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ZESO_3-2015_ganz

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SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

ZeSo<br />

Zeitschrift für Sozialhilfe<br />

03/15<br />

Grundkompetenzen bildungsDefizite sind ein armutsrisiko iiz das<br />

seco publiziert einen IIZ-leitfaden privates engagement für die integration eine<br />

reportage, ein porträt und das zeso-interview zeigen, wie es funktionieren kann


SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

SKOS-WEITERBILDUNG<br />

Einführung in die öffentliche Sozialhilfe<br />

Montag, 9. November <strong>2015</strong> , 13 Uhr bis 18 Uhr<br />

Hotel Arte in Olten<br />

In der Praxis stellen sich Fachleuten und Behördenmitgliedern komplexe Fragen. Rechtliches Wissen ist<br />

ebenso gefragt wie methodisches Handeln und Kenntnisse des Systems der sozialen Sicherheit. Die<br />

Weiterbildung der SKOS nimmt diese Themen auf. Es werden Grundlagen zur Armutsproblematik und<br />

zur Ausgestaltung der Sozialhilfe vermittelt, Verfahrensgrundsätze thematisiert und das Prinzip der<br />

Subsidiarität erläutert. Die Veranstaltung richtet sich an Mitglieder von Sozialbehörden, Fachleute der<br />

Sozialen Arbeit und Sachbearbeitende von Sozialdiensten, die neu in der Sozialhilfe tätig sind.<br />

Programm und Anmeldung: www.skos.ch Veranstaltungen<br />

SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

<strong>ZESO</strong>-SPEZIALPREISE<br />

Sie möchten die <strong>ZESO</strong> lesen – aber wo ist sie bloss?<br />

Insbesondere in grösseren Sozialdiensten und Institutionen reicht ein <strong>ZESO</strong>-Einzelabonnement selten für<br />

den <strong>ganz</strong>en Betrieb. Die SKOS bietet Ihnen auf Abonnemente, die mehr als ein Exemplar miteinschliessen,<br />

Mengenrabatte. Profitieren Sie davon! So haben Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jederzeit Zugang<br />

zu einer aktuellen Ausgabe der <strong>ZESO</strong> – und sind damit gut und aktuell informiert.<br />

Jahresabonnement SKOS-Mitglieder:<br />

Jahresabonnement Nichtmitglieder:<br />

69 Franken<br />

82 Franken<br />

2 bis 5 Exemplare: 15 % Rabatt<br />

6 bis 10 Exemplare: 20 % Rabatt<br />

ab 11 Exemplaren: 25 % Rabatt<br />

Weitere Informationen und Online-Shop: www.skos.ch Zeitschrift <strong>ZESO</strong>


Michael Fritschi<br />

Verantwortlicher Redaktor<br />

Integration ALS Prävention<br />

In der neuen <strong>ZESO</strong> präsentieren wir Ihnen diesmal gleich<br />

zwei Schwerpunktthemen. Zum einen ist die aktuelle<br />

Ausgabe der Problematik fehlender Grundkompetenzen<br />

und der Diskussion von Lösungsansätzen gewidmet, wie<br />

betroffene Menschen besser in die Gesellschaft und in die<br />

Arbeitswelt (re-)integriert werden können. Eine ungenügende<br />

Grundausbildung kann sich in verschiedener Hinsicht<br />

negativ bemerkbar machen. Für die direkt Betroffenen<br />

bedeutet sie in vielen Fällen Prekarität und schleichender<br />

gesellschaftlicher Ausschluss. Für soziale Institutionen, die<br />

mit diesen Menschen zusammenarbeiten, sind fehlende<br />

Grundkompetenzen eine stete Herausforderung im administrativen<br />

Kontakt, aber auch bei der Suche nach Angeboten<br />

und Massnahmen, die wirklich nachhaltig etwas zur Verbesserung<br />

der Situation beitragen. Volkswirtschaftlich betrachtet<br />

verursachen ungenügende Grundkompetenzen Erwerbsausfälle<br />

und soziale Folgekosten.<br />

Als zweites, quasi übergeordnetes Thema durchzieht der<br />

Integrationsgedanke weitere Beiträge in dieser <strong>ZESO</strong>,<br />

beispielsweise das Interview mit Hedy Graber, Chefin des<br />

Migros-Kulturprozents (ab S. 10), und zwei Beiträge, die<br />

Wege zur Verbesserung der interinstitutionellen Zusammenarbeit<br />

zwischen Sozialdiensten und regionalen Arbeitsvermittlungszentren<br />

aufzeigen (ab S.26). Im Porträt (S. 36)<br />

stellen wir Ihnen eine unermüdliche Vermittlerin zwischen<br />

den Kulturen vor, und in der Rubrik Plattform (S. 32) eine<br />

Organisation, die sich der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit<br />

widmet. In all diesen Ansätzen steckt neben den<br />

Integrationszielen ein ausgeprägter Präventionsgedanke.<br />

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.<br />

editorial 3/15 ZeSo<br />

1


SCHWERPUNKT14–25<br />

GRUNDkompetenzen<br />

Das Risiko, von der Sozialhilfe abhängig zu<br />

werden, wird vom Faktor ungenügende Grundkompetenzen<br />

stark mitbestimmt. Rund ein Drittel<br />

der Sozialhilfebeziehenden hat Defizite bei den<br />

Grundkompetenzen. Je länger jemand von der<br />

Sozialhilfe abhängig ist, desto grösser ist die<br />

Wahrscheinlichkeit, dass ein Förderbedarf bei<br />

den Grundkompetenzen besteht. Aus Sicht der<br />

Sozialdienste stellt sich die Frage, mit welchen<br />

Massnahmen und Konzepten sie die Förderung<br />

von Grundkompetenzen bei ihren Klientinnen und<br />

Klienten verbessern können, damit diese bessere<br />

Chancen auf eine Intergration in den Arbeitsmarkt<br />

haben.<br />

<strong>ZESO</strong> zeitschrift für sozialhilfe<br />

Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />

www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS,<br />

Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch,<br />

Tel. 031 326 19 19 Redaktion Michael Fritschi, Regine Gerber<br />

Redaktionelle begleitung Dorothee Guggisberg Autorinnen<br />

und Autoren in dieser Ausgabe Anne Beney, Willy Benz, Aurélia<br />

Bétrisey, Heinrich Dubacher, Anna Fliedner, Bernhard Grämiger,<br />

Dorothee Guggisberg, Fredy Huber, Christin Kehrli, Paula Lanfranconi,<br />

Cäcilia Märki, Karin Meier, Fritz Mühlemann, Anne Müller,<br />

Andreas Rupp, Cyrille Salort, Mira Schär, Beat Walti Titelbild<br />

Rudolf Steiner layout Marco Bernet, mbdesign Zürich Korrektorat<br />

Karin Meier Druck und Aboverwaltung Rub Media, Postfach,<br />

3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 preise<br />

Jahresabonnement CHF 82.– (für SKOS-Mitglieder CHF 69.–),<br />

Einzelnummer CHF 25.–. Jahresabonnement ausland CHF 120.–.<br />

© SKOS. Nachdruck nur mit genehmigung der Herausgeberin.<br />

Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />

ISSN 1422-0636 / 112. Jahrgang<br />

Bild: Keystone<br />

Erscheinungsdatum: 7. September <strong>2015</strong><br />

Die nächste Ausgabe erscheint im Dezember <strong>2015</strong>.<br />

2 ZeSo 3/15 inhalt


INHALT<br />

5 Bildung als Potenzial stärken.<br />

Kommentar von Dorothee Guggisberg<br />

6 13 Fragen an Willy Benz<br />

8 Praxis: Den Lehrabschluss nicht<br />

bestanden: Müssen die Eltern ihren<br />

Sohn weiter unterstützen?<br />

9 Serie «Monitoring Sozialhilfe»:<br />

Unterschiedliche kantonale<br />

Vorschriften bei der Verwandtenunterstützung<br />

10 «Teilhaben kann man nur, wenn man<br />

auch die Chance dazu erhält»<br />

Interview mit Hedy Graber<br />

14 SCHWERPUNKT:<br />

Grundkompetenzen<br />

16 Das Fehlen von Grundkompetenzen<br />

ist ein gesamtgesellschaftliches<br />

Problem<br />

18 Förderung der Grundkompetenzen im<br />

Kontext der Sozialhilfe<br />

20 Vom «Illettrismuskurs» bis zur Vorbereitung<br />

auf die Berufsfachschule<br />

22 Tippen ist für sie noch keine<br />

Selbstverständlichkeit<br />

24 Es braucht mehr Übungs- und<br />

Anwendungsmöglichkeiten<br />

DIE KULTURCHEFIN<br />

IIZ-Leitfaden<br />

DIE FREIWILLIGE PATIN<br />

Das Migros-Kulturprozent fördert mit seinen<br />

Projekten die gesellschaftliche Teilhabe<br />

und folgt damit einem Leitgedanken, der<br />

demjenigen der Sozialhilfe nicht unähnlich<br />

ist. Im <strong>ZESO</strong>-Interview spricht Leiterin<br />

Hedy Graber über soziales Engagement,<br />

Individualisierungstendenzen und darüber,<br />

wie sich der Kulturbegriff verändert hat.<br />

10<br />

Sozialdienste und RAV sollen bei der<br />

arbeitsmarktlichen Beratung und der<br />

Stellenvermittlung enger zusammenarbeiten<br />

und mit ihren Kernkompetenzen zur<br />

Optimierung des Integrationsprozesses von<br />

Erwerbslosen beitragen. Das Seco fördert<br />

diese Zusammenarbeit mit einem Leitfaden.<br />

26<br />

Das Caritas-Projekt «mit mir» vermittelt<br />

Kindern aus finanziell oder sozial belasteten<br />

Familien eine Patin oder einen Paten. Dass<br />

dabei Beziehungen entstehen können, die<br />

für beide Seiten bereichernd sind, zeigt<br />

ein Besuch bei Mariann Bahr und ihrem<br />

Patenmädchen Beatriz in Luzern.<br />

26 Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe<br />

unterstützen sich gegenseitig<br />

28 Die Betreuung durch Tandems führt<br />

zu effizienteren Lösungen<br />

30 Reportage: Zweitausend Ideen für die<br />

gemeinsame Zeit<br />

32 «Check Your Chance» – Gemeinsam<br />

gegen die Jugendarbeitslosigkeit<br />

34 Forum: Gedanken zur<br />

Sozialhilfedebatte von Beat Walti<br />

35 Lesetipps und Veranstaltungen<br />

36 Porträt: Ruth Schucan leitet einen<br />

Mittagstisch für Asylsuchende<br />

DIE UNERMüdliche<br />

30<br />

Ruth Schucan engagiert sich immer wieder<br />

für Menschen mit schwierigem Schicksal.<br />

Das neuste Projekt der 72-Jährigen ist<br />

ein Mittagstisch für Asylsuchende, der<br />

sich inzwischen zum wohl grössten<br />

Klassenzimmer Zürichs entwickelt hat.<br />

36<br />

inhalt 3/15 ZeSo<br />

3


NACHRICHTEN<br />

Revision SKOS-Richtlinien<br />

Die Schweizerische Konferenz der Sozialdirektorinnen<br />

und Sozialdirektoren SODK<br />

berät an der 2. Sozialkonferenz am 21. September<br />

gemeinsam mit der SKOS und weiteren<br />

Partnerorganisationen über die im<br />

Sommer erarbeiteten neuen Bestimmungen<br />

der SKOS-Richtlinien. Revisionspunkte sind<br />

namentlich die Höhe des Grundbedarfs, der<br />

Sanktionsabzug und das Anreizsystem. Die<br />

von der Sozialkonferenz beschlossenen Änderungen<br />

treten am 1. Januar 2016 in Kraft.<br />

Die SKOS publiziert aktuelle Informationen<br />

über die konkreten Beschlüsse auf der<br />

Website www.skos.ch und via Newsletter.<br />

Gesamtrechnung der<br />

sozialen Sicherheit<br />

Die Ausgaben für die Leistungen der sozialen<br />

Sicherheit in der Schweiz sind gemäss<br />

Bundesamt für Statistik erneut gestiegen.<br />

Sie betrugen im Jahr 2013 rund 171 Milliarden<br />

Franken. Das entspricht einem knappen<br />

Viertel des Bruttoinlandprodukts und<br />

bedeutet einen Anstieg gegenüber dem<br />

Vorjahr um 3,9 Prozent. Die Ausgaben im<br />

Bereich «Soziale Ausgrenzung», zu dem<br />

die Leistungen der Sozialhilfe zählen, sind<br />

im Vergleich eher unterdurchschnittlich<br />

angestiegen. Mit Kosten in der Höhe von<br />

2,7 Milliarden Franken verursachen diese<br />

Leistungen einen kleinen Teil der Gesamtausgaben<br />

für die soziale Sicherheit.<br />

Anstieg der strukturellen<br />

Arbeitslosigkeit<br />

Die Arbeitslosigkeit in der Schweiz hat sich<br />

in den letzten zwanzig Jahren trotz eines<br />

«Jobwunders» erhöht. Vieles deutet auf einen<br />

Anstieg der strukturellen Arbeitslosigkeit<br />

hin, schreibt die Konjunkturforschungsstelle<br />

KOF in einer Studie über das Risiko in<br />

der Schweiz, arbeitslos zu werden. Die KOF<br />

begründet den Befund mit der gestiegenen<br />

Langzeitarbeitslosenquote und damit, dass<br />

dieser Anstieg trotz einer Zunahme der offenen<br />

Stellen zu Stande kam. Die Analyse des<br />

berufsspezifischen Arbeitslosigkeitsrisikos<br />

zeigt unter anderem, dass die Arbeitslosenquote<br />

von mittelbezahlten Berufsgruppen<br />

stärker gestiegen ist als jene von hoch- und<br />

tiefbezahlten Berufsgruppen. Personen mit<br />

einem obligatorischem Schulabschluss oder<br />

einer Ausbildung auf Sekundarstufe II als<br />

höchstem Abschluss sind zunehmend von<br />

Arbeitslosigkeit betroffen, so die KOF.<br />

Tendenziell mehr Tieflohn-Arbeitsstellen<br />

Im Jahr 2012 haben gemäss dem Bericht<br />

des Bundesrats «Situation in Tieflohnbranchen<br />

bezüglich Einstiegs- und Mindestlöhnen»<br />

13,4 Prozent der Beschäftigten<br />

in der Schweiz – auf eine Vollzeitstelle<br />

umgerechnet – weniger als 4343 Franken<br />

pro Monat verdient. Die Quote liegt damit<br />

über dem langjährigen Durchschnitt von<br />

12,6 Prozent. Die Tieflohnschwelle wird<br />

bei zwei Drittel des Medianlohnes festgesetzt,<br />

der in der Schweiz im Jahr 2012 bei<br />

6514 Franken pro Monat lag. Gemäss<br />

dem Bericht werden im Detailhandel am<br />

meisten Tieflöhne gezahlt, gefolgt von den<br />

Branchen Gastronomie, Gesundheits- und<br />

Sozialwesen, Reinigungs- und Gartenbau,<br />

dem Grosshandel sowie der Haus- und<br />

Landwirtschaft. Über 60 Prozent aller<br />

Tieflohnstellen sind diesen Branchen zuzuordnen.<br />

Der Bundesrat weist in seinen<br />

Ausführungen darauf hin, dass ein tiefer<br />

Lohn nicht mit Armut gleichzusetzen sei.<br />

Die wirtschaftliche Situation einer Person<br />

hänge letztlich vom verfügbaren Haushaltseinkommen<br />

und der Anzahl der davon<br />

lebenden Personen ab. <br />

•<br />

Wer lange Sozialhilfe bezieht, hat meist<br />

Gesundheitsprobleme<br />

Knapp zwei Drittel der Menschen, die seit<br />

mehr als drei Jahren auf Sozialhilfe angewiesen<br />

sind, haben gesundheitliche Beeinträchtigungen.<br />

Dies sind zu rund 40 Prozent physische<br />

Einschränkungen aufgrund von Unfall<br />

oder Krankheit, ein Suchtproblem (20%),<br />

eine ärztlich attestierte Depression (10%)<br />

oder eine andere psychische Krankheit<br />

(30%). Dies zeigt der aktuelle Kennzahlenbericht<br />

der Städteinitiative Sozialpolitik. Im<br />

Durchschnitt wurden 25 Prozent aller IV-<br />

Anträge von Langzeitbeziehenden mit Gesundheitsproblemen<br />

abgelehnt, bei weiteren<br />

23 Prozent ist ein Antrag pendent. Insgesamt<br />

wurde bei 60% der Langzeitbeziehenden mit<br />

einer gesundheitlichen Beeinträchtigung eine<br />

IV-Rente in Betracht gezogen. Die Chancen<br />

auf eine erfolgreiche Beurteilung des Gesuchs<br />

variieren stark, da die kantonalen IV-<br />

Stellen die Gesuche «sehr unterschiedlich restriktiv»<br />

beurteilen, so die in Zusammenarbeit<br />

mit der Berner Fachhochschule erstellte Studie.<br />

Keine IV-Anmeldungen erfolgen bei<br />

Suchtkrankheiten, die keinen Anspruch auf<br />

Die Detailhandelsbranche ist bei den<br />

Tieflöhnen «führend». <br />

Bild: Keystone<br />

IV begründen, oder wenn generell nur wenig<br />

Aussicht auf Erfolg besteht. Von den Langzeitbeziehenden<br />

mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen<br />

erhalten im Durchschnitt der<br />

Städte knapp 10 Prozent eine IV-Rente oder<br />

-Teilrente, die aber nicht zur Existenzsicherung<br />

reicht und die durch die Sozialhilfe ergänzt<br />

wird. «Oft sind die Langzeitbeziehenden<br />

mit Gesundheitsproblemen zu krank,<br />

um im Arbeitsmarkt zu bestehen, und haben<br />

dennoch meist keinen Anspruch auf eine IV-<br />

Rente», so das Fazit zur Untersuchung.<br />

Die Gesamtzahl der Sozialhilfebeziehenden<br />

hat sich im Jahr 2014 parallel zum Bevölkerungswachstum<br />

entwickelt, die Zunahme<br />

der Fälle beträgt 2,8 Prozent. Die allgemeine<br />

durchschnittliche Bezugsdauer hat sich gegenüber<br />

dem Vorjahr erneut erhöht und<br />

liegt aktuell bei 40 Monaten. Einen deutlichen<br />

Rückgang bei der Sozialhilfequote<br />

verzeichnete Lausanne, was auf eine effizientere<br />

Fallführung und positive Auswirkungen<br />

eines Ausbildungsprogrammes für<br />

Jugendliche zurückgeführt wird. •<br />

4 ZeSo 3/15 aktuell


KOMMENTAR<br />

Bildung als Potenzial stärken<br />

Wer eine Ausbildung macht, gehört nicht<br />

in die Sozialhilfe. Die Forderung der SKOS<br />

«Stipendien statt Sozialhilfe» gilt nach wie<br />

vor. Durch die Verstärkung des Stipendienwesens<br />

soll die Sozialhilfeabhängigkeit<br />

von jungen Menschen in Ausbildung<br />

vermieden werden. Beispielsweise hat der<br />

Kanton Waadt sein Stipendienwesen konsequent<br />

umgebaut und verfügt heute über<br />

ein erfolgreiches Projekt, das Jugendliche<br />

in Ausbildung mit Unterstützungsleistungen<br />

beim Übergang in die Berufswelt<br />

begleitet. In den letzten Jahren haben vereinzelte<br />

Kantone ihre Stipendiengesetze<br />

revidiert und das Stipendienkonkordat ist<br />

zustande gekommen. Am 14. Juni wurde<br />

nun die Stipendieninitiative zur Harmonisierung<br />

der staatlichen Unterstützungsbeiträge<br />

an Studierende von Volk und<br />

Ständen klar verworfen.<br />

Das Abstimmungsresultat führt vor<br />

Augen, dass Bildungsvorlagen mit dem<br />

Ziel der Harmonisierung von Bildungsleistungen<br />

und der Zugangsöffnung<br />

für alle nach wie vor einen schweren<br />

Stand haben. Trotz dieser Ablehnung<br />

muss die Eliminierung ungleicher<br />

Bildungschancen auf der politischen<br />

Agenda bestehen bleiben. Der ungleiche<br />

Zugang zur höheren Bildung, der<br />

untere und bildungsferne Schichten<br />

benachteiligt, ist nicht nur unter<br />

dem Aspekt der Chancengleichheit<br />

stossend. Vielmehr ist hinlänglich<br />

bekannt, dass nur, wer Zugang zu<br />

Bildung hat, auch Chancen auf dem<br />

Arbeitsmarkt hat. Lebenslanges<br />

Lernen ist längstens als Konzept anerkannt.<br />

Was für die tertiäre Bildung und<br />

die Berufsbildung gelten soll, hat sein<br />

Gegenstück im Erwerb von Basisqualifikationen<br />

und von Grundkompetenzen.<br />

Wer in der Schweiz keinen geradlinigen<br />

Bildungsparcours absolviert hat, verfügt<br />

oft nicht über die dringend notwendigen<br />

Voraussetzungen für eine Qualifizierung<br />

für den Arbeitsmarkt. Einer nicht<br />

zu unterschätzenden Anzahl von<br />

Schweizerinnen und Schweizern,<br />

vor allem aber Menschen mit<br />

Migrationshintergrund, fehlt es aber gerade<br />

an den notwendigen Basiskenntnissen und<br />

Schlüsselkompetenzen für das Bestehen<br />

im Arbeitsmarkt.<br />

Entsprechende Massnahmen sind deshalb<br />

dringend nötig. Das Weiterbildungsgesetz,<br />

das 2017 in Kraft treten soll, sieht den Erwerb<br />

von Grundkompetenzen explizit vor. Das ist<br />

äusserst positiv. Nur braucht es dazu die nötigen<br />

finanziellen Mittel. Aus Sicht der SKOS<br />

sind diese in einem Umfang bereitzustellen,<br />

dass ernsthafte Projekte, mit denen mittelund<br />

langfristig die Zahl der Sozialhilfebeziehenden<br />

und die sozialen Kosten insgesamt<br />

reduziert werden können, tatsächlich durchgeführt<br />

und wirksam werden können.<br />

Dorothee Guggisberg<br />

Geschäftsführerin SKOS<br />

aktuell 3/15 ZeSo<br />

5


13 Fragen an Willy Benz<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

Sind Sie eher arm oder eher reich?<br />

Finanziell betrachtet bin ich sicherlich nicht reich,<br />

obwohl ich ein gutes Gehalt habe. Mein Reichtum<br />

liegt in den Möglichkeiten, die mir meine Arbeit bietet.<br />

So kann ich zum Beispiel meine wissenschaftliche<br />

Neugier mit den Projekten stillen, an denen ich<br />

arbeite. Ausserdem kann ich mich regelmässig mit<br />

Kollegen aus der <strong>ganz</strong>en Welt treffen und über Astrophysik<br />

diskutieren sowie meine Leidenschaft für das<br />

Weltall an Studierende und die allgemeine Öffentlichkeit<br />

weitergeben.<br />

Und schliesslich liegt mein Reichtum darin, eine<br />

Familie wachsen zu sehen.<br />

Was empfinden Sie als besonders ungerecht?<br />

Dass nicht alle im Leben dieselben Chancen haben.<br />

Sie können am falschen Ort oder zur falschen<br />

Zeit geboren werden. Diese Menschen müssen umso<br />

härter arbeiten, um diejenigen Möglichkeiten zu<br />

erhalten, die für andere Menschen <strong>ganz</strong> selbstverständlich<br />

sind.<br />

Glauben Sie an die Chancengleichheit?<br />

Tatsächlich glaube ich an Chancengleichheit für<br />

alle. Leider geschieht dies aber nicht automatisch.<br />

Die Gesellschaft ist weltweit so organisiert, dass<br />

sich Unterschiede schon sehr früh im Leben entwickeln.<br />

Dies ist auch in der Schweiz nicht anders.<br />

Die Möglichkeiten zu schaffen, dass jeder und jede<br />

sein Potenzial erreicht, ist nicht nur eine Frage der<br />

Gerechtigkeit. Es liegt grundsätzlich in unser aller<br />

Interesse.<br />

Was bewirken Sie mit Ihrer Arbeit?<br />

Ich versuche, die Natur besser zu verstehen. Im<br />

Zentrum steht dabei die Frage, wie sich Planeten bilden<br />

und weiterentwickeln und was es dazu braucht,<br />

dass auf einem Planeten Leben existieren kann. Um<br />

dies herauszufinden, arbeiten wir an neuen Methoden<br />

und neuen Technologien. Einige davon finden<br />

schliesslich den Weg ins tägliche Leben. Von Neugier<br />

getriebene Forschung ist seit jeher ein Motor,<br />

der die Gesellschaft vorangebracht hat. Und ich leiste<br />

meinen kleinen Beitrag dazu.<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

Für welches Ereignis oder für welche Begegnung würden<br />

Sie ans andere Ende der Welt reisen?<br />

Professionelle Astronomen reisen grundsätzlich<br />

viel und oft zu weit entlegenen Destinationen, um<br />

an Sitzungen teilzunehmen oder das Universum zu<br />

beobachten. Daher ist es für mich ein Luxus, wenn<br />

ich ohne zu reisen zwei Wochen zu Hause bleiben<br />

kann.<br />

Wenn Sie in der Schweiz drei Dinge verändern könnten,<br />

welche wären das?<br />

Ich habe 13 Jahre lang im Ausland gelebt und verschiedene<br />

Arten kennengelernt, wie sich ein Land<br />

selber organisieren kann. Dies hat mich einerseits<br />

dankbar gemacht für viele Aspekte der Schweiz.<br />

Aber es hat mir auch kritische Punkte aufgezeigt, die<br />

verbessert werden könnten. Ich bin überzeugt, dass<br />

die Schweiz mehr in die nächsten Generationen investieren<br />

muss, sie sind unsere Zukunft. Dies beginnt<br />

etwa bei der Unterstützung der Familien mit kleinen<br />

Kindern, damit das tägliche «Rodeo» zwischen Arbeit<br />

und Kinderbetreuung vermieden werden kann.<br />

Ausserdem müssen wir dafür sorgen, dass unser<br />

einzigartig vielfältiges Bildungssystem ausreichend<br />

finanziert ist. Und wir müssen Rahmenbedingungen<br />

schaffen, damit junge Menschen ihre Ausbildung<br />

abschliessen und einen Job finden können, der zu<br />

ihren Fähigkeiten passt.<br />

Können Sie gut verlieren, und woran merkt man das?<br />

Ich bin kein guter Verlierer. Forschung ist ein sehr<br />

wettbewerbsintensives Umfeld, in dem es schwierig<br />

ist zu überleben, wenn man zu leicht verliert. Und<br />

wenn ich einmal verliere, dann ist es für mich eine<br />

Herausforderung, beim nächsten Mal zu gewinnen.<br />

Bügeln Sie Ihre Blusen selbst?<br />

Nein, hier bekenne ich mich schuldig! Ich habe<br />

das Glück, dass sich meine Frau darum kümmert.<br />

Ich versuche dies mit anderen Aufgaben zu Hause<br />

zu kompensieren. Aber ich weiss, das klingt furchtbar<br />

altmodisch!<br />

Was bedeutet Ihnen Solidarität?<br />

Solidarität ist für mich, mit anderen die guten wie<br />

auch die schlechten Ereignisse zu teilen, die sich<br />

zu Hause, bei der Arbeit oder in der Gesellschaft<br />

ereignen. Offensichtlich fällt uns Solidarität immer<br />

leichter mit Menschen, die wir kennen. Hingegen ist<br />

es eine Herausforderung, mit Menschen solidarisch<br />

zu sein, die wir nicht kennen. Aber ich denke, dass<br />

unsere Gesellschaft ohne Solidarität keine echte<br />

Zukunft hat.<br />

6 ZeSo 3/15 13 fragen


Willy Benz<br />

Bild: zvg<br />

Willy Benz (geb. 1955) ist Astrophysiker am Zentrum für Weltraumforschung<br />

und Habitabilität und Direktor des Physikalischen Instituts der Universität<br />

Bern. Er leitet für die Schweiz das Weltraumprojekt «Cheops», für das ein<br />

mit einem Weltraumteleskop ausgestatteter Satellit erdähnliche Planeten<br />

ausserhalb unseres Sonnensystems untersucht und ausmisst. Willy Benz<br />

ist wissenschaftlicher Vertreter der Schweiz im ESO Council (European<br />

Southern Observatory) und Leiter des Nationalfondsprojekts PlanetS. Er<br />

lebt in Neuenburg, ist verheiratet und Vater von drei Kindern.<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

Haben Sie eine persönliche Vision?<br />

Ja, der wissenschaftliche Fortschritt soll einen<br />

Nutzen für die <strong>ganz</strong>e Gesellschaft haben.<br />

Welcher Begriff ist für Sie ein Reizwort?<br />

Ruhestand! Grosse Forschungsprojekte nehmen<br />

viele Jahre in Anspruch, bis sie abgeschlossen<br />

werden. Jetzt, wo ich 60 geworden bin, kommt die<br />

Altersgrenze näher und hindert mich daran, neue<br />

Ideen in Angriff zu nehmen. Das ist sehr frustrierend.<br />

Gibt es Dinge, die Ihnen den Schlaf rauben?<br />

Viele. Ich neige dazu, mich um viele Dinge zu sorgen.<br />

Ich mag es, wenn Dinge gut organisiert und<br />

vorbereitet sind. Eine kleine Störung im Plan und<br />

schon besteht die Gefahr einer schlaflosen Nacht.<br />

Manchmal stehe ich mitten in der Nacht auf,<br />

wenn mir <strong>ganz</strong> plötzlich eine Idee in den Sinn<br />

kommt. Danach ist es natürlich schwierig, wieder<br />

Schlaf zu finden.<br />

Mit wem möchten Sie gerne per Du sein?<br />

Das ist mir nicht wirklich wichtig. Ich kann mit<br />

einer Person per Sie sein und eine gute Beziehung<br />

haben und umgekehrt. Wer zu schnell zum Du<br />

wechselt, läuft Gefahr, dass das Du die Bedeutung<br />

der persönlichen Nähe verliert und sich zum Symbol<br />

von «Coolness» wandelt.<br />

13 fragen 3/15 ZeSo<br />

7


Lehrabschluss nicht bestanden:<br />

Müssen Eltern weiter unterstützen?<br />

Ein junger Mann ohne Ausbildung arbeitet nicht und lebt bei den Eltern. Ob diese verpflichtet sind,<br />

ihn mit Volljährigenunterhalt zu unterstützen, hängt von vier Voraussetzungen ab.<br />

Frage<br />

Ein junger Mann, der vor zehn Monaten<br />

seine Lehrabschlussprüfung nicht bestanden<br />

hat, arbeitet nicht und lebt bei seinen<br />

Eltern. Diese sind nicht länger bereit, ihn<br />

zu finanzieren. Deshalb meldet er sich beim<br />

Sozialamt, das ihn auffordert, sich vom<br />

RAV beraten zu lassen. Der junge Mann<br />

kommt zur Einsicht, dass ihm das Nachholen<br />

des Lehrabschlusses die besten Perspektiven<br />

bietet. Sind die Eltern verpflichtet,<br />

ihn während der Lehre zu unterstützen?<br />

Grundlagen<br />

Die Unterhaltspflicht der Eltern dauert bis<br />

zur Volljährigkeit des Kindes. Hat es dann<br />

noch keine angemessene Ausbildung,<br />

müssen die Eltern – soweit es ihnen nach<br />

den gesamten Umständen zugemutet werden<br />

darf – für seinen Unterhalt aufkommen,<br />

bis eine entsprechende Ausbildung<br />

ordentlicherweise abgeschlossen werden<br />

kann (vgl. Art. 277 ZGB). Das volljährige<br />

Kind soll weder auf eine Erstausbildung<br />

verzichten noch eine begonnene Erstausbildung<br />

abbrechen müssen, weil es sich<br />

um seinen Lebensunterhalt kümmern<br />

muss. Der Volljährigenunterhalt soll das<br />

Absolvieren einer angemessenen Ausbildung<br />

ermöglichen und dazu muss der<br />

Unterhalt sichergestellt sein. Volljährigenunterhalt<br />

ist geschuldet, wenn vier Voraussetzungen<br />

kumulativ erfüllt sind.<br />

1. Fehlen einer angemessenen Ausbildung:<br />

Der Volljährigenunterhalt steht in engem<br />

Zusammenhang mit der elterlichen<br />

Erziehungspflicht, zu der gemäss<br />

PRAXIS<br />

In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />

der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />

und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />

Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />

Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />

(einloggen) SKOS-Line.<br />

Art. 302 Abs. 2 ZGB auch gehört, dem<br />

Kind eine seinen Fähigkeiten und Neigungen<br />

entsprechende allgemeine<br />

und berufliche Ausbildung zu ermöglichen.<br />

Die Ausbildung muss es dem<br />

Kind erlauben, seine vollen Fähigkeiten<br />

zum Erlangen der finanziellen<br />

Unabhängigkeit zu nutzen. Die Eltern<br />

haben dem Kind so lange beizustehen,<br />

wie es diese Ausbildung erfordert<br />

(vgl. BGer 5C.249/2006 E. 3.2).<br />

2. Zumutbarkeit der Unterhaltsleistung in<br />

persönlicher und finanzieller Hinsicht:<br />

Unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit<br />

sind nicht nur die wirtschaftlichen<br />

Verhältnisse der Eltern, sondern<br />

auch die persönliche Beziehung zwischen<br />

den Unterhaltspflichtigen und<br />

dem Kind zu beachten. Eltern und<br />

Kinder sind einander allen Beistand,<br />

alle Rücksicht und Achtung schuldig,<br />

die das Wohl der Gemeinschaft erfordert<br />

(Art. 272 ZGB). Eine schuldhafte<br />

Verletzung dieser Pflicht, namentlich<br />

wenn das Kind die Beziehung zu den<br />

Eltern bewusst abbricht oder sich dem<br />

Kontakt entzieht, kann die Zahlung<br />

von Volljährigenunterhalt unzumutbar<br />

machen, selbst wenn die Eltern<br />

dazu wirtschaftlich in der Lage wären<br />

(BGer 5A_503/2012 E.3.1 und<br />

3.3.2).<br />

3. Zielstrebigkeit der Ausbildung: Das<br />

Kind muss die Ausbildung in normaler<br />

Zeit abschliessen, das heisst, es hat sich<br />

mit Eifer oder zumindest gutem Willen<br />

der Ausbildung zu widmen. Die Eltern<br />

sind nicht unbedingt bis zum Abschluss<br />

einer Ausbildung zur Unterhaltsleistung<br />

verpflichtet. Ebenso wenig gibt es<br />

eine absolute Altersgrenze. Der Student,<br />

der seine Zeit verliert, hat keinen Unterhaltsanspruch;<br />

aber eine Verzögerung<br />

wegen erfolgloser Perioden oder gelegentlichem<br />

Ausfall führt für sich alleine<br />

nicht zum Verlust des Unterhaltsanspruchs<br />

(vgl. BGE 117 II 127 E. 3.b).<br />

4. Mangelnde Eigenversorgungskapazität<br />

des Kindes: Die Eigenverantwortung<br />

des Kindes geht der Unterhaltspflicht<br />

der Eltern vor (vgl. Art. 276 Abs. 3 ZGB).<br />

Diese Eigenverantwortung besteht<br />

unabhängig von der wirtschaftlichen<br />

Leistungsfähigkeit der Eltern. Soweit mit<br />

der Ausbildung vereinbar, muss das Kind<br />

nach Volljährigkeit alle Möglichkeiten<br />

ausschöpfen, um den Unterhalt während<br />

der Ausbildung selbst zu bestreiten (vgl.<br />

BGer 5C.150/2005 E. 4.4.1). Dies gilt<br />

erst recht, wenn das Kind grundsätzlich<br />

in der Lage wäre, selber für seinen Unterhalt<br />

aufzukommen, auch wenn es noch<br />

keine angemesse Erstausbildung abgeschlossen<br />

hat. Während eines längeren<br />

Ausbildungsunterbruchs ist von einem<br />

Ruhen der elterlichen Unterhaltspflicht<br />

auszugehen.<br />

Antwort<br />

Aktuell ruht die Unterhaltspflicht der<br />

Eltern, weil der junge Mann grundsätzlich<br />

in der Lage wäre, seinen Lebensunterhalt<br />

mit eigener Arbeitstätigkeit zu finanzieren.<br />

Sobald er sich wieder in einer Ausbildung<br />

befindet, lebt die Unterhaltspflicht der<br />

Eltern wieder auf. Im Hinblick darauf sollte<br />

frühzeitig geprüft werden, ob den Eltern<br />

nach den gesamten Umständen zugemutet<br />

werden kann, für seinen Unterhalt aufzukommen.<br />

Es ist empfehlenswert, die Frage<br />

mit dem jungen Mann und den Eltern<br />

möglichst früh zu diskutieren und eine<br />

Einigung herbeizuführen. Sollte keine<br />

Einigung zustande kommen, muss die<br />

Sozialhilfe leistende Sozialbehörde – nicht<br />

das volljährige Kind – den Anspruch auf<br />

gerichtlichem Weg klären (vgl. Art. 289<br />

Abs. 2 ZGB), also gegen die Eltern eine<br />

Klage beziehungsweise vorerst ein Schlichtungsgesuch<br />

einreichen.<br />

•<br />

Heinrich Dubacher<br />

Kommission Richtlinien und Praxis der SKOS<br />

8 ZeSo 3/15 praxis


Unterschiedliche Regeln bei der<br />

Verwandtenunterstützung<br />

Der dritte Beitrag der Serie «Monitoring Sozialhilfe» befasst sich mit den kantonalen Vorschriften zur<br />

Beteiligung von Verwandten am Unterhalt von sozialhilfebedürftigen Familienmitgliedern.<br />

Leistungen der Sozialhilfe sind subsidiär<br />

und bedarfsabhängig. Sie werden erst gewährt,<br />

wenn das eigene Einkommen, das<br />

eigene Vermögen, Renten oder Unterhaltsansprüche<br />

zur Deckung des minimalen<br />

Bedarfs nicht ausreichen. Die Subsidiarität<br />

beschränkt sich nicht nur auf persönliche<br />

finanzielle Möglichkeiten und Leistungen<br />

von Sozialversicherungen, sondern bezieht<br />

auch die Familie mit ein (Art. 328 ZGB).<br />

Die SKOS-Richtlinien empfehlen den<br />

Sozialdiensten im Abschnitt F.4, die familienrechtliche<br />

Unterstützungspflicht bei<br />

Verwandten mit überdurchschnittlichem<br />

Einkommen beziehungsweise Vermögen in<br />

Betracht zu ziehen. Sie geben weiter einen<br />

Anhaltspunkt, ab wann eine sorgfältige und<br />

genaue Prüfung durchgeführt und darauf<br />

basierend eine monatliche Unterstützungssumme<br />

berechnet und vereinbart werden<br />

soll. Das ist der Fall bei einem steuerbaren<br />

Einkommen ab 120 000 Franken pro Jahr<br />

für eine Einzelperson respektive 180 000<br />

Franken für Paare. Dieses massgebliche<br />

Einkommen kann für jedes minderjährige<br />

Kind um 20 000 Franken erhöht werden.<br />

Bei den Vermögen empfehlen die Richtlinien,<br />

ab 250 000 Franken für Einzelpersonen,<br />

500 000 für Paare und zusätzlich<br />

40 000 Franken pro minderjähriges Kind<br />

eine Unterstützung anzufragen. Diese<br />

Beträge gelten seit Januar 2009.<br />

Die Mehrheit folgt den Empfehlungen<br />

17 Kantone haben diese Empfehlungen in<br />

ihre Gesetzgebung oder in ihr kantonales<br />

Handbuch für Sozialhilfe aufgenommen.<br />

Der Kanton Obwalden stützt sich darauf,<br />

ohne dies im Sozialhilfegesetz explizit zu<br />

erwähnen. Die Kantone Wallis und Appenzell-Ausserrhoden<br />

wenden nach wie vor die<br />

Empfehlungen von 2008 an, die rund<br />

halb so hohe Grenzen für das Einfordern<br />

von Verwandtenunterstützung vorsehen.<br />

In den Kantonen Genf und Waadt basieren<br />

die Regelungen ebenfalls auf den SKOS-<br />

Richtlinien. Jedoch wird nicht zwischen<br />

«Monitoring Sozialhilfe»<br />

Die Artikelserie zum «Monitoring Sozialhilfe»<br />

gewährt Einblicke in die Vielfalt der kantonalen<br />

Sozialhilfe-Bestimmungen und deren konkrete<br />

Umsetzung in der Praxis.<br />

Einkommen und Vermögen unterschieden,<br />

sondern diese beiden Grössen werden<br />

im «Revenu déterminant» zusammengefasst.<br />

Wenn eine Einzelperson ein Einkommen<br />

von über 150 000 Franken (Genf)<br />

respektive 130 000 Franken (Waadt) aufweist<br />

und ein Paar mehr als 200 000<br />

Franken respektive 180 000 Franken,<br />

werden sie bezüglich Unterstützungsleistungen<br />

für ihre sozialhilfeabhängigen<br />

Verwandten kontaktiert. Drei Kantone<br />

(Appenzell-Innerrhoden, Thurgau und Uri)<br />

schränken die Unterstützungspflicht nicht<br />

weiter ein und prüfen die Möglichkeiten im<br />

Einzelfall.<br />

Als einziger Kanton verzichtet der Kanton<br />

Basel-Landschaft seit 2014 gänzlich<br />

darauf, die Unterstützungsmöglichkeiten<br />

durch Verwandte zu prüfen. Der Entscheid<br />

basiert auf einer Kosten-/Nutzen-Analyse,<br />

die zum Schluss kam, dass die Zahl der<br />

potenziellen Unterstützungsfälle durch Verwandte<br />

derart gering ist, dass eine systematische<br />

Prüfung nicht wirtschaftlich ist. Eine<br />

Prüfung ausschliesslich in Vermutungsfällen<br />

lehnte der Kanton mit der Begründung<br />

ab, dass dies die Tür für Willkür öffne.<br />

Dort wo die Sozialhilfe eine kommunale<br />

Aufgabe ist, kann die Praxis der einzelnen<br />

Gemeinden von den Empfehlungen der<br />

Kantone allerdings abweichen. Das bei den<br />

kantonalen Sozialämtern 2014 durchgeführte<br />

Monitoring zeigt, dass 19 Amtsstellen<br />

annehmen, dass ihre Empfehlungen<br />

von den Gemeinden mehrheitlich umgesetzt<br />

werden. Fünf kantonale Amtsstellen<br />

gehen hingegen davon aus, dass höchstens<br />

in der Hälfte der Fälle nach der empfohlenen<br />

Praxis vorgegangen wird. Auch hier<br />

wohl vor allem deshalb, weil sich Aufwand<br />

und Ertrag einer aufwändigen Prüfung für<br />

kleine Sozialdienste kaum rechnen. Auch<br />

die Statistik des Sozialamts Bern weist<br />

auf die geringe Bedeutung dieses Instruments<br />

hin. Die Zahl der eingeforderten<br />

Unterstützungen kann an zwei Händen<br />

abgezählt werden. Die einkassierten Rückzahlungen<br />

liegen vermutlich unter den für<br />

diese Prüfung aufgewendeten Personalkosten.<br />

Offizielle Zahlen gibt es wenige.<br />

Die Unterstützungspflicht erstreckt sich<br />

auf die Verwandtschaft in direkter Linie, das<br />

heisst auf Kinder, Eltern und Grosseltern. In<br />

der Praxis ist der Rückgriff über zwei Generationen<br />

schwierig. Bei einem Paar müssen<br />

bei der Prüfung der Unterstützungspflicht<br />

von Grosseltern aus Gründen der Gleichbehandlung<br />

formal alle vier Grosselternpaare<br />

respektive alle acht Grosseltern, vorausgesetzt,<br />

dass sie noch leben, einer Prüfung<br />

unterzogen werden. Weigern sich Verwandte,<br />

die geforderte Unterstützung zu leisten,<br />

müssen die Sozialdienste eine Zivilklage<br />

antreten, da sie nicht weisungsbefugt sind.<br />

Fazit<br />

Auf gesetzlicher Ebene können grob drei<br />

verschiedene Praktiken unterschieden werden,<br />

wie und ob Verwandte von sozialhilfebedürftigen<br />

Menschen zu deren Unterstützung<br />

herbeigezogen werden: die Prüfung<br />

des Einzelfalls ab einer bestimmten Einkommens-<br />

und Vermögenslimite, die Prüfung<br />

ohne Vermögenslimite und der gänzliche<br />

Verzicht auf eine Prüfung aufgrund<br />

einer Kosten-/Nutzen-Abwägung. Wie andere<br />

Instrumente im Zusammenhang mit der<br />

Sozialhilfe wird auch die Verwandtenunterstützung<br />

in den Kantonen unterschiedlich<br />

gehandhabt. Entsprechend wird der Sinn<br />

und Zweck der Verwandtenunterstützung<br />

in Fachkreisen unterschiedlich beurteilt<br />

und teilweise kontrovers diskutiert. •<br />

Christin Kehrli<br />

Leiterin Fachbereich Grundlagen SKOS<br />

SKOS-RICHTLINIEN 3/15 ZeSo<br />

9


«Teilhaben kann man nur, wenn<br />

man auch die Chance dazu erhält»<br />

Das Migros-Kulturprozent fördert mit zahlreichen nationalen Initiativen und lokalen Projekten das soziale<br />

Engagement und den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Bevölkerung. Gespräch mit Hedy Graber,<br />

Leiterin der Direktion Kultur und Soziales beim Migros-Genossenschafts-Bund.<br />

Frau Graber, wussten Sie, dass das<br />

Leitbild zum Engagement des Migros-<br />

Kulturprozents dem Leitgedanken der<br />

Sozialhilfe recht ähnlich ist?<br />

Aktiv ist mir das so nicht bewusst. Aber<br />

klar, es ist ein Ziel der Sozialhilfe, dass sie<br />

den Menschen Teilhabe am gesellschaftlichen<br />

Leben ermöglichen will und das tun<br />

wir auch.<br />

Ihr Leitbild spricht vom Erleichtern<br />

des Zugangs zu Bildung und kulturellen<br />

Angeboten mit dem Ziel, die<br />

gesellschaftliche Teilhabe und die<br />

persönliche Entfaltung zu fördern.<br />

Wir versuchen mit unseren Projekten,<br />

Begegnungsplattformen zu schaffen und<br />

Leute – auch jene, denen der gesellschaftliche<br />

Zugang fehlt oder droht, abhanden<br />

zu kommen – niederschwellig anzusprechen.<br />

Denn teilhaben und partizipieren<br />

kann man nur, wenn man auch die Chance<br />

dazu erhält.<br />

Wie trägt eine lebendige Kunst- und<br />

Kulturlandschaft zur Stärkung der<br />

Zivilgesellschaft bei?<br />

Auf unseren Produkten steht Kulturprozent,<br />

aber beim Inhalt geht es um einiges<br />

mehr. Wir wollen einen gesellschaftlichen<br />

Mehrwert stiften. Durch Partizipation<br />

kann jede und jeder ein Teil des Ganzen<br />

sein. Wir schaffen insbesondere Räume, in<br />

denen Menschen gemeinsam etwas unternehmen.<br />

Das Projekt Generationen im Museum<br />

etwa soll generationenübergreifende<br />

«Tandems», beispielsweise Grosseltern und<br />

Enkel, zum Museumsbesuch motivieren.<br />

Nicht primär wegen der ausgestellten<br />

Kunst, sondern damit sie sich darüber austauschen,<br />

was sie dabei persönlich erleben.<br />

In der Öffentlichkeit wird das Migros-<br />

Kulturprozent primär als Förderfonds<br />

für Kunst, Literatur, Tanz und Musik<br />

10 ZeSo 3/15 Interview


wahrgenommen. Ihre im engeren<br />

Sinn sozialen Projekte sind weniger<br />

bekannt. Weshalb?<br />

Ein soziales Projekt ist anders konzipiert<br />

als eine Ausstellung oder ein Konzert. Wir<br />

arbeiten in diesen Projekten immer mit<br />

engagierten Personen und Organisationen<br />

vor Ort zusammen. Sie sind es, die etwas<br />

in den Projekten tun und ohne sie gäbe es<br />

diese Projekte gar nicht. Die Projekte sind<br />

stark regional und lokal verankert, deshalb<br />

erfolgt die Berichterstattung oft regional<br />

und lokal. Es geht dabei ja um Menschen,<br />

die an ihrem Ort, in ihrer Umgebung, einen<br />

wichtigen Beitrag für die Gesellschaft<br />

leisten. Das soll auch sichtbar werden.<br />

Die Migros betreibt seit rund 60 Jahren<br />

Kulturförderung. Inwiefern haben sich<br />

die Kulturförderung und der Kulturbegriff<br />

im Lauf der Zeit verändert?<br />

Für Gottlieb Duttweiler, den Gründer<br />

der Migros und Initianten des Kulturprozents,<br />

war die Verantwortung, die man gegenüber<br />

der Gesellschaft trägt, ein grosses<br />

Thema. Sein Kulturbegriff war sehr breit<br />

gefasst, und er wollte der Gesellschaft etwas<br />

zurückgeben. Wie sich die Schwerpunkte<br />

verlagert haben, sieht man beispielsweise<br />

daran, dass vor 25 Jahren bei uns Altersund<br />

Frauenfragen im Mittelpunkt standen,<br />

heute sind es die vier Schwerpunkte Freiwilligenarbeit,<br />

Intergenerationelle Projekte,<br />

Migration und Gesundheit. Wir bewegen<br />

uns am Puls der Zeit und beobachten, wo<br />

der Schuh in gesellschaftlichen Fragen<br />

drückt und wo wir mit unseren Mitteln Lücken<br />

schliessen können.<br />

Sie sprechen von Lücken schliessen.<br />

Wie definieren Sie Ihre Rolle in dieser<br />

Hinsicht?<br />

Wir haben einerseits komplementäre<br />

Angebote, mit denen wir gewisse Lücken<br />

schliessen helfen. Gleichzeitig stossen wir<br />

«Es ist eine<br />

Illusion zu<br />

glauben, dass<br />

alles für alle ist.»<br />

auch aktiv Themen und Initiativen an.<br />

Nehmen wir als Beispiel den Bereich Generationen.<br />

Hier fehlt eine kohärente Politik<br />

auf nationaler Ebene. Deshalb gehen<br />

wir das Thema seit Jahren aktiv an, testen<br />

Generationenprojekte beispielsweise in Gemeinden<br />

und bringen so die Diskussion in<br />

diesem zukunftsrelevanten Bereich weiter.<br />

Was verstehen Sie unter «Zugang für<br />

alle»?<br />

Es ist eine Illusion zu glauben, dass alles<br />

für alle ist. Unter Zugang für alle verstehe<br />

ich einerseits das Anbieten von unterschiedlichen<br />

Dingen für unterschiedliche<br />

Zielgruppen. Andererseits geht es auch<br />

darum, ein und dasselbe Angebot für unterschiedliche<br />

Zielgruppen zugänglich zu<br />

machen. Nehmen wir die Gesundheitsversorgung.<br />

Wir wissen, dass Migrantinnen<br />

und Migranten einen erschwerten Zugang<br />

zu den Angeboten haben, weil etwa die<br />

hiesigen Angebote wie die Mütter- und<br />

Väterberatung nicht bekannt sind oder<br />

das Angebot zu teuer ist. Ein anderes Beispiel<br />

ist das Museum, das barrierefrei ist<br />

oder über ein spezielles Kinderprogramm<br />

verfügt, damit explizit auch junge Generationen<br />

angesprochen werden. Hier gilt es,<br />

auf unterschiedliche Weise diese Hürden<br />

abzubauen, damit eben der Zugang für alle<br />

auch wirklich gewährleistet ist.<br />

Inwieweit sollten auch Armutsbetroffene<br />

die Möglichkeit haben, kulturelle<br />

Angebote zu konsumieren?<br />

Es ist sehr wichtig, das man auch mit<br />

wenig Geld partizipieren kann und nicht<br />

ausgeschlossen wird. In diesem Sinne beteiligen<br />

wir uns seit 2010 an der «Kultur-<br />

Legi» der Caritas, die den Inhaberinnen<br />

und Inhabern eine 50-prozentige Ermässigung<br />

auf Eintritte zu unseren und auch<br />

anderen Veranstaltungen ermöglicht. Das<br />

ist eine einfache Massnahme, die dazu beiträgt,<br />

dass Leute in prekären Situationen<br />

nicht abgehängt werden.<br />

Wie beurteilen Sie die zunehmenden<br />

Individualisierungstendenzen in unserer<br />

Gesellschaft?<br />

Individualisierung und die zunehmende<br />

Mobilität sind grosse Herausforderungen,<br />

weil sie einsam machen können<br />

und damit auf den gesellschaftlichen<br />

Zusammenhalt wirken. Wenn Sie täglich<br />

zwei Stunden pendeln und zuhause noch<br />

Verpflichtungen haben, wird es schwierig,<br />

sich freiwillig oder sozial zu engagieren.<br />

Im digitalen Kosmos, der vielleicht auch<br />

noch zu diesen Entwicklungen gehört,<br />

kommt es in einzelnen Communities zwar<br />

zu Szenebildungen, aber als Individuum<br />

fühlt man sich weniger angesprochen als<br />

wenn man mit anderen an einem Tisch<br />

sitzt. Es ist extrem wichtig, die Leute aus<br />

dem Haus, aus ihrer «Culture de chambre»,<br />

herauszulocken. Es geht uns bei unseren<br />

Projekten auch darum, eine Kontextualisierung<br />

zu stiften.<br />

Mit welchen Projekten unterstützen<br />

Sie Jugendliche?<br />

Beispielsweise mit den Projekt Kebab+<br />

– Kochen, Essen, Begegnen, Austauschen,<br />

Bewegen –, bei dem wir mit dem Dachverband<br />

offene Kinder- und Jugendarbeit<br />

Schweiz zusammenarbeiten. Wir möchten<br />

damit Jugendliche ansprechen, die in<br />

nicht einfachen Situationen leben. Ihnen<br />

Möglichkeiten aufzeigen und Inputs ge- <br />

Interview 3/15 ZeSo<br />

11


en, damit sie für sich etwas finden, das<br />

ihr Interesse weckt. Gleichzeitig ist Kebab+<br />

auch ein Gesundheitsprojekt, und<br />

auch hier ist der Moment der Begegnung<br />

zentral.<br />

Diverse Ihrer Projekte haben eine<br />

gesündere Ernährung zum Ziel. Trotzdem<br />

hängen in der Migros – wie in<br />

jedem Supermarkt – rund um die Kassen<br />

all die ungesunden Schleckereien<br />

und der Junk Food. Wie gehen Sie mit<br />

solchen Zielkonflikten um?<br />

Indem wir uns Migros-intern einbringen.<br />

Unser Fachspezialist für Gesundheitsfragen<br />

sitzt bei strategischen Sitzungen,<br />

in denen auch Gesundheitsfragen angesprochen<br />

werden, mit am Tisch. Aber es ist<br />

auch klar: Das Kerngeschäft der Migros ist<br />

der Detailhandel.<br />

Die Migros schafft sich mit dem<br />

Kulturprozent viel externen Goodwill.<br />

Können Sie etwas zur «internen» Integrationsleistung<br />

der Migros sagen?<br />

Gibt es beispielsweise eine Strategie,<br />

die auf den Erhalt oder die Schaffung<br />

von Arbeitsplätzen oder Lehrstellen<br />

für Schwächere abzielt?<br />

Ob solche Initiativen systematisch erfolgen,<br />

weiss ich nicht, da ich nicht im<br />

HR-Bereich arbeite. Aber ich weiss beispielsweise,<br />

dass unsere Kantine mit einer<br />

Behindertenorganisation zusammenarbeitet.<br />

Hedy Graber<br />

Hedy Graber (geb. 1961) leitet seit 2004 die<br />

Direktion Kultur und Soziales beim Migros-<br />

Genossenschafts-Bund in Zürich. Sie hat<br />

in Genf Kunstgeschichte, Germanistik und<br />

Fotografie studiert und mit einem Lizenziat<br />

abgeschlossen. Von 1990 bis 1996 war sie<br />

Kuratorin der Kunsthalle Palazzo in Liestal,<br />

danach Direktorin der Abteilung für Moderne<br />

Kunst bei der Galerie Fischer Auktionen in<br />

Luzern, und von 1998 bis 2003 Beauftragte<br />

für Kulturprojekte des Kantons Basel-Stadt.<br />

Wie hoch ist Ihr jährliches Budget<br />

und zu welchen Anteilen können die<br />

diversen Sparten davon profitieren?<br />

Wir – das heisst die zehn Migros-<br />

Genossenschaften in der <strong>ganz</strong>en Schweiz<br />

und der Migros-Genossenschafts-Bund –<br />

haben rund 120 Millionen Franken zur<br />

Verfügung. Davon geht die Hälfte in die<br />

Bildung, primär in die Klubschulen. Rund<br />

30 Millionen fliessen in den Bereich Kultur<br />

und rund acht Millionen in soziale und<br />

gesellschaftliche Projekte.<br />

Gibt es einen Return-on-Investment<br />

für Ihr gesellschaftliches Engagement<br />

und woran erkennen Sie ihn?<br />

Beispielsweise, wenn ein Projekt von der<br />

Gesellschaft als nutzbringend anerkannt<br />

wird. Unser Hauptkriterium für die Unterstützung<br />

von Projekten ist gesellschaftliche<br />

Relevanz. Natürlich überprüfen und messen<br />

wir unsere Projekte regelmässig mit<br />

Indikatoren. Aber man kann auch weichere<br />

Kriterien nehmen, wie etwa: Wann<br />

ist ein Projekt so gut vernetzt, dass es allein<br />

«fliegen» kann? Das Projekt Innovage, im<br />

Rahmen dessen pensionierte Manager und<br />

Managerinnen ihr Wissen und ihre Erfahrung<br />

an Vereine und gemeinnützige Organisationen<br />

weitergeben, hat sich ziemlich<br />

verselbständigt. Ein anderes wichtiges<br />

Kriterium, an dem wir unseren Erfolg messen<br />

können, ist, ob ein Projekt eine starke<br />

Multiplikatorenwirkung erreicht. Das trifft<br />

etwa auf die «Grossmütterrevolution» zu.<br />

So gelingt es uns immer wieder, unzählige<br />

Leute für ein soziales Engagement zu<br />

gewinnen – sei dies als Mentorin in einem<br />

Arbeitsintegrationsprojekt, als engagierte<br />

Frau in der Grossmütterrevolution oder ein<br />

Migrantenverein, der sich aktiv im Quartier<br />

engagiert.<br />

Der Schwerpunkt dieser <strong>ZESO</strong>-<br />

Nummer ist dem Thema Grundkompetenzen<br />

gewidmet. Sind Sie in<br />

diesem Bereich auch aktiv?<br />

«Wir machen Politik,<br />

indem wir uns für den<br />

gesellschaftlichen<br />

Zusammenhalt<br />

engagieren.»<br />

12 ZeSo 3/15 Interview


Ja, mit den erwähnten Mentoring-<br />

Projekten, im Rahmen derer jemand einer<br />

anderen Person hilft, sich beispielsweise<br />

auf dem Arbeitsmarkt wieder zurechtzufinden.<br />

Wie hat sich bei den Klubschulen die<br />

Nachfrage für Angebote wie Lesen,<br />

Schreiben, Rechnen oder Deutsch lernen<br />

in den letzten Jahren entwickelt?<br />

Deutschkurse gehören mit über 46000<br />

Teilnehmenden im Jahr 2014 zu den<br />

meistgefragten Angeboten. Ein Grossteil<br />

davon entfällt auf spezifische Deutschkurse<br />

für Migrantinnen und Migranten,<br />

die damit ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt<br />

verbessern und ihre Teilhabe am<br />

gesellschaftlichen Leben vergrössern. Die<br />

Klubschule Migros setzt sich als Mitglied<br />

der IG Grundkompetenzen auf nationaler<br />

Ebene für bessere gesetzliche Rahmenbedingungen<br />

zum Beispiel im Kampf gegen<br />

Illettrismus ein.<br />

Sie unterstützen mit Ihrer Arbeit auch<br />

andere politische Anliegen, indem Sie<br />

sich für die Vereinbarkeit von Arbeit<br />

und Familie oder für die Gesundheitsförderung<br />

einsetzen. Denken Sie oder<br />

andere Personen aus dem Umfeld<br />

des Migros-Kulturprozents je darüber<br />

nach, sich stärker politisch zu engagieren?<br />

Nein, wir verfolgen einen anderen Ansatz.<br />

Wir wollen über unsere Projekte etwas<br />

bewirken. Wir machen Politik, indem wir<br />

uns für den gesellschaftlichen Zusammenhalt<br />

engagieren.<br />

Wie unabhängig respektive abhängig<br />

sind Sie bei wichtigen strategischen<br />

Entscheiden vom Detailhandelskonzern<br />

Migros?<br />

Als freiwilliges Engagement sind wir<br />

sehr unabhängig. In den Migros-Statuten<br />

steht, dass das Allgemeininteresse höher<br />

gestellt werden muss als das Migros-<br />

Genossenschafts-Interesse.<br />

Wie schätzen Sie die Diskussion um<br />

die Sozialhilfe ein?<br />

Die Diskussion ist extrem geprägt von<br />

Sparen und von Vorurteilen. Mit einer<br />

Spardiskussion allein werden die Probleme<br />

aber nicht gelöst. Man sollte vielmehr nach<br />

Mitteln und Wegen suchen, wie man die<br />

Leute befähigen kann, an der Gesellschaft<br />

zu partizipieren. Das fehlt mir in dieser Diskussion<br />

– es fehlt quasi der gelebte Alltag.<br />

Dabei kann man mit Projekten, die nicht<br />

alle Welt kosten, viel erreichen. Das müsste<br />

vermehrt in den Vordergrund rücken.<br />

Was könnten die Sozialhilfe oder die<br />

SKOS als Verband besser machen?<br />

Die Herausforderung ist wohl, aus der<br />

Schwarz-Weiss-Diskussion herauszufinden<br />

Bilder: Daniel Desborough<br />

und eine frische Palette von Argumenten<br />

und Nuancen zu präsentieren. Ich persönlich<br />

mache gute Erfahrungen mit möglichst<br />

einfachen Erklärungen, und damit,<br />

dass ich Herausforderungen vorausschauend<br />

angehe. <br />

•<br />

Das Gespräch führte<br />

Michael Fritschi<br />

Interview 3/15 ZeSo<br />

13


14 ZeSo 3/15 SCHWERPUNKT<br />

Bild: Keystone


Das Fehlen von Grundkompetenzen ist<br />

ein gesamtgesellschaftliches Problem<br />

Die Erhöhung der Teilnahmequoten an Bildungsmassnahmen ist eine komplexe, kostenintensive<br />

Aufgabe. Sier erfordert klare Ziele, eine ausreichende Finanzierung sowie eine optimale Zusammenarbeit<br />

zwischen den beteiligten Akteuren.<br />

Das Fehlen von Grundkompetenzen wirkt sich auf mehreren Ebenen<br />

negativ aus: Betroffene Personen haben Schwierigkeiten, sich<br />

im Alltag zurechtzufinden. Sie sind akut gefährdet, aus dem<br />

Arbeitsprozess auszuscheiden oder sie sind bereits arbeitslos.<br />

Personen mit ungenügenden Grundkompetenzen haben oft ein<br />

sehr tiefes Selbstwertgefühl in Bezug auf ihre Arbeits- und Lernleistungsfähigkeit,<br />

verfügen über eine schlechtere Gesundheit als<br />

der Durchschnitt der Bevölkerung – und sie sind überdurchschnittlich<br />

oft von Armut betroffen. Betriebe wiederum können<br />

Mitarbeitende mit ungenügenden Grundkompetenzen nicht<br />

flexibel einsetzen und dadurch deren Leistungspotenzial nicht<br />

voll ausschöpfen. Volkswirtschaftlich wirkt sich die Problematik<br />

unter anderem auf die Höhe der Sozialkosten aus. Gemäss einer<br />

Studie des Büros BASS aus dem Jahr 2007 sind 18 Prozent der<br />

Arbeitslosen nur aufgrund ihrer Leseschwäche arbeitslos. Das<br />

Fehlen von Lesekompetenzen kostet die Arbeitslosenversicherung<br />

jährlich eine Milliarde Franken.<br />

Die vom Bundesamt für Statistik durchgeführte «Adult Literacy<br />

and Lifeskills (ALL)»-Studie zeigt, dass rund 800 000 Erwachsene<br />

in der Schweiz – das sind 16 Prozent der erwachsenen Wohnbevölkerung<br />

– einen einfachen Text nicht verstehen. Rund 430 000<br />

Erwachsene haben grosse Schwierigkeiten, einfache Rechenaufgaben<br />

zu lösen. Betroffen von dieser Problematik sind keinesfalls ausschliesslich<br />

Personen mit Migrationshintergrund. Auch sehr viele<br />

Schweizerinnen und Schweizer, die notabene die gesamte Schulzeit<br />

in der Schweiz absolviert haben und deren Muttersprache die<br />

Lokalsprache ist, bekunden Mühe mit den Grundkompetenzen.<br />

Personen mit ungenügenden Grundkompetenzen haben oft<br />

lückenhafte und von Misserfolgen geprägte Schulkarrieren hinter<br />

sich. 30 Prozent der Erwachsenen, die nur die obligatorische<br />

Schulzeit absolviert haben, verfügen über ungenügende Lesekompetenzen,<br />

so die ALL-Studie. Eine tiefe Qualifikation ist der<br />

grösste sozio-ökonomische Risikofaktor für ungenügende Grundkompetenzen.<br />

Ein weiterer bedeutender Risikofaktor ist der<br />

Migrationshintergrund: 44 Prozent der fremdsprachigen Einwanderer<br />

haben Mühe mit Lesen und 31 Prozent haben Probleme<br />

mit Alltagsmathematik. Weitere Risikofaktoren sind hohes Alter<br />

sowie tiefe berufliche Stellung.<br />

Geringe Teilnahme an Bildungsmassnahmen<br />

Die ALL-Studie zeigt auch: 28 Prozent der Sozialhilfebeziehenden<br />

verfügen über ungenügende Grundkompetenzen (siehe auch<br />

Beitrag S. 18f.). Nur sehr wenige der betroffenen Erwachsenen<br />

gehen ihr Defizit mit dem Besuch einer Bildungsmassnahme<br />

aktiv an. Weniger als ein Prozent der Erwachsenen mit Leseschwierigkeiten<br />

besuchen einen Kurs in Lesen und Schreiben.<br />

Die Gründe für diese tiefe Teilnahme sind vielfältig. Einerseits<br />

besteht nicht in allen Regionen der Schweiz ein adäquates<br />

Bildungsangebot im Bereich Grundkompetenzen. Andererseits<br />

existieren finanzielle, berufliche, soziale und zeitliche Barrieren,<br />

die die Zielgruppen daran hindern, ein Bildungsangebot im<br />

Bereich Grundkompetenzen nachzufragen und erfolgreich daran<br />

teilzunehmen.<br />

Die öffentliche Hand hat es bisher nicht geschafft, diese Barrieren<br />

in Zusammenarbeit mit den Weiterbildungsanbietern<br />

wesentlich zu senken und die Teilnahmequote zu erhöhen. Das<br />

liegt insbesondere daran, dass zu wenig finanzielle Mittel für<br />

die unabdingbaren Sensibilisierungs- und Werbemassnahmen<br />

für die bestehenden Kursangebote zu Verfügung stehen. Trotz<br />

der insgesamt deutlich erhöhten politischen Sensibilität für das<br />

Thema Grundkompetenzen haben sich in den letzten zehn Jahren<br />

die in den Kantonen verfügbaren Budgets nicht erhöht. Im Gegen-<br />

Ohne Basiswissen bleibt der Zugang zu vielen Tätigkeiten verwehrt.<br />

<br />

Bild: Keystone<br />

16 ZeSo 3/15 SCHWERPUNKT


grundkompetenzen<br />

teil: Aktuell stehen die bestehenden Budgets für die Förderung der<br />

Grundkompetenzen in mehreren Kantonen aufgrund von Sparbemühungen<br />

unter Druck.<br />

Für einen Paradigmen-Wechsel<br />

Eine weitere Hauptproblematik ist der Zugang zu den Betroffenen.<br />

Von der ALL-Studie ist bekannt, dass 64 Prozent der Erwachsenen<br />

mit tiefen Grundkompetenzen erwerbstätig sind und nie<br />

mit Stellen der öffentlichen Hand, beispielsweise mit den Förderstrukturen<br />

von ALV, IV und Sozialhilfe, in Kontakt kommen. In<br />

jüngster Zeit wird deshalb mit Projekten verstärkt versucht, über<br />

die Arbeitgeber einen Zugang zu schaffen und den Arbeitsplatz als<br />

Lernort für die Förderung von Grundkompetenzen zu nutzen<br />

(www.alice.ch/GO2). Damit dieser Ansatz gelingt, muss ein nicht<br />

zu unterschätzender Paradigmen-Wechsel bei der Angebotsgestaltung<br />

erfolgen: Die bestehenden Weiterbildungsangebote im Bereich<br />

Grundkompetenzen sind allgemeine Kurse, die auf das Aufholen<br />

von Defiziten ausgerichtet sind. Damit der Zugang über die<br />

Betriebe funktioniert, braucht es aber firmenspezifische Angebote,<br />

die konsequent auf die Bedürfnisse des Arbeitsplatzes sowie der<br />

Mitarbeitenden ausgerichtet sind.<br />

Die Erhöhung der Teilnahme ist eine komplexe, kostenintensive<br />

Aufgabe, die klare Ziele und Massnahmen, eine ausreichende<br />

Finanzierung sowie eine optimale Zusammenarbeit zwischen den<br />

beteiligten Akteuren erfordert. Mit dem Weiterbildungsgesetz<br />

(WeBiG), das vom Parlament im Juni 2014 verabschiedet wurde,<br />

besteht die (historische) Gelegenheit, diese Aufgabe anzugehen.<br />

Der Gesetzgeber hat dem Bund und den Kantonen den Auftrag<br />

erteilt, sich gemeinsam dafür einzusetzen, den Erwachsenen den<br />

Erwerb und Erhalt von Grundkompetenzen zu ermöglichen.<br />

Zur Umsetzung des Auftrags wurde ein sogenannter Fördertatbestand<br />

geschaffen, was bedeutet, dass der Bund und die Kantone<br />

zweckgebundene finanzielle Mittel bereitstellen müssen. Für<br />

die bevorstehende Umsetzung des WeBiG ist es nun zentral, dass<br />

die angestrebte Förderung so organisiert wird, dass die beschriebenen<br />

Probleme wirksam gelöst werden können.<br />

Hoffen auf das Weiterbildungsgesetz<br />

Die Umsetzung, die in der Verordnung zum Gesetz vorgesehen ist,<br />

fordert vor allem die Kantone: Sie sollen vierjährige kantonale Programme<br />

im Bereich Grundkompetenzen entwickeln und die auf<br />

nationaler Ebene gemeinsam festgelegten strategischen Ziele umsetzen.<br />

Mit diesen Programmen sollen die Kantone eine ihren Realitäten<br />

entsprechende Auswahl von Massnahmen, Angeboten<br />

oder Projekten treffen, die zur Zielerreichung beitragen. Es ist vorgesehen,<br />

dass sich der Bund mit jeweils maximal 50 Prozent an<br />

Was sind Grundkompetenzen?<br />

Zu den Grundkompetenzen von Erwachsenen gehören die<br />

Kompetenz, einfache Texte lesen und verstehen zu können<br />

(Literalität) sowie einfache mathematische Fragestellungen<br />

zu lösen (Alltagsmathematik), die Fähigkeit Informations- und<br />

Kommunikationstechnologien (IKT) zu nutzen sowie die Beherrschung<br />

der lokalen Amtssprache (Sprachkompetenz).<br />

www.alice.ch/de/themen/grundkompetenzen<br />

den kantonalen Programmen beteiligt. Positiv an dieser Umsetzungsstruktur<br />

ist, dass gemeinsame nationale Ziele existieren und<br />

dass die Kantone die Fördermassnahmen dennoch flexibel ausgestalten<br />

und auf ihre Bedürfnisse abstimmen können. Vorbild für<br />

dieses «Programmmodell» ist die aktuelle Praxis bei der Integrationsförderung.<br />

Dort schliesst das Staatssekretariat für Migration<br />

SEM auf Grundlage einer gemeinsamen Strategie von Bund und<br />

Kantonen vierjährige Vereinbarungen zur Umsetzung von kantonalen<br />

Integrationsprogrammen (KIP) ab. Ein KIP orientiert sich<br />

an der Strategie von Bund und Kantonen, hält die kantonalen Ziele<br />

und Massnahmen fest und definiert, welche Wirkungen erzielt<br />

werden sollen.<br />

Der Ansatz, gleich wie bei der Integrationsförderung auf die<br />

Strukturen der Kantone zu setzen, ist sinnvoll. Die Kantone können<br />

sowohl über eine flexible Ausgestaltung von Leistungsvereinbarungen<br />

mit Weiterbildungsanbietern als auch über Bildungsangebote<br />

im Rahmen der Regelstrukturen effektive Massnahmen<br />

zur Förderung der Grundkompetenzen umsetzen. Ein grosses<br />

Problem zeigt sich allerdings bei der Finanzierung. Bis jetzt hat<br />

der Bund lediglich jährlich zwei Millionen Franken für die Umsetzung<br />

des Weiterbildungsgesetzes vorgesehen. Die IG Grundkompetenzen,<br />

ein Verbund von 21 Organisationen, hat berechnet,<br />

dass für eine effektive Erhöhung der Teilnehmerzahlen ein Bundesbeitrag<br />

von rund 12 Millionen Franken notwendig ist. Es ist<br />

zu hoffen, dass das Parlament im Rahmen der Diskussion um die<br />

BFI-Botschaft die Fehlkalkulation des Bundes noch korrigiert und<br />

die Mittel für die Förderung der Grundkompetenzen wesentlich<br />

erhöht.<br />

•<br />

Bernhard Grämiger<br />

Schweizerischer Verband für Weiterbildung SVEB<br />

Koordinator IG Grundkompetenzen<br />

SCHWERPUNKT 3/15 ZeSo<br />


Förderung der Grundkompetenzen im<br />

Kontext der Sozialhilfe<br />

Im Rahmen des nationalen Projekts «GO Sozialhilfe» wird untersucht, wie die Förderung von<br />

Grundkompetenzen bei Sozialhilfebeziehenden verbessert werden kann und welche Rollen die<br />

beteiligten Organisationen und ihre Mitarbeitenden dabei spielen.<br />

28 Prozent der Sozialhilfebeziehenden haben geringe Lesekompetenzen.<br />

Diese Quote aus der «Adult Literacy and Lifeskills<br />

(ALL)»-Studie aus dem Jahr 2006 hat in den vergangenen Jahren<br />

tendenziell eher noch zugenommen. Die Risikofaktoren, die zu einer<br />

dauerhaften Abhängigkeit von der Sozialhilfe führen, sind jenen<br />

sehr ähnlich, die Schwierigkeiten bei den Grundkompetenzen<br />

begünstigen: zunehmendes Alter, kein Berufsabschluss, tiefe<br />

Qualifikation der Eltern, Migrationshintergrund in Verbindung<br />

mit geringen Sprachkenntnissen und eine tiefe berufliche Stellung.<br />

Je länger Personen von der Sozialhilfe abhängig sind, desto<br />

grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass bei ihnen im Bereich der<br />

Grundkompetenzen ein Förderbedarf besteht. Vieles deutet darauf<br />

hin, dass das vorhandene Potenzial für die Förderung der<br />

Grundkompetenzen im Kontext der Sozialhilfe bisher zu wenig<br />

genutzt wird. Aus Sicht der Sozialdienste stellt sich also die Frage,<br />

mit welchen Massnahmen und Konzepten sie die Förderung der<br />

Grundkompetenzen ihrer Klientinnen und Klienten aktiver angehen<br />

können und welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen.<br />

Im Folgenden werden erste Erkenntnisse und Erfahrungen<br />

mit der Förderung der Grundkompetenzen in Zusammenarbeit<br />

mit der Sozialhilfe, die im Rahmen des Projekts «GO Sozialhilfe»<br />

gesammelt wurden, vorgestellt.<br />

Förderung der Grundkompetenzen im Kontext der Sozialhilfe<br />

sind bisher jedoch vielerorts noch nicht ausreichend vorhanden:<br />

Es fehlt zum einen an passenden Bildungsangeboten und zum<br />

anderen am Bewusstsein, dass die Förderung der Grundkompetenzen<br />

ein wichtiges Kriterium zur Unabhängigkeit der Klienten<br />

sein kann. Hinzu kommt, dass das Ansprechen von Defiziten, die<br />

von den betroffenen Personen selbst häufig systematisch verborgen<br />

werden, mit Hürden verbunden ist. Eine kurze und gezielte<br />

Weiterbildung respektive Sensibilisierung der Sozialberatenden<br />

zum Erkennen und Ansprechen vorhandener Schwierigkeiten ist<br />

hier hilfreich. Solche Inputs können beispielsweise durch Sensibilisierungsfachpersonen<br />

des Dachverbands Lesen und Schreiben<br />

erfolgen.<br />

Standortbestimmung konkretisiert den Lernbedarf<br />

Eine Standortbestimmung durch eine Fachperson hilft, den Förderbedarf<br />

zu konkretisieren und den individuellen Lernbedarf sicht-<br />

Strategische Entscheidung des Sozialdienstes<br />

Grundvoraussetzung für die Förderung von Basiskompetenzen<br />

von Sozialhilfebeziehenden ist die Klärung der Rollen und Aufgaben<br />

der beteiligten Personen und Institutionen sowie die Konzeption<br />

geeigneter Bildungsmassnahmen. Die Entscheidung, die Förderung<br />

von Grundkompetenzen als Aufgabe des Sozialdienstes zu<br />

definieren und in die internen Abläufe zu integrieren, ist auf strategischer<br />

Ebene, also von den für die Führung des Sozialdienstes<br />

verantwortlichen Personen zu treffen. Zur Strategie und deren<br />

Umsetzung gehört als wesentlicher Baustein die Zusammenarbeit<br />

mit einem oder mehreren Bildungsanbietern, die geeignete Bildungsmassnahmen<br />

für Sozialhilfebeziehende anbieten und umsetzen<br />

können.<br />

Den Sozialberatenden kommt aufgrund ihres direkten Kontakts<br />

zu den Klientinnen und Klienten und aufgrund ihrer Qualifikation<br />

die Rolle zu, Personen mit Förderbedarf zu identifizieren und<br />

ihnen die Teilnahme an einer Bildungsmassnahme im Bereich<br />

Grundkompetenzen vorzuschlagen. Die Voraussetzungen für die<br />

Eine gute Zusammenarbeit zwischen Bildungsanbietern und<br />

Sozialdiensten ist zentral für die Konzeption guter Angebote.<br />

Bild: Keystone<br />

18 ZeSo 3/15 SCHWERPUNKT


grundkompetenzen<br />

bar zu machen. Für die Förderung der Grundkompetenzen kommen<br />

aufgrund von Erfahrungen vor allem Personen mit deutscher<br />

Muttersprache oder Migrantinnen und Migranten mit guten<br />

mündlichen Deutschkenntnissen in Frage.<br />

Bei der Konzeption einer Bildungsmassnahme ist ein niederschwelliger,<br />

alltags- und handlungsorientierter Ansatz zweckdienlich,<br />

mit dem Ziel, die Ressourcen der Teilnehmenden in den<br />

Bereichen mündliche und schriftliche Kommunikation, Alltagsmathematik<br />

und Informations- und Kommunikationstechnologien<br />

zu stärken und zu erweitern. Wichtig sind daher auch methodische<br />

Fähigkeiten, wie sie beispielsweise für die Analyse und Planung<br />

von komplexeren Alltagsanforderungen nötig sind. Bei der Gestaltung<br />

der Lerneinheiten steht der konkrete Nutzen im Alltag im<br />

Mittelpunkt: grössere Sicherheit bezüglich Schrift- und Zahlungsverkehr<br />

gewinnen, die Belege von Arzt und Krankenkasse ordnen,<br />

ein Handy-Abo kündigen oder den Pin-Code des Bankkontos zu<br />

ändern, die Anfahrt zu einem Bewerbungsgespräch planen usw.<br />

Für die Zielgruppe sind kurze modulare Bildungsmassnahmen<br />

im Umfang von 30 bis 40 Stunden gut geeignet. Aufgrund der<br />

oft vorhandenen Mehrfachproblematiken der Zielgruppe ist ein<br />

modularer Aufbau günstig. So können jene, die sich für einen längeren<br />

Bildungsprozess entscheiden, weitere Module besuchen.<br />

Projekt «GO Sozialhilfe»<br />

Im Rahmen des Projekts «GO Sozialhilfe – Förderung der Grundkompetenzen<br />

in der Sozialhilfe» hat der Schweizerische Verband für Weiterbildung<br />

(SVEB) gemeinsam mit den beteiligten Partnern erste Erfahrungen<br />

mit der Förderung der Grundkompetenzen in Zusammenarbeit mit der<br />

Sozialhilfe gesammelt. Sozialdienste, die sich für eine Grundkompetenzförderung<br />

im Rahmen der Sozialhilfe interessieren und die zur Vertiefung<br />

der Erkenntnisse und zur Erprobung und Weiterentwicklung des Konzepts<br />

beitragen möchten, melden sich bitte bei der Autorin.<br />

Kontakt: caecilia.maerki@alice.ch<br />

Zusammenarbeit mit den Sozialberatenden<br />

Die Konzeption und Umsetzung der Bildungsmassnahmen sind<br />

Sache der Bildungsanbieter. Die Basis für gute Angebote bildet eine<br />

gute Zusammenarbeit mit den Sozialberatenden. Idealerweise erfolgen<br />

Standortbestimmungen sowie die Begleitung und Beratung der<br />

Klienten in Bezug auf ihre Lernziele durch den Bildungsanbieter.<br />

Dieser sorgt für die erfolgreiche Umsetzung der Bildungsmassnahme<br />

und ermöglicht eine positive Lernerfahrung, die vorhandene<br />

Ressourcen aktiviert und im Alltag unmittelbar nützlich ist. Um den<br />

Nutzen besser zu garantieren, sollen die Teilnehmenden eigene<br />

Themen einbringen können. Daher braucht es Kursleitende, die<br />

rollend planen und neu auftauchende Bedürfnisse kurzfristig in<br />

den Unterricht integrieren können. Weitere wichtige Faktoren sind<br />

die Unterstützung des Transfers des Gelernten in den Alltag und die<br />

aktive Gestaltung der Schnittstelle zu den Sozialberatenden. Die<br />

persönlichen Coaching-Gespräche zwischen Kursteilnehmern und<br />

dem Bildungsanbieter begleiten die individuellen Lernschritte<br />

auch im Hinblick auf Planung und Umsetzung von Anschlusslösungen<br />

gemeinsam mit den Sozialberatenden.<br />

Eine wichtige Rolle kommt auch der Sensibilisierung der<br />

politischen Entscheidungsträger für die Potenziale der Grundkompetenzförderung<br />

im Kontext der Sozialhilfe zu. Als Rahmengesetz<br />

hat das Weiterbildungsgesetz die Aufgabe, die Förderung von<br />

Grundkompetenzen in Spezialgesetzen zu begünstigen. In diesem<br />

Zusammenhang muss die Vermittlung von Grundkompetenzen in<br />

der Sozialhilfe als wichtiges Instrument der Integrationsförderung<br />

weiterentwickelt werden, denn die Förderung der Grundkompetenzen<br />

ist bei den Sozialen Diensten am richtigen Ort. In einer<br />

nächsten Phase des Projekts «Go Sozialhilfe» soll nun die Wirkung<br />

der Grundkompetenzförderung auf die persönliche Unabhängigkeit<br />

und die Unterstützung des Ablösungsprozesses von der Sozialhilfe<br />

überprüft werden.<br />

•<br />

Cäcilia Märki<br />

Leiterin Grundkompetenzen<br />

Schweizerischer Verband für Weiterbildung SVEB<br />

SCHWERPUNKT 3/15 ZeSo<br />


Vom «Illettrismuskurs» bis zur Vorbereitung<br />

auf die Berufsfachschule<br />

Massnahmen zur Förderung von Grundkompetenzen bei erwachsenen Personen werden in der<br />

Schweiz wie andere Bildungsmassnahmen föderalistisch umgesetzt. Entsprechend variieren sie<br />

aufgrund regionaler Besonderheiten und Bedürfnisse. Die folgenden vier Seiten präsentieren eine<br />

Auswahl Angebote, Initiativen und Best-Practice-Ansätze.<br />

Vermittlung von Grundkompetenzen<br />

in der ländlichen Region Toggenburg<br />

Die Angebote des Berufs- und Weiterbildungszentrums Toggenburg<br />

in Wattwil im Bereich Grundkompetenzen dienen dazu,<br />

Personen mit Lernschwierigkeiten und Bildungsdefiziten zu<br />

unterstützen und zu fördern. Dazu gehören als Basisangebot<br />

«Illettrismuskurse» und der Kurs «Deutsch für Fremdsprachige»,<br />

der sich an Migrantinnen und Migranten wendet. Dieser Kurs findet<br />

sonntags statt und ist gut besetzt. Da viele Migranten Schicht<br />

arbeiten, Eheleute manchmal an unterschiedlichen Tagen und<br />

Zeiten, hat sich für diesen Kurs der Sonntag sehr bewährt. Gute<br />

Lehrer dafür zu finden ist hingegen eher schwierig. Die «Illettrismuskurse»<br />

werden im Rahmen eines Leistungsauftrags des Kantons<br />

St. Gallen angeboten. Da es sich bei Illettrismus um ein<br />

Gesellschaftsproblem handelt, das für viele ein Tabuthema ist, ist<br />

es bei diesen Kursen entsprechend schwieriger, Teilnehmer zu<br />

finden. Bei den Integrationskursen haben wir festgestellt, dass<br />

Ausländergruppen ihre eigenen Netzwerke haben und dass man<br />

die Leute, die man erreichen will, am besten über diese Netzwerke<br />

anspricht.<br />

Im Rahmen des Projektes GO2 des SVEB führte das Berufsund<br />

Weiterbildungszentrum kürzlich auch einen Pilotkurs für<br />

KMU durch. Während es in den herkömmlichen Kursen in erster<br />

Linie um Spracherwerb, Integration und die Entlastung des<br />

Sozialbereichs geht, fokussiert das GO-Projekt auf Grundkompetenzen,<br />

die spezifisch in den KMU nachgefragt werden, nämlich<br />

Mathematik (einfache Berechnungen, die man am Arbeitsplatz<br />

immer wieder machen muss) und Deutsch (beispielsweise<br />

einen Arbeitsrapport einigermassen stilsicher und fehlerlos schreiben).<br />

Solche Kurse sind auch für die beteiligten KMU attraktiv,<br />

da sie an den Lernerfolgen teilhaben können, indem sie die<br />

Absolventinnen und Absolventen nachher im Betrieb besser und<br />

vielfältiger einsetzen können. In der Praxis hat sich allerdings<br />

auch gezeigt, dass das Projekt für jene KMU, die über keine Personalabteilung<br />

und über kein entsprechendes Budget verfügen,<br />

schwierig umsetzbar ist. Für die Ansprache der potenziellen<br />

Interessenten wurden bei diesem Projekt andere Kanäle benutzt,<br />

indem das Projekt in Gewerbevereinen und Arbeitgebervereinigungen<br />

vorgestellt wurde.<br />

Im Weiteren bieten wir für Lernende in der Grundbildung<br />

eine Aufgabenhilfe und Stützkurse an, um der Problematik von<br />

fehlenden Grundkompetenzen vorbeugend entgegenzutreten.<br />

Ferner ist zu erwähnen, dass in der Region auch andere Weiterbildungsinstitutionen<br />

wie beispielsweise die Migros-Klubschule<br />

Kurse im Bereich Grundkompetenzen anbieten.<br />

Vorlehre 25plus<br />

Fredy Huber<br />

Rektor BWZ Toggenburg<br />

Ziel der Vorlehre 25plus der BFF Bern ist die Integration von über<br />

25-jährigen Erwachsenen in eine berufliche Grundbildung oder<br />

eine andere sinnvolle und qualifizierende Anschlusslösung. Die<br />

grosse Heterogenität der Lernenden – rund 75 Prozent sind Migrantinnen<br />

und Migranten, rund 25 Prozent sind Schweizerinnen<br />

und Schweizer – prägt die Ausgestaltung des Angebots. Die Lernenden<br />

verfügen über unterschiedlichste Ressourcen, verfolgen<br />

verschiedenste Ausbildungsziele und benötigen eine individuelle,<br />

den Anforderungen der Berufsfachschulen entsprechende Vorbereitung.<br />

Sozialhilfeunterstützte Lernende sollen längerfristig<br />

von der Sozialhilfe abgelöst werden. Schwerpunktfächer der Vorlehre<br />

sind Deutsch, Mathematik und Allgemein bildender Unterricht.<br />

Zum Unterricht gehören auch das Klären und Erfassen von<br />

schulisch, beruflich und ausserberuflich erworbenen Ressourcen<br />

und damit verbunden die Überprüfung des Berufswunsches, ein<br />

Bewerbungstraining und die Lehrstellensuche. Damit werden alle<br />

zur Erreichung der Ziele notwendigen Grundkompetenzen gefördert.<br />

Die Beraterin des Vorlehre-Teams unterstützt die Lernenden<br />

zudem beim eigenverantwortlichen Angehen ihrer Probleme im<br />

Umfeld (Finanzen, Gesundheit u.a.).<br />

Diese praktizierte Verbindung des Schwerpunkts Bildung mit<br />

der notwendigen sozialpädagogischen Begleitung zur Abstützung<br />

der Bildungsziele ist ein <strong>ganz</strong>heitlicher Ansatz zur Integration von<br />

Erwachsenen in den Arbeitsmarkt über Ausbildung. Die enge Zusammenarbeit<br />

mit dem privaten und professionellen Umfeld der<br />

Lernenden hilft, Zuständigkeiten zu klären und die Koordination<br />

und Kooperation im Helfernetz sicherzustellen. Und die Vernetzung<br />

mit den Arbeitgebern ermöglicht, Erfahrungen der Betriebe<br />

mit den Lernenden in die Gestaltung des Unterrichts miteinzubeziehen.<br />

Die Lernenden besuchen an zwei Tagen die Schule und<br />

arbeiten an drei Tagen in einem externen Betrieb. In das Angebot<br />

vermittelt werden sie von Berufsberatungsstellen, Sozialdiensten,<br />

Hilfswerken und über Arbeitsintegrationsprojekte. Finanziert<br />

wird das Angebot im Rahmen der Brückenangebote von der Erzie-<br />

20 ZeSo 3/15 SCHWERPUNKT


grundkompetenzen<br />

hungsdirektion des Kantons Bern. Für Lernende mit erschwerten<br />

Bedingungen wird ein Teil der Kosten durch die Gesundheitsund<br />

Fürsorgedirektion im Rahmen der Leistungen zur sozialen<br />

Existenzsicherung mitfinanziert. Die eigentliche Stärke des Angebots<br />

ist die Arbeit im interdisziplinären Team. Gut 60 Prozent der<br />

Lernenden finden eine Anschlusslösung in eine berufliche Grundbildung<br />

oder eine andere Anschlusslösung, manchmal gelingt<br />

auch der direkte Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt. Als Erfolg<br />

betrachten wir aber auch eine nachhaltige Klärung von notwendigen<br />

nächsten Schritten bei Lernenden, die nicht unmittelbar eine<br />

gewünschte Anschlusslösung finden. <br />

Bildungschecks als Ansporn<br />

Anne Müller und Fritz Mühlemann<br />

BFF Bern, Bereich Vorlehre 25Plus<br />

Das Angebot des Kantons Genf «Chèque annuel de formation»<br />

(CAF) richtet sich an ein breites Publikum, aber insbesondere an<br />

Menschen, die keine qualifizierende Grundausbildung absolviert<br />

haben. Erwachsene erhalten als Finanzierungshilfe für eine auf<br />

beruflicher Ebene sinnvolle Ausbildung einen Check in der Höhe<br />

von bis zu 750 Franken. Das Spektrum der mitfinanzierten Ausbildungen<br />

reicht von der ersten Qualifikationsstufe – Überwinden<br />

von Illettrismus, Alphabetisierung und Französisch als Fremdsprache<br />

– bis zum Eidgenössischen Fähigkeitszeugnis oder Weiterbildungsdiplom.<br />

Eine der Prioritäten des Angebots ist es, Menschen mit besonders<br />

geringer Qualifikation dazu anzuspornen und ihnen dabei zu<br />

helfen, ihre Kenntnisse aufzufrischen und zu erweitern, um den<br />

Entwicklungen ihres beruflichen Umfelds besser folgen zu können.<br />

SCHWERPUNKT 3/15 ZeSo<br />

Bild: BFF/Vorlehre 25plus<br />

Diese Zielgruppe macht gut 25 Prozent aus. Sie wird über zwei<br />

Massnahmen angesprochen: Zum einen steht ihnen mit der 2009<br />

eröffneten «Cité des Métiers et de la formation» eine umfassende<br />

Informations- und Unterstützungsstruktur zur Verfügung. Das<br />

vom Berufsbildungsamt betriebene Berufs- und Weiterbildungszentrum<br />

vermittelt den Gesuchstellern alle nötigen Informationen<br />

und betreut sie während der Abklärung der Gesuche. Die Fachpersonen<br />

helfen nötigenfalls auch beim Ausfüllen des Formulars oder<br />

der Online-Anmeldung.<br />

Die zweite Massnahme zielt auf die Verbesserung der Qualität<br />

und auf die bessere Sichtbarkeit des Weiterbildungsangebots ab.<br />

Dazu arbeitet das Berufsbildungsamt mit den acht wichtigsten<br />

Ausbildungsinstitutionen für Grundausbildungen im Kanton Genf<br />

zusammen. Angestrebt wird ein breites Angebot von Ausbildungsgängen<br />

in den drei Bereichen «Lesen, Schreiben, Kommunizieren»,<br />

«Rechnen und räumliches Verständnis» sowie «Informations- und<br />

Kommunikationstechnologie». Diese Kurse werden als «kapitalisierbare»<br />

Ausbildungsmodule auf drei Ausbildungsniveaus angeboten.<br />

Wenn ein Kandidat oder eine Kandidatin sämtliche<br />

Module absolviert hat, wird ihm ein Attest ausgestellt, das Auskunft<br />

gibt über seine Fähigkeit, weitere qualifizierende Ausbildungen im<br />

Hinblick auf das Erlangen eines EFZ oder eines EBA zu absolvieren.<br />

Im Jahr 2014 wurden über 7000 Ausbildungschecks abgegeben.<br />

Die Begünstigten müssen volljährig und seit mindestens<br />

einem Jahr im Kanton steuerpflichtig sein und ihr Einkommen<br />

und Vermögen darf eine Obergrenze nicht überschreiten. Derzeit<br />

beteiligen sich 111 EduQua-zertifizierte Ausbildungseinrichtungen<br />

am CAF-Modell. Sie bieten rund 1500 auf rund zehn Ausbildungsbereiche<br />

verteilte Ausbildungsmodule an. •<br />

Cyrille Salort<br />

Directeur service Formation Continue, Kanton Genf<br />


Tippen ist für sie noch keine<br />

Selbstverständlichkeit<br />

Das Sprichwort «Aller Anfang ist schwer» gilt<br />

auch bei der PC-Anwendung. Das zeigt ein<br />

Besuch bei der EB Zürich, wo in einem PC-Vorkurs<br />

Erwachsenen die Fähigkeit vermittelt wird,<br />

den Computer für einfache Aufgaben nutzen zu<br />

können.<br />

«Jetzt ist alles verschwunden», ruft Peter. «Du hast wahrscheinlich<br />

einen Virus», witzelt Fredi. So klingt es an diesem sommerlichen<br />

Freitagnachmittag aus einem Kursraum der EB Zürich, wenige<br />

Gehminuten vom Bahnhof Zürich-Altstetten entfernt. Die Atmosphäre<br />

ist entspannt – die sieben Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />

des PC-Vorkurses kennen sich schon und teilen ihr Leid rund<br />

um die Tücken des PCs. Von der Hitzewelle draussen ist nichts zu<br />

spüren: Die Räumlichkeiten hier sind klimatisiert. Das ist gut so,<br />

denn die Teilnehmenden brauchen auch heute, am vierten von<br />

sieben Nachmittagen, ihre volle Konzentration. In insgesamt<br />

17,5 Stunden bringt Kursleiterin Eliane Welti ihnen nämlich bei,<br />

wie sie Word, E-Mail und Internet nutzen können. Einiges funktioniert<br />

schon gut: Alle Kursteilnehmenden haben ihren Laptop<br />

selbstständig ans Stromnetz angeschlossen, aufgestartet und ihren<br />

Stick mit den Kursunterlagen eingesetzt. Sie sind zwischen 49 und<br />

64 Jahre alt, deutscher Muttersprache und erwerbslos. Freiwillig<br />

Förderprogramm BasiX<br />

Das Förderprogramm BasiX der EB Zürich, der grössten von der öffentlichen<br />

Hand getragenen Weiterbildungsinstitution in der Schweiz, existiert<br />

seit 2013. Es richtet sich an Personen, die Mühe haben, einen einfachen<br />

Zeitungstext zu verstehen oder einfache Rechenaufgaben zu lösen. BasiX<br />

fördert die fünf Grundkompetenzen Lesen und Schreiben, Deutsch als<br />

Fremdsprache, Alltagsmathematik, Umgang mit Informationstechnologien<br />

(IKT) und Methodenkompetenzen im Beruf und Alltag.<br />

Im Zürcher Seefeld und in Zürich-Altstetten führt die EB Zürich je ein<br />

öffentliches Lernfoyer, das mit Computern für Windows und Mac sowie<br />

den gängigen Programmen ausgestattet ist. So können Teilnehmende in<br />

einem informellen Setting üben, was sie im Unterricht gelernt haben. Durch<br />

den niederschwelligen Zugang eignen sich die Lernfoyers aber auch für<br />

Menschen, die nicht mehr gewohnt sind zu lernen oder sich in Kursen zu<br />

exponiert fühlen. Für eine individuelle Unterstützung steht eine Lernbegleiterin<br />

zur Verfügung. Der Besuch im Lernfoyer ist für die Kursteilnehmer<br />

einen Monat über den Kurs hinaus kostenlos. Alle andern bezahlen für drei<br />

Monate 100 Franken.<br />

www.eb-zuerich.ch/basix<br />

hier ist nur Fredi. Weil er kurz vor der Pensionierung steht, wollte<br />

ihn sein RAV-Berater nicht in den Kurs schicken. Doch Fredi setzte<br />

sich durch: «Ich lerne gerne Neues.»<br />

«Der PC-Vorkurs A2 ist öffentlich und wird immer auch von<br />

Selbstzahlern besucht, die sich aus Eigeninitiative rudimentäre<br />

PC-Kenntnisse aneignen wollen», sagt Eliane Welti. Ein Teil der<br />

Teilnehmenden hat in der Regel Migrationshintergrund. Letzteres<br />

erklärt sogar die Bezeichnung des Kurses: A2 steht für elementare<br />

Deutschkenntnisse, und die sind nötig, damit die Teilnehmenden<br />

dem Kurs überhaupt folgen können.<br />

Erste Gehversuche mit Word<br />

Als erstes steht heute das Personalisieren eines Muster-Bewerbungsbriefs<br />

auf dem Programm. Geduldig erklärt Welti nochmals,<br />

wie sich auf dem Laptop die Ordnerinhalte des Sticks anzeigen lassen<br />

und dass man den Bewerbungsbrief mit einem Doppelklick<br />

aufruft. Bevor es weitergeht, geht die Kursleiterin von einem Teilnehmer<br />

zum andern und überprüft, ob alle den Brief geöffnet vor<br />

sich haben. Das ist nicht der Fall: Einer der Teilnehmer hat versehentlich<br />

nur die Vorschau geöffnet, nicht das Dokument selbst.<br />

Welti zeigt nochmal, wie’s geht. Nun folgt das Speichern des Dokuments:<br />

«Was, ab und zu auch mal speichern?», fragt Werner, der<br />

seit zwei Wochen erwerbslos ist. Willy, ein Glaser, der unbedingt<br />

eine neue Stelle will, weiss bereits um den Wert des Disketten-<br />

Symbols. Er hat gestern Abend zwei Stunden an einem Dokument<br />

gearbeitet und es dann geschlossen, ohne es abzuspeichern. Das<br />

nervt ihn heute noch. Auch die Modeberaterin Marlise tut sich<br />

schwer mit dem PC: «Gestern hätte ich das Ding am liebsten in die<br />

Limmat geschmissen!» Pedro wiederum hadert eher mit den Umständen:<br />

Er war lange selbstständig, bevor er eine Stelle annahm<br />

und sie prompt verlor. Seinen Unmut bekundet er damit, dass er<br />

der Kursleiterin oft und gerne widerspricht. Die erfahrene Dozentin<br />

lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen und gestattet ihm<br />

die eine oder andere Extrawurst.<br />

22 ZeSo 3/15 SCHWERPUNKT


grundkompetenzen<br />

Nun geht’s ums Überschreiben des Musterbriefs: «Entweder<br />

markiert ihr die Passagen, die ihr ersetzen wollt, und setzt eure<br />

eigenen Inhalte ein, oder ihr geht mit dem Cursor ans Ende der<br />

zu überschreibenden Stelle und löscht die Buchstaben einzeln von<br />

hinten her», erklärt Eliane Welti. Das ist einfacher gesagt als getan.<br />

Willy löscht versehentlich eine <strong>ganz</strong>e Zeile, Werner gar den <strong>ganz</strong>en<br />

Brief. Auch das Überschreiben gestaltet sich als Herausforderung.<br />

Die Teilnehmenden tippen nicht nur mit dem Ein- oder Zweifingersystem,<br />

sondern müssen auch jeden Buchstaben erst auf<br />

der Tastatur finden. Die Zeit verstreicht, die Bewerbungen nehmen<br />

nur langsam Form an. Selbst so vermeintlich einfache Dinge<br />

wie das Datum einsetzen bereiten Mühe. «Ort Komma Abstand<br />

Siebzehn Punkt Abstand Juli», erklärt Eliane Welti mehr als<br />

einmal. Als die Pause naht, mahnt sie die Teilnehmenden, das<br />

Geschriebene zu speichern und es später fertigzustellen. «Was wir<br />

im Kurs vermitteln, ist nur ein Anfang. Ohne Üben geht es nicht.<br />

Deshalb erteile ich immer Hausaufgaben», sagt sie. Weil nicht alle<br />

daheim einen PC mit Word-Programm besitzen, können sie dafür<br />

das betreute Lernfoyer des Kursanbieters nutzen.<br />

Eine Frage der Übung<br />

Nach der Pause zeigt Eliane Welti, wie man im Internet auf tel.<br />

search.ch eine Adresse oder eine Telefonnummer ausfindig machen<br />

und auf sbb.ch Fahrplaninformationen abrufen kann. Das<br />

führt zum ersten Mal heute Abend zu leuchtenden Augen. Der Sanitärinstallateur<br />

Norbert, der sich wegen Gelenkproblemen umschulen<br />

lassen will, und Willy suchen unabhängig voneinander die<br />

Festnetznummer von Christoph Blocher – ein Erfolgserlebnis.<br />

Marlise wiederum ist vom Fahrplan der SBB angetan. «Wie praktisch!<br />

Ich glaube, ich habe die SBB-App sogar auf meinem Handy.<br />

Nur habe ich sie bislang noch nie benutzt.»<br />

Rückmeldungen wie diese bestätigen Eliane Welti den Nutzen<br />

des Kurses, der in dieser Form seit vier Jahren existiert und der jährlich<br />

von 23-30 Klassen absolviert wird: «Wir vermitteln hier wirk-<br />

Aufnahmen aus dem PC-Vorkurs A2.<br />

Bilder: Christine Bärlocher<br />

lich relevenate Inhalte. Die Teilnehmenden verbessern nicht nur<br />

ihre beruflichen Qualifikationen, sondern werden auch befähigt,<br />

besser an der Gesellschaft teilzunehmen. Denn nachher können sie<br />

online Ferien buchen, E-Mails verschicken und nach Informationen<br />

googeln.» Das Konzept hat auch das Bundesamt für Kommunikation<br />

überzeugt. 2009 verlieh es dem etwas breiter angelegten, noch<br />

stärker auf Menschen mit Migrationshintergrund ausgerichteten<br />

Vorgängerkurs «Praktischer Umgang mit Alltagselektronik» die<br />

mit 10 000 Franken dotierte Auszeichnung «Ritter der Kommunikation».<br />

Noch hapert es bei den Kursteilnehmenden allerdings<br />

in Sachen Partizipation: Die meisten sind bei ihren Bewerbungen<br />

auf die Hilfe ihres Umfelds angewiesen. Doch dies wird sich bald<br />

ändern – fleissiges Üben vorausgesetzt. <br />

•<br />

<br />

Weitere Berichte in der <strong>ZESO</strong> zum Thema niederschwellige<br />

Förderung von Grundkompetenzen<br />

Aus Platzgründen können in diesem Schwerpunkt weitere Initiativen,<br />

so auch nationale von karitativen Organisationen und Berufsverbänden,<br />

nicht dargestellt werden. Die <strong>ZESO</strong> hat unter anderem in der Ausgabe<br />

2/15 (Schwerpunkt «Flüchtlinge und Sozialhilfe») eine Reportage über<br />

einen SRK-Kurs «Pflegehelfer/in» und in der Ausgabe 2/14 eine Reportage<br />

zum Projekt «Deutsch auf der Baustelle» des Schweizerischen<br />

Baumeisterverbands publiziert. – Red.<br />

SCHWERPUNKT 3/15 ZeSo<br />

Karin Meier<br />


Es braucht mehr Übungs- und<br />

Anwendungsmöglichkeiten<br />

Fehlende Grundkompetenzen spielen bei den meisten Personen in der Sozialhilfe eine bestimmende<br />

Rolle. Doch damit Förderkurse nachhaltig wirken, sind bessere Übungsstrukturen und eine intensivere<br />

Begleitung der Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer durch die Sozialarbeitenden notwendig.<br />

Betrachtungen zum Thema Grund- und Schlüsselkompetenzen aus Sicht der Sozialhilfepraxis.<br />

Je weiter der Begriff Grundkompetenzen gefasst wird, desto offensichtlicher<br />

wird, dass ein Mangel an Grundkompetenzen, insbesondere,<br />

wenn sie kumuliert auftreten, bei den meisten Personen<br />

in der Sozialhilfe eine bestimmende Rolle spielt – sei es als Grund<br />

für das Abgleiten in die Sozialhilfeabhängigkeit oder beim Versuch,<br />

sich von der Sozialhilfe abzulösen. Eine absolut zentrale Rolle<br />

spielen dabei Kenntnisse der lokalen Sprache. Sie sind für eine<br />

erfolgreiche Arbeitsintegration heutzutage unerlässlich. Personen<br />

ohne Deutschkenntnisse haben es sehr schwer, eine Arbeitsstelle<br />

zu finden – am ehesten funktioniert das noch in Betrieben, die von<br />

Migranten mit ähnlichem kulturellem Hintergrund geführt werden.<br />

Dieses Problem hat sich in den letzten zwanzig Jahren durch<br />

den markanten Rückgang von Industriearbeitsplätzen mit Serienarbeitscharakter<br />

verschärft.<br />

Fehlt das Verständnis für die Abläufe in der Schweiz, wirkt sich<br />

dies ebenfalls erschwerend auf die Arbeitsintegration aus, aber<br />

auch beispielsweise auf den Umgang mit der Sozialhilfe vorgelagerten<br />

Leistungsträgern wie regionalen Arbeitsvermittlungszentren<br />

(RAV) oder der Invalidenversicherung. Diese Problematiken<br />

betreffen alle Bevölkerungsgruppen in der Sozialhilfe, die auf<br />

eine niederschwellige Beschäftigung angewiesen sind und häufig<br />

über keine Erstausbildung verfügen. Unser System stellt für Migrantinnen<br />

und Migranten jedoch eine besondere Herausforderung<br />

dar. Der Wille und die Fähigkeit, sich darauf einzulassen,<br />

erleichtern viele Zugänge.<br />

Wer nicht in der Lage ist, «amtlichen» Forderungen nachzukommen,<br />

muss entsprechende Konsequenzen tragen. Versäumt<br />

jemand beispielsweise einen Termin beim RAV, muss eine<br />

schriftliche Begründung nachgereicht werden. Diese darf sehr<br />

einfach verfasst sein, doch viele Leute haben Schwierigkeiten,<br />

sich schriftlich auszudrücken und fürchten, den Anforderungen<br />

nicht zu genügen. In der Folge geben sie keine Stellungnahme<br />

ab und müssen deshalb mit Sanktionen rechnen. Diesen<br />

Personen bereitet auch das Schreiben von Bewerbungen grosse<br />

Mühe. Schlechte Computerkenntnisse und ein fehlender Computer<br />

wiederum erschweren die Arbeits- und Wohnungssuche<br />

massiv.<br />

Migranten mit Sprachschwierigkeiten sind für die gegenseitige<br />

Verständigung zudem oft auf Personen angewiesen, die bei<br />

Behördenkontakten dolmetschen. Im Alltagsleben übernehmen<br />

häufig die Kinder diese Aufgabe, was zu ungesunden Rollenumkehrungen<br />

führt. So wird jeder Umgang mit Behörden oder<br />

Schulen umständlich und jedes Beratungs- oder Bewerbungsgespräch,<br />

die Wohnungssuche und so weiter sind mit grossem Aufwand<br />

verbunden.<br />

Zum Erwerb von Grundkompetenzen braucht es ein langfristiges<br />

Engagement. <br />

Bild: Keystone<br />

Problemfeld Schlüsselkompetenzen<br />

Vor allem bei jungen Sozialhilfebeziehenden steht tendenziell häufiger<br />

die Problematik von fehlenden Schlüsselkompetenzen im<br />

Vordergrund: Kein Verständnis fürs Lernen (im Sinn von: Lernen<br />

ist sinnvoll), für Pünktlichkeit und Genauigkeit, wenig Durchhaltewillen<br />

und wenig Frustrationstoleranz sowie Schwierigkeiten, sich<br />

einordnen, organisieren oder eine bestimmte Situation reflektie-<br />

24 ZeSo 3/15 SCHWERPUNKT


grundkompetenzen<br />

ren zu können. Dass diese Problematiken oft schon in der Schulzeit<br />

ein Thema sind, wirkt sich negativ auf Anschlusslösungen aus.<br />

Immerhin geht einigen Jugendlichen noch «der Knopf auf» und<br />

sie starten verspätet eine Erstausbildung, während der sie mit<br />

Sozialhilfe unterstützt werden.<br />

Eine Schlüsselkompetenz im weitergefassten Sinn ist die Fähigkeit,<br />

soziale Kontakte zu pflegen und mit anderen Menschen<br />

umgehen zu können. Ist sie nicht vorhanden, kann in schwierigen<br />

Situationen keine Hilfestellung durch ein eigenes Netz beansprucht<br />

werden. Sozialhilfebeziehende verfügen tendenziell über<br />

kleine Netzwerke. Da vielen oft die Ideen fehlen, wie Kontakte<br />

oder Aktivitäten auch mit wenig Geld gepflegt werden können,<br />

nimmt ihre Isolation noch zu. Ein nicht adäquater Umgang mit<br />

anderen Menschen erschwert die Integration in den Arbeitsmarkt<br />

oder führt wieder zu Stellenverlusten. Und ebenfalls wichtig ist<br />

das Verfügen über lebenspraktische Kompetenzen. Dies betrifft<br />

insbesondere den Umgang mit Geld, etwa dessen Einteilung und<br />

das Bezahlen von Rechnungen. Fehlen Wohnkompetenzen, kann<br />

dies zum Wohnungsverlust führen. Auch die Körperpflege oder<br />

Kochen sind wichtige lebenspraktische Kompetenzen. Immer wieder<br />

fällt auf, dass sich Sozialhilfebeziehende schlecht und einseitig<br />

ernähren.<br />

In Bezug auf zur Verfügung stehende Fördermöglichkeiten gibt<br />

es grosse Unterschiede, je nach Gemeinde, politischer Konstellation<br />

und örtlichem Spardruck. Auf unserer Stelle sind die Bedingungen<br />

gut. Wenn eine Förderung in einem bestimmten Bereich<br />

von den Sozialarbeitenden als sinnvoll betrachtet wird und sich<br />

gut begründen lässt, können die vorhandenen Möglichkeiten in<br />

der Regel genutzt werden. Dazu steht in unserer Region auch eine<br />

gute Auswahl von Förderangeboten zur Verfügung. Doch damit<br />

allein lassen sich die wenigsten Probleme lösen. Einerseits hat es<br />

die Sozialhilfe meist mit denjenigen Personen zu tun, bei denen<br />

eine Kumulation von Problemlagen vorhanden ist und die somit<br />

auch schwerer integrierbar sind. Andererseits sind viele Kurse<br />

Nachhaltige Begleitungen<br />

sind leider kaum<br />

finanzierbar. Sie werden<br />

allenfalls durch Freiwillige<br />

geleistet.<br />

ohne regelmässige Kontakte und ohne konkrete Übungs- und<br />

Anwendungsmöglichkeiten nicht allzu nachhaltig. Einzelne Kursbesucher<br />

kommen beispielsweise trotz Sprachkurs nicht über den<br />

absoluten Grundwortschatz hinaus. Um mehr Nachhaltigkeit zu<br />

erreichen, bräuchte es mehr Leute, die mit den Sozialhilfebeziehenden<br />

regelmässig üben oder die mit ihnen nicht nur Bewerbungen<br />

schreiben, sondern diese auch im Zusammenhang auswerten<br />

und besprechen. Solche Begleitungen sind leider kaum<br />

finanzierbar. Sie werden allenfalls durch Freiwillige geleistet.<br />

Am wichtigsten und erfolgversprechendsten für die Integration<br />

in den Arbeitsmarkt im Sinne von «Stützkursen» sind Praktikumsstellen<br />

im ersten Arbeitsmarkt. Dort werden Schlüsselkompetenzen<br />

geübt, Kontakte geknüpft und es kann Deutsch gesprochen<br />

werden. Dies fördert insbesondere wiederum das Selbstvertrauen<br />

in die eigenen Fähigkeiten der Teilnehmenden. Allerdings setzen<br />

auch die IV und die RAV auf diese Strategie – die Nachfrage übersteigt<br />

somit das Angebot. Die Akquisition und Begleitung solcher<br />

Praktika benötigt viel Zeit.<br />

Fazit<br />

Die grösste Schwierigkeit bei mangelnden Grundkompetenzen<br />

besteht gerade darin, dass es eben Grund-Kompetenzen sind, die<br />

fehlen. Diese lassen sich selten in zeitlich beschränkten Kursen<br />

vermitteln. Bedenkt man, wie viele Jahre die Schulausbildung und<br />

die Sozialisation in der Schweiz in Anspruch nehmen, müssen die<br />

Erwartungen in die Wirkung solcher Kurse relativiert werden. Förderkurse<br />

für Grundkompetenzen können in einigen Fällen hilfreich<br />

sein oder einen Anstoss geben. Das Vorhandensein dieser Angebote<br />

ist durchaus wichtig! Am wichtigsten jedoch ist die<br />

Möglichkeit, dass Sozialarbeitende die Klientinnen und Klienten<br />

intensiver begleiten können. Dazu gehören die sorgfältige Auswahl<br />

der Kurse und deren Organisation, teilweise Begleitungen zu Erstgesprächen,<br />

Rücksprachen mit Anbietern, allenfalls sogar die<br />

Akquisition von Praktikums- oder Trainingsplätzen. Und insbesondere<br />

die stetige Motivation und Ermutigung der Sozialhilfebeziehenden,<br />

die Angebote zu nutzen, Gelerntes anzuwenden und<br />

sich zu vernetzen. Ebenfalls dazu gehört etwas Nachdruck und das<br />

Auswerten oder die Anpassung einer nicht gelungenen Strategie.<br />

Dies bedingt eine dafür angemessene Anzahl der Fälle pro Sozialarbeitende,<br />

die mit der aktuellen Auslastung oft nur sehr oberflächlich<br />

mit ihren Klienten arbeiten können.<br />

•<br />

Anna Fliedner<br />

Sozialarbeiterin<br />

Soziale Beratungsdienste Horw<br />


Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe<br />

unterstützen sich gegenseitig<br />

Sozialdienste und RAV sollen bei der arbeitsmarktlichen Beratung und der Stellenvermittlung enger<br />

zusammenarbeiten und mit ihren Kernkompetenzen zur Optimierung des Integrationsprozesses von<br />

Erwerbslosen beitragen. Das Seco fördert diese Zusammenarbeit mit einem Leitfaden.<br />

Die Arbeitslosenversicherung (ALV) und<br />

die Sozialhilfe verfolgen ein gemeinsames<br />

Ziel – die Integration der Stellensuchenden<br />

in den Arbeitsmarkt. Sie tun dies mit<br />

ihren eigenen Ansätzen, Massnahmen und<br />

Zielsetzungen: Die ALV stellt einen angemessenen<br />

Ersatz bei Erwerbsausfall sicher<br />

und bekämpft die bestehende Arbeitslosigkeit<br />

durch eine möglichst rasche und dauerhafte<br />

Wiedereingliederung. Die Sozialhilfe<br />

sichert die Existenz bedürftiger<br />

Personen, fördert ihre wirtschaftliche und<br />

persönliche Selbstständigkeit und strebt<br />

im Rahmen der sozialen Integration auch<br />

eine berufliche an.<br />

Die heutige Klientenstruktur der regionalen<br />

Arbeitsvermittlungszentren (RAV)<br />

und der Sozialdienste zwingt sie dazu, Arbeitsmarkt-<br />

und Sozialberatung gleichzeitig<br />

anzubieten. Die vom Staatssekretariat für<br />

Wirtschaft Seco in Auftrag gegebene Studie<br />

«Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe:<br />

Zusammenarbeit bei der Arbeitsvermittlung»<br />

(KEK-CDC Consultants, Mai 2010)<br />

hat aufgezeigt, dass beide Institutionen<br />

Kernkompetenzen respektive komparative<br />

Vorteile besitzen, die der Partnerinstitution<br />

nützlich sein können: Kernkompetenz<br />

des RAV ist die arbeitsmarktliche Beratung<br />

und Vermittlung, Kernkompetenz<br />

des Sozialdienstes ist die umfassende<br />

Sozialberatung. Der Austausch dieser Kernkompetenzen<br />

(sogenannter Leistungsaustausch)<br />

zwischen RAV und Sozialdiensten<br />

soll sinnvollerweise gefördert werden. Vor<br />

diesem Hintergrund führt das Seco seit<br />

2010 ein Projekt zur verbesserten Zusammenarbeit<br />

zwischen der ALV und der<br />

Sozialhilfe durch, das auf drei Zielsetzungen<br />

fokussiert: die rasche und<br />

nachhaltige Integration der Stellensuchenden<br />

in den ersten Arbeitsmarkt,<br />

die konsequente Nutzung von komparativen<br />

Vorteilen der beteiligten Institutionen<br />

und die transparente und zielgerichtete<br />

Steuerung der Beratungs- und<br />

Vermittlungsaktivitäten für alle arbeitsmarktfähigen<br />

Stellensuchenden in den<br />

RAV. Weiter werden gemeinsam mit<br />

Kantonen konkrete Kooperationsmodelle<br />

erprobt, die den Leistungsaustausch zwischen<br />

RAV und Sozialdienst sowie eine gemeinsame,<br />

zielgruppenspezifische Strategie<br />

ins Zentrum stellen (siehe auch S. 28f).<br />

Die Ermittlung der<br />

Arbeitsmarktfähigkeit<br />

erlaubt es, das Angebot<br />

dem Bedarf der<br />

Person anzupassen.<br />

Arbeitsmarktfähigkeit als Kriterium<br />

Eine enge Zusammenarbeit von öffentlicher<br />

Arbeitsvermittlung und öffentlichen<br />

Sozialdiensten setzt voraus, dass Einigkeit<br />

in Bezug auf das Integrationspotenzial der<br />

betreuten Personen besteht. Dies bedingt,<br />

dass die Ermittlung der Arbeitsmarktfähigkeit<br />

beziehungsweise von sozialen<br />

Problemlagen der Stellensuchenden von<br />

den beteiligten Institutionen gemeinsam<br />

getragen und durch einen gemeinsamen<br />

Kriterienkatalog operationalisiert wird.<br />

Der Begriff der Arbeitsmarktfähigkeit<br />

dient bei dieser Betrachtungsweise als ein<br />

Entscheidungskriterium für die Angebotssteuerung:<br />

Die Ermittlung der Arbeitsmarktfähigkeit<br />

einer stellensuchenden<br />

Person erlaubt es, das Angebot dem Bedarf<br />

der Person anzupassen und eine entsprechende<br />

Beratungs- und Wiedereingliederungsstrategie<br />

festzulegen. Eine für<br />

Sozialhilfe und ALV gemeinsame Zielgruppe<br />

ermöglicht eine ziel- beziehungsweise<br />

bedürfnisorientiertere Betreuung<br />

von arbeitsmarktfähigen Sozialhilfebezügern<br />

einerseits und Bezügern von Arbeitslosenentschädigung<br />

mit hohem Langzeitarbeitslosigkeitsrisiko<br />

andererseits.<br />

In der konkreten Praxis der Zusammenarbeit<br />

bieten beide Institutionen unabhängig<br />

von der Systemherkunft der Klienten<br />

ihre Kernkompetenzen an. Sobald die Zielgruppenzugehörigkeit<br />

erkannt ist, soll ein<br />

Leistungsaustausch zwischen den beiden<br />

Institutionen erfolgen. Eine interdisziplinäre<br />

Arbeitsgruppe «Arbeitsmarktfähigkeit»<br />

hat dazu die Merkmale definiert, die<br />

zur Ermittlung der Arbeitsmarktfähigkeit<br />

relevant sind. Ziel der Arbeitsgruppe war<br />

es, eine breit abgestützte Liste potenzieller<br />

Einflussfaktoren zu erstellen – ohne Anspruch<br />

auf einen definitiven und abschliessenden<br />

Merkmalskatalog. Die Liste wurde<br />

den Partnerinstitutionen als Arbeitsinstrument<br />

zur Verfügung gestellt. Der Bericht<br />

ist erhältlich unter www.iiz.ch.<br />

Komparative Vorteile nutzen<br />

Der Leistungsaustausch dient der Optimierung<br />

des Integrationsprozesses von<br />

Langzeiterwerbslosen. Einerseits sollen die<br />

Sozialdienste bei der arbeitsmarktlichen<br />

Beratung und der Stellenvermittlung vermehrt<br />

eng mit den RAV zusammenarbeiten.<br />

Andererseits ist es sinnvoll, wenn die<br />

RAV-Personalberatenden bei sich abzeichnender<br />

Langzeitarbeitslosigkeit bereits vor<br />

einer Aussteuerung die enge Kooperation<br />

mit den Sozialdiensten suchen, sobald absehbar<br />

ist, dass Sozialhilfeunterstützung<br />

im konkreten Fall notwendig sein wird.<br />

Eine zweite Arbeitsgruppe «Finanzierungsmodell<br />

öffentliche Arbeitsvermittlung<br />

und Sozialhilfe» wurde beauftragt, die<br />

Frage nach der jeweiligen Entschädigung<br />

der erbrachten Leistungen zu klären. Dazu<br />

hat das Seco im Jahr 2014 die RAV-Dienstleistungen<br />

für Stellensuchende gemäss<br />

dem Arbeitsvermittlungsgesetz (AVG)<br />

und dem Arbeitslosenversicherungsgesetz<br />

(AVIG) überprüft und in einem Leistungskatalog<br />

festgehalten. Gleichzeitig hat die<br />

26 ZeSo 3/15 INTERINSTITUTIONELLE ZUSAMMENARBEIT


Abklärungsgespräch zur Arbeitsmarktfähigkeit im RAV: Sobald eine übergreifende Zielgruppenzugehörigkeit beim Klienten erkannt wird, soll ein Leistungsaustausch<br />

zwischen RAV und Sozialdienst erfolgen.<br />

Bild: Seco<br />

Sozialdirektorenkonferenz (SODK) – trotz<br />

unterschiedlichen kantonalen Gesetzgebungen<br />

– erstmals einen entsprechenden<br />

Dienstleistungskatalog für die Sozialhilfe<br />

erstellt. Auf dieser Basis hat die Arbeitsgruppe<br />

beschlossen, dass sämtliche Beratungs-<br />

und Vermittlungsangebote der<br />

öffentlichen Arbeitsvermittlung den Stellensuchenden<br />

der Sozialhilfe unentgeltlich<br />

zur Verfügung stehen und dass umgekehrt<br />

sämtliche Beratungs- und Informationsangebote<br />

der Sozialhilfe den Stellensuchenden<br />

der öffentlichen Arbeitsvermittlung<br />

unentgeltlich zur Verfügung stehen. Dabei<br />

gilt der Grundsatz, dass Dienstleistungen,<br />

die die Institutionen gemäss ihrem gesetzlichen<br />

Auftrag unentgeltlich erbringen<br />

müssen, dem Kooperationspartner ohne<br />

finanzielle Abgeltung angeboten werden<br />

müssen. Der Bericht dieser Arbeitsgruppe<br />

wird im Herbst <strong>2015</strong> publiziert.<br />

Vereinbarung zur Zusammenarbeit<br />

Eine dritte Arbeitsgruppe war beauftragt,<br />

die Voraussetzungen für eine effiziente<br />

Zusammenarbeit zu regeln. Die Zusammenarbeit<br />

zwischen der ALV und den<br />

jeweiligen Sozialdiensten auf kantonaler,<br />

regionaler und kommunaler Ebene beruht<br />

häufig auf einer freiwilligen Zusammenarbeit.<br />

Mehr Verbindlichkeit und Transparenz<br />

in der Zusammenarbeit ist deshalb<br />

notwendig. Damit einher geht auch die Erwartung<br />

nach zielgruppenspezifischen,<br />

administrativ schlanken und effizienten<br />

Abläufen für die rasche und dauerhafte<br />

Wiedereingliederung erwerbsloser Personen.<br />

Die Arbeitsgruppe hat einen Leitfaden<br />

zur Optimierung der Zusammenarbeit<br />

zwischen dem RAV und dem Sozialdienst<br />

erstellt. Der Leitfaden definiert die<br />

Mindeststandards, die für ein koordiniertes<br />

Vorgehen und für eine umfassende berufliche<br />

und arbeitsmarktliche Eingliederung<br />

nötig sind. Ziel ist es letztlich,<br />

Taggeldzahlungen zu verkürzen und vorhandene<br />

Arbeitsmarktpotenziale auszuschöpfen.<br />

Der Bericht der Arbeitsgruppe<br />

wird ebenfalls im Herbst <strong>2015</strong> auf der<br />

Website www.iiz.ch abrufbar sein.<br />

Formen der Zusammenarbeit eruieren<br />

In vielen Kantonen existieren bereits Kooperationen<br />

oder feste Einrichtungen, mit<br />

denen die Zusammenarbeit zwischen RAV<br />

und Sozialdienst auf Kantonsebene geregelt<br />

und gelebt wird. Mehrere dieser Kooperationsvorhaben<br />

werden im Rahmen<br />

des Seco-Projekts eng begleitet und evaluiert,<br />

um herauszufinden, ob durch eine intensivere<br />

und optimierte Zusammenarbeit<br />

zwischen ALV und Sozialhilfe eine raschere<br />

und nachhaltigere Integration von allen<br />

arbeitsmarktfähigen Stellensuchenden in<br />

den ersten Arbeitsmarkt möglich ist.<br />

Weiter soll geklärt werden, ob dies längerfristig<br />

zu Kostenersparnissen führt und<br />

welches Kooperationsmodell unter welchen<br />

Bedingungen am wirksamsten ist.<br />

Dieser für das Gesamtprojekt wichtige<br />

Best-Practice-Ansatz ermöglicht Rückschlüsse<br />

auf gesamtwirtschaftlich optimale<br />

Integrationsstrategien.<br />

•<br />

Mira Schär<br />

Ressort Markt und Integration<br />

Staatssekretariat für Wirtschaft Seco<br />

INTERINSTITUTIONELLE ZUSAMMENARBEIT 3/15 ZeSo<br />

27


Die Betreuung durch Tandems führt zu<br />

effizienteren Lösungen<br />

Im Kanton Wallis wurde die Zusammenarbeit zwischen der ALV und der Sozialhilfe institutionalisiert.<br />

Eine intensive und zeitlich beschränkte Betreuung durch Fachpersonen beider Institutionen erhöht<br />

die Wahrscheinlichkeit, dass Klientinnen und Klienten wieder dauerhaft in den ersten Arbeitsmarkt<br />

integriert werden können.<br />

Im Jahr 2014 wurden im Kanton Wallis<br />

1500 Arbeitslose ausgesteuert. Zwischen<br />

15 bis 30 Prozent der Betroffenen waren<br />

in der Folge auf Sozialhilfe angewiesen<br />

und wurden durch die zuständigen Sozialdienste<br />

betreut. Vom Standpunkt der Sozialhilfe<br />

aus betrachtet ist rund die Hälfte aller<br />

Sozialhilfebeziehenden arbeitsmarktfähig<br />

und kann folglich Massnahmen zur Wiedereingliederung<br />

in den Arbeitsmarkt in<br />

Anspruch nehmen. Die beiden Personengruppen<br />

ausgesteuerte Arbeitslose und<br />

arbeitsmarktfähige Sozialhilfebeziehende<br />

werden also von zwei öffentlichen Einrichtungen<br />

unterstützt und auf dem Weg<br />

zurück ins Erwerbsleben begleitet: von der<br />

regionalen Arbeitsvermittlung (RAV) und<br />

der Sozialhilfe respektive den sozialmedizinischen<br />

Zentren (SMZ).<br />

Die RAV und die SMZ arbeiten im<br />

Kanton Wallis seit über zehn Jahren zusammen.<br />

In der Region Sion begann<br />

2009 ein Pilotprojekt, das eine verstärkte<br />

Zusammenarbeit zwischen den beiden<br />

Einrichtungen bei der Wiedereingliederung<br />

der Klienten in den Arbeitsmarkt<br />

zum Ziel hat. Dafür wurden institutionsübergreifende<br />

Tandems aus je einer in der<br />

RAV-Personalberatung und einer in der<br />

Sozialhilfe tätigen Fachperson gebildet.<br />

Das Zielpublikum dieser «IIZ-Tandems»<br />

sind Personen in komplexen Situationen,<br />

die ausgesteuert sind oder in weniger als<br />

drei Monaten ausgesteuert werden sowie<br />

arbeitsmarktfähige Sozialhilfeempfänger<br />

und -empfängerinnen. Von einer komplexen<br />

Situation wird in diesem Zusammenhang<br />

gesprochen, wenn mehrere<br />

Problemfelder vorliegen – physische oder<br />

psychische Beeinträchtigungen, finanzielle<br />

Schwierigkeiten, schwierige Familienverhältnisse<br />

oder Suchtprobleme – und<br />

eine Priorisierung der Begleitmassnahmen<br />

schwierig ist.<br />

Eine Beratung und Begleitung im Tandem erleichtert die Suche nach geeigneten Lösungen.<br />

Bild: Keystone<br />

Fallbeispiel<br />

Sara (Name geändert) ist 25 Jahre alt,<br />

Mutter eines zweijährigen Kindes und<br />

frisch geschieden. Das Verhältnis zu ihrem<br />

Ex-Mann ist angespannt. Da der Ex-Mann<br />

keinen Unterhalt bezahlt und Saras eigene<br />

Familie ihr finanziell nicht unter die Arme<br />

greifen kann – die Mutter bezieht seit<br />

mehreren Jahren eine IV-Rente und zum<br />

Vater hat Sara seit einem Zerwürfnis keinen<br />

Kontakt mehr – bleibt Sara nur der<br />

Gang aufs Sozialamt. Damit sie Arbeitslosenunterstützung<br />

erhält, hat sie sich<br />

zudem beim RAV als arbeitslos gemeldet.<br />

Eigentlich möchte sie so schnell wie möglich<br />

wieder einer Beschäftigung nachgehen.<br />

Sie besitzt ein eidgenössisches Fähigkeitszeugnis<br />

als Detailhandelsfachfrau,<br />

aber sie hat nach der Lehre keine Berufserfahrung<br />

gesammelt.<br />

Nach einer gemeinsam vom RAV und<br />

dem zuständigen Sozialdienst durchgeführten<br />

Analyse kann Sara eine Begleitung<br />

durch ein IIZ-Tandem in Anspruch nehmen.<br />

Im Rahmen dieser interinstitutionellen<br />

Zusammenarbeit wird sie intensiv<br />

gecoacht. Ein vom IIZ-Tandem organisiertes,<br />

dreimonatiges Praktikum in einem<br />

Einkaufszentrum soll Saras Arbeitsmarktfähigkeit<br />

überprüfen und ihr Gelegenheit<br />

bieten, Berufserfahrung zu sammeln. Obwohl<br />

sich Sara von Anfang an bei ihren<br />

beiden Begleitpersonen gut aufgehoben<br />

fühlt, bricht sie das Praktikum nach weni-<br />

28 ZeSo 3/15 INTERINSTITUTIONELLE ZUSAMMENARBEIT


gen Tagen aus gesundheitlichen Gründen<br />

ab. Nach der Genesung folgen weitere<br />

Praktika, die sie allesamt wieder abbricht<br />

– angeblich aus gesundheitlichen Gründen.<br />

Ein entsprechendes Arztzeugnis kann<br />

sie allerdings nicht vorlegen. Schliesslich<br />

sprechen die beiden Begleitpersonen Sara<br />

auf ihr Verhalten an und konfrontieren sie<br />

mit den Folgen, die ihr Verhalten nach sich<br />

ziehen wird, wenn sie daran nichts ändert.<br />

Nach dieser Aussprache organisiert das<br />

Tandem für Sara ein weiteres Praktikum<br />

im Verkauf. Die Arbeit gefällt Sara, und<br />

auch ihr Arbeitgeber ist mit ihrer Leistung<br />

zufrieden, so dass das Praktikum in eine<br />

Anstellung, die mit Einarbeitungszuschüssen<br />

unterstützt wird, umgewandelt werden<br />

kann. Die mit neuem Selbstvertrauen gewappnete<br />

junge Frau beschliesst darauf,<br />

auch noch den Führerschein in Angriff<br />

zu nehmen, denn sie wohnt in einem<br />

Dorf mit schlechter ÖV-Anbindung. Dank<br />

Führerschein kann sie ihr Berufs- und ihr<br />

Familienleben fortan besser miteinander<br />

vereinbaren. Im Geschäft, in dem sie ihr<br />

Praktikum absolviert hat, arbeitet Sara<br />

noch heute.<br />

Erfolgskriterien<br />

Der Erfolg eines solchen IIZ-Coachings basiert<br />

auf folgenden Faktoren:<br />

• Freiwillige Teilnahme. Die begünstigte<br />

Person muss der Überweisung an die<br />

IIZ in einer Vereinbarung zustimmen.<br />

• Intensive und persönliche Betreuung.<br />

Über einen Zeitraum von maximal<br />

neun Monaten finden mindestens zwei<br />

Beratungsgespräche pro Monat statt.<br />

Die Dauer der Begleitung richtet sich<br />

nach den spezifischen Bedürfnissen der<br />

Klienten. Auch wenn sich die Wiedereingliederung<br />

schwierig gestaltet, wird<br />

ein klarer Zeitrahmen definiert, in dem<br />

die Klienten und die sie betreuenden<br />

Fachpersonen ihre Ziele und Prioritäten<br />

umsetzen müssen.<br />

• Die Kompetenzen der Tandem-Begleitpersonen<br />

ergänzen sich. Im Tandem<br />

arbeiten zwei Fachpersonen miteinander,<br />

von denen die eine spezifisches<br />

Know-how im Bereich der Stellenvermittlung<br />

und die andere spezifische<br />

Kompetenzen aus der Sozialhilfeberatung<br />

mitbringt. Dies erlaubt, die Situation<br />

der Klienten aus einer <strong>ganz</strong>heitlichen<br />

Perspektive zu betrachten, und<br />

es erleichtert die Suche nach geeigneten<br />

Lösungen. Wenn soziale und berufliche<br />

Aspekte gleichermassen berücksichtigt<br />

werden, sorgt dies generell für ein effizienteres<br />

Vorgehen.<br />

• Bereitstellung der notwendigen Personalressourcen.<br />

Den Begleitpersonen<br />

muss genügend Zeit zur Verfügung<br />

stehen, damit sie ihre Klientinnen und<br />

Klienten in der beschriebenen Art und<br />

Weise bei der beruflichen Wiedereingliederung<br />

begleiten können. Die<br />

Finanzierung des Tandem-Personals erfolgt<br />

bei der Sozialhilfe über das Budget<br />

für Wiedereingliederungsmassnahmen<br />

und bei der ALV über das ordentliche<br />

RAV-Budget.<br />

• Die ständige Konfrontation der Teilnehmenden<br />

mit den Realitäten des Arbeitsmarkts<br />

gibt Aufschluss darüber, wo die<br />

Betroffenen im Wiedereingliederungsprozess<br />

stehen.<br />

• Der Eingliederungsprozess kann auch<br />

unterbrochen werden, damit neue Ziele<br />

festgelegt werden können.<br />

Schrittweise auf den <strong>ganz</strong>en Kanton<br />

ausgeweitet<br />

Das intensive Coaching im Tandem hat<br />

sich als so erfolgreich erwiesen, dass das<br />

Konzept schrittweise auf den <strong>ganz</strong>en Kanton<br />

Wallis ausgeweitet wurde. Bisher konnten<br />

109 Personen von Tandem-Begleitungen<br />

profitieren, wovon 39 Personen dank<br />

der intensiven Betreuung dauerhaft in den<br />

ersten Arbeitsmarkt eingegliedert werden<br />

konnten. Das entspricht – die noch hängigen<br />

Dossiers nicht miteingerechnet – einer<br />

Wiedereingliederungsquote von 46 Prozent.<br />

Die an der Tandembetreuung beteiligten<br />

Fachpersonen schätzen ihrerseits,<br />

dass sie die Probleme, mit denen sie konfrontiert<br />

werden, durch den gemeinsamen<br />

Ansatz und die enge Zusammenarbeit eher<br />

entschärfen können.<br />

Ausgehend vom beschriebenen Pilotprojekt<br />

konnte die Zusammenarbeit zwischen<br />

den RAV und den SMZ also erfolgreich<br />

Von einer komplexen<br />

Situation wird gesprochen,<br />

wenn eine<br />

Priorisierung der<br />

Begleitmassnahmen<br />

schwierig ist.<br />

verstärkt werden. Die Zusammenarbeit der<br />

beiden Systeme wird mit einer Richtlinie<br />

geregelt, die die folgenden Ziele anstrebt:<br />

• Die Verbesserung der Schnittstelle zwischen<br />

Sozialhilfe und RAV. Die Übergänge<br />

sollen fliessend, transparent und<br />

für das Zielpublikum verbindlich sein.<br />

• Ein Präventionsdispositif zur Früherkennung<br />

potenziell gefährlicher Situationen<br />

und als Basis für rasche gemeinsame Interventionen.<br />

Damit soll verhindert werden,<br />

dass Klienten je nach begleitender Institution<br />

unterschiedlich betreut werden.<br />

• Die Etablierung von Grundsätzen zur<br />

Finanzierung der für die Begünstigten<br />

vorgesehenen Massnahmen durch die<br />

eine oder andere Einrichtung. •<br />

Anne Beney Confortola<br />

IIZ-Beauftragte Kanton Wallis<br />

Aurélia Bétrisey<br />

wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />

INTERINSTITUTIONELLE ZUSAMMENARBEIT 3/15 ZeSo<br />

29


Zweitausend Ideen für die<br />

gemeinsame Zeit<br />

Das Caritas-Projekt «mit mir» vermittelt Kindern aus finanziell oder sozial belasteten Familien eine Patin<br />

oder einen Paten. Dass dabei Beziehungen entstehen können, die für beide Seiten bereichernd sind, zeigt<br />

ein Besuch bei Mariann Bahr und ihrem Patenmädchen Beatriz.<br />

An einem grossen Küchentisch in einer<br />

Luzerner Altbauwohnung sitzt die neunjährige<br />

Beatriz und schneidet ein Stück<br />

Stoff zu. «Das wird eine Bettdecke für meine<br />

Puppe», erklärt sie ihrer Patin. Mariann<br />

Bahr sitzt neben dem quirligen Mädchen,<br />

reicht ihr Stecknadeln und ein weiteres<br />

Stück Stoff. «Eine zweite Lage macht die<br />

Decke wärmer», sagt Bahr. Beatriz lacht auf,<br />

ihr gefällt die Idee. Sie steckt die Stoffteile<br />

zusammen und beginnt mit dem Nähen.<br />

Wenn man den beiden zuschaut, käme<br />

man nicht auf die Idee, dass sie sich noch<br />

gar nicht so lange kennen. Eineinhalb Jahre<br />

ist es her, seit Mariann Bahr die Patenschaft<br />

für Beatriz übernommen hat. Als<br />

die vife Frau pensioniert wurde, war für sie<br />

klar, dass sie die neugewonnene Zeit auch<br />

für ein freiwilliges Engagement nutzen<br />

wollte, vorzugsweise für eines mit Kindern.<br />

«Ich mag Kinder einfach», erklärt sie, die<br />

selber keine Kinder hat, jedoch in ihrem<br />

Beruf als Ergotherapeutin immer mit jungen<br />

Menschen zu tun hatte.<br />

Das Caritas-Projekt «mit mir» sprach<br />

Mariann Bahr an. Es vermittelt Kindern<br />

im Alter von drei bis zwölf Jahren aus sozial<br />

und finanziell schwierigen Verhältnissen<br />

eine Patin oder einen Paten, die mit ihnen<br />

Zeit verbringen. Das Projekt versteht sich<br />

weder als Hausaufgabenhilfe noch als Betreuungsangebot.<br />

Im Zentrum steht der<br />

Aufbau einer Beziehung, die das Kind in<br />

seiner Entwicklung fördern soll. Gleichzeitig<br />

werden auch die Eltern entlastet, die<br />

durch ihre Lebensumstände oft stark gefordert<br />

sind: Es sind etwa Alleinerziehende,<br />

Familien mit niedrigen Einkommen oder<br />

mit einem Migrationshintergrund. Letzteres<br />

ist bei den Eltern von Beatriz der Fall.<br />

Sie kamen vor fünf Jahren von Portugal in<br />

die Schweiz und sprachen kaum Deutsch.<br />

Familiäre Beziehungen bestanden hier keine<br />

und Freundschaften mussten zunächst<br />

aufgebaut werden. So ist Mariann Bahr für<br />

Beatriz eine wichtige Bezugsperson ausserhalb<br />

der Familie geworden. Aber auch<br />

Bahr profitiert von der gemeinsamen Zeit<br />

und freut sich, wenn sie an der Entwicklung<br />

von Beatriz teilhaben darf.<br />

«Ich habe tausend Ideen, was wir unternehmen<br />

können», sagt sie, «und Beatriz hat<br />

noch mal tausend weitere». «Am liebsten<br />

bastle ich», sagt Beatriz. «Velofahren magst<br />

du auch», wirft die Patin ein. «Und wir<br />

waren Schlittschuhlaufen», plaudert das<br />

Mädchen. Als die Rede darauf kommt, wie<br />

Mariann Bahr dabei einmal umgefallen ist,<br />

prustet Beatriz los. Immer wieder necken<br />

sich die beiden. Sie blättern in ihren Tagebüchern,<br />

in denen sie nach jedem Treffen<br />

festhalten, was sie gemacht haben. «Der<br />

Eistee war grauenvoll», steht da an einem<br />

Tag vermerkt. «Der war wirklich eklig», ruft<br />

Beatriz und verzieht bei der Erinnerung an<br />

den auf einem Ausflug getrunkenen Tee<br />

das Gesicht. Und kichert schon wieder los.<br />

Sorgfältige Auswahl der Freiwilligen<br />

Das Projekt «mit mir» (www.mitmir.ch)<br />

wird von sieben Caritas-Regionalstellen angeboten.<br />

«Es entstehen viele freundschaft-<br />

Im Zentrum der Patenschaften steht der<br />

Aufbau einer Beziehung.<br />

Bilder: Annette Boutellier<br />

30 ZeSo 3/15 reportage


liche Beziehungen», erzählt Claudia Wilhelm,<br />

Projektleiterin bei Caritas Luzern.<br />

In Luzern bestehen momentan rund 60<br />

Patenschaften, über 150 wurden bereits<br />

vermittelt. Auf das Angebot aufmerksam<br />

gemacht werden potenziell interessierte<br />

Familien etwa von Kinder- und Jugendberatungsstellen,<br />

Sozialberatungen oder<br />

Schulsozialdiensten. Caritas begleitet die<br />

Patenschaften mit regelmässigen Standortgesprächen<br />

und situativer Unterstützung.<br />

Die Paten nehmen an verbindlichen Weiterbildungen<br />

zu Themen wie Sorgfaltspflicht<br />

und Kindesschutz teil. Mit Erfahrungsaustauschtreffen<br />

und einem gemeinsamen<br />

Sommerfest sollen die Freiwilligen<br />

zudem in ihren Aufgaben gestärkt und ihr<br />

Engagement wertgeschätzt werden. Nach<br />

drei Jahren werden die Patenschaften offiziell<br />

abgelöst. Rund 90 Prozent würden<br />

danach aber privat weitergeführt, sagt<br />

Wilhelm.<br />

Damit überhaupt eine Patenschaft vermittelt<br />

wird, müssen sich die Freiwilligen<br />

auf Herz und Nieren prüfen lassen. Sie werden<br />

in einem persönlichen Gespräch ausführlich<br />

befragt, müssen Referenzen und<br />

einen Strafregisterauszug vorlegen. «Wir<br />

klären die Motivation genau ab: Warum<br />

will jemand eine Patenschaft übernehmen?»,<br />

sagt Wilhelm. Ein entscheidender<br />

Faktor sei auch die vorhandene Zeit. Die<br />

Paten sollten mindestens ein bis zwei Mal<br />

im Monat einen halben oder einen <strong>ganz</strong>en<br />

Tag mit dem Kind verbringen. Auch nach<br />

ihrem Lebensumfeld werden die potenziellen<br />

Paten genau befragt. «Der Lebenspartner<br />

oder die WG-Mitbewohnerin muss<br />

damit einverstanden sein, dass künftig<br />

regelmässig ein Patenkind zu Besuch<br />

kommt», sagt Wilhelm und fügt an, dass<br />

weiter auch die Interessen und Fähigkeiten<br />

eine Rolle spielen. «Nur wenn wir wissen,<br />

ob jemand lieber ein Feuer im Wald macht<br />

oder einen Kuchen bäckt, können wir die<br />

Patenschaften sinnvoll zusammensetzen».<br />

Caritas Luzern setzt auf ein Vermittlermodell:<br />

Für jede Patenschaft ist jemand<br />

zuständig, der oder die sowohl für Paten<br />

wie für die Familie des Kindes Ansprechperson<br />

ist und sie bei Problemen oder Missverständnissen<br />

unterstützt. Ein guter Kontakt<br />

zwischen Paten und Familie sei für das<br />

Gelingen der Patenschaft entscheidend,<br />

sagt Wilhelm. Dazu gehört auch, dass die<br />

Paten anfangs die Eltern einmal zu sich<br />

nach Hause einladen, damit diese sehen,<br />

wo sich ihr Kind aufhält.<br />

Die Eltern haben das letzte Wort<br />

Bei Mariann Bahr und Beatriz fragt man<br />

vergeblich nach Schwierigkeiten. Mariann<br />

Bahr betont, dass Beatriz sehr liebevolle<br />

Eltern habe, die sich freuen, wenn es dem<br />

Mädchen gut gehe und sie eine schöne Zeit<br />

verbringt. Bahr legt Wert darauf, dass Beatriz'<br />

Eltern immer informiert sind, was ihre<br />

Tochter mit ihr unternimmt und wo sie<br />

sich aufhalten. «Die Eltern müssen damit<br />

einverstanden sein», sagt sie. Da sie Beatriz<br />

jeweils zu Hause abholt und wieder zurückbringt,<br />

besteht automatisch ein regelmässiger<br />

Kontakt. Darüber hinaus haben<br />

sich die beiden Familien aber auch schon<br />

zum Essen getroffen oder gemeinsam Geburtstag<br />

gefeiert. Für Mariann Bahr ist es<br />

spannend, in eine <strong>ganz</strong> andere Familie und<br />

Lebensumstände hineinzusehen.<br />

Inzwischen locken die Sonnenstrahlen<br />

durch das Küchenfenster. Beatriz und Mariann<br />

Bahr gehen in den Garten. Es steht<br />

noch Federball und Frisbee spielen auf<br />

dem Programm. Beatriz hat eine Heidenfreude,<br />

als die Frisbee-Scheibe versehentlich<br />

in den Nachbarsgarten fliegt. Über<br />

den Zaun hangelnd, will sie ihn zurückzuholen.<br />

Es gelingt nicht <strong>ganz</strong>, Mariann Bahr<br />

kommt zu Hilfe. Derweil feuert Bahrs Partner<br />

den Grill an. Sie wollen noch bräteln<br />

heute Abend. Danach wird Mariann Bahr<br />

Beatriz nach Hause begleiten. Bestimmt<br />

aber nicht, ohne vorher die nächsten Treffen<br />

in den Kalender einzutragen. •<br />

Regine Gerber<br />

reportage 3/15 ZeSo<br />

31


Für Jugendliche ist es frustrierend, wenn sie bereits beim Versuch des Berufseinstiegs von der Arbeitswelt zurückgewiesen werden. <br />

Bild: zvg<br />

Jugendarbeitslosigkeit mit gezielten<br />

Präventivmassnahmen bekämpfen<br />

Die Verringerung von Jugendarbeitslosigkeit gehört auch in der Schweiz zu den wichtigsten<br />

gesellschaftlichen Herausforderungen. Der Verein Check Your Chance koordiniert die Angebote von<br />

Organisationen, die sich für die Berufsintegration von Jugendlichen engagieren.<br />

Arbeitslosigkeit ist eine der Hauptsorgen<br />

der Schweizer Bevölkerung und ein Thema,<br />

das auch die Jugend betrifft. Obwohl<br />

sich die Jugendarbeitslosigkeit in der<br />

Schweiz aktuell auf moderatem Niveau<br />

bewegt, zählt sie zu den wichtigsten gesellschaftlichen<br />

Herausforderungen. Gemäss<br />

PLATTFORM<br />

Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />

diese Rubrik als Plattform an, auf der sie sich<br />

und ihre Tätigkeit vorstellen können: in dieser<br />

Ausgabe dem Verein Check Your Chance.<br />

Staatssekretariat für Wirtschaft Seco waren<br />

im Juni <strong>2015</strong> 15 853 Jugendliche zwischen<br />

15 und 24 Jahren als arbeitslos<br />

registriert, was einer Jugendarbeitslosenquote<br />

von 2,8 Prozent entspricht. Nicht<br />

eingerechnet in diese Quote sind allerdings<br />

jene Jugendlichen, die sich nicht beim RAV<br />

registriert haben, aber dennoch erwerbssuchend<br />

sind. So waren gemäss Bundesamt<br />

für Statistik im Jahr 2014 in der Schweiz –<br />

trotz wirtschaftlich guter Lage – durchschnittlich<br />

54 000 oder 8,6 Prozent der<br />

15- bis 24-Jährigen erwerbssuchend.<br />

Der Berufseinstieg ist eine entscheidende<br />

Weichenstellung für die Zukunft<br />

und kann eine schwierige Hürde im Leben<br />

eines jungen Menschen darstellen. Gelingt<br />

es jungen Erwachsenen trotz persönlicher<br />

Anstrengung nicht, nach einer Berufslehre<br />

oder einem Studienabschluss eine erste Arbeitsstelle<br />

zu finden, kann der Weg in den<br />

einst erlernten oder angestrebten Beruf<br />

dauerhaft versperrt sein.<br />

Von der Initiative zum Dachverein<br />

Negative wirtschaftliche Entwicklungen<br />

treffen junge Erwachsene besonders hart.<br />

Als die offizielle Jugendarbeitslosigkeit<br />

2009 mit 5,4 Prozent einen historischen<br />

Höchststand erreicht hatte, lancierte die<br />

32 ZeSo 3/15 plattform


Bank Credit Suisse die Initiative «Gemeinsam<br />

gegen die Jugendarbeitslosigkeit».<br />

Während der folgenden fünf Jahre unterstützte<br />

sie verschiedene nicht-staatliche<br />

Programme und Netzwerke, die gefährdeten<br />

Jugendlichen in der sensiblen Phase<br />

des Berufseinstiegs Unterstützung und<br />

Betreuung anbieten. Zwischen Januar<br />

2010 und Dezember 2014 sind über<br />

8300 Jugendliche in eines der Programme<br />

eingetreten. Im selben Zeitraum konnten<br />

über 4300 junge Erwachsene beim<br />

Programmaustritt eine feste oder temporäre<br />

Anstellung vorweisen. Und mehr als<br />

tausend Teilnehmende verliessen die Programme<br />

mit einer Anschlusslösung in<br />

Form einer Aus- oder Weiterbildungsvereinbarung.<br />

Mit dieser Erfolgsquote von<br />

rund 70 Prozent und jährlichen Kosten<br />

zwischen 2000 und 4000 Franken pro<br />

Teilnehmer erreichen die Organisationen<br />

eine hohe Kosteneffizienz.<br />

Nach der fünf Jahre dauernden Anstossfinanzierung<br />

durch die Credit Suisse<br />

wurde 2014 der Dachverein Check Your<br />

Chance gegründet, damit die Programme,<br />

die sich als effizient und wirkungsvoll erwiesen<br />

haben, dauerhaft erhalten bleiben.<br />

Check Your Chance versteht sich als offene<br />

und gemeinnützige Plattform, bei der aktuell<br />

die Stiftung Die Chance (Betreuung<br />

vom Schul- bis zum Lehrabschluss), Pro<br />

Juventute (Programm MyFutureJob), das<br />

Netzwerk LBV (Betreuung während der<br />

EBA Ausbildung und beim Berufseinstieg),<br />

das Schweizerische Arbeiterhilfswerk<br />

SAH (Programm CT2), die Stiftung<br />

IPT (Programm Jeunes@Work) und die<br />

Tessiner Fondazione youLabor (Programm<br />

Career Startup) Mitglied sind. Präsidiert<br />

wird der Dachverein von Valentin Vogt,<br />

der auch Präsident des Schweizerischen<br />

Arbeitgeberverbandes ist.<br />

Die Ziele von Check Your Chance<br />

Das prioritäre Ziel von Check Your Chance<br />

ist es, einen Beitrag zur Verringerung der<br />

Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz zu<br />

leisten. Die Mitgliedorganisationen sind –<br />

mit Unterstützung des Seco – mit ihren<br />

Programmen gezielt auch präventiv tätig.<br />

Der Verein unterstützt sie dabei, ein effizientes<br />

Fundraising zu betreiben und eine<br />

breite finanzielle Trägerschaft zu etablieren.<br />

Denn die Verhinderung von drohender<br />

Arbeitslosigkeit über massgeschneiderte<br />

Programme kommt die Gesellschaft<br />

langfristig bedeutend günstiger, als arbeitslosen<br />

Jugendlichen später mit grossen<br />

Mühen und entsprechenden Folgekosten<br />

zu helfen, wieder Tritt zu fassen. Von besonderer<br />

Bedeutung ist auch, dass sich die<br />

jungen Leute während der Teilnahme an<br />

den Programmen nicht als arbeitslos registrieren<br />

müssen.<br />

Da sich das konjunkturelle Umfeld<br />

schnell verändern kann, sieht Check Your<br />

Chance eine weitere wichtige Aufgabe<br />

ihrer Tätigkeit darin, eine Grundinfrastruktur<br />

und entsprechendes Know-how zu<br />

sichern, um die wirkungsvollen Programme<br />

zu Gunsten von arbeitslosen Jugendlichen<br />

in schwierigen Zeiten rasch ausweiten zu<br />

können. Als Dachverein koordiniert Check<br />

Your Chance die Angebote und fördert den<br />

gegenseitigen Erfahrungsaustausch und<br />

bewirkt damit Qualitätsverbesserungen<br />

und ein effizientes System.<br />

Frustration verhindern<br />

Jugendarbeitslosigkeit muss mit Nachdruck<br />

verhindert werden. Wenn Jugendliche bereits<br />

beim Berufseinstieg den Eindruck<br />

erhalten, nicht gebraucht zu werden, und<br />

sich von der Arbeitswelt zurückgewiesen<br />

fühlen, ist das für sie frustrierend. Wenn<br />

Jugendliche nur schon einige Monate<br />

nicht mehr in festen Strukturen verankert<br />

sind, besteht die Gefahr, dass sie sich verlieren<br />

und aus der Bahn geraten. Zudem<br />

droht eine Dequalifikation: Berufliche<br />

Fertigkeiten werden ohne tägliche Praxis<br />

und Routine rasch entwertet. Auch Lebensläufe<br />

mit Lücken sind bei Bewerbungen<br />

erklärungsbedürftig und belastend.<br />

Die Mitgliedorganisationen von Check<br />

Your Chance sind langjährige und zuverlässige<br />

Partner in der beruflichen Integration.<br />

Zum Angebot gehören Abklären<br />

der Berufseignung, Entwicklung eines<br />

Berufsprojektes, Vorgehen bei der Stellensuche<br />

und Dossier-Erstellung, Interview-<br />

Check Your Chance ist eine Dachorganisation<br />

zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit<br />

in der Schweiz. Sie vereinigt Non-Profit-<br />

Organisationen in allen Landesteilen, die sich<br />

für die Berufsintegration von Jugendlichen<br />

engagieren. Der 2014 gegründete Dachverein<br />

ist aus der Initiative «Gemeinsam gegen<br />

Arbeitslosigkeit» der Credit Suisse hervorgegangen,<br />

in die die Bank zwischen 2010<br />

und Anfang <strong>2015</strong> rund 30 Millionen Franken<br />

investiert hat. Heute besteht eine Leistungsvereinbarung<br />

mit dem Staatssekretariat für<br />

Wirtschaft Seco, das einen Drittel der Kosten<br />

der präventiven Massnahmen der Check-Your-<br />

Chance-Mitglieder übernimmt, während zwei<br />

Drittel durch private Finanzquellen getragen<br />

werden müssen.<br />

www.check-your-chance.ch<br />

Training, Begleitung im Aufnahmeprozess<br />

von Lernenden, Unterstützung bei<br />

Problemen in der Ausbildung und im<br />

Bewerbungsprozess, Beratung bei der Berufswahl<br />

und zur Aus- und Weiterbildung,<br />

Verhinderung von Lehrabbrüchen sowie<br />

individuelle Betreuung bei zwischenmenschlichen<br />

Problemen am Arbeitsplatz.<br />

Einige der Mitgliedorganisationen arbeiten<br />

bereits auf Einzelmandatsbasis mit<br />

kantonalen Sozialbehörden zusammen.<br />

Die Mitgliedorganisationen von Check<br />

Your Chance stellen sich den Sozialbehörden<br />

gerne vor und freuen sich auf eine<br />

engagierte Zusammenarbeit – gemeinsam<br />

gegen Jugendarbeitslosigkeit! •<br />

Andreas Rupp<br />

Geschäftsführer Check Your Chance<br />

plattform 3/15 ZeSo<br />

33


FORUM<br />

In die Gesellschaft investieren –<br />

Gedanken zur Sozialhilfedebatte<br />

Die emotionale Sozialhilfedebatte der<br />

jüngeren Vergangenheit ist bestimmt<br />

nicht nur dem Umstand geschuldet,<br />

dass eine knackige Headline zu einem<br />

Missbrauchsfall in der Sozialhilfe ein<br />

praktisch garantierter Quotenrenner<br />

ist, der entsprechend ausgeschlachtet<br />

wird. Die Gründe liegen tiefer und<br />

sind vielfältig. In Fragen der Sozialhilfe<br />

treffen ein legitimes Informations- und<br />

Transparenzbedürfnis einer finanzierenden<br />

Mehrheit auf ein nicht ausgeprägt<br />

laienverständliches System von Leistungen<br />

für eine Minderheit von Bezügerinnen<br />

und Bezügern in einer Vielfalt von<br />

Lebenssituationen. Dieser kommunikativen<br />

Herausforderung müssen sich<br />

die Akteure der Sozialhilfe stellen, denn<br />

auch hier gilt: Perception is reality. Die<br />

Wahrnehmung wird zur Realität.<br />

Die Sozialhilfe ist eine notwendige<br />

Ergänzung des wirtschaftlichen Wettbewerbs,<br />

in dem nicht alle Menschen<br />

bestehen. Sie kann ihre wichtige Funktion<br />

langfristig aber nur erfüllen, wenn<br />

ein solides Vertrauen ins Leistungssystem<br />

und die vollziehenden Behörden<br />

besteht. Insofern kann eine Fokussierung<br />

auf «pathologische Einzelfälle»<br />

bestenfalls öffentlichen Druck für<br />

eine offene Diskussion und genügend<br />

Systemtransparenz erzeugen, bringt die<br />

Sache aber nicht weiter. Und sie kann<br />

über die Verminderung der Akzeptanz<br />

der Sozialhilfe in der Bevölkerung die<br />

Zukunftsfähigkeit des Systems gefährden.<br />

Beat Walti<br />

Rechtsanwalt und<br />

Nationalrat (FDP), Zürich<br />

Die Gestaltung einer wirkungsvollen<br />

Sozialhilfe ist durch vielfältige Spannungsfelder<br />

geprägt. Das Tempo der<br />

gesellschaftlichen und wirtschaftlichen<br />

Veränderungen steigt stetig, und mit<br />

ihnen die Komplexität der Lebenswirklichkeiten<br />

in der Gesellschaft – gerade<br />

auch derjenigen Menschen, die ihren<br />

Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft<br />

bestreiten können. Der zielgenaue Einsatz<br />

von sozialpolitischen Instrumenten<br />

und die effektive Verwendung der Mittel<br />

Die Verantwortungsträger<br />

der<br />

Wirtschaft müssen<br />

stärker in den<br />

sozialpolitischen<br />

Dialog eingebunden<br />

werden.<br />

rufen hier nach genügend Spielraum für<br />

die vollziehenden Behörden. Einzelfallgerechte<br />

Leistungen und Anreize, über<br />

kurz oder lang wieder (vermehrte)<br />

finanzielle Eigenständigkeit zu erlangen,<br />

setzen ein gehöriges Mass an Ermessen<br />

in der Leistungsgestaltung voraus. Dem<br />

steht anderseits das Bedürfnis nach einem<br />

stabilen, finanziell berechenbaren System<br />

gegenüber, das Rechtsgleichheit für die<br />

Sozialhilfeempfänger ebenso gewährleistet<br />

wie Effizienz in der Verwaltung.<br />

Vor diesem Hintergrund sind Diskussionen<br />

über die SKOS-Richtlinien, ihre Verbindlichkeit<br />

und die Angemessenheit der<br />

Leistungen der Sozialhilfe verständlich<br />

und auch gar nicht falsch. Sie sollten im<br />

Gegenteil als Chance verstanden werden,<br />

einen echten und steten gesellschaftlichen<br />

Dialog zwischen Experten und Öffentlichkeit<br />

über die Sozialhilfe aufzubauen und<br />

zu betreiben. Und die Frage, wie die verfügbaren<br />

Mittel bestmöglich – im Interesse<br />

der Sozialhilfeempfänger und der <strong>ganz</strong>en<br />

Gesellschaft – investiert werden sollen.<br />

Dabei könnte nicht nur die Akzeptanz für<br />

die Kosten der Sozialhilfe, sondern auch<br />

der Informationsstand in der Bevölkerung<br />

über deren häufigste Ursachen verbessert<br />

werden. Dies ist im Sinne der Prävention<br />

wichtig. Gerade junge Menschen sollten<br />

beispielsweise wissen, dass mehr als die<br />

Hälfte der Sozialhilfeempfänger nicht<br />

über eine abgeschlossene Berufslehre oder<br />

Ausbildung verfügen – das Fehlen einer<br />

Ausbildung also ein handfestes Armutsrisiko<br />

darstellt.<br />

Ohnehin erscheint die bestmögliche Integration<br />

auch unqualifizierter oder leistungsschwacher<br />

Menschen in den Arbeitsmarkt<br />

die nachhaltigste Form der Sozialhilfe zu<br />

sein. Der Wert der Arbeit geht bekanntlich<br />

weit über die Lohnsumme hinaus, er<br />

erstreckt sich auf gesellschaftliche Anerkennung,<br />

das Selbstwertgefühl und die<br />

Motivation, Verantwortung für sich selbst<br />

und sein Umfeld wahrzunehmen. Diese<br />

Integration ist aber in Zeiten globalisierter<br />

Märkte und stets fortschreitender Spezialisierung<br />

eine echte Herausforderung, und<br />

sie gelingt nur, wenn in den angesprochenen<br />

sozialpolitischen Dialog vermehrt<br />

auch Unternehmen respektive Verantwortungsträger<br />

in der Wirtschaft eingebunden<br />

werden. Die Politik und die Sozialpartner<br />

sollten sich zudem bewusst sein, dass stets<br />

neue Regulierungen und verbindliche<br />

Anforderungen an die Arbeitnehmenden<br />

in vielen Branchen die Erfolgsaussichten<br />

schlecht qualifizierter Arbeitnehmender<br />

zusätzlich einschränken und ihr Risiko<br />

erhöhen, von der Sozialhilfe abhängig zu<br />

werden oder zu bleiben.<br />

•<br />

In dieser Rubrik schafft die <strong>ZESO</strong> Raum für Debatten<br />

und Meinungen. Der Inhalt gibt die Meinung des<br />

Autors resp. der Autorin wieder.<br />

34 ZeSo 3/15 FORUM


lesetipps<br />

Ausser Betrieb<br />

Was wir heute Arbeit nennen, ist ein Produkt<br />

der Industrialisierung. Die Lohnarbeit wurde im<br />

«bürgerlichen Betriebskapitalismus» zentral.<br />

Inzwischen verdrängen neue Formen des<br />

Arbeitens die kollektivvertraglich festgelegte<br />

Normalarbeit. Das Buch macht diesen Wandel<br />

in 17 Beiträgen sichtbar. Die Texte handeln beispielsweise<br />

von Hausarbeit, Kunst, der Arbeit<br />

im Gefängnis, Berufsberatung, Handelsreisenden und Entwicklungshilfe.<br />

Die Autoren schreiben so an einer erweiterten Geschichte der Arbeit<br />

mit, die auch ein neues Verständnis der Arbeit im Betrieb ermöglicht.<br />

Brigitta Bernet, Jakob Tanner (Hrsg.), Ausser Betrieb, Metamorphosen der Arbeit in<br />

der Schweiz, Limmat, <strong>2015</strong>, 344 Seiten, CHF 48.−<br />

ISBN 978-3-85791-757-8<br />

Berufsbildungsprofis erzählen<br />

Fachkräftemangel, unbesetzte Lehrstellen und<br />

Nachwuchsprobleme in wichtigen Branchen:<br />

Die Berufsbildung steht derzeit im Fokus der<br />

öffentlichen Aufmerksamkeit. In dieser Debatte<br />

kommen jedoch Ausbildner und Lehrpersonen<br />

kaum je zu Wort. In diesem Buch erzählen<br />

Berufsbildungsverantwortliche von ihrem Ausbildungsalltag<br />

und von ihren Visionen. Anhand<br />

dieser Geschichten werden die Stärken, aber auch die Komplexität des<br />

Berufsbildungssystems aufgezeigt. Das Spektrum der vertretenen<br />

Berufe reicht vom kaufmännischen Beruf über Maler und Gipser, die<br />

Berufe der Maschinen- und Metallindustrie bis zur Hebamme.<br />

Christoph Gassmann, Berufsbildung in der Schweiz, Gesichter und Geschichten,<br />

Hep, <strong>2015</strong>, 352 Seiten, CHF 38.−<br />

ISBN 978-3-03905-578-4<br />

Strategien von<br />

Aufstocker-Familien<br />

Die Interviewstudie aus Deutschland analysiert,<br />

welche Strategien Familien entwickeln, um ihre<br />

Bedürftigkeit zu überwinden. Im Fokus stehen<br />

die sogenannten Aufstocker-Familien, die trotz<br />

eigenen Einkommens auf zusätzliche Leistungen<br />

angewiesen sind. Es wird aufgezeigt,<br />

welche Bedeutung sie dem Ausstieg aus der<br />

Bedürftigkeit beimessen und mit welchen Herausforderungen sie sich<br />

dabei konfrontiert sehen. Unter Einbeziehung institutioneller Handlungsbedingungen<br />

wird untersucht, wie Familien auf Forderungen des Jobcenters<br />

einerseits und Anreize der Familienpolitik andererseits reagieren.<br />

Anne Schröter, Wege aus der Bedürftigkeit, Strategien von Aufstocker-Familien,<br />

Springer, <strong>2015</strong>, 290 Seiten, CHF 30.−<br />

ISBN 978-3-658-09826-1<br />

Gesundheit und soziale Arbeit<br />

Gesundheit war in der Geschichte der Sozialarbeit<br />

lange ein zentraler Gegenstand und die<br />

Gesundheitsfürsorge ein grosser Arbeitsbereich.<br />

Auch heute noch sind 20-25 Prozent der Sozialarbeitenden<br />

und Sozialpädagogen entweder<br />

im Sozialwesen mit gesundheitsbezogenen<br />

Aufgaben betraut oder im Gesundheitswesen<br />

tätig. Ein Bedeutungszuwachs ist aufgrund des<br />

demografischen Wandels sowie der Veränderung des Krankheitsspektrums<br />

absehbar. Das Buch führt in das Thema ein, präsentiert Fakten,<br />

Konzepte und Probleme und stellt ausgewählte Praxisfelder vor.<br />

Chr. Daiminger, P. Hammerschmidt, J. Sagebiel (Hrsg.), Gesundheit und Soziale<br />

Arbeit, Ag Spak Bücher, <strong>2015</strong>, 166 Seiten, CHF 22.−<br />

ISBN 978-3-940865-91-5<br />

Reform der<br />

Ergänzungsleistungen<br />

Die Existenzsicherung und die Bekämpfung<br />

der Armut im Alter und bei Behinderung sind<br />

Kernanliegen der schweizerischen Sozialpolitik.<br />

Trotz des Ausbaus der AHV und der IV steigen die<br />

Ausgaben für die Ergänzungsleistungen weiter<br />

an. Die Schweizerische Vereinigung für Sozialpolitik<br />

(SVSP) fragt an ihrer Jahrestagung danach,<br />

wie der Spagat zwischen den Bedürfnissen der<br />

Armutsbetroffenen und dem Spardruck bei der<br />

öffentlichen Hand gelingen kann.<br />

SVSP-Jahrestagung<br />

Mittwoch, 28. Oktober <strong>2015</strong>, Berner Fachhochschule<br />

www.svsp.ch<br />

Personenzentrierte Ansätze<br />

der Arbeitsintegration<br />

Nach personenzentrierten Ansätzen der Arbeitsintegration<br />

werden Stellensuchende nicht als<br />

Objekte von Interventionen gesehen. Vielmehr<br />

sind sie Subjekte mit individueller Geschichte<br />

und Perspektive, die unter bestimmten Bedingungen<br />

und mit unterschiedlichen Chancen und<br />

Hindernissen auf dem Arbeitsmarkt handeln. Die<br />

Tagung bietet eine Plattform, sich darüber auszutauschen,<br />

wie sich diese Ansätze in der Praxis<br />

realisieren lassen.<br />

Luzerner Tagung zur Arbeitsintegration<br />

Mittwoch, 11. November <strong>2015</strong>, Hochschule Luzern<br />

www.hslu.ch<br />

veranstaltungen<br />

Würdigung<br />

der Sozialarbeit<br />

Die «Association romande et tessinoise des<br />

institutions d‘action sociale» (Artias) feiert ihr<br />

20-jähriges Bestehen. An seiner Jahrestagung<br />

würdigt der Verband die Arbeit der Sozialarbeiterinnen<br />

und Sozialarbeiter und diskutiert anhand<br />

konkreter Beispiele, was professionelle Sozialarbeit<br />

bewirken kann und über welche Macht und<br />

Handlungsspielräume Sozialarbeitende in der<br />

Praxis verfügen.<br />

Artias-Tagung<br />

Donnerstag, 26. November, Palais de Beaulieu,<br />

Lausanne<br />

www.artias.ch<br />

service 3/15 ZeSo<br />

35


«Den Deutschunterricht verdanken wir einem Missverständnis.» Ruth Schucan im Gespräch mit Asylsuchenden. <br />

Bild: Ursula Markus<br />

Die Unermüdliche<br />

Ruth Schucan engagiert sich immer wieder für Menschen mit schwierigem Schicksal. Das aktuelle<br />

Projekt der 72-Jährigen ist ein Mittagstisch für Asylsuchende in einem Zürcher Kirchgemeindehaus.<br />

Es ist Freitagmorgen, kurz vor acht. Ruth<br />

Schucan ist als erste da. Unermüdlich eilt<br />

die feingliedrige 72-Jährige mit der heiteren<br />

Ausstrahlung in den nächsten Stunden<br />

treppauf und treppab, überwacht das Einrichten<br />

der beiden riesigen Klassenzimmer,<br />

schaut beim Küchenteam vorbei,<br />

klopft auf Schultern: «Toll, dass du da bist!»<br />

Um zehn beginnt der Deutschunterricht.<br />

Etwa 150 Asylsuchende aus diversen afrikanischen<br />

Ländern, aus Afghanistan, Tibet,<br />

Sri Lanka und Syrien sitzen an langen Tischen.<br />

Konzentriert hören sie den rund 40<br />

freiwilligen Lehrpersonen zu, von denen<br />

zwei Drittel Pensionierte sind und ein Drittel<br />

Studierende. Das Projekt, das Schucan<br />

leitet, entstand vor sechs Jahren als Antwort<br />

auf die Asylverschärfung des Bundes. Geplant<br />

war eigentlich nur der Mittagstisch,<br />

finanziert von der Kirchgemeinde Aussersihl<br />

und Solinetz, einem Verein, der sich für<br />

die Würde und Rechte von Menschen einsetzt,<br />

die in der Schweiz Zuflucht suchen.<br />

«Den Deutschunterricht verdanken wir<br />

einem Missverständnis», schmunzelt Schucan.<br />

«Den Asylsuchenden war irrtümlich<br />

der Flyer für die Freiwilligen in die Hände<br />

gekommen, die für 10 Uhr aufgeboten<br />

waren. So trafen die Gäste zwei Stunden zu<br />

früh ein. Um die Zeit sinnvoll auszufüllen,<br />

liessen wir uns den Deutschunterricht einfallen.»<br />

Mit der Zeit hat sich der Mittagstisch<br />

zum wohl grössten Zürcher Klassenzimmer<br />

entwickelt. «Es entstehen immer<br />

wieder neue Dinge, wir haben einen Chor<br />

und eine Theatergruppe», erzählt Schucan<br />

weiter. Auch an diesem Freitagmorgen<br />

leistet sie Vermittlungsarbeit. Erwartungsfroh<br />

schauen fünf junge Tibeter auf einen<br />

jungen Schweizer. Er ist Bauingenieur und<br />

will regelmässig mit ihnen Deutsch üben.<br />

Und auch mal Fussball spielen.<br />

Welche Ballfarbe eignet sich?<br />

Schucan eilt weiter. Sie hat die Menschen<br />

auf eine pragmatische Art gern. Besonders<br />

solche mit schwierigem Schicksal. Gepackt<br />

hatte es sie als junge Turnlehrerin. Damals<br />

konnte sie ein Gymnastikstudio übernehmen<br />

− mit der Bedingung, eine Klasse von<br />

Sehbehinderten zu betreuen. «Mich interessierte<br />

weniger, was eine Makuladegeneration<br />

genau ist, sondern: Was kann die Person<br />

noch machen, welche Ballfarbe eignet sich?»<br />

Farbe brachte sie später auch zum Sport für<br />

Menschen mit Asthma, Krebs oder Drogenabhängigkeit.<br />

Lustvolles Spielen statt<br />

Krampfen und Schwitzen ist ihre Devise.<br />

Ihr Engagement für Flüchtlinge begann<br />

in den 1990er-Jahren. Der Bosnienkrieg,<br />

nur zwei Flugstunden entfernt, erschütterte<br />

Schucan, die unterdessen an der ETH<br />

dozierte. Sie begann, Bewegungsnachmittage<br />

für bosnische Flüchtlingsfrauen zu<br />

organisieren. Beim ersten Mal sei etwas<br />

Eindrückliches passiert: «Wir tanzten einen<br />

balkanischen Tanz. Plötzlich Totenstille.<br />

Da stand eine alte Frau auf und erklärte:<br />

Das ist ein serbischer Tanz. Den tanzten<br />

wir früher. Und den tanzen wir jetzt auch!»<br />

Später betreute Schucan kosovarische<br />

Flüchtlinge. Die seien dann zurückgekehrt,<br />

in ein zerstörtes Land. «Do mues me doch<br />

ebbis mache!», sagte sich die gebürtige<br />

Münchensteinerin. Zusammen mit anderen<br />

Freiwilligen sammelte sie über eine<br />

halbe Million Franken. Neun Mal reiste sie<br />

nach Kosovo und schaute, dass das Geld in<br />

die richtigen Hände kam.<br />

Heute könnte sie sich zurücklehnen, ihren<br />

Garten und den Freundeskreis geniessen.<br />

Doch just diese privilegierte Situation<br />

treibt sie an, dem Weltelend weiter etwas<br />

entgegenzusetzen − auch wenn es winzig<br />

sei. «Aber für den Menschen, dem plötzlich<br />

etwas möglich wird, ist es viel.» Sie<br />

denkt an eine Eritreerin, die versunken in<br />

eine Depression war. Nach und nach sei<br />

es gelungen, die Frau ins Kochen und die<br />

Kinderbetreuung einzubinden. Mit der<br />

Zeit habe sie erzählt, dass sie schwangere<br />

Landsfrauen zum Arzt begleite. Als der<br />

Kanton Zürich ein Programm zur Ausbildung<br />

eritreischer Schlüsselpersonen<br />

startete, sagte Ruth Schucan zu ihr: «Hey,<br />

du machst ja bereits Integrationsarbeit:<br />

Probiers!» Heute arbeite diese Frau mit<br />

einer eritreischen Ärztin zusammen. «Sie<br />

ist richtig aufgeblüht», sagt Ruth Schucan.<br />

Und lächelt ihr heiteres Lächeln. •<br />

Paula Lanfranconi<br />

36 ZeSo 3/15 porträt


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