des Bruttoinlandprodukts und<br />
bedeutet einen Anstieg gegenüber dem<br />
Vorjahr um 3,9 Prozent. Die Ausgaben im<br />
Bereich «Soziale Ausgrenzung», zu dem<br />
die Leistungen der Sozialhilfe zählen, sind<br />
im Vergleich eher unterdurchschnittlich<br />
angestiegen. Mit Kosten in der Höhe von<br />
2,7 Milliarden Franken verursachen diese<br />
Leistungen einen kleinen Teil der Gesamtausgaben<br />
für die soziale Sicherheit.<br />
Anstieg der strukturellen<br />
Arbeitslosigkeit<br />
Die Arbeitslosigkeit in der Schweiz hat sich<br />
in den letzten zwanzig Jahren trotz eines<br />
«Jobwunders» erhöht. Vieles deutet auf einen<br />
Anstieg der strukturellen Arbeitslosigkeit<br />
hin, schreibt die Konjunkturforschungsstelle<br />
KOF in einer Studie über das Risiko in<br />
der Schweiz, arbeitslos zu werden. Die KOF<br />
begründet den Befund mit der gestiegenen<br />
Langzeitarbeitslosenquote und damit, dass<br />
dieser Anstieg trotz einer Zunahme der offenen<br />
Stellen zu Stande kam. Die Analyse des<br />
berufsspezifischen Arbeitslosigkeitsrisikos<br />
zeigt unter anderem, dass die Arbeitslosenquote<br />
von mittelbezahlten Berufsgruppen<br />
stärker gestiegen ist als jene von hoch- und<br />
tiefbezahlten Berufsgruppen. Personen mit<br />
einem obligatorischem Schulabschluss oder<br />
einer Ausbildung auf Sekundarstufe II als<br />
höchstem Abschluss sind zunehmend von<br />
Arbeitslosigkeit betroffen, so die KOF.<br />
Tendenziell mehr Tieflohn-Arbeitsstellen<br />
Im Jahr 2012 haben gemäss dem Bericht<br />
des Bundesrats «Situation in Tieflohnbranchen<br />
bezüglich Einstiegs- und Mindestlöhnen»<br />
13,4 Prozent der Beschäftigten<br />
in der Schweiz – auf eine Vollzeitstelle<br />
umgerechnet – weniger als 4343 Franken<br />
pro Monat verdient. Die Quote liegt damit<br />
über dem langjährigen Durchschnitt von<br />
12,6 Prozent. Die Tieflohnschwelle wird<br />
bei zwei Drittel des Medianlohnes festgesetzt,<br />
der in der Schweiz im Jahr 2012 bei<br />
6514 Franken pro Monat lag. Gemäss<br />
dem Bericht werden im Detailhandel am<br />
meisten Tieflöhne gezahlt, gefolgt von den<br />
Branchen Gastronomie, Gesundheits- und<br />
Sozialwesen, Reinigungs- und Gartenbau,<br />
dem Grosshandel sowie der Haus- und<br />
Landwirtschaft. Über 60 Prozent aller<br />
Tieflohnstellen sind diesen Branchen zuzuordnen.<br />
Der Bundesrat weist in seinen<br />
Ausführungen darauf hin, dass ein tiefer<br />
Lohn nicht mit Armut gleichzusetzen sei.<br />
Die wirtschaftliche Situation einer Person<br />
hänge letztlich vom verfügbaren Haushaltseinkommen<br />
und der Anzahl der davon<br />
lebenden Personen ab. <br />
•<br />
Wer lange Sozialhilfe bezieht, hat meist<br />
Gesundheitsprobleme<br />
Knapp zwei Drittel der Menschen, die seit<br />
mehr als drei Jahren auf Sozialhilfe angewiesen<br />
sind, haben gesundheitliche Beeinträchtigungen.<br />
Dies sind zu rund 40 Prozent physische<br />
Einschränkungen aufgrund von Unfall<br />
oder Krankheit, ein Suchtproblem (20%),<br />
eine ärztlich attestierte Depression (10%)<br />
oder eine andere psychische Krankheit<br />
(30%). Dies zeigt der aktuelle Kennzahlenbericht<br />
der Städteinitiative Sozialpolitik. Im<br />
Durchschnitt wurden 25 Prozent aller IV-<br />
Anträge von Langzeitbeziehenden mit Gesundheitsproblemen<br />
abgelehnt, bei weiteren<br />
23 Prozent ist ein Antrag pendent. Insgesamt<br />
wurde bei 60% der Langzeitbeziehenden mit<br />
einer gesundheitlichen Beeinträchtigung eine<br />
IV-Rente in Betracht gezogen. Die Chancen<br />
auf eine erfolgreiche Beurteilung des Gesuchs<br />
variieren stark, da die kantonalen IV-<br />
Stellen die Gesuche «sehr unterschiedlich restriktiv»<br />
beurteilen, so die in Zusammenarbeit<br />
mit der Berner Fachhochschule erstellte Studie.<br />
Keine IV-Anmeldungen erfolgen bei<br />
Suchtkrankheiten, die keinen Anspruch auf<br />
Die Detailhandelsbranche ist bei den<br />
Tieflöhnen «führend». <br />
Bild: Keystone<br />
IV begründen, oder wenn generell nur wenig<br />
Aussicht auf Erfolg besteht. Von den Langzeitbeziehenden<br />
mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen<br />
erhalten im Durchschnitt der<br />
Städte knapp 10 Prozent eine IV-Rente oder<br />
-Teilrente, die aber nicht zur Existenzsicherung<br />
reicht und die durch die Sozialhilfe ergänzt<br />
wird. «Oft sind die Langzeitbeziehenden<br />
mit Gesundheitsproblemen zu krank,<br />
um im Arbeitsmarkt zu bestehen, und haben<br />
dennoch meist keinen Anspruch auf eine IV-<br />
Rente», so das Fazit zur Untersuchung.<br />
Die Gesamtzahl der Sozialhilfebeziehenden<br />
hat sich im Jahr 2014 parallel zum Bevölkerungswachstum<br />
entwickelt, die Zunahme<br />
der Fälle beträgt 2,8 Prozent. Die allgemeine<br />
durchschnittliche Bezugsdauer hat sich gegenüber<br />
dem Vorjahr erneut erhöht und<br />
liegt aktuell bei 40 Monaten. Einen deutlichen<br />
Rückgang bei der Sozialhilfequote<br />
verzeichnete Lausanne, was auf eine effizientere<br />
Fallführung und positive Auswirkungen<br />
eines Ausbildungsprogrammes für<br />
Jugendliche zurückgeführt wird. •<br />
4 ZeSo 3/15 aktuell
KOMMENTAR<br />
Bildung als Potenzial stärken<br />
Wer eine Ausbildung macht, gehört nicht<br />
in die Sozialhilfe. Die Forderung der SKOS<br />
«Stipendien statt Sozialhilfe» gilt nach wie<br />
vor. Durch die Verstärkung des Stipendienwesens<br />
soll die Sozialhilfeabhängigkeit<br />
von jungen Menschen in Ausbildung<br />
vermieden werden. Beispielsweise hat der<br />
Kanton Waadt sein Stipendienwesen konsequent<br />
umgebaut und verfügt heute über<br />
ein erfolgreiches Projekt, das Jugendliche<br />
in Ausbildung mit Unterstützungsleistungen<br />
beim Übergang in die Berufswelt<br />
begleitet. In den letzten Jahren haben vereinzelte<br />
Kantone ihre Stipendiengesetze<br />
revidiert und das Stipendienkonkordat ist<br />
zustande gekommen. Am 14. Juni wurde<br />
nun die Stipendieninitiative zur Harmonisierung<br />
der staatlichen Unterstützungsbeiträge<br />
an Studierende von Volk und<br />
Ständen klar verworfen.<br />
Das Abstimmungsresultat führt vor<br />
Augen, dass Bildungsvorlagen mit dem<br />
Ziel der Harmonisierung von Bildungsleistungen<br />
und der Zugangsöffnung<br />
für alle nach wie vor einen schweren<br />
Stand haben. Trotz dieser Ablehnung<br />
muss die Eliminierung ungleicher<br />
Bildungschancen auf der politischen<br />
Agenda bestehen bleiben. Der ungleiche<br />
Zugang zur höheren Bildung, der<br />
untere und bildungsferne Schichten<br />
benachteiligt, ist nicht nur unter<br />
dem Aspekt der Chancengleichheit<br />
stossend. Vielmehr ist hinlänglich<br />
bekannt, dass nur, wer Zugang zu<br />
Bildung hat, auch Chancen auf dem<br />
Arbeitsmarkt hat. Lebenslanges<br />
Lernen ist längstens als Konzept anerkannt.<br />
Was für die tertiäre Bildung und<br />
die Berufsbildung gelten soll, hat sein<br />
Gegenstück im Erwerb von Basisqualifikationen<br />
und von Grundkompetenzen.<br />
Wer in der Schweiz keinen geradlinigen<br />
Bildungsparcours absolviert hat, verfügt<br />
oft nicht über die dringend notwendigen<br />
Voraussetzungen für eine Qualifizierung<br />
für den Arbeitsmarkt. Einer nicht<br />
zu unterschätzenden Anzahl von<br />
Schweizerinnen und Schweizern,<br />
vor allem aber Menschen mit<br />
Migrationshintergrund, fehlt es aber gerade<br />
an den notwendigen Basiskenntnissen und<br />
Schlüsselkompetenzen für das Bestehen<br />
im Arbeitsmarkt.<br />
Entsprechende Massnahmen sind deshalb<br />
dringend nötig. Das Weiterbildungsgesetz,<br />
das 2017 in Kraft treten soll, sieht den Erwerb<br />
von Grundkompetenzen explizit vor. Das ist<br />
äusserst positiv. Nur braucht es dazu die nötigen<br />
finanziellen Mittel. Aus Sicht der SKOS<br />
sind diese in einem Umfang bereitzustellen,<br />
dass ernsthafte Projekte, mit denen mittelund<br />
langfristig die Zahl der Sozialhilfebeziehenden<br />
und die sozialen Kosten insgesamt<br />
reduziert werden können, tatsächlich durchgeführt<br />
und wirksam werden können.<br />
Dorothee Guggisberg<br />
Geschäftsführerin SKOS<br />
aktuell 3/15 ZeSo<br />
5
13 Fragen an Willy Benz<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
Sind Sie eher arm oder eher reich?<br />
Finanziell betrachtet bin ich sicherlich nicht reich,<br />
obwohl ich ein gutes Gehalt habe. Mein Reichtum<br />
liegt in den Möglichkeiten, die mir meine Arbeit bietet.<br />
So kann ich zum Beispiel meine wissenschaftliche<br />
Neugier mit den Projekten stillen, an denen ich<br />
arbeite. Ausserdem kann ich mich regelmässig mit<br />
Kollegen aus der <strong>ganz</strong>en Welt treffen und über Astrophysik<br />
diskutieren sowie meine Leidenschaft für das<br />
Weltall an Studierende und die allgemeine Öffentlichkeit<br />
weitergeben.<br />
Und schliesslich liegt mein Reichtum darin, eine<br />
Familie wachsen zu sehen.<br />
Was empfinden Sie als besonders ungerecht?<br />
Dass nicht alle im Leben dieselben Chancen haben.<br />
Sie können am falschen Ort oder zur falschen<br />
Zeit geboren werden. Diese Menschen müssen umso<br />
härter arbeiten, um diejenigen Möglichkeiten zu<br />
erhalten, die für andere Menschen <strong>ganz</strong> selbstverständlich<br />
sind.<br />
Glauben Sie an die Chancengleichheit?<br />
Tatsächlich glaube ich an Chancengleichheit für<br />
alle. Leider geschieht dies aber nicht automatisch.<br />
Die Gesellschaft ist weltweit so organisiert, dass<br />
sich Unterschiede schon sehr früh im Leben entwickeln.<br />
Dies ist auch in der Schweiz nicht anders.<br />
Die Möglichkeiten zu schaffen, dass jeder und jede<br />
sein Potenzial erreicht, ist nicht nur eine Frage der<br />
Gerechtigkeit. Es liegt grundsätzlich in unser aller<br />
Interesse.<br />
Was bewirken Sie mit Ihrer Arbeit?<br />
Ich versuche, die Natur besser zu verstehen. Im<br />
Zentrum steht dabei die Frage, wie sich Planeten bilden<br />
und weiterentwickeln und was es dazu braucht,<br />
dass auf einem Planeten Leben existieren kann. Um<br />
dies herauszufinden, arbeiten wir an neuen Methoden<br />
und neuen Technologien. Einige davon finden<br />
schliesslich den Weg ins tägliche Leben. Von Neugier<br />
getriebene Forschung ist seit jeher ein Motor,<br />
der die Gesellschaft vorangebracht hat. Und ich leiste<br />
meinen kleinen Beitrag dazu.<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
Für welches Ereignis oder für welche Begegnung würden<br />
Sie ans andere Ende der Welt reisen?<br />
Professionelle Astronomen reisen grundsätzlich<br />
viel und oft zu weit entlegenen Destinationen, um<br />
an Sitzungen teilzunehmen oder das Universum zu<br />
beobachten. Daher ist es für mich ein Luxus, wenn<br />
ich ohne zu reisen zwei Wochen zu Hause bleiben<br />
kann.<br />
Wenn Sie in der Schweiz drei Dinge verändern könnten,<br />
welche wären das?<br />
Ich habe 13 Jahre lang im Ausland gelebt und verschiedene<br />
Arten kennengelernt, wie sich ein Land<br />
selber organisieren kann. Dies hat mich einerseits<br />
dankbar gemacht für viele Aspekte der Schweiz.<br />
Aber es hat mir auch kritische Punkte aufgezeigt, die<br />
verbessert werden könnten. Ich bin überzeugt, dass<br />
die Schweiz mehr in die nächsten Generationen investieren<br />
muss, sie sind unsere Zukunft. Dies beginnt<br />
etwa bei der Unterstützung der Familien mit kleinen<br />
Kindern, damit das tägliche «Rodeo» zwischen Arbeit<br />
und Kinderbetreuung vermieden werden kann.<br />
Ausserdem müssen wir dafür sorgen, dass unser<br />
einzigartig vielfältiges Bildungssystem ausreichend<br />
finanziert ist. Und wir müssen Rahmenbedingungen<br />
schaffen, damit junge Menschen ihre Ausbildung<br />
abschliessen und einen Job finden können, der zu<br />
ihren Fähigkeiten passt.<br />
Können Sie gut verlieren, und woran merkt man das?<br />
Ich bin kein guter Verlierer. Forschung ist ein sehr<br />
wettbewerbsintensives Umfeld, in dem es schwierig<br />
ist zu überleben, wenn man zu leicht verliert. Und<br />
wenn ich einmal verliere, dann ist es für mich eine<br />
Herausforderung, beim nächsten Mal zu gewinnen.<br />
Bügeln Sie Ihre Blusen selbst?<br />
Nein, hier bekenne ich mich schuldig! Ich habe<br />
das Glück, dass sich meine Frau darum kümmert.<br />
Ich versuche dies mit anderen Aufgaben zu Hause<br />
zu kompensieren. Aber ich weiss, das klingt furchtbar<br />
altmodisch!<br />
Was bedeutet Ihnen Solidarität?<br />
Solidarität ist für mich, mit anderen die guten wie<br />
auch die schlechten Ereignisse zu teilen, die sich<br />
zu Hause, bei der Arbeit oder in der Gesellschaft<br />
ereignen. Offensichtlich fällt uns Solidarität immer<br />
leichter mit Menschen, die wir kennen. Hingegen ist<br />
es eine Herausforderung, mit Menschen solidarisch<br />
zu sein, die wir nicht kennen. Aber ich denke, dass<br />
unsere Gesellschaft ohne Solidarität keine echte<br />
Zukunft hat.<br />
6 ZeSo 3/15 13 fragen
Willy Benz<br />
Bild: zvg<br />
Willy Benz (geb. 1955) ist Astrophysiker am Zentrum für Weltraumforschung<br />
und Habitabilität und Direktor des Physikalischen Instituts der Universität<br />
Bern. Er leitet für die Schweiz das Weltraumprojekt «Cheops», für das ein<br />
mit einem Weltraumteleskop ausgestatteter Satellit erdähnliche Planeten<br />
ausserhalb unseres Sonnensystems untersucht und ausmisst. Willy Benz<br />
ist wissenschaftlicher Vertreter der Schweiz im ESO Council (European<br />
Southern Observatory) und Leiter des Nationalfondsprojekts PlanetS. Er<br />
lebt in Neuenburg, ist verheiratet und Vater von drei Kindern.<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
Haben Sie eine persönliche Vision?<br />
Ja, der wissenschaftliche Fortschritt soll einen<br />
Nutzen für die <strong>ganz</strong>e Gesellschaft haben.<br />
Welcher Begriff ist für Sie ein Reizwort?<br />
Ruhestand! Grosse Forschungsprojekte nehmen<br />
viele Jahre in Anspruch, bis sie abgeschlossen<br />
werden. Jetzt, wo ich 60 geworden bin, kommt die<br />
Altersgrenze näher und hindert mich daran, neue<br />
Ideen in Angriff zu nehmen. Das ist sehr frustrierend.<br />
Gibt es Dinge, die Ihnen den Schlaf rauben?<br />
Viele. Ich neige dazu, mich um viele Dinge zu sorgen.<br />
Ich mag es, wenn Dinge gut organisiert und<br />
vorbereitet sind. Eine kleine Störung im Plan und<br />
schon besteht die Gefahr einer schlaflosen Nacht.<br />
Manchmal stehe ich mitten in der Nacht auf,<br />
wenn mir <strong>ganz</strong> plötzlich eine Idee in den Sinn<br />
kommt. Danach ist es natürlich schwierig, wieder<br />
Schlaf zu finden.<br />
Mit wem möchten Sie gerne per Du sein?<br />
Das ist mir nicht wirklich wichtig. Ich kann mit<br />
einer Person per Sie sein und eine gute Beziehung<br />
haben und umgekehrt. Wer zu schnell zum Du<br />
wechselt, läuft Gefahr, dass das Du die Bedeutung<br />
der persönlichen Nähe verliert und sich zum Symbol<br />
von «Coolness» wandelt.<br />
13 fragen 3/15 ZeSo<br />
7
Lehrabschluss nicht bestanden:<br />
Müssen Eltern weiter unterstützen?<br />
Ein junger Mann ohne Ausbildung arbeitet nicht und lebt bei den Eltern. Ob diese verpflichtet sind,<br />
ihn mit Volljährigenunterhalt zu unterstützen, hängt von vier Voraussetzungen ab.<br />
Frage<br />
Ein junger Mann, der vor zehn Monaten<br />
seine Lehrabschlussprüfung nicht bestanden<br />
hat, arbeitet nicht und lebt bei seinen<br />
Eltern. Diese sind nicht länger bereit, ihn<br />
zu finanzieren. Deshalb meldet er sich beim<br />
Sozialamt, das ihn auffordert, sich vom<br />
RAV beraten zu lassen. Der junge Mann<br />
kommt zur Einsicht, dass ihm das Nachholen<br />
des Lehrabschlusses die besten Perspektiven<br />
bietet. Sind die Eltern verpflichtet,<br />
ihn während der Lehre zu unterstützen?<br />
Grundlagen<br />
Die Unterhaltspflicht der Eltern dauert bis<br />
zur Volljährigkeit des Kindes. Hat es dann<br />
noch keine angemessene Ausbildung,<br />
müssen die Eltern – soweit es ihnen nach<br />
den gesamten Umständen zugemutet werden<br />
darf – für seinen Unterhalt aufkommen,<br />
bis eine entsprechende Ausbildung<br />
ordentlicherweise abgeschlossen werden<br />
kann (vgl. Art. 277 ZGB). Das volljährige<br />
Kind soll weder auf eine Erstausbildung<br />
verzichten noch eine begonnene Erstausbildung<br />
abbrechen müssen, weil es sich<br />
um seinen Lebensunterhalt kümmern<br />
muss. Der Volljährigenunterhalt soll das<br />
Absolvieren einer angemessenen Ausbildung<br />
ermöglichen und dazu muss der<br />
Unterhalt sichergestellt sein. Volljährigenunterhalt<br />
ist geschuldet, wenn vier Voraussetzungen<br />
kumulativ erfüllt sind.<br />
1. Fehlen einer angemessenen Ausbildung:<br />
Der Volljährigenunterhalt steht in engem<br />
Zusammenhang mit der elterlichen<br />
Erziehungspflicht, zu der gemäss<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />
und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />
Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />
(einloggen) SKOS-Line.<br />
Art. 302 Abs. 2 ZGB auch gehört, dem<br />
Kind eine seinen Fähigkeiten und Neigungen<br />
entsprechende allgemeine<br />
und berufliche Ausbildung zu ermöglichen.<br />
Die Ausbildung muss es dem<br />
Kind erlauben, seine vollen Fähigkeiten<br />
zum Erlangen der finanziellen<br />
Unabhängigkeit zu nutzen. Die Eltern<br />
haben dem Kind so lange beizustehen,<br />
wie es diese Ausbildung erfordert<br />
(vgl. BGer 5C.249/2006 E. 3.2).<br />
2. Zumutbarkeit der Unterhaltsleistung in<br />
persönlicher und finanzieller Hinsicht:<br />
Unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit<br />
sind nicht nur die wirtschaftlichen<br />
Verhältnisse der Eltern, sondern<br />
auch die persönliche Beziehung zwischen<br />
den Unterhaltspflichtigen und<br />
dem Kind zu beachten. Eltern und<br />
Kinder sind einander allen Beistand,<br />
alle Rücksicht und Achtung schuldig,<br />
die das Wohl der Gemeinschaft erfordert<br />
(Art. 272 ZGB). Eine schuldhafte<br />
Verletzung dieser Pflicht, namentlich<br />
wenn das Kind die Beziehung zu den<br />
Eltern bewusst abbricht oder sich dem<br />
Kontakt entzieht, kann die Zahlung<br />
von Volljährigenunterhalt unzumutbar<br />
machen, selbst wenn die Eltern<br />
dazu wirtschaftlich in der Lage wären<br />
(BGer 5A_503/2012 E.3.1 und<br />
3.3.2).<br />
3. Zielstrebigkeit der Ausbildung: Das<br />
Kind muss die Ausbildung in normaler<br />
Zeit abschliessen, das heisst, es hat sich<br />
mit Eifer oder zumindest gutem Willen<br />
der Ausbildung zu widmen. Die Eltern<br />
sind nicht unbedingt bis zum Abschluss<br />
einer Ausbildung zur Unterhaltsleistung<br />
verpflichtet. Ebenso wenig gibt es<br />
eine absolute Altersgrenze. Der Student,<br />
der seine Zeit verliert, hat keinen Unterhaltsanspruch;<br />
aber eine Verzögerung<br />
wegen erfolgloser Perioden oder gelegentlichem<br />
Ausfall führt für sich alleine<br />
nicht zum Verlust des Unterhaltsanspruchs<br />
(vgl. BGE 117 II 127 E. 3.b).<br />
4. Mangelnde Eigenversorgungskapazität<br />
des Kindes: Die Eigenverantwortung<br />
des Kindes geht der Unterhaltspflicht<br />
der Eltern vor (vgl. Art. 276 Abs. 3 ZGB).<br />
Diese Eigenverantwortung besteht<br />
unabhängig von der wirtschaftlichen<br />
Leistungsfähigkeit der Eltern. Soweit mit<br />
der Ausbildung vereinbar, muss das Kind<br />
nach Volljährigkeit alle Möglichkeiten<br />
ausschöpfen, um den Unterhalt während<br />
der Ausbildung selbst zu bestreiten (vgl.<br />
BGer 5C.150/2005 E. 4.4.1). Dies gilt<br />
erst recht, wenn das Kind grundsätzlich<br />
in der Lage wäre, selber für seinen Unterhalt<br />
aufzukommen, auch wenn es noch<br />
keine angemesse Erstausbildung abgeschlossen<br />
hat. Während eines längeren<br />
Ausbildungsunterbruchs ist von einem<br />
Ruhen der elterlichen Unterhaltspflicht<br />
auszugehen.<br />
Antwort<br />
Aktuell ruht die Unterhaltspflicht der<br />
Eltern, weil der junge Mann grundsätzlich<br />
in der Lage wäre, seinen Lebensunterhalt<br />
mit eigener Arbeitstätigkeit zu finanzieren.<br />
Sobald er sich wieder in einer Ausbildung<br />
befindet, lebt die Unterhaltspflicht der<br />
Eltern wieder auf. Im Hinblick darauf sollte<br />
frühzeitig geprüft werden, ob den Eltern<br />
nach den gesamten Umständen zugemutet<br />
werden kann, für seinen Unterhalt aufzukommen.<br />
Es ist empfehlenswert, die Frage<br />
mit dem jungen Mann und den Eltern<br />
möglichst früh zu diskutieren und eine<br />
Einigung herbeizuführen. Sollte keine<br />
Einigung zustande kommen, muss die<br />
Sozialhilfe leistende Sozialbehörde – nicht<br />
das volljährige Kind – den Anspruch auf<br />
gerichtlichem Weg klären (vgl. Art. 289<br />
Abs. 2 ZGB), also gegen die Eltern eine<br />
Klage beziehungsweise vorerst ein Schlichtungsgesuch<br />
einreichen.<br />
•<br />
Heinrich Dubacher<br />
Kommission Richtlinien und Praxis der SKOS<br />
8 ZeSo 3/15 praxis
Unterschiedliche Regeln bei der<br />
Verwandtenunterstützung<br />
Der dritte Beitrag der Serie «Monitoring Sozialhilfe» befasst sich mit den kantonalen Vorschriften zur<br />
Beteiligung von Verwandten am Unterhalt von sozialhilfebedürftigen Familienmitgliedern.<br />
Leistungen der Sozialhilfe sind subsidiär<br />
und bedarfsabhängig. Sie werden erst gewährt,<br />
wenn das eigene Einkommen, das<br />
eigene Vermögen, Renten oder Unterhaltsansprüche<br />
zur Deckung des minimalen<br />
Bedarfs nicht ausreichen. Die Subsidiarität<br />
beschränkt sich nicht nur auf persönliche<br />
finanzielle Möglichkeiten und Leistungen<br />
von Sozialversicherungen, sondern bezieht<br />
auch die Familie mit ein (Art. 328 ZGB).<br />
Die SKOS-Richtlinien empfehlen den<br />
Sozialdiensten im Abschnitt F.4, die familienrechtliche<br />
Unterstützungspflicht bei<br />
Verwandten mit überdurchschnittlichem<br />
Einkommen beziehungsweise Vermögen in<br />
Betracht zu ziehen. Sie geben weiter einen<br />
Anhaltspunkt, ab wann eine sorgfältige und<br />
genaue Prüfung durchgeführt und darauf<br />
basierend eine monatliche Unterstützungssumme<br />
berechnet und vereinbart werden<br />
soll. Das ist der Fall bei einem steuerbaren<br />
Einkommen ab 120 000 Franken pro Jahr<br />
für eine Einzelperson respektive 180 000<br />
Franken für Paare. Dieses massgebliche<br />
Einkommen kann für jedes minderjährige<br />
Kind um 20 000 Franken erhöht werden.<br />
Bei den Vermögen empfehlen die Richtlinien,<br />
ab 250 000 Franken für Einzelpersonen,<br />
500 000 für Paare und zusätzlich<br />
40 000 Franken pro minderjähriges Kind<br />
eine Unterstützung anzufragen. Diese<br />
Beträge gelten seit Januar 2009.<br />
Die Mehrheit folgt den Empfehlungen<br />
17 Kantone haben diese Empfehlungen in<br />
ihre Gesetzgebung oder in ihr kantonales<br />
Handbuch für Sozialhilfe aufgenommen.<br />
Der Kanton Obwalden stützt sich darauf,<br />
ohne dies im Sozialhilfegesetz explizit zu<br />
erwähnen. Die Kantone Wallis und Appenzell-Ausserrhoden<br />
wenden nach wie vor die<br />
Empfehlungen von 2008 an, die rund<br />
halb so hohe Grenzen für das Einfordern<br />
von Verwandtenunterstützung vorsehen.<br />
In den Kantonen Genf und Waadt basieren<br />
die Regelungen ebenfalls auf den SKOS-<br />
Richtlinien. Jedoch wird nicht zwischen<br />
«Monitoring Sozialhilfe»<br />
Die Artikelserie zum «Monitoring Sozialhilfe»<br />
gewährt Einblicke in die Vielfalt der kantonalen<br />
Sozialhilfe-Bestimmungen und deren konkrete<br />
Umsetzung in der Praxis.<br />
Einkommen und Vermögen unterschieden,<br />
sondern diese beiden Grössen werden<br />
im «Revenu déterminant» zusammengefasst.<br />
Wenn eine Einzelperson ein Einkommen<br />
von über 150 000 Franken (Genf)<br />
respektive 130 000 Franken (Waadt) aufweist<br />
und ein Paar mehr als 200 000<br />
Franken respektive 180 000 Franken,<br />
werden sie bezüglich Unterstützungsleistungen<br />
für ihre sozialhilfeabhängigen<br />
Verwandten kontaktiert. Drei Kantone<br />
(Appenzell-Innerrhoden, Thurgau und Uri)<br />
schränken die Unterstützungspflicht nicht<br />
weiter ein und prüfen die Möglichkeiten im<br />
Einzelfall.<br />
Als einziger Kanton verzichtet der Kanton<br />
Basel-Landschaft seit 2014 gänzlich<br />
darauf, die Unterstützungsmöglichkeiten<br />
durch Verwandte zu prüfen. Der Entscheid<br />
basiert auf einer Kosten-/Nutzen-Analyse,<br />
die zum Schluss kam, dass die Zahl der<br />
potenziellen Unterstützungsfälle durch Verwandte<br />
derart gering ist, dass eine systematische<br />
Prüfung nicht wirtschaftlich ist. Eine<br />
Prüfung ausschliesslich in Vermutungsfällen<br />
lehnte der Kanton mit der Begründung<br />
ab, dass dies die Tür für Willkür öffne.<br />
Dort wo die Sozialhilfe eine kommunale<br />
Aufgabe ist, kann die Praxis der einzelnen<br />
Gemeinden von den Empfehlungen der<br />
Kantone allerdings abweichen. Das bei den<br />
kantonalen Sozialämtern 2014 durchgeführte<br />
Monitoring zeigt, dass 19 Amtsstellen<br />
annehmen, dass ihre Empfehlungen<br />
von den Gemeinden mehrheitlich umgesetzt<br />
werden. Fünf kantonale Amtsstellen<br />
gehen hingegen davon aus, dass höchstens<br />
in der Hälfte der Fälle nach der empfohlenen<br />
Praxis vorgegangen wird. Auch hier<br />
wohl vor allem deshalb, weil sich Aufwand<br />
und Ertrag einer aufwändigen Prüfung für<br />
kleine Sozialdienste kaum rechnen. Auch<br />
die Statistik des Sozialamts Bern weist<br />
auf die geringe Bedeutung dieses Instruments<br />
hin. Die Zahl der eingeforderten<br />
Unterstützungen kann an zwei Händen<br />
abgezählt werden. Die einkassierten Rückzahlungen<br />
liegen vermutlich unter den für<br />
diese Prüfung aufgewendeten Personalkosten.<br />
Offizielle Zahlen gibt es wenige.<br />
Die Unterstützungspflicht erstreckt sich<br />
auf die Verwandtschaft in direkter Linie, das<br />
heisst auf Kinder, Eltern und Grosseltern. In<br />
der Praxis ist der Rückgriff über zwei Generationen<br />
schwierig. Bei einem Paar müssen<br />
bei der Prüfung der Unterstützungspflicht<br />
von Grosseltern aus Gründen der Gleichbehandlung<br />
formal alle vier Grosselternpaare<br />
respektive alle acht Grosseltern, vorausgesetzt,<br />
dass sie noch leben, einer Prüfung<br />
unterzogen werden. Weigern sich Verwandte,<br />
die geforderte Unterstützung zu leisten,<br />
müssen die Sozialdienste eine Zivilklage<br />
antreten, da sie nicht weisungsbefugt sind.<br />
Fazit<br />
Auf gesetzlicher Ebene können grob drei<br />
verschiedene Praktiken unterschieden werden,<br />
wie und ob Verwandte von sozialhilfebedürftigen<br />
Menschen zu deren Unterstützung<br />
herbeigezogen werden: die Prüfung<br />
des Einzelfalls ab einer bestimmten Einkommens-<br />
und Vermögenslimite, die Prüfung<br />
ohne Vermögenslimite und der gänzliche<br />
Verzicht auf eine Prüfung aufgrund<br />
einer Kosten-/Nutzen-Abwägung. Wie andere<br />
Instrumente im Zusammenhang mit der<br />
Sozialhilfe wird auch die Verwandtenunterstützung<br />
in den Kantonen unterschiedlich<br />
gehandhabt. Entsprechend wird der Sinn<br />
und Zweck der Verwandtenunterstützung<br />
in Fachkreisen unterschiedlich beurteilt<br />
und teilweise kontrovers diskutiert. •<br />
Christin Kehrli<br />
Leiterin Fachbereich Grundlagen SKOS<br />
SKOS-RICHTLINIEN 3/15 ZeSo<br />
9
«Teilhaben kann man nur, wenn<br />
man auch die Chance dazu erhält»<br />
Das Migros-Kulturprozent fördert mit zahlreichen nationalen Initiativen und lokalen Projekten das soziale<br />
Engagement und den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Bevölkerung. Gespräch mit Hedy Graber,<br />
Leiterin der Direktion Kultur und Soziales beim Migros-Genossenschafts-Bund.<br />
Frau Graber, wussten Sie, dass das<br />
Leitbild zum Engagement des Migros-<br />
Kulturprozents dem Leitgedanken der<br />
Sozialhilfe recht ähnlich ist?<br />
Aktiv ist mir das so nicht bewusst. Aber<br />
klar, es ist ein Ziel der Sozialhilfe, dass sie<br />
den Menschen Teilhabe am gesellschaftlichen<br />
Leben ermöglichen will und das tun<br />
wir auch.<br />
Ihr Leitbild spricht vom Erleichtern<br />
des Zugangs zu Bildung und kulturellen<br />
Angeboten mit dem Ziel, die<br />
gesellschaftliche Teilhabe und die<br />
persönliche Entfaltung zu fördern.<br />
Wir versuchen mit unseren Projekten,<br />
Begegnungsplattformen zu schaffen und<br />
Leute – auch jene, denen der gesellschaftliche<br />
Zugang fehlt oder droht, abhanden<br />
zu kommen – niederschwellig anzusprechen.<br />
Denn teilhaben und partizipieren<br />
kann man nur, wenn man auch die Chance<br />
dazu erhält.<br />
Wie trägt eine lebendige Kunst- und<br />
Kulturlandschaft zur Stärkung der<br />
Zivilgesellschaft bei?<br />
Auf unseren Produkten steht Kulturprozent,<br />
aber beim Inhalt geht es um einiges<br />
mehr. Wir wollen einen gesellschaftlichen<br />
Mehrwert stiften. Durch Partizipation<br />
kann jede und jeder ein Teil des Ganzen<br />
sein. Wir schaffen insbesondere Räume, in<br />
denen Menschen gemeinsam etwas unternehmen.<br />
Das Projekt Generationen im Museum<br />
etwa soll generationenübergreifende<br />
«Tandems», beispielsweise Grosseltern und<br />
Enkel, zum Museumsbesuch motivieren.<br />
Nicht primär wegen der ausgestellten<br />
Kunst, sondern damit sie sich darüber austauschen,<br />
was sie dabei persönlich erleben.<br />
In der Öffentlichkeit wird das Migros-<br />
Kulturprozent primär als Förderfonds<br />
für Kunst, Literatur, Tanz und Musik<br />
10 ZeSo 3/15 Interview
wahrgenommen. Ihre im engeren<br />
Sinn sozialen Projekte sind weniger<br />
bekannt. Weshalb?<br />
Ein soziales Projekt ist anders konzipiert<br />
als eine Ausstellung oder ein Konzert. Wir<br />
arbeiten in diesen Projekten immer mit<br />
engagierten Personen und Organisationen<br />
vor Ort zusammen. Sie sind es, die etwas<br />
in den Projekten tun und ohne sie gäbe es<br />
diese Projekte gar nicht. Die Projekte sind<br />
stark regional und lokal verankert, deshalb<br />
erfolgt die Berichterstattung oft regional<br />
und lokal. Es geht dabei ja um Menschen,<br />
die an ihrem Ort, in ihrer Umgebung, einen<br />
wichtigen Beitrag für die Gesellschaft<br />
leisten. Das soll auch sichtbar werden.<br />
Die Migros betreibt seit rund 60 Jahren<br />
Kulturförderung. Inwiefern haben sich<br />
die Kulturförderung und der Kulturbegriff<br />
im Lauf der Zeit verändert?<br />
Für Gottlieb Duttweiler, den Gründer<br />
der Migros und Initianten des Kulturprozents,<br />
war die Verantwortung, die man gegenüber<br />
der Gesellschaft trägt, ein grosses<br />
Thema. Sein Kulturbegriff war sehr breit<br />
gefasst, und er wollte der Gesellschaft etwas<br />
zurückgeben. Wie sich die Schwerpunkte<br />
verlagert haben, sieht man beispielsweise<br />
daran, dass vor 25 Jahren bei uns Altersund<br />
Frauenfragen im Mittelpunkt standen,<br />
heute sind es die vier Schwerpunkte Freiwilligenarbeit,<br />
Intergenerationelle Projekte,<br />
Migration und Gesundheit. Wir bewegen<br />
uns am Puls der Zeit und beobachten, wo<br />
der Schuh in gesellschaftlichen Fragen<br />
drückt und wo wir mit unseren Mitteln Lücken<br />
schliessen können.<br />
Sie sprechen von Lücken schliessen.<br />
Wie definieren Sie Ihre Rolle in dieser<br />
Hinsicht?<br />
Wir haben einerseits komplementäre<br />
Angebote, mit denen wir gewisse Lücken<br />
schliessen helfen. Gleichzeitig stossen wir<br />
«Es ist eine<br />
Illusion zu<br />
glauben, dass<br />
alles für alle ist.»<br />
auch aktiv Themen und Initiativen an.<br />
Nehmen wir als Beispiel den Bereich Generationen.<br />
Hier fehlt eine kohärente Politik<br />
auf nationaler Ebene. Deshalb gehen<br />
wir das Thema seit Jahren aktiv an, testen<br />
Generationenprojekte beispielsweise in Gemeinden<br />
und bringen so die Diskussion in<br />
diesem zukunftsrelevanten Bereich weiter.<br />
Was verstehen Sie unter «Zugang für<br />
alle»?<br />
Es ist eine Illusion zu glauben, dass alles<br />
für alle ist. Unter Zugang für alle verstehe<br />
ich einerseits das Anbieten von unterschiedlichen<br />
Dingen für unterschiedliche<br />
Zielgruppen. Andererseits geht es auch<br />
darum, ein und dasselbe Angebot für unterschiedliche<br />
Zielgruppen zugänglich zu<br />
machen. Nehmen wir die Gesundheitsversorgung.<br />
Wir wissen, dass Migrantinnen<br />
und Migranten einen erschwerten Zugang<br />
zu den Angeboten haben, weil etwa die<br />
hiesigen Angebote wie die Mütter- und<br />
Väterberatung nicht bekannt sind oder<br />
das Angebot zu teuer ist. Ein anderes Beispiel<br />
ist das Museum, das barrierefrei ist<br />
oder über ein spezielles Kinderprogramm<br />
verfügt, damit explizit auch junge Generationen<br />
angesprochen werden. Hier gilt es,<br />
auf unterschiedliche Weise diese Hürden<br />
abzubauen, damit eben der Zugang für alle<br />
auch wirklich gewährleistet ist.<br />
Inwieweit sollten auch Armutsbetroffene<br />
die Möglichkeit haben, kulturelle<br />
Angebote zu konsumieren?<br />
Es ist sehr wichtig, das man auch mit<br />
wenig Geld partizipieren kann und nicht<br />
ausgeschlossen wird. In diesem Sinne beteiligen<br />
wir uns seit 2010 an der «Kultur-<br />
Legi» der Caritas, die den Inhaberinnen<br />
und Inhabern eine 50-prozentige Ermässigung<br />
auf Eintritte zu unseren und auch<br />
anderen Veranstaltungen ermöglicht. Das<br />
ist eine einfache Massnahme, die dazu beiträgt,<br />
dass Leute in prekären Situationen<br />
nicht abgehängt werden.<br />
Wie beurteilen Sie die zunehmenden<br />
Individualisierungstendenzen in unserer<br />
Gesellschaft?<br />
Individualisierung und die zunehmende<br />
Mobilität sind grosse Herausforderungen,<br />
weil sie einsam machen können<br />
und damit auf den gesellschaftlichen<br />
Zusammenhalt wirken. Wenn Sie täglich<br />
zwei Stunden pendeln und zuhause noch<br />
Verpflichtungen haben, wird es schwierig,<br />
sich freiwillig oder sozial zu engagieren.<br />
Im digitalen Kosmos, der vielleicht auch<br />
noch zu diesen Entwicklungen gehört,<br />
kommt es in einzelnen Communities zwar<br />
zu Szenebildungen, aber als Individuum<br />
fühlt man sich weniger angesprochen als<br />
wenn man mit anderen an einem Tisch<br />
sitzt. Es ist extrem wichtig, die Leute aus<br />
dem Haus, aus ihrer «Culture de chambre»,<br />
herauszulocken. Es geht uns bei unseren<br />
Projekten auch darum, eine Kontextualisierung<br />
zu stiften.<br />
Mit welchen Projekten unterstützen<br />
Sie Jugendliche?<br />
Beispielsweise mit den Projekt Kebab+<br />
– Kochen, Essen, Begegnen, Austauschen,<br />
Bewegen –, bei dem wir mit dem Dachverband<br />
offene Kinder- und Jugendarbeit<br />
Schweiz zusammenarbeiten. Wir möchten<br />
damit Jugendliche ansprechen, die in<br />
nicht einfachen Situationen leben. Ihnen<br />
Möglichkeiten aufzeigen und Inputs ge- <br />
Interview 3/15 ZeSo<br />
11
en, damit sie für sich etwas finden, das<br />
ihr Interesse weckt. Gleichzeitig ist Kebab+<br />
auch ein Gesundheitsprojekt, und<br />
auch hier ist der Moment der Begegnung<br />
zentral.<br />
Diverse Ihrer Projekte haben eine<br />
gesündere Ernährung zum Ziel. Trotzdem<br />
hängen in der Migros – wie in<br />
jedem Supermarkt – rund um die Kassen<br />
all die ungesunden Schleckereien<br />
und der Junk Food. Wie gehen Sie mit<br />
solchen Zielkonflikten um?<br />
Indem wir uns Migros-intern einbringen.<br />
Unser Fachspezialist für Gesundheitsfragen<br />
sitzt bei strategischen Sitzungen,<br />
in denen auch Gesundheitsfragen angesprochen<br />
werden, mit am Tisch. Aber es ist<br />
auch klar: Das Kerngeschäft der Migros ist<br />
der Detailhandel.<br />
Die Migros schafft sich mit dem<br />
Kulturprozent viel externen Goodwill.<br />
Können Sie etwas zur «internen» Integrationsleistung<br />
der Migros sagen?<br />
Gibt es beispielsweise eine Strategie,<br />
die auf den Erhalt oder die Schaffung<br />
von Arbeitsplätzen oder Lehrstellen<br />
für Schwächere abzielt?<br />
Ob solche Initiativen systematisch erfolgen,<br />
weiss ich nicht, da ich nicht im<br />
HR-Bereich arbeite. Aber ich weiss beispielsweise,<br />
dass unsere Kantine mit einer<br />
Behindertenorganisation zusammenarbeitet.<br />
Hedy Graber<br />
Hedy Graber (geb. 1961) leitet seit 2004 die<br />
Direktion Kultur und Soziales beim Migros-<br />
Genossenschafts-Bund in Zürich. Sie hat<br />
in Genf Kunstgeschichte, Germanistik und<br />
Fotografie studiert und mit einem Lizenziat<br />
abgeschlossen. Von 1990 bis 1996 war sie<br />
Kuratorin der Kunsthalle Palazzo in Liestal,<br />
danach Direktorin der Abteilung für Moderne<br />
Kunst bei der Galerie Fischer Auktionen in<br />
Luzern, und von 1998 bis 2003 Beauftragte<br />
für Kulturprojekte des Kantons Basel-Stadt.<br />
Wie hoch ist Ihr jährliches Budget<br />
und zu welchen Anteilen können die<br />
diversen Sparten davon profitieren?<br />
Wir – das heisst die zehn Migros-<br />
Genossenschaften in der <strong>ganz</strong>en Schweiz<br />
und der Migros-Genossenschafts-Bund –<br />
haben rund 120 Millionen Franken zur<br />
Verfügung. Davon geht die Hälfte in die<br />
Bildung, primär in die Klubschulen. Rund<br />
30 Millionen fliessen in den Bereich Kultur<br />
und rund acht Millionen in soziale und<br />
gesellschaftliche Projekte.<br />
Gibt es einen Return-on-Investment<br />
für Ihr gesellschaftliches Engagement<br />
und woran erkennen Sie ihn?<br />
Beispielsweise, wenn ein Projekt von der<br />
Gesellschaft als nutzbringend anerkannt<br />
wird. Unser Hauptkriterium für die Unterstützung<br />
von Projekten ist gesellschaftliche<br />
Relevanz. Natürlich überprüfen und messen<br />
wir unsere Projekte regelmässig mit<br />
Indikatoren. Aber man kann auch weichere<br />
Kriterien nehmen, wie etwa: Wann<br />
ist ein Projekt so gut vernetzt, dass es allein<br />
«fliegen» kann? Das Projekt Innovage, im<br />
Rahmen dessen pensionierte Manager und<br />
Managerinnen ihr Wissen und ihre Erfahrung<br />
an Vereine und gemeinnützige Organisationen<br />
weitergeben, hat sich ziemlich<br />
verselbständigt. Ein anderes wichtiges<br />
Kriterium, an dem wir unseren Erfolg messen<br />
können, ist, ob ein Projekt eine starke<br />
Multiplikatorenwirkung erreicht. Das trifft<br />
etwa auf die «Grossmütterrevolution» zu.<br />
So gelingt es uns immer wieder, unzählige<br />
Leute für ein soziales Engagement zu<br />
gewinnen – sei dies als Mentorin in einem<br />
Arbeitsintegrationsprojekt, als engagierte<br />
Frau in der Grossmütterrevolution oder ein<br />
Migrantenverein, der sich aktiv im Quartier<br />
engagiert.<br />
Der Schwerpunkt dieser <strong>ZESO</strong>-<br />
Nummer ist dem Thema Grundkompetenzen<br />
gewidmet. Sind Sie in<br />
diesem Bereich auch aktiv?<br />
«Wir machen Politik,<br />
indem wir uns für den<br />
gesellschaftlichen<br />
Zusammenhalt<br />
engagieren.»<br />
12 ZeSo 3/15 Interview
Ja, mit den erwähnten Mentoring-<br />
Projekten, im Rahmen derer jemand einer<br />
anderen Person hilft, sich beispielsweise<br />
auf dem Arbeitsmarkt wieder zurechtzufinden.<br />
Wie hat sich bei den Klubschulen die<br />
Nachfrage für Angebote wie Lesen,<br />
Schreiben, Rechnen oder Deutsch lernen<br />
in den letzten Jahren entwickelt?<br />
Deutschkurse gehören mit über 46000<br />
Teilnehmenden im Jahr 2014 zu den<br />
meistgefragten Angeboten. Ein Grossteil<br />
davon entfällt auf spezifische Deutschkurse<br />
für Migrantinnen und Migranten,<br />
die damit ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt<br />
verbessern und ihre Teilhabe am<br />
gesellschaftlichen Leben vergrössern. Die<br />
Klubschule Migros setzt sich als Mitglied<br />
der IG Grundkompetenzen auf nationaler<br />
Ebene für bessere gesetzliche Rahmenbedingungen<br />
zum Beispiel im Kampf gegen<br />
Illettrismus ein.<br />
Sie unterstützen mit Ihrer Arbeit auch<br />
andere politische Anliegen, indem Sie<br />
sich für die Vereinbarkeit von Arbeit<br />
und Familie oder für die Gesundheitsförderung<br />
einsetzen. Denken Sie oder<br />
andere Personen aus dem Umfeld<br />
des Migros-Kulturprozents je darüber<br />
nach, sich stärker politisch zu engagieren?<br />
Nein, wir verfolgen einen anderen Ansatz.<br />
Wir wollen über unsere Projekte etwas<br />
bewirken. Wir machen Politik, indem wir<br />
uns für den gesellschaftlichen Zusammenhalt<br />
engagieren.<br />
Wie unabhängig respektive abhängig<br />
sind Sie bei wichtigen strategischen<br />
Entscheiden vom Detailhandelskonzern<br />
Migros?<br />
Als freiwilliges Engagement sind wir<br />
sehr unabhängig. In den Migros-Statuten<br />
steht, dass das Allgemeininteresse höher<br />
gestellt werden muss als das Migros-<br />
Genossenschafts-Interesse.<br />
Wie schätzen Sie die Diskussion um<br />
die Sozialhilfe ein?<br />
Die Diskussion ist extrem geprägt von<br />
Sparen und von Vorurteilen. Mit einer<br />
Spardiskussion allein werden die Probleme<br />
aber nicht gelöst. Man sollte vielmehr nach<br />
Mitteln und Wegen suchen, wie man die<br />
Leute befähigen kann, an der Gesellschaft<br />
zu partizipieren. Das fehlt mir in dieser Diskussion<br />
– es fehlt quasi der gelebte Alltag.<br />
Dabei kann man mit Projekten, die nicht<br />
alle Welt kosten, viel erreichen. Das müsste<br />
vermehrt in den Vordergrund rücken.<br />
Was könnten die Sozialhilfe oder die<br />
SKOS als Verband besser machen?<br />
Die Herausforderung ist wohl, aus der<br />
Schwarz-Weiss-Diskussion herauszufinden<br />
Bilder: Daniel Desborough<br />
und eine frische Palette von Argumenten<br />
und Nuancen zu präsentieren. Ich persönlich<br />
mache gute Erfahrungen mit möglichst<br />
einfachen Erklärungen, und damit,<br />
dass ich Herausforderungen vorausschauend<br />
angehe. <br />
•<br />
Das Gespräch führte<br />
Michael Fritschi<br />
Interview 3/15 ZeSo<br />
13
14 ZeSo 3/15 SCHWERPUNKT<br />
Bild: Keystone
Das Fehlen von Grundkompetenzen ist<br />
ein gesamtgesellschaftliches Problem<br />
Die Erhöhung der Teilnahmequoten an Bildungsmassnahmen ist eine komplexe, kostenintensive<br />
Aufgabe. Sier erfordert klare Ziele, eine ausreichende Finanzierung sowie eine optimale Zusammenarbeit<br />
zwischen den beteiligten Akteuren.<br />
Das Fehlen von Grundkompetenzen wirkt sich auf mehreren Ebenen<br />
negativ aus: Betroffene Personen haben Schwierigkeiten, sich<br />
im Alltag zurechtzufinden. Sie sind akut gefährdet, aus dem<br />
Arbeitsprozess auszuscheiden oder sie sind bereits arbeitslos.<br />
Personen mit ungenügenden Grundkompetenzen haben oft ein<br />
sehr tiefes Selbstwertgefühl in Bezug auf ihre Arbeits- und Lernleistungsfähigkeit,<br />
verfügen über eine schlechtere Gesundheit als<br />
der Durchschnitt der Bevölkerung – und sie sind überdurchschnittlich<br />
oft von Armut betroffen. Betriebe wiederum können<br />
Mitarbeitende mit ungenügenden Grundkompetenzen nicht<br />
flexibel einsetzen und dadurch deren Leistungspotenzial nicht<br />
voll ausschöpfen. Volkswirtschaftlich wirkt sich die Problematik<br />
unter anderem auf die Höhe der Sozialkosten aus. Gemäss einer<br />
Studie des Büros BASS aus dem Jahr 2007 sind 18 Prozent der<br />
Arbeitslosen nur aufgrund ihrer Leseschwäche arbeitslos. Das<br />
Fehlen von Lesekompetenzen kostet die Arbeitslosenversicherung<br />
jährlich eine Milliarde Franken.<br />
Die vom Bundesamt für Statistik durchgeführte «Adult Literacy<br />
and Lifeskills (ALL)»-Studie zeigt, dass rund 800 000 Erwachsene<br />
in der Schweiz – das sind 16 Prozent der erwachsenen Wohnbevölkerung<br />
– einen einfachen Text nicht verstehen. Rund 430 000<br />
Erwachsene haben grosse Schwierigkeiten, einfache Rechenaufgaben<br />
zu lösen. Betroffen von dieser Problematik sind keinesfalls ausschliesslich<br />
Personen mit Migrationshintergrund. Auch sehr viele<br />
Schweizerinnen und Schweizer, die notabene die gesamte Schulzeit<br />
in der Schweiz absolviert haben und deren Muttersprache die<br />
Lokalsprache ist, bekunden Mühe mit den Grundkompetenzen.<br />
Personen mit ungenügenden Grundkompetenzen haben oft<br />
lückenhafte und von Misserfolgen geprägte Schulkarrieren hinter<br />
sich. 30 Prozent der Erwachsenen, die nur die obligatorische<br />
Schulzeit absolviert haben, verfügen über ungenügende Lesekompetenzen,<br />
so die ALL-Studie. Eine tiefe Qualifikation ist der<br />
grösste sozio-ökonomische Risikofaktor für ungenügende Grundkompetenzen.<br />
Ein weiterer bedeutender Risikofaktor ist der<br />
Migrationshintergrund: 44 Prozent der fremdsprachigen Einwanderer<br />
haben Mühe mit Lesen und 31 Prozent haben Probleme<br />
mit Alltagsmathematik. Weitere Risikofaktoren sind hohes Alter<br />
sowie tiefe berufliche Stellung.<br />
Geringe Teilnahme an Bildungsmassnahmen<br />
Die ALL-Studie zeigt auch: 28 Prozent der Sozialhilfebeziehenden<br />
verfügen über ungenügende Grundkompetenzen (siehe auch<br />
Beitrag S. 18f.). Nur sehr wenige der betroffenen Erwachsenen<br />
gehen ihr Defizit mit dem Besuch einer Bildungsmassnahme<br />
aktiv an. Weniger als ein Prozent der Erwachsenen mit Leseschwierigkeiten<br />
besuchen einen Kurs in Lesen und Schreiben.<br />
Die Gründe für diese tiefe Teilnahme sind vielfältig. Einerseits<br />
besteht nicht in allen Regionen der Schweiz ein adäquates<br />
Bildungsangebot im Bereich Grundkompetenzen. Andererseits<br />
existieren finanzielle, berufliche, soziale und zeitliche Barrieren,<br />
die die Zielgruppen daran hindern, ein Bildungsangebot im<br />
Bereich Grundkompetenzen nachzufragen und erfolgreich daran<br />
teilzunehmen.<br />
Die öffentliche Hand hat es bisher nicht geschafft, diese Barrieren<br />
in Zusammenarbeit mit den Weiterbildungsanbietern<br />
wesentlich zu senken und die Teilnahmequote zu erhöhen. Das<br />
liegt insbesondere daran, dass zu wenig finanzielle Mittel für<br />
die unabdingbaren Sensibilisierungs- und Werbemassnahmen<br />
für die bestehenden Kursangebote zu Verfügung stehen. Trotz<br />
der insgesamt deutlich erhöhten politischen Sensibilität für das<br />
Thema Grundkompetenzen haben sich in den letzten zehn Jahren<br />
die in den Kantonen verfügbaren Budgets nicht erhöht. Im Gegen-<br />
Ohne Basiswissen bleibt der Zugang zu vielen Tätigkeiten verwehrt.<br />
<br />
Bild: Keystone<br />
16 ZeSo 3/15 SCHWERPUNKT
grundkompetenzen<br />
teil: Aktuell stehen die bestehenden Budgets für die Förderung der<br />
Grundkompetenzen in mehreren Kantonen aufgrund von Sparbemühungen<br />
unter Druck.<br />
Für einen Paradigmen-Wechsel<br />
Eine weitere Hauptproblematik ist der Zugang zu den Betroffenen.<br />
Von der ALL-Studie ist bekannt, dass 64 Prozent der Erwachsenen<br />
mit tiefen Grundkompetenzen erwerbstätig sind und nie<br />
mit Stellen der öffentlichen Hand, beispielsweise mit den Förderstrukturen<br />
von ALV, IV und Sozialhilfe, in Kontakt kommen. In<br />
jüngster Zeit wird deshalb mit Projekten verstärkt versucht, über<br />
die Arbeitgeber einen Zugang zu schaffen und den Arbeitsplatz als<br />
Lernort für die Förderung von Grundkompetenzen zu nutzen<br />
(www.alice.ch/GO2). Damit dieser Ansatz gelingt, muss ein nicht<br />
zu unterschätzender Paradigmen-Wechsel bei der Angebotsgestaltung<br />
erfolgen: Die bestehenden Weiterbildungsangebote im Bereich<br />
Grundkompetenzen sind allgemeine Kurse, die auf das Aufholen<br />
von Defiziten ausgerichtet sind. Damit der Zugang über die<br />
Betriebe funktioniert, braucht es aber firmenspezifische Angebote,<br />
die konsequent auf die Bedürfnisse des Arbeitsplatzes sowie der<br />
Mitarbeitenden ausgerichtet sind.<br />
Die Erhöhung der Teilnahme ist eine komplexe, kostenintensive<br />
Aufgabe, die klare Ziele und Massnahmen, eine ausreichende<br />
Finanzierung sowie eine optimale Zusammenarbeit zwischen den<br />
beteiligten Akteuren erfordert. Mit dem Weiterbildungsgesetz<br />
(WeBiG), das vom Parlament im Juni 2014 verabschiedet wurde,<br />
besteht die (historische) Gelegenheit, diese Aufgabe anzugehen.<br />
Der Gesetzgeber hat dem Bund und den Kantonen den Auftrag<br />
erteilt, sich gemeinsam dafür einzusetzen, den Erwachsenen den<br />
Erwerb und Erhalt von Grundkompetenzen zu ermöglichen.<br />
Zur Umsetzung des Auftrags wurde ein sogenannter Fördertatbestand<br />
geschaffen, was bedeutet, dass der Bund und die Kantone<br />
zweckgebundene finanzielle Mittel bereitstellen müssen. Für<br />
die bevorstehende Umsetzung des WeBiG ist es nun zentral, dass<br />
die angestrebte Förderung so organisiert wird, dass die beschriebenen<br />
Probleme wirksam gelöst werden können.<br />
Hoffen auf das Weiterbildungsgesetz<br />
Die Umsetzung, die in der Verordnung zum Gesetz vorgesehen ist,<br />
fordert vor allem die Kantone: Sie sollen vierjährige kantonale Programme<br />
im Bereich Grundkompetenzen entwickeln und die auf<br />
nationaler Ebene gemeinsam festgelegten strategischen Ziele umsetzen.<br />
Mit diesen Programmen sollen die Kantone eine ihren Realitäten<br />
entsprechende Auswahl von Massnahmen, Angeboten<br />
oder Projekten treffen, die zur Zielerreichung beitragen. Es ist vorgesehen,<br />
dass sich der Bund mit jeweils maximal 50 Prozent an<br />
Was sind Grundkompetenzen?<br />
Zu den Grundkompetenzen von Erwachsenen gehören die<br />
Kompetenz, einfache Texte lesen und verstehen zu können<br />
(Literalität) sowie einfache mathematische Fragestellungen<br />
zu lösen (Alltagsmathematik), die Fähigkeit Informations- und<br />
Kommunikationstechnologien (IKT) zu nutzen sowie die Beherrschung<br />
der lokalen Amtssprache (Sprachkompetenz).<br />
www.alice.ch/de/themen/grundkompetenzen<br />
den kantonalen Programmen beteiligt. Positiv an dieser Umsetzungsstruktur<br />
ist, dass gemeinsame nationale Ziele existieren und<br />
dass die Kantone die Fördermassnahmen dennoch flexibel ausgestalten<br />
und auf ihre Bedürfnisse abstimmen können. Vorbild für<br />
dieses «Programmmodell» ist die aktuelle Praxis bei der Integrationsförderung.<br />
Dort schliesst das Staatssekretariat für Migration<br />
SEM auf Grundlage einer gemeinsamen Strategie von Bund und<br />
Kantonen vierjährige Vereinbarungen zur Umsetzung von kantonalen<br />
Integrationsprogrammen (KIP) ab. Ein KIP orientiert sich<br />
an der Strategie von Bund und Kantonen, hält die kantonalen Ziele<br />
und Massnahmen fest und definiert, welche Wirkungen erzielt<br />
werden sollen.<br />
Der Ansatz, gleich wie bei der Integrationsförderung auf die<br />
Strukturen der Kantone zu setzen, ist sinnvoll. Die Kantone können<br />
sowohl über eine flexible Ausgestaltung von Leistungsvereinbarungen<br />
mit Weiterbildungsanbietern als auch über Bildungsangebote<br />
im Rahmen der Regelstrukturen effektive Massnahmen<br />
zur Förderung der Grundkompetenzen umsetzen. Ein grosses<br />
Problem zeigt sich allerdings bei der Finanzierung. Bis jetzt hat<br />
der Bund lediglich jährlich zwei Millionen Franken für die Umsetzung<br />
des Weiterbildungsgesetzes vorgesehen. Die IG Grundkompetenzen,<br />
ein Verbund von 21 Organisationen, hat berechnet,<br />
dass für eine effektive Erhöhung der Teilnehmerzahlen ein Bundesbeitrag<br />
von rund 12 Millionen Franken notwendig ist. Es ist<br />
zu hoffen, dass das Parlament im Rahmen der Diskussion um die<br />
BFI-Botschaft die Fehlkalkulation des Bundes noch korrigiert und<br />
die Mittel für die Förderung der Grundkompetenzen wesentlich<br />
erhöht.<br />
•<br />
Bernhard Grämiger<br />
Schweizerischer Verband für Weiterbildung SVEB<br />
Koordinator IG Grundkompetenzen<br />
SCHWERPUNKT 3/15 ZeSo<br />
Förderung der Grundkompetenzen im<br />
Kontext der Sozialhilfe<br />
Im Rahmen des nationalen Projekts «GO Sozialhilfe» wird untersucht, wie die Förderung von<br />
Grundkompetenzen bei Sozialhilfebeziehenden verbessert werden kann und welche Rollen die<br />
beteiligten Organisationen und ihre Mitarbeitenden dabei spielen.<br />
28 Prozent der Sozialhilfebeziehenden haben geringe Lesekompetenzen.<br />
Diese Quote aus der «Adult Literacy and Lifeskills<br />
(ALL)»-Studie aus dem Jahr 2006 hat in den vergangenen Jahren<br />
tendenziell eher noch zugenommen. Die Risikofaktoren, die zu einer<br />
dauerhaften Abhängigkeit von der Sozialhilfe führen, sind jenen<br />
sehr ähnlich, die Schwierigkeiten bei den Grundkompetenzen<br />
begünstigen: zunehmendes Alter, kein Berufsabschluss, tiefe<br />
Qualifikation der Eltern, Migrationshintergrund in Verbindung<br />
mit geringen Sprachkenntnissen und eine tiefe berufliche Stellung.<br />
Je länger Personen von der Sozialhilfe abhängig sind, desto<br />
grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass bei ihnen im Bereich der<br />
Grundkompetenzen ein Förderbedarf besteht. Vieles deutet darauf<br />
hin, dass das vorhandene Potenzial für die Förderung der<br />
Grundkompetenzen im Kontext der Sozialhilfe bisher zu wenig<br />
genutzt wird. Aus Sicht der Sozialdienste stellt sich also die Frage,<br />
mit welchen Massnahmen und Konzepten sie die Förderung der<br />
Grundkompetenzen ihrer Klientinnen und Klienten aktiver angehen<br />
können und welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen.<br />
Im Folgenden werden erste Erkenntnisse und Erfahrungen<br />
mit der Förderung der Grundkompetenzen in Zusammenarbeit<br />
mit der Sozialhilfe, die im Rahmen des Projekts «GO Sozialhilfe»<br />
gesammelt wurden, vorgestellt.<br />
Förderung der Grundkompetenzen im Kontext der Sozialhilfe<br />
sind bisher jedoch vielerorts noch nicht ausreichend vorhanden:<br />
Es fehlt zum einen an passenden Bildungsangeboten und zum<br />
anderen am Bewusstsein, dass die Förderung der Grundkompetenzen<br />
ein wichtiges Kriterium zur Unabhängigkeit der Klienten<br />
sein kann. Hinzu kommt, dass das Ansprechen von Defiziten, die<br />
von den betroffenen Personen selbst häufig systematisch verborgen<br />
werden, mit Hürden verbunden ist. Eine kurze und gezielte<br />
Weiterbildung respektive Sensibilisierung der Sozialberatenden<br />
zum Erkennen und Ansprechen vorhandener Schwierigkeiten ist<br />
hier hilfreich. Solche Inputs können beispielsweise durch Sensibilisierungsfachpersonen<br />
des Dachverbands Lesen und Schreiben<br />
erfolgen.<br />
Standortbestimmung konkretisiert den Lernbedarf<br />
Eine Standortbestimmung durch eine Fachperson hilft, den Förderbedarf<br />
zu konkretisieren und den individuellen Lernbedarf sicht-<br />
Strategische Entscheidung des Sozialdienstes<br />
Grundvoraussetzung für die Förderung von Basiskompetenzen<br />
von Sozialhilfebeziehenden ist die Klärung der Rollen und Aufgaben<br />
der beteiligten Personen und Institutionen sowie die Konzeption<br />
geeigneter Bildungsmassnahmen. Die Entscheidung, die Förderung<br />
von Grundkompetenzen als Aufgabe des Sozialdienstes zu<br />
definieren und in die internen Abläufe zu integrieren, ist auf strategischer<br />
Ebene, also von den für die Führung des Sozialdienstes<br />
verantwortlichen Personen zu treffen. Zur Strategie und deren<br />
Umsetzung gehört als wesentlicher Baustein die Zusammenarbeit<br />
mit einem oder mehreren Bildungsanbietern, die geeignete Bildungsmassnahmen<br />
für Sozialhilfebeziehende anbieten und umsetzen<br />
können.<br />
Den Sozialberatenden kommt aufgrund ihres direkten Kontakts<br />
zu den Klientinnen und Klienten und aufgrund ihrer Qualifikation<br />
die Rolle zu, Personen mit Förderbedarf zu identifizieren und<br />
ihnen die Teilnahme an einer Bildungsmassnahme im Bereich<br />
Grundkompetenzen vorzuschlagen. Die Voraussetzungen für die<br />
Eine gute Zusammenarbeit zwischen Bildungsanbietern und<br />
Sozialdiensten ist zentral für die Konzeption guter Angebote.<br />
Bild: Keystone<br />
18 ZeSo 3/15 SCHWERPUNKT
grundkompetenzen<br />
bar zu machen. Für die Förderung der Grundkompetenzen kommen<br />
aufgrund von Erfahrungen vor allem Personen mit deutscher<br />
Muttersprache oder Migrantinnen und Migranten mit guten<br />
mündlichen Deutschkenntnissen in Frage.<br />
Bei der Konzeption einer Bildungsmassnahme ist ein niederschwelliger,<br />
alltags- und handlungsorientierter Ansatz zweckdienlich,<br />
mit dem Ziel, die Ressourcen der Teilnehmenden in den<br />
Bereichen mündliche und schriftliche Kommunikation, Alltagsmathematik<br />
und Informations- und Kommunikationstechnologien<br />
zu stärken und zu erweitern. Wichtig sind daher auch methodische<br />
Fähigkeiten, wie sie beispielsweise für die Analyse und Planung<br />
von komplexeren Alltagsanforderungen nötig sind. Bei der Gestaltung<br />
der Lerneinheiten steht der konkrete Nutzen im Alltag im<br />
Mittelpunkt: grössere Sicherheit bezüglich Schrift- und Zahlungsverkehr<br />
gewinnen, die Belege von Arzt und Krankenkasse ordnen,<br />
ein Handy-Abo kündigen oder den Pin-Code des Bankkontos zu<br />
ändern, die Anfahrt zu einem Bewerbungsgespräch planen usw.<br />
Für die Zielgruppe sind kurze modulare Bildungsmassnahmen<br />
im Umfang von 30 bis 40 Stunden gut geeignet. Aufgrund der<br />
oft vorhandenen Mehrfachproblematiken der Zielgruppe ist ein<br />
modularer Aufbau günstig. So können jene, die sich für einen längeren<br />
Bildungsprozess entscheiden, weitere Module besuchen.<br />
Projekt «GO Sozialhilfe»<br />
Im Rahmen des Projekts «GO Sozialhilfe – Förderung der Grundkompetenzen<br />
in der Sozialhilfe» hat der Schweizerische Verband für Weiterbildung<br />
(SVEB) gemeinsam mit den beteiligten Partnern erste Erfahrungen<br />
mit der Förderung der Grundkompetenzen in Zusammenarbeit mit der<br />
Sozialhilfe gesammelt. Sozialdienste, die sich für eine Grundkompetenzförderung<br />
im Rahmen der Sozialhilfe interessieren und die zur Vertiefung<br />
der Erkenntnisse und zur Erprobung und Weiterentwicklung des Konzepts<br />
beitragen möchten, melden sich bitte bei der Autorin.<br />
Kontakt: caecilia.maerki@alice.ch<br />
Zusammenarbeit mit den Sozialberatenden<br />
Die Konzeption und Umsetzung der Bildungsmassnahmen sind<br />
Sache der Bildungsanbieter. Die Basis für gute Angebote bildet eine<br />
gute Zusammenarbeit mit den Sozialberatenden. Idealerweise erfolgen<br />
Standortbestimmungen sowie die Begleitung und Beratung der<br />
Klienten in Bezug auf ihre Lernziele durch den Bildungsanbieter.<br />
Dieser sorgt für die erfolgreiche Umsetzung der Bildungsmassnahme<br />
und ermöglicht eine positive Lernerfahrung, die vorhandene<br />
Ressourcen aktiviert und im Alltag unmittelbar nützlich ist. Um den<br />
Nutzen besser zu garantieren, sollen die Teilnehmenden eigene<br />
Themen einbringen können. Daher braucht es Kursleitende, die<br />
rollend planen und neu auftauchende Bedürfnisse kurzfristig in<br />
den Unterricht integrieren können. Weitere wichtige Faktoren sind<br />
die Unterstützung des Transfers des Gelernten in den Alltag und die<br />
aktive Gestaltung der Schnittstelle zu den Sozialberatenden. Die<br />
persönlichen Coaching-Gespräche zwischen Kursteilnehmern und<br />
dem Bildungsanbieter begleiten die individuellen Lernschritte<br />
auch im Hinblick auf Planung und Umsetzung von Anschlusslösungen<br />
gemeinsam mit den Sozialberatenden.<br />
Eine wichtige Rolle kommt auch der Sensibilisierung der<br />
politischen Entscheidungsträger für die Potenziale der Grundkompetenzförderung<br />
im Kontext der Sozialhilfe zu. Als Rahmengesetz<br />
hat das Weiterbildungsgesetz die Aufgabe, die Förderung von<br />
Grundkompetenzen in Spezialgesetzen zu begünstigen. In diesem<br />
Zusammenhang muss die Vermittlung von Grundkompetenzen in<br />
der Sozialhilfe als wichtiges Instrument der Integrationsförderung<br />
weiterentwickelt werden, denn die Förderung der Grundkompetenzen<br />
ist bei den Sozialen Diensten am richtigen Ort. In einer<br />
nächsten Phase des Projekts «Go Sozialhilfe» soll nun die Wirkung<br />
der Grundkompetenzförderung auf die persönliche Unabhängigkeit<br />
und die Unterstützung des Ablösungsprozesses von der Sozialhilfe<br />
überprüft werden.<br />
•<br />
Cäcilia Märki<br />
Leiterin Grundkompetenzen<br />
Schweizerischer Verband für Weiterbildung SVEB<br />
SCHWERPUNKT 3/15 ZeSo<br />
Vom «Illettrismuskurs» bis zur Vorbereitung<br />
auf die Berufsfachschule<br />
Massnahmen zur Förderung von Grundkompetenzen bei erwachsenen Personen werden in der<br />
Schweiz wie andere Bildungsmassnahmen föderalistisch umgesetzt. Entsprechend variieren sie<br />
aufgrund regionaler Besonderheiten und Bedürfnisse. Die folgenden vier Seiten präsentieren eine<br />
Auswahl Angebote, Initiativen und Best-Practice-Ansätze.<br />
Vermittlung von Grundkompetenzen<br />
in der ländlichen Region Toggenburg<br />
Die Angebote des Berufs- und Weiterbildungszentrums Toggenburg<br />
in Wattwil im Bereich Grundkompetenzen dienen dazu,<br />
Personen mit Lernschwierigkeiten und Bildungsdefiziten zu<br />
unterstützen und zu fördern. Dazu gehören als Basisangebot<br />
«Illettrismuskurse» und der Kurs «Deutsch für Fremdsprachige»,<br />
der sich an Migrantinnen und Migranten wendet. Dieser Kurs findet<br />
sonntags statt und ist gut besetzt. Da viele Migranten Schicht<br />
arbeiten, Eheleute manchmal an unterschiedlichen Tagen und<br />
Zeiten, hat sich für diesen Kurs der Sonntag sehr bewährt. Gute<br />
Lehrer dafür zu finden ist hingegen eher schwierig. Die «Illettrismuskurse»<br />
werden im Rahmen eines Leistungsauftrags des Kantons<br />
St. Gallen angeboten. Da es sich bei Illettrismus um ein<br />
Gesellschaftsproblem handelt, das für viele ein Tabuthema ist, ist<br />
es bei diesen Kursen entsprechend schwieriger, Teilnehmer zu<br />
finden. Bei den Integrationskursen haben wir festgestellt, dass<br />
Ausländergruppen ihre eigenen Netzwerke haben und dass man<br />
die Leute, die man erreichen will, am besten über diese Netzwerke<br />
anspricht.<br />
Im Rahmen des Projektes GO2 des SVEB führte das Berufsund<br />
Weiterbildungszentrum kürzlich auch einen Pilotkurs für<br />
KMU durch. Während es in den herkömmlichen Kursen in erster<br />
Linie um Spracherwerb, Integration und die Entlastung des<br />
Sozialbereichs geht, fokussiert das GO-Projekt auf Grundkompetenzen,<br />
die spezifisch in den KMU nachgefragt werden, nämlich<br />
Mathematik (einfache Berechnungen, die man am Arbeitsplatz<br />
immer wieder machen muss) und Deutsch (beispielsweise<br />
einen Arbeitsrapport einigermassen stilsicher und fehlerlos schreiben).<br />
Solche Kurse sind auch für die beteiligten KMU attraktiv,<br />
da sie an den Lernerfolgen teilhaben können, indem sie die<br />
Absolventinnen und Absolventen nachher im Betrieb besser und<br />
vielfältiger einsetzen können. In der Praxis hat sich allerdings<br />
auch gezeigt, dass das Projekt für jene KMU, die über keine Personalabteilung<br />
und über kein entsprechendes Budget verfügen,<br />
schwierig umsetzbar ist. Für die Ansprache der potenziellen<br />
Interessenten wurden bei diesem Projekt andere Kanäle benutzt,<br />
indem das Projekt in Gewerbevereinen und Arbeitgebervereinigungen<br />
vorgestellt wurde.<br />
Im Weiteren bieten wir für Lernende in der Grundbildung<br />
eine Aufgabenhilfe und Stützkurse an, um der Problematik von<br />
fehlenden Grundkompetenzen vorbeugend entgegenzutreten.<br />
Ferner ist zu erwähnen, dass in der Region auch andere Weiterbildungsinstitutionen<br />
wie beispielsweise die Migros-Klubschule<br />
Kurse im Bereich Grundkompetenzen anbieten.<br />
Vorlehre 25plus<br />
Fredy Huber<br />
Rektor BWZ Toggenburg<br />
Ziel der Vorlehre 25plus der BFF Bern ist die Integration von über<br />
25-jährigen Erwachsenen in eine berufliche Grundbildung oder<br />
eine andere sinnvolle und qualifizierende Anschlusslösung. Die<br />
grosse Heterogenität der Lernenden – rund 75 Prozent sind Migrantinnen<br />
und Migranten, rund 25 Prozent sind Schweizerinnen<br />
und Schweizer – prägt die Ausgestaltung des Angebots. Die Lernenden<br />
verfügen über unterschiedlichste Ressourcen, verfolgen<br />
verschiedenste Ausbildungsziele und benötigen eine individuelle,<br />
den Anforderungen der Berufsfachschulen entsprechende Vorbereitung.<br />
Sozialhilfeunterstützte Lernende sollen längerfristig<br />
von der Sozialhilfe abgelöst werden. Schwerpunktfächer der Vorlehre<br />
sind Deutsch, Mathematik und Allgemein bildender Unterricht.<br />
Zum Unterricht gehören auch das Klären und Erfassen von<br />
schulisch, beruflich und ausserberuflich erworbenen Ressourcen<br />
und damit verbunden die Überprüfung des Berufswunsches, ein<br />
Bewerbungstraining und die Lehrstellensuche. Damit werden alle<br />
zur Erreichung der Ziele notwendigen Grundkompetenzen gefördert.<br />
Die Beraterin des Vorlehre-Teams unterstützt die Lernenden<br />
zudem beim eigenverantwortlichen Angehen ihrer Probleme im<br />
Umfeld (Finanzen, Gesundheit u.a.).<br />
Diese praktizierte Verbindung des Schwerpunkts Bildung mit<br />
der notwendigen sozialpädagogischen Begleitung zur Abstützung<br />
der Bildungsziele ist ein <strong>ganz</strong>heitlicher Ansatz zur Integration von<br />
Erwachsenen in den Arbeitsmarkt über Ausbildung. Die enge Zusammenarbeit<br />
mit dem privaten und professionellen Umfeld der<br />
Lernenden hilft, Zuständigkeiten zu klären und die Koordination<br />
und Kooperation im Helfernetz sicherzustellen. Und die Vernetzung<br />
mit den Arbeitgebern ermöglicht, Erfahrungen der Betriebe<br />
mit den Lernenden in die Gestaltung des Unterrichts miteinzubeziehen.<br />
Die Lernenden besuchen an zwei Tagen die Schule und<br />
arbeiten an drei Tagen in einem externen Betrieb. In das Angebot<br />
vermittelt werden sie von Berufsberatungsstellen, Sozialdiensten,<br />
Hilfswerken und über Arbeitsintegrationsprojekte. Finanziert<br />
wird das Angebot im Rahmen der Brückenangebote von der Erzie-<br />
20 ZeSo 3/15 SCHWERPUNKT
grundkompetenzen<br />
hungsdirektion des Kantons Bern. Für Lernende mit erschwerten<br />
Bedingungen wird ein Teil der Kosten durch die Gesundheitsund<br />
Fürsorgedirektion im Rahmen der Leistungen zur sozialen<br />
Existenzsicherung mitfinanziert. Die eigentliche Stärke des Angebots<br />
ist die Arbeit im interdisziplinären Team. Gut 60 Prozent der<br />
Lernenden finden eine Anschlusslösung in eine berufliche Grundbildung<br />
oder eine andere Anschlusslösung, manchmal gelingt<br />
auch der direkte Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt. Als Erfolg<br />
betrachten wir aber auch eine nachhaltige Klärung von notwendigen<br />
nächsten Schritten bei Lernenden, die nicht unmittelbar eine<br />
gewünschte Anschlusslösung finden. <br />
Bildungschecks als Ansporn<br />
Anne Müller und Fritz Mühlemann<br />
BFF Bern, Bereich Vorlehre 25Plus<br />
Das Angebot des Kantons Genf «Chèque annuel de formation»<br />
(CAF) richtet sich an ein breites Publikum, aber insbesondere an<br />
Menschen, die keine qualifizierende Grundausbildung absolviert<br />
haben. Erwachsene erhalten als Finanzierungshilfe für eine auf<br />
beruflicher Ebene sinnvolle Ausbildung einen Check in der Höhe<br />
von bis zu 750 Franken. Das Spektrum der mitfinanzierten Ausbildungen<br />
reicht von der ersten Qualifikationsstufe – Überwinden<br />
von Illettrismus, Alphabetisierung und Französisch als Fremdsprache<br />
– bis zum Eidgenössischen Fähigkeitszeugnis oder Weiterbildungsdiplom.<br />
Eine der Prioritäten des Angebots ist es, Menschen mit besonders<br />
geringer Qualifikation dazu anzuspornen und ihnen dabei zu<br />
helfen, ihre Kenntnisse aufzufrischen und zu erweitern, um den<br />
Entwicklungen ihres beruflichen Umfelds besser folgen zu können.<br />
SCHWERPUNKT 3/15 ZeSo<br />
Bild: BFF/Vorlehre 25plus<br />
Diese Zielgruppe macht gut 25 Prozent aus. Sie wird über zwei<br />
Massnahmen angesprochen: Zum einen steht ihnen mit der 2009<br />
eröffneten «Cité des Métiers et de la formation» eine umfassende<br />
Informations- und Unterstützungsstruktur zur Verfügung. Das<br />
vom Berufsbildungsamt betriebene Berufs- und Weiterbildungszentrum<br />
vermittelt den Gesuchstellern alle nötigen Informationen<br />
und betreut sie während der Abklärung der Gesuche. Die Fachpersonen<br />
helfen nötigenfalls auch beim Ausfüllen des Formulars oder<br />
der Online-Anmeldung.<br />
Die zweite Massnahme zielt auf die Verbesserung der Qualität<br />
und auf die bessere Sichtbarkeit des Weiterbildungsangebots ab.<br />
Dazu arbeitet das Berufsbildungsamt mit den acht wichtigsten<br />
Ausbildungsinstitutionen für Grundausbildungen im Kanton Genf<br />
zusammen. Angestrebt wird ein breites Angebot von Ausbildungsgängen<br />
in den drei Bereichen «Lesen, Schreiben, Kommunizieren»,<br />
«Rechnen und räumliches Verständnis» sowie «Informations- und<br />
Kommunikationstechnologie». Diese Kurse werden als «kapitalisierbare»<br />
Ausbildungsmodule auf drei Ausbildungsniveaus angeboten.<br />
Wenn ein Kandidat oder eine Kandidatin sämtliche<br />
Module absolviert hat, wird ihm ein Attest ausgestellt, das Auskunft<br />
gibt über seine Fähigkeit, weitere qualifizierende Ausbildungen im<br />
Hinblick auf das Erlangen eines EFZ oder eines EBA zu absolvieren.<br />
Im Jahr 2014 wurden über 7000 Ausbildungschecks abgegeben.<br />
Die Begünstigten müssen volljährig und seit mindestens<br />
einem Jahr im Kanton steuerpflichtig sein und ihr Einkommen<br />
und Vermögen darf eine Obergrenze nicht überschreiten. Derzeit<br />
beteiligen sich 111 EduQua-zertifizierte Ausbildungseinrichtungen<br />
am CAF-Modell. Sie bieten rund 1500 auf rund zehn Ausbildungsbereiche<br />
verteilte Ausbildungsmodule an. •<br />
Cyrille Salort<br />
Directeur service Formation Continue, Kanton Genf<br />
Tippen ist für sie noch keine<br />
Selbstverständlichkeit<br />
Das Sprichwort «Aller Anfang ist schwer» gilt<br />
auch bei der PC-Anwendung. Das zeigt ein<br />
Besuch bei der EB Zürich, wo in einem PC-Vorkurs<br />
Erwachsenen die Fähigkeit vermittelt wird,<br />
den Computer für einfache Aufgaben nutzen zu<br />
können.<br />
«Jetzt ist alles verschwunden», ruft Peter. «Du hast wahrscheinlich<br />
einen Virus», witzelt Fredi. So klingt es an diesem sommerlichen<br />
Freitagnachmittag aus einem Kursraum der EB Zürich, wenige<br />
Gehminuten vom Bahnhof Zürich-Altstetten entfernt. Die Atmosphäre<br />
ist entspannt – die sieben Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />
des PC-Vorkurses kennen sich schon und teilen ihr Leid rund<br />
um die Tücken des PCs. Von der Hitzewelle draussen ist nichts zu<br />
spüren: Die Räumlichkeiten hier sind klimatisiert. Das ist gut so,<br />
denn die Teilnehmenden brauchen auch heute, am vierten von<br />
sieben Nachmittagen, ihre volle Konzentration. In insgesamt<br />
17,5 Stunden bringt Kursleiterin Eliane Welti ihnen nämlich bei,<br />
wie sie Word, E-Mail und Internet nutzen können. Einiges funktioniert<br />
schon gut: Alle Kursteilnehmenden haben ihren Laptop<br />
selbstständig ans Stromnetz angeschlossen, aufgestartet und ihren<br />
Stick mit den Kursunterlagen eingesetzt. Sie sind zwischen 49 und<br />
64 Jahre alt, deutscher Muttersprache und erwerbslos. Freiwillig<br />
Förderprogramm BasiX<br />
Das Förderprogramm BasiX der EB Zürich, der grössten von der öffentlichen<br />
Hand getragenen Weiterbildungsinstitution in der Schweiz, existiert<br />
seit 2013. Es richtet sich an Personen, die Mühe haben, einen einfachen<br />
Zeitungstext zu verstehen oder einfache Rechenaufgaben zu lösen. BasiX<br />
fördert die fünf Grundkompetenzen Lesen und Schreiben, Deutsch als<br />
Fremdsprache, Alltagsmathematik, Umgang mit Informationstechnologien<br />
(IKT) und Methodenkompetenzen im Beruf und Alltag.<br />
Im Zürcher Seefeld und in Zürich-Altstetten führt die EB Zürich je ein<br />
öffentliches Lernfoyer, das mit Computern für Windows und Mac sowie<br />
den gängigen Programmen ausgestattet ist. So können Teilnehmende in<br />
einem informellen Setting üben, was sie im Unterricht gelernt haben. Durch<br />
den niederschwelligen Zugang eignen sich die Lernfoyers aber auch für<br />
Menschen, die nicht mehr gewohnt sind zu lernen oder sich in Kursen zu<br />
exponiert fühlen. Für eine individuelle Unterstützung steht eine Lernbegleiterin<br />
zur Verfügung. Der Besuch im Lernfoyer ist für die Kursteilnehmer<br />
einen Monat über den Kurs hinaus kostenlos. Alle andern bezahlen für drei<br />
Monate 100 Franken.<br />
www.eb-zuerich.ch/basix<br />
hier ist nur Fredi. Weil er kurz vor der Pensionierung steht, wollte<br />
ihn sein RAV-Berater nicht in den Kurs schicken. Doch Fredi setzte<br />
sich durch: «Ich lerne gerne Neues.»<br />
«Der PC-Vorkurs A2 ist öffentlich und wird immer auch von<br />
Selbstzahlern besucht, die sich aus Eigeninitiative rudimentäre<br />
PC-Kenntnisse aneignen wollen», sagt Eliane Welti. Ein Teil der<br />
Teilnehmenden hat in der Regel Migrationshintergrund. Letzteres<br />
erklärt sogar die Bezeichnung des Kurses: A2 steht für elementare<br />
Deutschkenntnisse, und die sind nötig, damit die Teilnehmenden<br />
dem Kurs überhaupt folgen können.<br />
Erste Gehversuche mit Word<br />
Als erstes steht heute das Personalisieren eines Muster-Bewerbungsbriefs<br />
auf dem Programm. Geduldig erklärt Welti nochmals,<br />
wie sich auf dem Laptop die Ordnerinhalte des Sticks anzeigen lassen<br />
und dass man den Bewerbungsbrief mit einem Doppelklick<br />
aufruft. Bevor es weitergeht, geht die Kursleiterin von einem Teilnehmer<br />
zum andern und überprüft, ob alle den Brief geöffnet vor<br />
sich haben. Das ist nicht der Fall: Einer der Teilnehmer hat versehentlich<br />
nur die Vorschau geöffnet, nicht das Dokument selbst.<br />
Welti zeigt nochmal, wie’s geht. Nun folgt das Speichern des Dokuments:<br />
«Was, ab und zu auch mal speichern?», fragt Werner, der<br />
seit zwei Wochen erwerbslos ist. Willy, ein Glaser, der unbedingt<br />
eine neue Stelle will, weiss bereits um den Wert des Disketten-<br />
Symbols. Er hat gestern Abend zwei Stunden an einem Dokument<br />
gearbeitet und es dann geschlossen, ohne es abzuspeichern. Das<br />
nervt ihn heute noch. Auch die Modeberaterin Marlise tut sich<br />
schwer mit dem PC: «Gestern hätte ich das Ding am liebsten in die<br />
Limmat geschmissen!» Pedro wiederum hadert eher mit den Umständen:<br />
Er war lange selbstständig, bevor er eine Stelle annahm<br />
und sie prompt verlor. Seinen Unmut bekundet er damit, dass er<br />
der Kursleiterin oft und gerne widerspricht. Die erfahrene Dozentin<br />
lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen und gestattet ihm<br />
die eine oder andere Extrawurst.<br />
22 ZeSo 3/15 SCHWERPUNKT
grundkompetenzen<br />
Nun geht’s ums Überschreiben des Musterbriefs: «Entweder<br />
markiert ihr die Passagen, die ihr ersetzen wollt, und setzt eure<br />
eigenen Inhalte ein, oder ihr geht mit dem Cursor ans Ende der<br />
zu überschreibenden Stelle und löscht die Buchstaben einzeln von<br />
hinten her», erklärt Eliane Welti. Das ist einfacher gesagt als getan.<br />
Willy löscht versehentlich eine <strong>ganz</strong>e Zeile, Werner gar den <strong>ganz</strong>en<br />
Brief. Auch das Überschreiben gestaltet sich als Herausforderung.<br />
Die Teilnehmenden tippen nicht nur mit dem Ein- oder Zweifingersystem,<br />
sondern müssen auch jeden Buchstaben erst auf<br />
der Tastatur finden. Die Zeit verstreicht, die Bewerbungen nehmen<br />
nur langsam Form an. Selbst so vermeintlich einfache Dinge<br />
wie das Datum einsetzen bereiten Mühe. «Ort Komma Abstand<br />
Siebzehn Punkt Abstand Juli», erklärt Eliane Welti mehr als<br />
einmal. Als die Pause naht, mahnt sie die Teilnehmenden, das<br />
Geschriebene zu speichern und es später fertigzustellen. «Was wir<br />
im Kurs vermitteln, ist nur ein Anfang. Ohne Üben geht es nicht.<br />
Deshalb erteile ich immer Hausaufgaben», sagt sie. Weil nicht alle<br />
daheim einen PC mit Word-Programm besitzen, können sie dafür<br />
das betreute Lernfoyer des Kursanbieters nutzen.<br />
Eine Frage der Übung<br />
Nach der Pause zeigt Eliane Welti, wie man im Internet auf tel.<br />
search.ch eine Adresse oder eine Telefonnummer ausfindig machen<br />
und auf sbb.ch Fahrplaninformationen abrufen kann. Das<br />
führt zum ersten Mal heute Abend zu leuchtenden Augen. Der Sanitärinstallateur<br />
Norbert, der sich wegen Gelenkproblemen umschulen<br />
lassen will, und Willy suchen unabhängig voneinander die<br />
Festnetznummer von Christoph Blocher – ein Erfolgserlebnis.<br />
Marlise wiederum ist vom Fahrplan der SBB angetan. «Wie praktisch!<br />
Ich glaube, ich habe die SBB-App sogar auf meinem Handy.<br />
Nur habe ich sie bislang noch nie benutzt.»<br />
Rückmeldungen wie diese bestätigen Eliane Welti den Nutzen<br />
des Kurses, der in dieser Form seit vier Jahren existiert und der jährlich<br />
von 23-30 Klassen absolviert wird: «Wir vermitteln hier wirk-<br />
Aufnahmen aus dem PC-Vorkurs A2.<br />
Bilder: Christine Bärlocher<br />
lich relevenate Inhalte. Die Teilnehmenden verbessern nicht nur<br />
ihre beruflichen Qualifikationen, sondern werden auch befähigt,<br />
besser an der Gesellschaft teilzunehmen. Denn nachher können sie<br />
online Ferien buchen, E-Mails verschicken und nach Informationen<br />
googeln.» Das Konzept hat auch das Bundesamt für Kommunikation<br />
überzeugt. 2009 verlieh es dem etwas breiter angelegten, noch<br />
stärker auf Menschen mit Migrationshintergrund ausgerichteten<br />
Vorgängerkurs «Praktischer Umgang mit Alltagselektronik» die<br />
mit 10 000 Franken dotierte Auszeichnung «Ritter der Kommunikation».<br />
Noch hapert es bei den Kursteilnehmenden allerdings<br />
in Sachen Partizipation: Die meisten sind bei ihren Bewerbungen<br />
auf die Hilfe ihres Umfelds angewiesen. Doch dies wird sich bald<br />
ändern – fleissiges Üben vorausgesetzt. <br />
•<br />
<br />
Weitere Berichte in der <strong>ZESO</strong> zum Thema niederschwellige<br />
Förderung von Grundkompetenzen<br />
Aus Platzgründen können in diesem Schwerpunkt weitere Initiativen,<br />
so auch nationale von karitativen Organisationen und Berufsverbänden,<br />
nicht dargestellt werden. Die <strong>ZESO</strong> hat unter anderem in der Ausgabe<br />
2/15 (Schwerpunkt «Flüchtlinge und Sozialhilfe») eine Reportage über<br />
einen SRK-Kurs «Pflegehelfer/in» und in der Ausgabe 2/14 eine Reportage<br />
zum Projekt «Deutsch auf der Baustelle» des Schweizerischen<br />
Baumeisterverbands publiziert. – Red.<br />
SCHWERPUNKT 3/15 ZeSo<br />
Karin Meier<br />
Es braucht mehr Übungs- und<br />
Anwendungsmöglichkeiten<br />
Fehlende Grundkompetenzen spielen bei den meisten Personen in der Sozialhilfe eine bestimmende<br />
Rolle. Doch damit Förderkurse nachhaltig wirken, sind bessere Übungsstrukturen und eine intensivere<br />
Begleitung der Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer durch die Sozialarbeitenden notwendig.<br />
Betrachtungen zum Thema Grund- und Schlüsselkompetenzen aus Sicht der Sozialhilfepraxis.<br />
Je weiter der Begriff Grundkompetenzen gefasst wird, desto offensichtlicher<br />
wird, dass ein Mangel an Grundkompetenzen, insbesondere,<br />
wenn sie kumuliert auftreten, bei den meisten Personen<br />
in der Sozialhilfe eine bestimmende Rolle spielt – sei es als Grund<br />
für das Abgleiten in die Sozialhilfeabhängigkeit oder beim Versuch,<br />
sich von der Sozialhilfe abzulösen. Eine absolut zentrale Rolle<br />
spielen dabei Kenntnisse der lokalen Sprache. Sie sind für eine<br />
erfolgreiche Arbeitsintegration heutzutage unerlässlich. Personen<br />
ohne Deutschkenntnisse haben es sehr schwer, eine Arbeitsstelle<br />
zu finden – am ehesten funktioniert das noch in Betrieben, die von<br />
Migranten mit ähnlichem kulturellem Hintergrund geführt werden.<br />
Dieses Problem hat sich in den letzten zwanzig Jahren durch<br />
den markanten Rückgang von Industriearbeitsplätzen mit Serienarbeitscharakter<br />
verschärft.<br />
Fehlt das Verständnis für die Abläufe in der Schweiz, wirkt sich<br />
dies ebenfalls erschwerend auf die Arbeitsintegration aus, aber<br />
auch beispielsweise auf den Umgang mit der Sozialhilfe vorgelagerten<br />
Leistungsträgern wie regionalen Arbeitsvermittlungszentren<br />
(RAV) oder der Invalidenversicherung. Diese Problematiken<br />
betreffen alle Bevölkerungsgruppen in der Sozialhilfe, die auf<br />
eine niederschwellige Beschäftigung angewiesen sind und häufig<br />
über keine Erstausbildung verfügen. Unser System stellt für Migrantinnen<br />
und Migranten jedoch eine besondere Herausforderung<br />
dar. Der Wille und die Fähigkeit, sich darauf einzulassen,<br />
erleichtern viele Zugänge.<br />
Wer nicht in der Lage ist, «amtlichen» Forderungen nachzukommen,<br />
muss entsprechende Konsequenzen tragen. Versäumt<br />
jemand beispielsweise einen Termin beim RAV, muss eine<br />
schriftliche Begründung nachgereicht werden. Diese darf sehr<br />
einfach verfasst sein, doch viele Leute haben Schwierigkeiten,<br />
sich schriftlich auszudrücken und fürchten, den Anforderungen<br />
nicht zu genügen. In der Folge geben sie keine Stellungnahme<br />
ab und müssen deshalb mit Sanktionen rechnen. Diesen<br />
Personen bereitet auch das Schreiben von Bewerbungen grosse<br />
Mühe. Schlechte Computerkenntnisse und ein fehlender Computer<br />
wiederum erschweren die Arbeits- und Wohnungssuche<br />
massiv.<br />
Migranten mit Sprachschwierigkeiten sind für die gegenseitige<br />
Verständigung zudem oft auf Personen angewiesen, die bei<br />
Behördenkontakten dolmetschen. Im Alltagsleben übernehmen<br />
häufig die Kinder diese Aufgabe, was zu ungesunden Rollenumkehrungen<br />
führt. So wird jeder Umgang mit Behörden oder<br />
Schulen umständlich und jedes Beratungs- oder Bewerbungsgespräch,<br />
die Wohnungssuche und so weiter sind mit grossem Aufwand<br />
verbunden.<br />
Zum Erwerb von Grundkompetenzen braucht es ein langfristiges<br />
Engagement. <br />
Bild: Keystone<br />
Problemfeld Schlüsselkompetenzen<br />
Vor allem bei jungen Sozialhilfebeziehenden steht tendenziell häufiger<br />
die Problematik von fehlenden Schlüsselkompetenzen im<br />
Vordergrund: Kein Verständnis fürs Lernen (im Sinn von: Lernen<br />
ist sinnvoll), für Pünktlichkeit und Genauigkeit, wenig Durchhaltewillen<br />
und wenig Frustrationstoleranz sowie Schwierigkeiten, sich<br />
einordnen, organisieren oder eine bestimmte Situation reflektie-<br />
24 ZeSo 3/15 SCHWERPUNKT
grundkompetenzen<br />
ren zu können. Dass diese Problematiken oft schon in der Schulzeit<br />
ein Thema sind, wirkt sich negativ auf Anschlusslösungen aus.<br />
Immerhin geht einigen Jugendlichen noch «der Knopf auf» und<br />
sie starten verspätet eine Erstausbildung, während der sie mit<br />
Sozialhilfe unterstützt werden.<br />
Eine Schlüsselkompetenz im weitergefassten Sinn ist die Fähigkeit,<br />
soziale Kontakte zu pflegen und mit anderen Menschen<br />
umgehen zu können. Ist sie nicht vorhanden, kann in schwierigen<br />
Situationen keine Hilfestellung durch ein eigenes Netz beansprucht<br />
werden. Sozialhilfebeziehende verfügen tendenziell über<br />
kleine Netzwerke. Da vielen oft die Ideen fehlen, wie Kontakte<br />
oder Aktivitäten auch mit wenig Geld gepflegt werden können,<br />
nimmt ihre Isolation noch zu. Ein nicht adäquater Umgang mit<br />
anderen Menschen erschwert die Integration in den Arbeitsmarkt<br />
oder führt wieder zu Stellenverlusten. Und ebenfalls wichtig ist<br />
das Verfügen über lebenspraktische Kompetenzen. Dies betrifft<br />
insbesondere den Umgang mit Geld, etwa dessen Einteilung und<br />
das Bezahlen von Rechnungen. Fehlen Wohnkompetenzen, kann<br />
dies zum Wohnungsverlust führen. Auch die Körperpflege oder<br />
Kochen sind wichtige lebenspraktische Kompetenzen. Immer wieder<br />
fällt auf, dass sich Sozialhilfebeziehende schlecht und einseitig<br />
ernähren.<br />
In Bezug auf zur Verfügung stehende Fördermöglichkeiten gibt<br />
es grosse Unterschiede, je nach Gemeinde, politischer Konstellation<br />
und örtlichem Spardruck. Auf unserer Stelle sind die Bedingungen<br />
gut. Wenn eine Förderung in einem bestimmten Bereich<br />
von den Sozialarbeitenden als sinnvoll betrachtet wird und sich<br />
gut begründen lässt, können die vorhandenen Möglichkeiten in<br />
der Regel genutzt werden. Dazu steht in unserer Region auch eine<br />
gute Auswahl von Förderangeboten zur Verfügung. Doch damit<br />
allein lassen sich die wenigsten Probleme lösen. Einerseits hat es<br />
die Sozialhilfe meist mit denjenigen Personen zu tun, bei denen<br />
eine Kumulation von Problemlagen vorhanden ist und die somit<br />
auch schwerer integrierbar sind. Andererseits sind viele Kurse<br />
Nachhaltige Begleitungen<br />
sind leider kaum<br />
finanzierbar. Sie werden<br />
allenfalls durch Freiwillige<br />
geleistet.<br />
ohne regelmässige Kontakte und ohne konkrete Übungs- und<br />
Anwendungsmöglichkeiten nicht allzu nachhaltig. Einzelne Kursbesucher<br />
kommen beispielsweise trotz Sprachkurs nicht über den<br />
absoluten Grundwortschatz hinaus. Um mehr Nachhaltigkeit zu<br />
erreichen, bräuchte es mehr Leute, die mit den Sozialhilfebeziehenden<br />
regelmässig üben oder die mit ihnen nicht nur Bewerbungen<br />
schreiben, sondern diese auch im Zusammenhang auswerten<br />
und besprechen. Solche Begleitungen sind leider kaum<br />
finanzierbar. Sie werden allenfalls durch Freiwillige geleistet.<br />
Am wichtigsten und erfolgversprechendsten für die Integration<br />
in den Arbeitsmarkt im Sinne von «Stützkursen» sind Praktikumsstellen<br />
im ersten Arbeitsmarkt. Dort werden Schlüsselkompetenzen<br />
geübt, Kontakte geknüpft und es kann Deutsch gesprochen<br />
werden. Dies fördert insbesondere wiederum das Selbstvertrauen<br />
in die eigenen Fähigkeiten der Teilnehmenden. Allerdings setzen<br />
auch die IV und die RAV auf diese Strategie – die Nachfrage übersteigt<br />
somit das Angebot. Die Akquisition und Begleitung solcher<br />
Praktika benötigt viel Zeit.<br />
Fazit<br />
Die grösste Schwierigkeit bei mangelnden Grundkompetenzen<br />
besteht gerade darin, dass es eben Grund-Kompetenzen sind, die<br />
fehlen. Diese lassen sich selten in zeitlich beschränkten Kursen<br />
vermitteln. Bedenkt man, wie viele Jahre die Schulausbildung und<br />
die Sozialisation in der Schweiz in Anspruch nehmen, müssen die<br />
Erwartungen in die Wirkung solcher Kurse relativiert werden. Förderkurse<br />
für Grundkompetenzen können in einigen Fällen hilfreich<br />
sein oder einen Anstoss geben. Das Vorhandensein dieser Angebote<br />
ist durchaus wichtig! Am wichtigsten jedoch ist die<br />
Möglichkeit, dass Sozialarbeitende die Klientinnen und Klienten<br />
intensiver begleiten können. Dazu gehören die sorgfältige Auswahl<br />
der Kurse und deren Organisation, teilweise Begleitungen zu Erstgesprächen,<br />
Rücksprachen mit Anbietern, allenfalls sogar die<br />
Akquisition von Praktikums- oder Trainingsplätzen. Und insbesondere<br />
die stetige Motivation und Ermutigung der Sozialhilfebeziehenden,<br />
die Angebote zu nutzen, Gelerntes anzuwenden und<br />
sich zu vernetzen. Ebenfalls dazu gehört etwas Nachdruck und das<br />
Auswerten oder die Anpassung einer nicht gelungenen Strategie.<br />
Dies bedingt eine dafür angemessene Anzahl der Fälle pro Sozialarbeitende,<br />
die mit der aktuellen Auslastung oft nur sehr oberflächlich<br />
mit ihren Klienten arbeiten können.<br />
•<br />
Anna Fliedner<br />
Sozialarbeiterin<br />
Soziale Beratungsdienste Horw<br />
Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe<br />
unterstützen sich gegenseitig<br />
Sozialdienste und RAV sollen bei der arbeitsmarktlichen Beratung und der Stellenvermittlung enger<br />
zusammenarbeiten und mit ihren Kernkompetenzen zur Optimierung des Integrationsprozesses von<br />
Erwerbslosen beitragen. Das Seco fördert diese Zusammenarbeit mit einem Leitfaden.<br />
Die Arbeitslosenversicherung (ALV) und<br />
die Sozialhilfe verfolgen ein gemeinsames<br />
Ziel – die Integration der Stellensuchenden<br />
in den Arbeitsmarkt. Sie tun dies mit<br />
ihren eigenen Ansätzen, Massnahmen und<br />
Zielsetzungen: Die ALV stellt einen angemessenen<br />
Ersatz bei Erwerbsausfall sicher<br />
und bekämpft die bestehende Arbeitslosigkeit<br />
durch eine möglichst rasche und dauerhafte<br />
Wiedereingliederung. Die Sozialhilfe<br />
sichert die Existenz bedürftiger<br />
Personen, fördert ihre wirtschaftliche und<br />
persönliche Selbstständigkeit und strebt<br />
im Rahmen der sozialen Integration auch<br />
eine berufliche an.<br />
Die heutige Klientenstruktur der regionalen<br />
Arbeitsvermittlungszentren (RAV)<br />
und der Sozialdienste zwingt sie dazu, Arbeitsmarkt-<br />
und Sozialberatung gleichzeitig<br />
anzubieten. Die vom Staatssekretariat für<br />
Wirtschaft Seco in Auftrag gegebene Studie<br />
«Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe:<br />
Zusammenarbeit bei der Arbeitsvermittlung»<br />
(KEK-CDC Consultants, Mai 2010)<br />
hat aufgezeigt, dass beide Institutionen<br />
Kernkompetenzen respektive komparative<br />
Vorteile besitzen, die der Partnerinstitution<br />
nützlich sein können: Kernkompetenz<br />
des RAV ist die arbeitsmarktliche Beratung<br />
und Vermittlung, Kernkompetenz<br />
des Sozialdienstes ist die umfassende<br />
Sozialberatung. Der Austausch dieser Kernkompetenzen<br />
(sogenannter Leistungsaustausch)<br />
zwischen RAV und Sozialdiensten<br />
soll sinnvollerweise gefördert werden. Vor<br />
diesem Hintergrund führt das Seco seit<br />
2010 ein Projekt zur verbesserten Zusammenarbeit<br />
zwischen der ALV und der<br />
Sozialhilfe durch, das auf drei Zielsetzungen<br />
fokussiert: die rasche und<br />
nachhaltige Integration der Stellensuchenden<br />
in den ersten Arbeitsmarkt,<br />
die konsequente Nutzung von komparativen<br />
Vorteilen der beteiligten Institutionen<br />
und die transparente und zielgerichtete<br />
Steuerung der Beratungs- und<br />
Vermittlungsaktivitäten für alle arbeitsmarktfähigen<br />
Stellensuchenden in den<br />
RAV. Weiter werden gemeinsam mit<br />
Kantonen konkrete Kooperationsmodelle<br />
erprobt, die den Leistungsaustausch zwischen<br />
RAV und Sozialdienst sowie eine gemeinsame,<br />
zielgruppenspezifische Strategie<br />
ins Zentrum stellen (siehe auch S. 28f).<br />
Die Ermittlung der<br />
Arbeitsmarktfähigkeit<br />
erlaubt es, das Angebot<br />
dem Bedarf der<br />
Person anzupassen.<br />
Arbeitsmarktfähigkeit als Kriterium<br />
Eine enge Zusammenarbeit von öffentlicher<br />
Arbeitsvermittlung und öffentlichen<br />
Sozialdiensten setzt voraus, dass Einigkeit<br />
in Bezug auf das Integrationspotenzial der<br />
betreuten Personen besteht. Dies bedingt,<br />
dass die Ermittlung der Arbeitsmarktfähigkeit<br />
beziehungsweise von sozialen<br />
Problemlagen der Stellensuchenden von<br />
den beteiligten Institutionen gemeinsam<br />
getragen und durch einen gemeinsamen<br />
Kriterienkatalog operationalisiert wird.<br />
Der Begriff der Arbeitsmarktfähigkeit<br />
dient bei dieser Betrachtungsweise als ein<br />
Entscheidungskriterium für die Angebotssteuerung:<br />
Die Ermittlung der Arbeitsmarktfähigkeit<br />
einer stellensuchenden<br />
Person erlaubt es, das Angebot dem Bedarf<br />
der Person anzupassen und eine entsprechende<br />
Beratungs- und Wiedereingliederungsstrategie<br />
festzulegen. Eine für<br />
Sozialhilfe und ALV gemeinsame Zielgruppe<br />
ermöglicht eine ziel- beziehungsweise<br />
bedürfnisorientiertere Betreuung<br />
von arbeitsmarktfähigen Sozialhilfebezügern<br />
einerseits und Bezügern von Arbeitslosenentschädigung<br />
mit hohem Langzeitarbeitslosigkeitsrisiko<br />
andererseits.<br />
In der konkreten Praxis der Zusammenarbeit<br />
bieten beide Institutionen unabhängig<br />
von der Systemherkunft der Klienten<br />
ihre Kernkompetenzen an. Sobald die Zielgruppenzugehörigkeit<br />
erkannt ist, soll ein<br />
Leistungsaustausch zwischen den beiden<br />
Institutionen erfolgen. Eine interdisziplinäre<br />
Arbeitsgruppe «Arbeitsmarktfähigkeit»<br />
hat dazu die Merkmale definiert, die<br />
zur Ermittlung der Arbeitsmarktfähigkeit<br />
relevant sind. Ziel der Arbeitsgruppe war<br />
es, eine breit abgestützte Liste potenzieller<br />
Einflussfaktoren zu erstellen – ohne Anspruch<br />
auf einen definitiven und abschliessenden<br />
Merkmalskatalog. Die Liste wurde<br />
den Partnerinstitutionen als Arbeitsinstrument<br />
zur Verfügung gestellt. Der Bericht<br />
ist erhältlich unter www.iiz.ch.<br />
Komparative Vorteile nutzen<br />
Der Leistungsaustausch dient der Optimierung<br />
des Integrationsprozesses von<br />
Langzeiterwerbslosen. Einerseits sollen die<br />
Sozialdienste bei der arbeitsmarktlichen<br />
Beratung und der Stellenvermittlung vermehrt<br />
eng mit den RAV zusammenarbeiten.<br />
Andererseits ist es sinnvoll, wenn die<br />
RAV-Personalberatenden bei sich abzeichnender<br />
Langzeitarbeitslosigkeit bereits vor<br />
einer Aussteuerung die enge Kooperation<br />
mit den Sozialdiensten suchen, sobald absehbar<br />
ist, dass Sozialhilfeunterstützung<br />
im konkreten Fall notwendig sein wird.<br />
Eine zweite Arbeitsgruppe «Finanzierungsmodell<br />
öffentliche Arbeitsvermittlung<br />
und Sozialhilfe» wurde beauftragt, die<br />
Frage nach der jeweiligen Entschädigung<br />
der erbrachten Leistungen zu klären. Dazu<br />
hat das Seco im Jahr 2014 die RAV-Dienstleistungen<br />
für Stellensuchende gemäss<br />
dem Arbeitsvermittlungsgesetz (AVG)<br />
und dem Arbeitslosenversicherungsgesetz<br />
(AVIG) überprüft und in einem Leistungskatalog<br />
festgehalten. Gleichzeitig hat die<br />
26 ZeSo 3/15 INTERINSTITUTIONELLE ZUSAMMENARBEIT
Abklärungsgespräch zur Arbeitsmarktfähigkeit im RAV: Sobald eine übergreifende Zielgruppenzugehörigkeit beim Klienten erkannt wird, soll ein Leistungsaustausch<br />
zwischen RAV und Sozialdienst erfolgen.<br />
Bild: Seco<br />
Sozialdirektorenkonferenz (SODK) – trotz<br />
unterschiedlichen kantonalen Gesetzgebungen<br />
– erstmals einen entsprechenden<br />
Dienstleistungskatalog für die Sozialhilfe<br />
erstellt. Auf dieser Basis hat die Arbeitsgruppe<br />
beschlossen, dass sämtliche Beratungs-<br />
und Vermittlungsangebote der<br />
öffentlichen Arbeitsvermittlung den Stellensuchenden<br />
der Sozialhilfe unentgeltlich<br />
zur Verfügung stehen und dass umgekehrt<br />
sämtliche Beratungs- und Informationsangebote<br />
der Sozialhilfe den Stellensuchenden<br />
der öffentlichen Arbeitsvermittlung<br />
unentgeltlich zur Verfügung stehen. Dabei<br />
gilt der Grundsatz, dass Dienstleistungen,<br />
die die Institutionen gemäss ihrem gesetzlichen<br />
Auftrag unentgeltlich erbringen<br />
müssen, dem Kooperationspartner ohne<br />
finanzielle Abgeltung angeboten werden<br />
müssen. Der Bericht dieser Arbeitsgruppe<br />
wird im Herbst <strong>2015</strong> publiziert.<br />
Vereinbarung zur Zusammenarbeit<br />
Eine dritte Arbeitsgruppe war beauftragt,<br />
die Voraussetzungen für eine effiziente<br />
Zusammenarbeit zu regeln. Die Zusammenarbeit<br />
zwischen der ALV und den<br />
jeweiligen Sozialdiensten auf kantonaler,<br />
regionaler und kommunaler Ebene beruht<br />
häufig auf einer freiwilligen Zusammenarbeit.<br />
Mehr Verbindlichkeit und Transparenz<br />
in der Zusammenarbeit ist deshalb<br />
notwendig. Damit einher geht auch die Erwartung<br />
nach zielgruppenspezifischen,<br />
administrativ schlanken und effizienten<br />
Abläufen für die rasche und dauerhafte<br />
Wiedereingliederung erwerbsloser Personen.<br />
Die Arbeitsgruppe hat einen Leitfaden<br />
zur Optimierung der Zusammenarbeit<br />
zwischen dem RAV und dem Sozialdienst<br />
erstellt. Der Leitfaden definiert die<br />
Mindeststandards, die für ein koordiniertes<br />
Vorgehen und für eine umfassende berufliche<br />
und arbeitsmarktliche Eingliederung<br />
nötig sind. Ziel ist es letztlich,<br />
Taggeldzahlungen zu verkürzen und vorhandene<br />
Arbeitsmarktpotenziale auszuschöpfen.<br />
Der Bericht der Arbeitsgruppe<br />
wird ebenfalls im Herbst <strong>2015</strong> auf der<br />
Website www.iiz.ch abrufbar sein.<br />
Formen der Zusammenarbeit eruieren<br />
In vielen Kantonen existieren bereits Kooperationen<br />
oder feste Einrichtungen, mit<br />
denen die Zusammenarbeit zwischen RAV<br />
und Sozialdienst auf Kantonsebene geregelt<br />
und gelebt wird. Mehrere dieser Kooperationsvorhaben<br />
werden im Rahmen<br />
des Seco-Projekts eng begleitet und evaluiert,<br />
um herauszufinden, ob durch eine intensivere<br />
und optimierte Zusammenarbeit<br />
zwischen ALV und Sozialhilfe eine raschere<br />
und nachhaltigere Integration von allen<br />
arbeitsmarktfähigen Stellensuchenden in<br />
den ersten Arbeitsmarkt möglich ist.<br />
Weiter soll geklärt werden, ob dies längerfristig<br />
zu Kostenersparnissen führt und<br />
welches Kooperationsmodell unter welchen<br />
Bedingungen am wirksamsten ist.<br />
Dieser für das Gesamtprojekt wichtige<br />
Best-Practice-Ansatz ermöglicht Rückschlüsse<br />
auf gesamtwirtschaftlich optimale<br />
Integrationsstrategien.<br />
•<br />
Mira Schär<br />
Ressort Markt und Integration<br />
Staatssekretariat für Wirtschaft Seco<br />
INTERINSTITUTIONELLE ZUSAMMENARBEIT 3/15 ZeSo<br />
27
Die Betreuung durch Tandems führt zu<br />
effizienteren Lösungen<br />
Im Kanton Wallis wurde die Zusammenarbeit zwischen der ALV und der Sozialhilfe institutionalisiert.<br />
Eine intensive und zeitlich beschränkte Betreuung durch Fachpersonen beider Institutionen erhöht<br />
die Wahrscheinlichkeit, dass Klientinnen und Klienten wieder dauerhaft in den ersten Arbeitsmarkt<br />
integriert werden können.<br />
Im Jahr 2014 wurden im Kanton Wallis<br />
1500 Arbeitslose ausgesteuert. Zwischen<br />
15 bis 30 Prozent der Betroffenen waren<br />
in der Folge auf Sozialhilfe angewiesen<br />
und wurden durch die zuständigen Sozialdienste<br />
betreut. Vom Standpunkt der Sozialhilfe<br />
aus betrachtet ist rund die Hälfte aller<br />
Sozialhilfebeziehenden arbeitsmarktfähig<br />
und kann folglich Massnahmen zur Wiedereingliederung<br />
in den Arbeitsmarkt in<br />
Anspruch nehmen. Die beiden Personengruppen<br />
ausgesteuerte Arbeitslose und<br />
arbeitsmarktfähige Sozialhilfebeziehende<br />
werden also von zwei öffentlichen Einrichtungen<br />
unterstützt und auf dem Weg<br />
zurück ins Erwerbsleben begleitet: von der<br />
regionalen Arbeitsvermittlung (RAV) und<br />
der Sozialhilfe respektive den sozialmedizinischen<br />
Zentren (SMZ).<br />
Die RAV und die SMZ arbeiten im<br />
Kanton Wallis seit über zehn Jahren zusammen.<br />
In der Region Sion begann<br />
2009 ein Pilotprojekt, das eine verstärkte<br />
Zusammenarbeit zwischen den beiden<br />
Einrichtungen bei der Wiedereingliederung<br />
der Klienten in den Arbeitsmarkt<br />
zum Ziel hat. Dafür wurden institutionsübergreifende<br />
Tandems aus je einer in der<br />
RAV-Personalberatung und einer in der<br />
Sozialhilfe tätigen Fachperson gebildet.<br />
Das Zielpublikum dieser «IIZ-Tandems»<br />
sind Personen in komplexen Situationen,<br />
die ausgesteuert sind oder in weniger als<br />
drei Monaten ausgesteuert werden sowie<br />
arbeitsmarktfähige Sozialhilfeempfänger<br />
und -empfängerinnen. Von einer komplexen<br />
Situation wird in diesem Zusammenhang<br />
gesprochen, wenn mehrere<br />
Problemfelder vorliegen – physische oder<br />
psychische Beeinträchtigungen, finanzielle<br />
Schwierigkeiten, schwierige Familienverhältnisse<br />
oder Suchtprobleme – und<br />
eine Priorisierung der Begleitmassnahmen<br />
schwierig ist.<br />
Eine Beratung und Begleitung im Tandem erleichtert die Suche nach geeigneten Lösungen.<br />
Bild: Keystone<br />
Fallbeispiel<br />
Sara (Name geändert) ist 25 Jahre alt,<br />
Mutter eines zweijährigen Kindes und<br />
frisch geschieden. Das Verhältnis zu ihrem<br />
Ex-Mann ist angespannt. Da der Ex-Mann<br />
keinen Unterhalt bezahlt und Saras eigene<br />
Familie ihr finanziell nicht unter die Arme<br />
greifen kann – die Mutter bezieht seit<br />
mehreren Jahren eine IV-Rente und zum<br />
Vater hat Sara seit einem Zerwürfnis keinen<br />
Kontakt mehr – bleibt Sara nur der<br />
Gang aufs Sozialamt. Damit sie Arbeitslosenunterstützung<br />
erhält, hat sie sich<br />
zudem beim RAV als arbeitslos gemeldet.<br />
Eigentlich möchte sie so schnell wie möglich<br />
wieder einer Beschäftigung nachgehen.<br />
Sie besitzt ein eidgenössisches Fähigkeitszeugnis<br />
als Detailhandelsfachfrau,<br />
aber sie hat nach der Lehre keine Berufserfahrung<br />
gesammelt.<br />
Nach einer gemeinsam vom RAV und<br />
dem zuständigen Sozialdienst durchgeführten<br />
Analyse kann Sara eine Begleitung<br />
durch ein IIZ-Tandem in Anspruch nehmen.<br />
Im Rahmen dieser interinstitutionellen<br />
Zusammenarbeit wird sie intensiv<br />
gecoacht. Ein vom IIZ-Tandem organisiertes,<br />
dreimonatiges Praktikum in einem<br />
Einkaufszentrum soll Saras Arbeitsmarktfähigkeit<br />
überprüfen und ihr Gelegenheit<br />
bieten, Berufserfahrung zu sammeln. Obwohl<br />
sich Sara von Anfang an bei ihren<br />
beiden Begleitpersonen gut aufgehoben<br />
fühlt, bricht sie das Praktikum nach weni-<br />
28 ZeSo 3/15 INTERINSTITUTIONELLE ZUSAMMENARBEIT
gen Tagen aus gesundheitlichen Gründen<br />
ab. Nach der Genesung folgen weitere<br />
Praktika, die sie allesamt wieder abbricht<br />
– angeblich aus gesundheitlichen Gründen.<br />
Ein entsprechendes Arztzeugnis kann<br />
sie allerdings nicht vorlegen. Schliesslich<br />
sprechen die beiden Begleitpersonen Sara<br />
auf ihr Verhalten an und konfrontieren sie<br />
mit den Folgen, die ihr Verhalten nach sich<br />
ziehen wird, wenn sie daran nichts ändert.<br />
Nach dieser Aussprache organisiert das<br />
Tandem für Sara ein weiteres Praktikum<br />
im Verkauf. Die Arbeit gefällt Sara, und<br />
auch ihr Arbeitgeber ist mit ihrer Leistung<br />
zufrieden, so dass das Praktikum in eine<br />
Anstellung, die mit Einarbeitungszuschüssen<br />
unterstützt wird, umgewandelt werden<br />
kann. Die mit neuem Selbstvertrauen gewappnete<br />
junge Frau beschliesst darauf,<br />
auch noch den Führerschein in Angriff<br />
zu nehmen, denn sie wohnt in einem<br />
Dorf mit schlechter ÖV-Anbindung. Dank<br />
Führerschein kann sie ihr Berufs- und ihr<br />
Familienleben fortan besser miteinander<br />
vereinbaren. Im Geschäft, in dem sie ihr<br />
Praktikum absolviert hat, arbeitet Sara<br />
noch heute.<br />
Erfolgskriterien<br />
Der Erfolg eines solchen IIZ-Coachings basiert<br />
auf folgenden Faktoren:<br />
• Freiwillige Teilnahme. Die begünstigte<br />
Person muss der Überweisung an die<br />
IIZ in einer Vereinbarung zustimmen.<br />
• Intensive und persönliche Betreuung.<br />
Über einen Zeitraum von maximal<br />
neun Monaten finden mindestens zwei<br />
Beratungsgespräche pro Monat statt.<br />
Die Dauer der Begleitung richtet sich<br />
nach den spezifischen Bedürfnissen der<br />
Klienten. Auch wenn sich die Wiedereingliederung<br />
schwierig gestaltet, wird<br />
ein klarer Zeitrahmen definiert, in dem<br />
die Klienten und die sie betreuenden<br />
Fachpersonen ihre Ziele und Prioritäten<br />
umsetzen müssen.<br />
• Die Kompetenzen der Tandem-Begleitpersonen<br />
ergänzen sich. Im Tandem<br />
arbeiten zwei Fachpersonen miteinander,<br />
von denen die eine spezifisches<br />
Know-how im Bereich der Stellenvermittlung<br />
und die andere spezifische<br />
Kompetenzen aus der Sozialhilfeberatung<br />
mitbringt. Dies erlaubt, die Situation<br />
der Klienten aus einer <strong>ganz</strong>heitlichen<br />
Perspektive zu betrachten, und<br />
es erleichtert die Suche nach geeigneten<br />
Lösungen. Wenn soziale und berufliche<br />
Aspekte gleichermassen berücksichtigt<br />
werden, sorgt dies generell für ein effizienteres<br />
Vorgehen.<br />
• Bereitstellung der notwendigen Personalressourcen.<br />
Den Begleitpersonen<br />
muss genügend Zeit zur Verfügung<br />
stehen, damit sie ihre Klientinnen und<br />
Klienten in der beschriebenen Art und<br />
Weise bei der beruflichen Wiedereingliederung<br />
begleiten können. Die<br />
Finanzierung des Tandem-Personals erfolgt<br />
bei der Sozialhilfe über das Budget<br />
für Wiedereingliederungsmassnahmen<br />
und bei der ALV über das ordentliche<br />
RAV-Budget.<br />
• Die ständige Konfrontation der Teilnehmenden<br />
mit den Realitäten des Arbeitsmarkts<br />
gibt Aufschluss darüber, wo die<br />
Betroffenen im Wiedereingliederungsprozess<br />
stehen.<br />
• Der Eingliederungsprozess kann auch<br />
unterbrochen werden, damit neue Ziele<br />
festgelegt werden können.<br />
Schrittweise auf den <strong>ganz</strong>en Kanton<br />
ausgeweitet<br />
Das intensive Coaching im Tandem hat<br />
sich als so erfolgreich erwiesen, dass das<br />
Konzept schrittweise auf den <strong>ganz</strong>en Kanton<br />
Wallis ausgeweitet wurde. Bisher konnten<br />
109 Personen von Tandem-Begleitungen<br />
profitieren, wovon 39 Personen dank<br />
der intensiven Betreuung dauerhaft in den<br />
ersten Arbeitsmarkt eingegliedert werden<br />
konnten. Das entspricht – die noch hängigen<br />
Dossiers nicht miteingerechnet – einer<br />
Wiedereingliederungsquote von 46 Prozent.<br />
Die an der Tandembetreuung beteiligten<br />
Fachpersonen schätzen ihrerseits,<br />
dass sie die Probleme, mit denen sie konfrontiert<br />
werden, durch den gemeinsamen<br />
Ansatz und die enge Zusammenarbeit eher<br />
entschärfen können.<br />
Ausgehend vom beschriebenen Pilotprojekt<br />
konnte die Zusammenarbeit zwischen<br />
den RAV und den SMZ also erfolgreich<br />
Von einer komplexen<br />
Situation wird gesprochen,<br />
wenn eine<br />
Priorisierung der<br />
Begleitmassnahmen<br />
schwierig ist.<br />
verstärkt werden. Die Zusammenarbeit der<br />
beiden Systeme wird mit einer Richtlinie<br />
geregelt, die die folgenden Ziele anstrebt:<br />
• Die Verbesserung der Schnittstelle zwischen<br />
Sozialhilfe und RAV. Die Übergänge<br />
sollen fliessend, transparent und<br />
für das Zielpublikum verbindlich sein.<br />
• Ein Präventionsdispositif zur Früherkennung<br />
potenziell gefährlicher Situationen<br />
und als Basis für rasche gemeinsame Interventionen.<br />
Damit soll verhindert werden,<br />
dass Klienten je nach begleitender Institution<br />
unterschiedlich betreut werden.<br />
• Die Etablierung von Grundsätzen zur<br />
Finanzierung der für die Begünstigten<br />
vorgesehenen Massnahmen durch die<br />
eine oder andere Einrichtung. •<br />
Anne Beney Confortola<br />
IIZ-Beauftragte Kanton Wallis<br />
Aurélia Bétrisey<br />
wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />
INTERINSTITUTIONELLE ZUSAMMENARBEIT 3/15 ZeSo<br />
29
Zweitausend Ideen für die<br />
gemeinsame Zeit<br />
Das Caritas-Projekt «mit mir» vermittelt Kindern aus finanziell oder sozial belasteten Familien eine Patin<br />
oder einen Paten. Dass dabei Beziehungen entstehen können, die für beide Seiten bereichernd sind, zeigt<br />
ein Besuch bei Mariann Bahr und ihrem Patenmädchen Beatriz.<br />
An einem grossen Küchentisch in einer<br />
Luzerner Altbauwohnung sitzt die neunjährige<br />
Beatriz und schneidet ein Stück<br />
Stoff zu. «Das wird eine Bettdecke für meine<br />
Puppe», erklärt sie ihrer Patin. Mariann<br />
Bahr sitzt neben dem quirligen Mädchen,<br />
reicht ihr Stecknadeln und ein weiteres<br />
Stück Stoff. «Eine zweite Lage macht die<br />
Decke wärmer», sagt Bahr. Beatriz lacht auf,<br />
ihr gefällt die Idee. Sie steckt die Stoffteile<br />
zusammen und beginnt mit dem Nähen.<br />
Wenn man den beiden zuschaut, käme<br />
man nicht auf die Idee, dass sie sich noch<br />
gar nicht so lange kennen. Eineinhalb Jahre<br />
ist es her, seit Mariann Bahr die Patenschaft<br />
für Beatriz übernommen hat. Als<br />
die vife Frau pensioniert wurde, war für sie<br />
klar, dass sie die neugewonnene Zeit auch<br />
für ein freiwilliges Engagement nutzen<br />
wollte, vorzugsweise für eines mit Kindern.<br />
«Ich mag Kinder einfach», erklärt sie, die<br />
selber keine Kinder hat, jedoch in ihrem<br />
Beruf als Ergotherapeutin immer mit jungen<br />
Menschen zu tun hatte.<br />
Das Caritas-Projekt «mit mir» sprach<br />
Mariann Bahr an. Es vermittelt Kindern<br />
im Alter von drei bis zwölf Jahren aus sozial<br />
und finanziell schwierigen Verhältnissen<br />
eine Patin oder einen Paten, die mit ihnen<br />
Zeit verbringen. Das Projekt versteht sich<br />
weder als Hausaufgabenhilfe noch als Betreuungsangebot.<br />
Im Zentrum steht der<br />
Aufbau einer Beziehung, die das Kind in<br />
seiner Entwicklung fördern soll. Gleichzeitig<br />
werden auch die Eltern entlastet, die<br />
durch ihre Lebensumstände oft stark gefordert<br />
sind: Es sind etwa Alleinerziehende,<br />
Familien mit niedrigen Einkommen oder<br />
mit einem Migrationshintergrund. Letzteres<br />
ist bei den Eltern von Beatriz der Fall.<br />
Sie kamen vor fünf Jahren von Portugal in<br />
die Schweiz und sprachen kaum Deutsch.<br />
Familiäre Beziehungen bestanden hier keine<br />
und Freundschaften mussten zunächst<br />
aufgebaut werden. So ist Mariann Bahr für<br />
Beatriz eine wichtige Bezugsperson ausserhalb<br />
der Familie geworden. Aber auch<br />
Bahr profitiert von der gemeinsamen Zeit<br />
und freut sich, wenn sie an der Entwicklung<br />
von Beatriz teilhaben darf.<br />
«Ich habe tausend Ideen, was wir unternehmen<br />
können», sagt sie, «und Beatriz hat<br />
noch mal tausend weitere». «Am liebsten<br />
bastle ich», sagt Beatriz. «Velofahren magst<br />
du auch», wirft die Patin ein. «Und wir<br />
waren Schlittschuhlaufen», plaudert das<br />
Mädchen. Als die Rede darauf kommt, wie<br />
Mariann Bahr dabei einmal umgefallen ist,<br />
prustet Beatriz los. Immer wieder necken<br />
sich die beiden. Sie blättern in ihren Tagebüchern,<br />
in denen sie nach jedem Treffen<br />
festhalten, was sie gemacht haben. «Der<br />
Eistee war grauenvoll», steht da an einem<br />
Tag vermerkt. «Der war wirklich eklig», ruft<br />
Beatriz und verzieht bei der Erinnerung an<br />
den auf einem Ausflug getrunkenen Tee<br />
das Gesicht. Und kichert schon wieder los.<br />
Sorgfältige Auswahl der Freiwilligen<br />
Das Projekt «mit mir» (www.mitmir.ch)<br />
wird von sieben Caritas-Regionalstellen angeboten.<br />
«Es entstehen viele freundschaft-<br />
Im Zentrum der Patenschaften steht der<br />
Aufbau einer Beziehung.<br />
Bilder: Annette Boutellier<br />
30 ZeSo 3/15 reportage
liche Beziehungen», erzählt Claudia Wilhelm,<br />
Projektleiterin bei Caritas Luzern.<br />
In Luzern bestehen momentan rund 60<br />
Patenschaften, über 150 wurden bereits<br />
vermittelt. Auf das Angebot aufmerksam<br />
gemacht werden potenziell interessierte<br />
Familien etwa von Kinder- und Jugendberatungsstellen,<br />
Sozialberatungen oder<br />
Schulsozialdiensten. Caritas begleitet die<br />
Patenschaften mit regelmässigen Standortgesprächen<br />
und situativer Unterstützung.<br />
Die Paten nehmen an verbindlichen Weiterbildungen<br />
zu Themen wie Sorgfaltspflicht<br />
und Kindesschutz teil. Mit Erfahrungsaustauschtreffen<br />
und einem gemeinsamen<br />
Sommerfest sollen die Freiwilligen<br />
zudem in ihren Aufgaben gestärkt und ihr<br />
Engagement wertgeschätzt werden. Nach<br />
drei Jahren werden die Patenschaften offiziell<br />
abgelöst. Rund 90 Prozent würden<br />
danach aber privat weitergeführt, sagt<br />
Wilhelm.<br />
Damit überhaupt eine Patenschaft vermittelt<br />
wird, müssen sich die Freiwilligen<br />
auf Herz und Nieren prüfen lassen. Sie werden<br />
in einem persönlichen Gespräch ausführlich<br />
befragt, müssen Referenzen und<br />
einen Strafregisterauszug vorlegen. «Wir<br />
klären die Motivation genau ab: Warum<br />
will jemand eine Patenschaft übernehmen?»,<br />
sagt Wilhelm. Ein entscheidender<br />
Faktor sei auch die vorhandene Zeit. Die<br />
Paten sollten mindestens ein bis zwei Mal<br />
im Monat einen halben oder einen <strong>ganz</strong>en<br />
Tag mit dem Kind verbringen. Auch nach<br />
ihrem Lebensumfeld werden die potenziellen<br />
Paten genau befragt. «Der Lebenspartner<br />
oder die WG-Mitbewohnerin muss<br />
damit einverstanden sein, dass künftig<br />
regelmässig ein Patenkind zu Besuch<br />
kommt», sagt Wilhelm und fügt an, dass<br />
weiter auch die Interessen und Fähigkeiten<br />
eine Rolle spielen. «Nur wenn wir wissen,<br />
ob jemand lieber ein Feuer im Wald macht<br />
oder einen Kuchen bäckt, können wir die<br />
Patenschaften sinnvoll zusammensetzen».<br />
Caritas Luzern setzt auf ein Vermittlermodell:<br />
Für jede Patenschaft ist jemand<br />
zuständig, der oder die sowohl für Paten<br />
wie für die Familie des Kindes Ansprechperson<br />
ist und sie bei Problemen oder Missverständnissen<br />
unterstützt. Ein guter Kontakt<br />
zwischen Paten und Familie sei für das<br />
Gelingen der Patenschaft entscheidend,<br />
sagt Wilhelm. Dazu gehört auch, dass die<br />
Paten anfangs die Eltern einmal zu sich<br />
nach Hause einladen, damit diese sehen,<br />
wo sich ihr Kind aufhält.<br />
Die Eltern haben das letzte Wort<br />
Bei Mariann Bahr und Beatriz fragt man<br />
vergeblich nach Schwierigkeiten. Mariann<br />
Bahr betont, dass Beatriz sehr liebevolle<br />
Eltern habe, die sich freuen, wenn es dem<br />
Mädchen gut gehe und sie eine schöne Zeit<br />
verbringt. Bahr legt Wert darauf, dass Beatriz'<br />
Eltern immer informiert sind, was ihre<br />
Tochter mit ihr unternimmt und wo sie<br />
sich aufhalten. «Die Eltern müssen damit<br />
einverstanden sein», sagt sie. Da sie Beatriz<br />
jeweils zu Hause abholt und wieder zurückbringt,<br />
besteht automatisch ein regelmässiger<br />
Kontakt. Darüber hinaus haben<br />
sich die beiden Familien aber auch schon<br />
zum Essen getroffen oder gemeinsam Geburtstag<br />
gefeiert. Für Mariann Bahr ist es<br />
spannend, in eine <strong>ganz</strong> andere Familie und<br />
Lebensumstände hineinzusehen.<br />
Inzwischen locken die Sonnenstrahlen<br />
durch das Küchenfenster. Beatriz und Mariann<br />
Bahr gehen in den Garten. Es steht<br />
noch Federball und Frisbee spielen auf<br />
dem Programm. Beatriz hat eine Heidenfreude,<br />
als die Frisbee-Scheibe versehentlich<br />
in den Nachbarsgarten fliegt. Über<br />
den Zaun hangelnd, will sie ihn zurückzuholen.<br />
Es gelingt nicht <strong>ganz</strong>, Mariann Bahr<br />
kommt zu Hilfe. Derweil feuert Bahrs Partner<br />
den Grill an. Sie wollen noch bräteln<br />
heute Abend. Danach wird Mariann Bahr<br />
Beatriz nach Hause begleiten. Bestimmt<br />
aber nicht, ohne vorher die nächsten Treffen<br />
in den Kalender einzutragen. •<br />
Regine Gerber<br />
reportage 3/15 ZeSo<br />
31
Für Jugendliche ist es frustrierend, wenn sie bereits beim Versuch des Berufseinstiegs von der Arbeitswelt zurückgewiesen werden. <br />
Bild: zvg<br />
Jugendarbeitslosigkeit mit gezielten<br />
Präventivmassnahmen bekämpfen<br />
Die Verringerung von Jugendarbeitslosigkeit gehört auch in der Schweiz zu den wichtigsten<br />
gesellschaftlichen Herausforderungen. Der Verein Check Your Chance koordiniert die Angebote von<br />
Organisationen, die sich für die Berufsintegration von Jugendlichen engagieren.<br />
Arbeitslosigkeit ist eine der Hauptsorgen<br />
der Schweizer Bevölkerung und ein Thema,<br />
das auch die Jugend betrifft. Obwohl<br />
sich die Jugendarbeitslosigkeit in der<br />
Schweiz aktuell auf moderatem Niveau<br />
bewegt, zählt sie zu den wichtigsten gesellschaftlichen<br />
Herausforderungen. Gemäss<br />
PLATTFORM<br />
Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />
diese Rubrik als Plattform an, auf der sie sich<br />
und ihre Tätigkeit vorstellen können: in dieser<br />
Ausgabe dem Verein Check Your Chance.<br />
Staatssekretariat für Wirtschaft Seco waren<br />
im Juni <strong>2015</strong> 15 853 Jugendliche zwischen<br />
15 und 24 Jahren als arbeitslos<br />
registriert, was einer Jugendarbeitslosenquote<br />
von 2,8 Prozent entspricht. Nicht<br />
eingerechnet in diese Quote sind allerdings<br />
jene Jugendlichen, die sich nicht beim RAV<br />
registriert haben, aber dennoch erwerbssuchend<br />
sind. So waren gemäss Bundesamt<br />
für Statistik im Jahr 2014 in der Schweiz –<br />
trotz wirtschaftlich guter Lage – durchschnittlich<br />
54 000 oder 8,6 Prozent der<br />
15- bis 24-Jährigen erwerbssuchend.<br />
Der Berufseinstieg ist eine entscheidende<br />
Weichenstellung für die Zukunft<br />
und kann eine schwierige Hürde im Leben<br />
eines jungen Menschen darstellen. Gelingt<br />
es jungen Erwachsenen trotz persönlicher<br />
Anstrengung nicht, nach einer Berufslehre<br />
oder einem Studienabschluss eine erste Arbeitsstelle<br />
zu finden, kann der Weg in den<br />
einst erlernten oder angestrebten Beruf<br />
dauerhaft versperrt sein.<br />
Von der Initiative zum Dachverein<br />
Negative wirtschaftliche Entwicklungen<br />
treffen junge Erwachsene besonders hart.<br />
Als die offizielle Jugendarbeitslosigkeit<br />
2009 mit 5,4 Prozent einen historischen<br />
Höchststand erreicht hatte, lancierte die<br />
32 ZeSo 3/15 plattform
Bank Credit Suisse die Initiative «Gemeinsam<br />
gegen die Jugendarbeitslosigkeit».<br />
Während der folgenden fünf Jahre unterstützte<br />
sie verschiedene nicht-staatliche<br />
Programme und Netzwerke, die gefährdeten<br />
Jugendlichen in der sensiblen Phase<br />
des Berufseinstiegs Unterstützung und<br />
Betreuung anbieten. Zwischen Januar<br />
2010 und Dezember 2014 sind über<br />
8300 Jugendliche in eines der Programme<br />
eingetreten. Im selben Zeitraum konnten<br />
über 4300 junge Erwachsene beim<br />
Programmaustritt eine feste oder temporäre<br />
Anstellung vorweisen. Und mehr als<br />
tausend Teilnehmende verliessen die Programme<br />
mit einer Anschlusslösung in<br />
Form einer Aus- oder Weiterbildungsvereinbarung.<br />
Mit dieser Erfolgsquote von<br />
rund 70 Prozent und jährlichen Kosten<br />
zwischen 2000 und 4000 Franken pro<br />
Teilnehmer erreichen die Organisationen<br />
eine hohe Kosteneffizienz.<br />
Nach der fünf Jahre dauernden Anstossfinanzierung<br />
durch die Credit Suisse<br />
wurde 2014 der Dachverein Check Your<br />
Chance gegründet, damit die Programme,<br />
die sich als effizient und wirkungsvoll erwiesen<br />
haben, dauerhaft erhalten bleiben.<br />
Check Your Chance versteht sich als offene<br />
und gemeinnützige Plattform, bei der aktuell<br />
die Stiftung Die Chance (Betreuung<br />
vom Schul- bis zum Lehrabschluss), Pro<br />
Juventute (Programm MyFutureJob), das<br />
Netzwerk LBV (Betreuung während der<br />
EBA Ausbildung und beim Berufseinstieg),<br />
das Schweizerische Arbeiterhilfswerk<br />
SAH (Programm CT2), die Stiftung<br />
IPT (Programm Jeunes@Work) und die<br />
Tessiner Fondazione youLabor (Programm<br />
Career Startup) Mitglied sind. Präsidiert<br />
wird der Dachverein von Valentin Vogt,<br />
der auch Präsident des Schweizerischen<br />
Arbeitgeberverbandes ist.<br />
Die Ziele von Check Your Chance<br />
Das prioritäre Ziel von Check Your Chance<br />
ist es, einen Beitrag zur Verringerung der<br />
Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz zu<br />
leisten. Die Mitgliedorganisationen sind –<br />
mit Unterstützung des Seco – mit ihren<br />
Programmen gezielt auch präventiv tätig.<br />
Der Verein unterstützt sie dabei, ein effizientes<br />
Fundraising zu betreiben und eine<br />
breite finanzielle Trägerschaft zu etablieren.<br />
Denn die Verhinderung von drohender<br />
Arbeitslosigkeit über massgeschneiderte<br />
Programme kommt die Gesellschaft<br />
langfristig bedeutend günstiger, als arbeitslosen<br />
Jugendlichen später mit grossen<br />
Mühen und entsprechenden Folgekosten<br />
zu helfen, wieder Tritt zu fassen. Von besonderer<br />
Bedeutung ist auch, dass sich die<br />
jungen Leute während der Teilnahme an<br />
den Programmen nicht als arbeitslos registrieren<br />
müssen.<br />
Da sich das konjunkturelle Umfeld<br />
schnell verändern kann, sieht Check Your<br />
Chance eine weitere wichtige Aufgabe<br />
ihrer Tätigkeit darin, eine Grundinfrastruktur<br />
und entsprechendes Know-how zu<br />
sichern, um die wirkungsvollen Programme<br />
zu Gunsten von arbeitslosen Jugendlichen<br />
in schwierigen Zeiten rasch ausweiten zu<br />
können. Als Dachverein koordiniert Check<br />
Your Chance die Angebote und fördert den<br />
gegenseitigen Erfahrungsaustausch und<br />
bewirkt damit Qualitätsverbesserungen<br />
und ein effizientes System.<br />
Frustration verhindern<br />
Jugendarbeitslosigkeit muss mit Nachdruck<br />
verhindert werden. Wenn Jugendliche bereits<br />
beim Berufseinstieg den Eindruck<br />
erhalten, nicht gebraucht zu werden, und<br />
sich von der Arbeitswelt zurückgewiesen<br />
fühlen, ist das für sie frustrierend. Wenn<br />
Jugendliche nur schon einige Monate<br />
nicht mehr in festen Strukturen verankert<br />
sind, besteht die Gefahr, dass sie sich verlieren<br />
und aus der Bahn geraten. Zudem<br />
droht eine Dequalifikation: Berufliche<br />
Fertigkeiten werden ohne tägliche Praxis<br />
und Routine rasch entwertet. Auch Lebensläufe<br />
mit Lücken sind bei Bewerbungen<br />
erklärungsbedürftig und belastend.<br />
Die Mitgliedorganisationen von Check<br />
Your Chance sind langjährige und zuverlässige<br />
Partner in der beruflichen Integration.<br />
Zum Angebot gehören Abklären<br />
der Berufseignung, Entwicklung eines<br />
Berufsprojektes, Vorgehen bei der Stellensuche<br />
und Dossier-Erstellung, Interview-<br />
Check Your Chance ist eine Dachorganisation<br />
zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit<br />
in der Schweiz. Sie vereinigt Non-Profit-<br />
Organisationen in allen Landesteilen, die sich<br />
für die Berufsintegration von Jugendlichen<br />
engagieren. Der 2014 gegründete Dachverein<br />
ist aus der Initiative «Gemeinsam gegen<br />
Arbeitslosigkeit» der Credit Suisse hervorgegangen,<br />
in die die Bank zwischen 2010<br />
und Anfang <strong>2015</strong> rund 30 Millionen Franken<br />
investiert hat. Heute besteht eine Leistungsvereinbarung<br />
mit dem Staatssekretariat für<br />
Wirtschaft Seco, das einen Drittel der Kosten<br />
der präventiven Massnahmen der Check-Your-<br />
Chance-Mitglieder übernimmt, während zwei<br />
Drittel durch private Finanzquellen getragen<br />
werden müssen.<br />
www.check-your-chance.ch<br />
Training, Begleitung im Aufnahmeprozess<br />
von Lernenden, Unterstützung bei<br />
Problemen in der Ausbildung und im<br />
Bewerbungsprozess, Beratung bei der Berufswahl<br />
und zur Aus- und Weiterbildung,<br />
Verhinderung von Lehrabbrüchen sowie<br />
individuelle Betreuung bei zwischenmenschlichen<br />
Problemen am Arbeitsplatz.<br />
Einige der Mitgliedorganisationen arbeiten<br />
bereits auf Einzelmandatsbasis mit<br />
kantonalen Sozialbehörden zusammen.<br />
Die Mitgliedorganisationen von Check<br />
Your Chance stellen sich den Sozialbehörden<br />
gerne vor und freuen sich auf eine<br />
engagierte Zusammenarbeit – gemeinsam<br />
gegen Jugendarbeitslosigkeit! •<br />
Andreas Rupp<br />
Geschäftsführer Check Your Chance<br />
plattform 3/15 ZeSo<br />
33
FORUM<br />
In die Gesellschaft investieren –<br />
Gedanken zur Sozialhilfedebatte<br />
Die emotionale Sozialhilfedebatte der<br />
jüngeren Vergangenheit ist bestimmt<br />
nicht nur dem Umstand geschuldet,<br />
dass eine knackige Headline zu einem<br />
Missbrauchsfall in der Sozialhilfe ein<br />
praktisch garantierter Quotenrenner<br />
ist, der entsprechend ausgeschlachtet<br />
wird. Die Gründe liegen tiefer und<br />
sind vielfältig. In Fragen der Sozialhilfe<br />
treffen ein legitimes Informations- und<br />
Transparenzbedürfnis einer finanzierenden<br />
Mehrheit auf ein nicht ausgeprägt<br />
laienverständliches System von Leistungen<br />
für eine Minderheit von Bezügerinnen<br />
und Bezügern in einer Vielfalt von<br />
Lebenssituationen. Dieser kommunikativen<br />
Herausforderung müssen sich<br />
die Akteure der Sozialhilfe stellen, denn<br />
auch hier gilt: Perception is reality. Die<br />
Wahrnehmung wird zur Realität.<br />
Die Sozialhilfe ist eine notwendige<br />
Ergänzung des wirtschaftlichen Wettbewerbs,<br />
in dem nicht alle Menschen<br />
bestehen. Sie kann ihre wichtige Funktion<br />
langfristig aber nur erfüllen, wenn<br />
ein solides Vertrauen ins Leistungssystem<br />
und die vollziehenden Behörden<br />
besteht. Insofern kann eine Fokussierung<br />
auf «pathologische Einzelfälle»<br />
bestenfalls öffentlichen Druck für<br />
eine offene Diskussion und genügend<br />
Systemtransparenz erzeugen, bringt die<br />
Sache aber nicht weiter. Und sie kann<br />
über die Verminderung der Akzeptanz<br />
der Sozialhilfe in der Bevölkerung die<br />
Zukunftsfähigkeit des Systems gefährden.<br />
Beat Walti<br />
Rechtsanwalt und<br />
Nationalrat (FDP), Zürich<br />
Die Gestaltung einer wirkungsvollen<br />
Sozialhilfe ist durch vielfältige Spannungsfelder<br />
geprägt. Das Tempo der<br />
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen<br />
Veränderungen steigt stetig, und mit<br />
ihnen die Komplexität der Lebenswirklichkeiten<br />
in der Gesellschaft – gerade<br />
auch derjenigen Menschen, die ihren<br />
Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft<br />
bestreiten können. Der zielgenaue Einsatz<br />
von sozialpolitischen Instrumenten<br />
und die effektive Verwendung der Mittel<br />
Die Verantwortungsträger<br />
der<br />
Wirtschaft müssen<br />
stärker in den<br />
sozialpolitischen<br />
Dialog eingebunden<br />
werden.<br />
rufen hier nach genügend Spielraum für<br />
die vollziehenden Behörden. Einzelfallgerechte<br />
Leistungen und Anreize, über<br />
kurz oder lang wieder (vermehrte)<br />
finanzielle Eigenständigkeit zu erlangen,<br />
setzen ein gehöriges Mass an Ermessen<br />
in der Leistungsgestaltung voraus. Dem<br />
steht anderseits das Bedürfnis nach einem<br />
stabilen, finanziell berechenbaren System<br />
gegenüber, das Rechtsgleichheit für die<br />
Sozialhilfeempfänger ebenso gewährleistet<br />
wie Effizienz in der Verwaltung.<br />
Vor diesem Hintergrund sind Diskussionen<br />
über die SKOS-Richtlinien, ihre Verbindlichkeit<br />
und die Angemessenheit der<br />
Leistungen der Sozialhilfe verständlich<br />
und auch gar nicht falsch. Sie sollten im<br />
Gegenteil als Chance verstanden werden,<br />
einen echten und steten gesellschaftlichen<br />
Dialog zwischen Experten und Öffentlichkeit<br />
über die Sozialhilfe aufzubauen und<br />
zu betreiben. Und die Frage, wie die verfügbaren<br />
Mittel bestmöglich – im Interesse<br />
der Sozialhilfeempfänger und der <strong>ganz</strong>en<br />
Gesellschaft – investiert werden sollen.<br />
Dabei könnte nicht nur die Akzeptanz für<br />
die Kosten der Sozialhilfe, sondern auch<br />
der Informationsstand in der Bevölkerung<br />
über deren häufigste Ursachen verbessert<br />
werden. Dies ist im Sinne der Prävention<br />
wichtig. Gerade junge Menschen sollten<br />
beispielsweise wissen, dass mehr als die<br />
Hälfte der Sozialhilfeempfänger nicht<br />
über eine abgeschlossene Berufslehre oder<br />
Ausbildung verfügen – das Fehlen einer<br />
Ausbildung also ein handfestes Armutsrisiko<br />
darstellt.<br />
Ohnehin erscheint die bestmögliche Integration<br />
auch unqualifizierter oder leistungsschwacher<br />
Menschen in den Arbeitsmarkt<br />
die nachhaltigste Form der Sozialhilfe zu<br />
sein. Der Wert der Arbeit geht bekanntlich<br />
weit über die Lohnsumme hinaus, er<br />
erstreckt sich auf gesellschaftliche Anerkennung,<br />
das Selbstwertgefühl und die<br />
Motivation, Verantwortung für sich selbst<br />
und sein Umfeld wahrzunehmen. Diese<br />
Integration ist aber in Zeiten globalisierter<br />
Märkte und stets fortschreitender Spezialisierung<br />
eine echte Herausforderung, und<br />
sie gelingt nur, wenn in den angesprochenen<br />
sozialpolitischen Dialog vermehrt<br />
auch Unternehmen respektive Verantwortungsträger<br />
in der Wirtschaft eingebunden<br />
werden. Die Politik und die Sozialpartner<br />
sollten sich zudem bewusst sein, dass stets<br />
neue Regulierungen und verbindliche<br />
Anforderungen an die Arbeitnehmenden<br />
in vielen Branchen die Erfolgsaussichten<br />
schlecht qualifizierter Arbeitnehmender<br />
zusätzlich einschränken und ihr Risiko<br />
erhöhen, von der Sozialhilfe abhängig zu<br />
werden oder zu bleiben.<br />
•<br />
In dieser Rubrik schafft die <strong>ZESO</strong> Raum für Debatten<br />
und Meinungen. Der Inhalt gibt die Meinung des<br />
Autors resp. der Autorin wieder.<br />
34 ZeSo 3/15 FORUM
lesetipps<br />
Ausser Betrieb<br />
Was wir heute Arbeit nennen, ist ein Produkt<br />
der Industrialisierung. Die Lohnarbeit wurde im<br />
«bürgerlichen Betriebskapitalismus» zentral.<br />
Inzwischen verdrängen neue Formen des<br />
Arbeitens die kollektivvertraglich festgelegte<br />
Normalarbeit. Das Buch macht diesen Wandel<br />
in 17 Beiträgen sichtbar. Die Texte handeln beispielsweise<br />
von Hausarbeit, Kunst, der Arbeit<br />
im Gefängnis, Berufsberatung, Handelsreisenden und Entwicklungshilfe.<br />
Die Autoren schreiben so an einer erweiterten Geschichte der Arbeit<br />
mit, die auch ein neues Verständnis der Arbeit im Betrieb ermöglicht.<br />
Brigitta Bernet, Jakob Tanner (Hrsg.), Ausser Betrieb, Metamorphosen der Arbeit in<br />
der Schweiz, Limmat, <strong>2015</strong>, 344 Seiten, CHF 48.−<br />
ISBN 978-3-85791-757-8<br />
Berufsbildungsprofis erzählen<br />
Fachkräftemangel, unbesetzte Lehrstellen und<br />
Nachwuchsprobleme in wichtigen Branchen:<br />
Die Berufsbildung steht derzeit im Fokus der<br />
öffentlichen Aufmerksamkeit. In dieser Debatte<br />
kommen jedoch Ausbildner und Lehrpersonen<br />
kaum je zu Wort. In diesem Buch erzählen<br />
Berufsbildungsverantwortliche von ihrem Ausbildungsalltag<br />
und von ihren Visionen. Anhand<br />
dieser Geschichten werden die Stärken, aber auch die Komplexität des<br />
Berufsbildungssystems aufgezeigt. Das Spektrum der vertretenen<br />
Berufe reicht vom kaufmännischen Beruf über Maler und Gipser, die<br />
Berufe der Maschinen- und Metallindustrie bis zur Hebamme.<br />
Christoph Gassmann, Berufsbildung in der Schweiz, Gesichter und Geschichten,<br />
Hep, <strong>2015</strong>, 352 Seiten, CHF 38.−<br />
ISBN 978-3-03905-578-4<br />
Strategien von<br />
Aufstocker-Familien<br />
Die Interviewstudie aus Deutschland analysiert,<br />
welche Strategien Familien entwickeln, um ihre<br />
Bedürftigkeit zu überwinden. Im Fokus stehen<br />
die sogenannten Aufstocker-Familien, die trotz<br />
eigenen Einkommens auf zusätzliche Leistungen<br />
angewiesen sind. Es wird aufgezeigt,<br />
welche Bedeutung sie dem Ausstieg aus der<br />
Bedürftigkeit beimessen und mit welchen Herausforderungen sie sich<br />
dabei konfrontiert sehen. Unter Einbeziehung institutioneller Handlungsbedingungen<br />
wird untersucht, wie Familien auf Forderungen des Jobcenters<br />
einerseits und Anreize der Familienpolitik andererseits reagieren.<br />
Anne Schröter, Wege aus der Bedürftigkeit, Strategien von Aufstocker-Familien,<br />
Springer, <strong>2015</strong>, 290 Seiten, CHF 30.−<br />
ISBN 978-3-658-09826-1<br />
Gesundheit und soziale Arbeit<br />
Gesundheit war in der Geschichte der Sozialarbeit<br />
lange ein zentraler Gegenstand und die<br />
Gesundheitsfürsorge ein grosser Arbeitsbereich.<br />
Auch heute noch sind 20-25 Prozent der Sozialarbeitenden<br />
und Sozialpädagogen entweder<br />
im Sozialwesen mit gesundheitsbezogenen<br />
Aufgaben betraut oder im Gesundheitswesen<br />
tätig. Ein Bedeutungszuwachs ist aufgrund des<br />
demografischen Wandels sowie der Veränderung des Krankheitsspektrums<br />
absehbar. Das Buch führt in das Thema ein, präsentiert Fakten,<br />
Konzepte und Probleme und stellt ausgewählte Praxisfelder vor.<br />
Chr. Daiminger, P. Hammerschmidt, J. Sagebiel (Hrsg.), Gesundheit und Soziale<br />
Arbeit, Ag Spak Bücher, <strong>2015</strong>, 166 Seiten, CHF 22.−<br />
ISBN 978-3-940865-91-5<br />
Reform der<br />
Ergänzungsleistungen<br />
Die Existenzsicherung und die Bekämpfung<br />
der Armut im Alter und bei Behinderung sind<br />
Kernanliegen der schweizerischen Sozialpolitik.<br />
Trotz des Ausbaus der AHV und der IV steigen die<br />
Ausgaben für die Ergänzungsleistungen weiter<br />
an. Die Schweizerische Vereinigung für Sozialpolitik<br />
(SVSP) fragt an ihrer Jahrestagung danach,<br />
wie der Spagat zwischen den Bedürfnissen der<br />
Armutsbetroffenen und dem Spardruck bei der<br />
öffentlichen Hand gelingen kann.<br />
SVSP-Jahrestagung<br />
Mittwoch, 28. Oktober <strong>2015</strong>, Berner Fachhochschule<br />
www.svsp.ch<br />
Personenzentrierte Ansätze<br />
der Arbeitsintegration<br />
Nach personenzentrierten Ansätzen der Arbeitsintegration<br />
werden Stellensuchende nicht als<br />
Objekte von Interventionen gesehen. Vielmehr<br />
sind sie Subjekte mit individueller Geschichte<br />
und Perspektive, die unter bestimmten Bedingungen<br />
und mit unterschiedlichen Chancen und<br />
Hindernissen auf dem Arbeitsmarkt handeln. Die<br />
Tagung bietet eine Plattform, sich darüber auszutauschen,<br />
wie sich diese Ansätze in der Praxis<br />
realisieren lassen.<br />
Luzerner Tagung zur Arbeitsintegration<br />
Mittwoch, 11. November <strong>2015</strong>, Hochschule Luzern<br />
www.hslu.ch<br />
veranstaltungen<br />
Würdigung<br />
der Sozialarbeit<br />
Die «Association romande et tessinoise des<br />
institutions d‘action sociale» (Artias) feiert ihr<br />
20-jähriges Bestehen. An seiner Jahrestagung<br />
würdigt der Verband die Arbeit der Sozialarbeiterinnen<br />
und Sozialarbeiter und diskutiert anhand<br />
konkreter Beispiele, was professionelle Sozialarbeit<br />
bewirken kann und über welche Macht und<br />
Handlungsspielräume Sozialarbeitende in der<br />
Praxis verfügen.<br />
Artias-Tagung<br />
Donnerstag, 26. November, Palais de Beaulieu,<br />
Lausanne<br />
www.artias.ch<br />
service 3/15 ZeSo<br />
35
«Den Deutschunterricht verdanken wir einem Missverständnis.» Ruth Schucan im Gespräch mit Asylsuchenden. <br />
Bild: Ursula Markus<br />
Die Unermüdliche<br />
Ruth Schucan engagiert sich immer wieder für Menschen mit schwierigem Schicksal. Das aktuelle<br />
Projekt der 72-Jährigen ist ein Mittagstisch für Asylsuchende in einem Zürcher Kirchgemeindehaus.<br />
Es ist Freitagmorgen, kurz vor acht. Ruth<br />
Schucan ist als erste da. Unermüdlich eilt<br />
die feingliedrige 72-Jährige mit der heiteren<br />
Ausstrahlung in den nächsten Stunden<br />
treppauf und treppab, überwacht das Einrichten<br />
der beiden riesigen Klassenzimmer,<br />
schaut beim Küchenteam vorbei,<br />
klopft auf Schultern: «Toll, dass du da bist!»<br />
Um zehn beginnt der Deutschunterricht.<br />
Etwa 150 Asylsuchende aus diversen afrikanischen<br />
Ländern, aus Afghanistan, Tibet,<br />
Sri Lanka und Syrien sitzen an langen Tischen.<br />
Konzentriert hören sie den rund 40<br />
freiwilligen Lehrpersonen zu, von denen<br />
zwei Drittel Pensionierte sind und ein Drittel<br />
Studierende. Das Projekt, das Schucan<br />
leitet, entstand vor sechs Jahren als Antwort<br />
auf die Asylverschärfung des Bundes. Geplant<br />
war eigentlich nur der Mittagstisch,<br />
finanziert von der Kirchgemeinde Aussersihl<br />
und Solinetz, einem Verein, der sich für<br />
die Würde und Rechte von Menschen einsetzt,<br />
die in der Schweiz Zuflucht suchen.<br />
«Den Deutschunterricht verdanken wir<br />
einem Missverständnis», schmunzelt Schucan.<br />
«Den Asylsuchenden war irrtümlich<br />
der Flyer für die Freiwilligen in die Hände<br />
gekommen, die für 10 Uhr aufgeboten<br />
waren. So trafen die Gäste zwei Stunden zu<br />
früh ein. Um die Zeit sinnvoll auszufüllen,<br />
liessen wir uns den Deutschunterricht einfallen.»<br />
Mit der Zeit hat sich der Mittagstisch<br />
zum wohl grössten Zürcher Klassenzimmer<br />
entwickelt. «Es entstehen immer<br />
wieder neue Dinge, wir haben einen Chor<br />
und eine Theatergruppe», erzählt Schucan<br />
weiter. Auch an diesem Freitagmorgen<br />
leistet sie Vermittlungsarbeit. Erwartungsfroh<br />
schauen fünf junge Tibeter auf einen<br />
jungen Schweizer. Er ist Bauingenieur und<br />
will regelmässig mit ihnen Deutsch üben.<br />
Und auch mal Fussball spielen.<br />
Welche Ballfarbe eignet sich?<br />
Schucan eilt weiter. Sie hat die Menschen<br />
auf eine pragmatische Art gern. Besonders<br />
solche mit schwierigem Schicksal. Gepackt<br />
hatte es sie als junge Turnlehrerin. Damals<br />
konnte sie ein Gymnastikstudio übernehmen<br />
− mit der Bedingung, eine Klasse von<br />
Sehbehinderten zu betreuen. «Mich interessierte<br />
weniger, was eine Makuladegeneration<br />
genau ist, sondern: Was kann die Person<br />
noch machen, welche Ballfarbe eignet sich?»<br />
Farbe brachte sie später auch zum Sport für<br />
Menschen mit Asthma, Krebs oder Drogenabhängigkeit.<br />
Lustvolles Spielen statt<br />
Krampfen und Schwitzen ist ihre Devise.<br />
Ihr Engagement für Flüchtlinge begann<br />
in den 1990er-Jahren. Der Bosnienkrieg,<br />
nur zwei Flugstunden entfernt, erschütterte<br />
Schucan, die unterdessen an der ETH<br />
dozierte. Sie begann, Bewegungsnachmittage<br />
für bosnische Flüchtlingsfrauen zu<br />
organisieren. Beim ersten Mal sei etwas<br />
Eindrückliches passiert: «Wir tanzten einen<br />
balkanischen Tanz. Plötzlich Totenstille.<br />
Da stand eine alte Frau auf und erklärte:<br />
Das ist ein serbischer Tanz. Den tanzten<br />
wir früher. Und den tanzen wir jetzt auch!»<br />
Später betreute Schucan kosovarische<br />
Flüchtlinge. Die seien dann zurückgekehrt,<br />
in ein zerstörtes Land. «Do mues me doch<br />
ebbis mache!», sagte sich die gebürtige<br />
Münchensteinerin. Zusammen mit anderen<br />
Freiwilligen sammelte sie über eine<br />
halbe Million Franken. Neun Mal reiste sie<br />
nach Kosovo und schaute, dass das Geld in<br />
die richtigen Hände kam.<br />
Heute könnte sie sich zurücklehnen, ihren<br />
Garten und den Freundeskreis geniessen.<br />
Doch just diese privilegierte Situation<br />
treibt sie an, dem Weltelend weiter etwas<br />
entgegenzusetzen − auch wenn es winzig<br />
sei. «Aber für den Menschen, dem plötzlich<br />
etwas möglich wird, ist es viel.» Sie<br />
denkt an eine Eritreerin, die versunken in<br />
eine Depression war. Nach und nach sei<br />
es gelungen, die Frau ins Kochen und die<br />
Kinderbetreuung einzubinden. Mit der<br />
Zeit habe sie erzählt, dass sie schwangere<br />
Landsfrauen zum Arzt begleite. Als der<br />
Kanton Zürich ein Programm zur Ausbildung<br />
eritreischer Schlüsselpersonen<br />
startete, sagte Ruth Schucan zu ihr: «Hey,<br />
du machst ja bereits Integrationsarbeit:<br />
Probiers!» Heute arbeite diese Frau mit<br />
einer eritreischen Ärztin zusammen. «Sie<br />
ist richtig aufgeblüht», sagt Ruth Schucan.<br />
Und lächelt ihr heiteres Lächeln. •<br />
Paula Lanfranconi<br />
36 ZeSo 3/15 porträt
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