ZESO_2-2014_ganz
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SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
ZeSo<br />
Zeitschrift für Sozialhilfe<br />
02/14<br />
Schulden und sozialhilfe die Schuldenproblematik BLeibt<br />
oft ungelöst Co-Präsidium Therese frösch und felix wollfers im gespräch<br />
pforte für alles Neuenburg vereinheitlicht den Zugang zu den Sozialleistungen
SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
SKOS-FORUM<br />
Sozial medial<br />
Grenzen und Möglichkeiten medialer Instrumente in der Sozialhilfe<br />
Montag, 8. September <strong>2014</strong>, Stadttheater Olten<br />
In der Sozialhilfe werden zahlreiche Prozesse und die Informationsvermittlung medial unterstützt.<br />
In der Beratung, im Fachaustausch und im Auftritt der Sozialämter spielen neue Formen der Online-<br />
Kommunikation eine wichtige Rolle. Gefragt sind Instrumente, die das Zielpublikum gut erreichen und die<br />
institutionellen Abläufe vereinfachen.<br />
Der Einsatz dieser Medien erfordert Kenntnisse über ihre Möglichkeiten und Grenzen. Die damit<br />
verbundenen Fragen sind nicht nur für Fachleute in Sozialdiensten von hoher Bedeutung, sondern<br />
insbesondere auch für die Sozialbehörden. Die SKOS lädt Sie ein, diese Fragen am SKOS-Forum anhand<br />
von Referaten und einem Erfahrungsaustausch zu reflektieren und diskutieren.<br />
Programm und Anmeldung: www.skos.ch Veranstaltungen<br />
SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
SKOS-WEITERBILDUNG<br />
Einführung in die öffentliche Sozialhilfe<br />
Montag, 27. Oktober <strong>2014</strong>, 13 bis 18 Uhr<br />
Hotel Arte in Olten<br />
In der Praxis stellen sich Fachleuten und Behördenmitgliedern komplexe Fragen. Rechtliches Wissen ist<br />
ebenso gefragt wie methodisches Handeln und Kenntnisse des Systems der sozialen Sicherheit. Die<br />
Weiterbildung der SKOS nimmt diese Themen auf. Es werden Grundlagen zur Armutsproblematik und<br />
zur Ausgestaltung der Sozialhilfe vermittelt, Verfahrensgrundsätze thematisiert und das Prinzip der<br />
Subsidiarität erläutert. Die Veranstaltung richtet sich an Mitglieder von Sozialbehörden, Fachleute der<br />
Sozialarbeit und Sachbearbeitende von Sozialdiensten, die neu in der Sozialhilfe tätig sind.<br />
Programm und Anmeldung: www.skos.ch Veranstaltungen
Michael Fritschi<br />
Verantwortlicher Redaktor<br />
gemeinsam geht‘s besser<br />
Die Mitgliederversammlung der SKOS hat mit Therese Frösch<br />
und Felix Wolffers ein kompetentes und eingespieltes Co-<br />
Präsidium an die Spitze des Verbands gewählt. Ein erstes<br />
Interview mit dem neuen Präsidialteam, in dem Therese<br />
Frösch und Felix Wolffers über die auf sie zukommenden<br />
Aufgaben sprechen und erklären, was sie verbindet und<br />
motiviert, dieses anspruchsvolle Amt zu übernehmen, lesen<br />
Sie auf den Seiten 6 und 7.<br />
Für Sozialhilfe beziehende Menschen bedeuten Schulden oft<br />
eine zusätzliche Last. Diese Menschen besitzen nichts oder<br />
wenig, und dieses Wenige gehört eigentlich den Betreibungsämtern<br />
respektive den Gläubigern. Im Schwerpunkt Schulden<br />
und Sozialhilfe äussern sich Fachleute zur Praxis des<br />
Umgangs mit der Verschuldungsproblematik.<br />
Dabei zeigt sich, dass die geltenden gesetzlichen Bestimmungen<br />
und die darum herum existierenden administrativen<br />
Abläufe wenig Anreize bieten, sich aus Verschuldung<br />
und Sozialhilfe zu lösen. Selbst ein Privatkonkurs wird zur<br />
Scheinlösung, wenn er die «sanierten» Personen und<br />
Haushalte zwingt, in niedrigen Einkommensverhältnissen<br />
zu verharren, um die bestehenden Gläubigerforderungen<br />
nicht erneut zu gewärtigen. Die diversen Beiträge unterstreichen,<br />
dass die Gesellschaft eigentlich mehr Interesse<br />
bekunden müsste, verschuldeten Menschen Hand zu<br />
bieten für wirkliche Lösungen.<br />
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.<br />
editorial 2/14 ZeSo<br />
1
SCHWERPUNKT12–23<br />
schulden und sozialhilfe<br />
Menschen, die von der Sozialhilfe abhängig sind,<br />
sind nicht selten verschuldet. Hohe Schulden<br />
beeinträchtigen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit<br />
und sind ein Hindernis bei der Ablösung<br />
aus der Sozialhilfe. Trotzdem gehört die Schuldenberatung<br />
nicht zum Kerngeschäft der Sozialhilfe.<br />
Wie gehen Sozialdienste mit den Schuldenproblemen<br />
ihrer Klientinnen und Klienten um, und welche<br />
Ressourcen stehen ihnen in dieser Hinsicht zur<br />
Verfügung?<br />
<strong>ZESO</strong> zeitschrift für sozialhilfe<br />
Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />
www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS,<br />
Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch,<br />
Tel. 031 326 19 19 Redaktion Michael Fritschi, Regine Gerber<br />
Redaktionelle begleitung Dorothee Guggisberg Autorinnen<br />
und Autoren in dieser Ausgabe Suzanne Auer, Dominique<br />
Cattin Houser, Bruno Crestani, Olivier Cruchon, Laurent Duding,<br />
Ruedi Hofstetter, Martina Huber, Georges Köpfli, Paula Lanfranconi,<br />
Christoph Mattes, Clemenz Roland, André Sallin, Turi Schallenberg,<br />
Florence Schelling, Ingeborg Steinmann-Berns, Ruth Ziörjen<br />
Titelbild Rudolf Steiner layout Marco Bernet, mbdesign Zürich<br />
Korrektorat Karin Meier Druck und Aboverwaltung Rub<br />
Media AG, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740<br />
97 86 preise Jahresabonnement Inland CHF 82.– (für SKOS-<br />
Mitglieder CHF 69.–), Abonnement ausland CHF 120.–, Einzelnummer<br />
CHF 25.–.<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN 1422-0636 / 111. Jahrgang<br />
Bild: Pixsil/Béatrice Devènes<br />
Erscheinungsdatum: 11. Juni <strong>2014</strong><br />
Die nächste Ausgabe erscheint im September <strong>2014</strong>.<br />
2 ZeSo 2/14 inhalt
INHALT<br />
5 Die Neustrukturierung des Asylbereichs<br />
ist ein Erfolg des Bundes<br />
und der Kantone. Kommentar von<br />
Ruedi Hofstetter<br />
6 Neues Co-Präsidium für die SKOS:<br />
Interview mit Therese Frösch und<br />
Felix Wolffers<br />
8 13 Fragen an Florence Schelling<br />
10 Praxis: Das Kind lebt die halbe Zeit<br />
beim Vater. Wie wird die Sozialhilfe<br />
berechnet?<br />
11 Geld und Geist in der Sozialhilfe.<br />
Gedanken von Georges Köpfli zur<br />
Ethik der SKOS-Richtlinien<br />
Die frisch gewählten<br />
Der goalie ist sie<br />
Therese Frösch und Felix Wolffers bilden das<br />
neue Co-Präsidium der SKOS. «Wir wollen<br />
erreichen, dass offen und sachlich über die<br />
Sozialhilfe diskutiert wird», umschreiben<br />
sie im Gespräch die Stossrichtung ihrer<br />
zukünftigen Arbeit.<br />
6<br />
Florence Schelling, Torhüterin der Schweizer<br />
Frauen-Eishockeynationalmannschaft<br />
und Bronzemedaillengewinnerin an den<br />
Olympischen Winterspielen, wünscht sich<br />
mehr Anerkennung und Wertschätzung der<br />
sportlichen Leistungen von Frauen.<br />
12 SCHWERPUNKT: schulden und<br />
sozialhilfe<br />
14 Schulden und ihre Relevanz<br />
für die Sozialhilfe<br />
16 Schuldenberatung erfolgt im<br />
Interesse der Allgemeinheit<br />
18 Kleinere Sozialdienste begegnen<br />
der Verschuldungsproblematik<br />
pragmatisch<br />
20 Die geltenden Bestimmungen<br />
schaden der Volkswirtschaft<br />
22 Schuldenberatung mit Blick auf<br />
biografische Einflüsse<br />
der arzt und politiker<br />
8<br />
Ignazio Cassis, Vizepräsident der<br />
nationalrätlichen Kommission für soziale<br />
Sicherheit und Gesundheit, blickt im <strong>ZESO</strong>-<br />
Interview aus bürgerlichem Blickwinkel auf<br />
aktuelle sozialpolitische Fragen.<br />
24 «Wenn die Balance nicht mehr<br />
stimmt, müssen wir handeln.»<br />
<strong>ZESO</strong>-Interview mit Ignazio Cassis<br />
28 Neuenburg hat den Zugang zu den<br />
Sozialleistungen neu organisiert<br />
30 «Eine Pfanne ist eine grosse Kiste,<br />
zum Essen kochen.» Reportage aus<br />
einem Sprachkurs für Bauarbeiter<br />
32 Plattform: Agile.ch vertritt die<br />
Interessen von 42 Behindertenorganisationen<br />
34 Lesetipps und Veranstaltungen<br />
36 Porträt: George Angehrn, Koch und<br />
Leiter einer Suchthilfeeinrichtung<br />
Der fünf-sterne-koch<br />
30<br />
Fünfundzwanzig Jahre lang kochte George<br />
Angehrn im Grandhotel Dolder in Zürich für<br />
die oberen Zehntausend. Heute leitet er das<br />
Ur-Dörfli, eine Suchthilfeeinrichtung der<br />
Stiftung Sozialwerke Pfarrer Ernst Sieber.<br />
36<br />
inhalt 2/14 ZeSo<br />
3
NACHRICHTEN<br />
Keine Einwanderung<br />
in die Sozialhilfe<br />
Das Personenfreizügigkeitsabkommen (FZA)<br />
zwischen der Schweiz und der EU führt nicht<br />
zu einer Einwanderung in die Sozialhilfe. Zu<br />
diesem Ergebnis kommt eine im April veröffentlichte<br />
Untersuchung der Geschäftsprüfungskommission<br />
des Nationalrats (GPK-N).<br />
Die Sozialhilfequote der Zugewanderten aus<br />
der EU ist tiefer als jene der Schweizerinnen<br />
und Schweizer, sie steigt aber tendenziell<br />
an. Dies vor allem, weil ein Teil der eingewanderten<br />
EU-Bürgerinnen und -Bürger in<br />
Branchen mit tiefen Löhnen und unsicheren<br />
Arbeitsverhältnissen beschäftigt ist. Die<br />
SKOS unterstützt die im Bericht vorgestellten<br />
Empfehlungen der GPK-N weitgehend.<br />
So sollen namentlich das Zusammenspiel<br />
zwischen Tiefstlöhnen und Sozialleistungsbezugsquoten<br />
genau beobachtet sowie die<br />
Informationsgrundlagen zum Sozialleistungsbezug<br />
verbessert werden. Weiter sollen die<br />
kantonalen Unterschiede bei der Deklaration<br />
des Arbeitszwecks und beim Vollzug des<br />
FZA und der Gewährung von Niederlassungsbewilligungen<br />
geklärt und wenn möglich<br />
eliminiert werden.<br />
Grundlagenpapier zum<br />
sozialen Existenzminimum<br />
Das soziale Existenzminimum ist Kern der<br />
Sozialhilfe und eine zentrale Referenzgrösse<br />
in der Schweizer Sozialpolitik. Es ermöglicht<br />
armutsbetroffenen Menschen ein menschenwürdiges<br />
Dasein und die Teilhabe am gesellschaftlichen<br />
Leben. Die SKOS hat ein Grundlagenpapier<br />
publiziert, das aufzeigt, wie das<br />
System des sozialen Existenzminimums in<br />
der Sozialhilfe ausgestaltet ist. Weiter wird<br />
erläutert, wie dieses System historisch gewachsen<br />
und begründet ist.<br />
Die Zahl der IV-Renten<br />
ist rückläufig<br />
Im Jahr 2013 verzeichnete das Bundesamt<br />
für Sozialversicherungen bei der Invalidenversicherung<br />
gegenüber dem Vorjahr<br />
einen Rückgang der Rentenzahl um zwei<br />
Prozent. Dies ist der deutlichste Rückgang<br />
seit 2006. Auch die Zahl der Neurenten<br />
hat einen Tiefstand erreicht. Sie ist in den<br />
vergangenen zehn Jahren um insgesamt<br />
51 Prozent gesunken. Dafür wurden seit<br />
2008 deutlich mehr Massnahmen zur beruflichen<br />
Eingliederung durchgeführt. Die<br />
beobachteten Zahlen widerspiegeln die<br />
Neuausrichtung der Invalidenversicherung<br />
von einer Renten- zu einer Eingliederungsversicherung.<br />
4 ZeSo 2/14 aktuell<br />
Die SKOS wird neu von einem<br />
Co-Präsidium geführt<br />
Die Mitglieder der Schweizerischen Konferenz<br />
für Sozialhilfe haben an der Mitgliederversammlung<br />
vom 22. Mai Therese Frösch<br />
und Felix Wolffers ins Verbandspräsidium<br />
gewählt. Mit dem Entscheid für ein Co-<br />
Präsidium setzt die SKOS auf die gezielte<br />
Nutzung der Ressourcen von zwei ausgewiesenen<br />
Fachpersonen. Therese Frösch<br />
und Felix Wolffers haben in den 1990er-<br />
Jahren als Direktorin und Generalsekretär<br />
während sieben Jahren gemeinsam die<br />
Finanzdirektion der Stadt Bern geführt und<br />
sind ein eingespieltes, integrierend arbeitendes<br />
und gut vernetztes Team. Therese<br />
Frösch war Sozialarbeiterin, bevor sie in<br />
die Politik wechselte. Sie war von 1993 bis<br />
2004 Finanz- und später Sozialdirektorin<br />
der Stadt Bern und von 2004 bis 2011<br />
Nationalrätin (Grüne). Der Jurist Felix<br />
Wolffers ist Leiter des Sozialamts der Stadt<br />
Bern und ist seit 2010 Geschäftsleitungsmitglied<br />
der SKOS. Von 1986 bis 1994<br />
war er Generalsekretär der Fürsorgedirektion<br />
der Stadt Biel. Er ist Autor des Standardwerks<br />
«Grundriss des Sozialhilferechts».<br />
Walter Schmid, der die SKOS fünfzehn<br />
Jahre als Präsident geführt hat, wurde an<br />
der Tagung im Verkehrshaus Luzern von<br />
den rund 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmern<br />
mit lang anhaltendem Applaus<br />
für sein kompetentes und ausserordentliches<br />
Engagement für die Armutsbekämpfung<br />
und für die Belange der Sozialhilfe<br />
gedankt. <br />
•<br />
Felix Wolffers und Therese Frösch bilden das neue Co-Präsidium der SKOS. Walter Schmid, SKOS-<br />
Präsident von 1999 bis <strong>2014</strong>, bei der «Geschäftsübergabe» im Verkehrshaus Luzern.<br />
<br />
Bild: Daniel Desborough<br />
SKOS begrüsst die Stossrichtung<br />
der Reform «Altersvorsorge 2020»<br />
Die SKOS beurteilt den Reformvorschlag<br />
«Altersvorsorge 2020» des Bundesrats grundsätzlich<br />
positiv und begrüsst insbesondere die<br />
Vorschläge zu einem flexibleren AHV-Rentenalter,<br />
zur Öffnung des Zugangs zum BVG für<br />
Personen mit tiefen Löhnen sowie die Möglichkeit,<br />
Freizügigkeitsguthaben in Rentenform<br />
beziehen zu können. In ihrer Vernehmlassungsantwort<br />
an das Bundesamt für Sozialversicherungen<br />
regt die SKOS an, in Bezug<br />
auf den Vorschlag zur Zusatzfinanzierung<br />
<br />
der AHV mittels Mehrwertsteuer-Prozenten<br />
weitere Optionen zu prüfen, die Sonderregelungen<br />
für den vorzeitigen Rentenbezug<br />
von Personen mit tiefen Einkommen auszubauen<br />
und die Einführung einer Brückenrente<br />
zu prüfen. Die SKOS bedauert hingegen,<br />
dass die Ergänzungsleistungen (EL)<br />
aus der Gesamtschau des Reformvorschlags<br />
ausgeklammert wurden, obwohl sich die EL<br />
als wichtiges Element im System der sozialen<br />
Sicherung etabliert haben. •
KOMMENTAR<br />
Die Neustrukturierung des Asylbereichs ist ein Erfolg<br />
des Bundes und der Kantone<br />
Der Asylbereich fristet in der Sozialhilfe<br />
eher ein Nischendasein. Grund dafür dürfte<br />
der eingeschränkte Handlungsspielraum<br />
der Kantone und Gemeinden sein, denn der<br />
Asylbereich ist weitgehend durch Bundesrecht<br />
definiert. Wichtigstes Ergebnis der<br />
ersten Asylkonferenz vor einem Jahr in<br />
Bern war die grundsätzliche Übereinkunft<br />
des Bundes und der Kantone, die bestehenden<br />
Probleme im Asylbereich gemeinsam<br />
zu lösen. Kein Gegeneinander, sondern<br />
ein Miteinander. Mit der Neustrukturierung<br />
sollen die Verfahren wesentlich beschleunigt<br />
werden und der Vollzug der Wegweisungen<br />
soll konsequent erfolgen, wobei<br />
die Schutzbedürfnisse von Asylsuchenden<br />
weiterhin in rechtsstaatlichen Verfahren<br />
gewährt werden.<br />
Zu den Kernelementen der Neustrukturierung<br />
gehört auch der Ausbau der Bundesunterkünfte.<br />
Die Anzahl Plätze des Bundes soll<br />
von heute rund 1650 auf 5000 erhöht werden.<br />
Auch die Haftplätze werden ausgebaut.<br />
Neu werden die Aufgaben im Asylbereich<br />
auf sechs Regionen verteilt. Asylsuchende,<br />
über deren Gesuch nicht im Rahmen<br />
des beschleunigten Verfahrens innerhalb<br />
von 100 Tagen entschieden werden kann,<br />
werden im erweiterten Verfahren weiterhin<br />
bevölkerungsproportional auf die Kantone<br />
verteilt. Wie bisher sollen alle Kantone<br />
einen Teil der anerkannten Flüchtlinge und<br />
vorläufig Aufgenommenen übernehmen. Es<br />
soll sich also kein Kanton aus der Betreuung<br />
von Asylsuchenden verabschieden<br />
können. Kantone, die besondere Leistungen<br />
erbringen, erhalten eine Kompensation bei<br />
der Zuteilung. An der zweiten Asylkonferenz<br />
am 28. März <strong>2014</strong> wurde die Neustrukturierung<br />
vom Bund und allen Kantonen<br />
einstimmig verabschiedet. Im Testzentrum<br />
in Zürich werden die neuen Abläufe bis Ende<br />
2015 geprüft. Geplant ist die Umsetzung der<br />
Neustrukturierung bis ins Jahr 2019.<br />
Der Bund und alle Kantone haben im politisch<br />
stark umkämpften Asylbereich<br />
mit der gemeinsam erarbeiteten und<br />
beschlossenen Neustrukturierung die<br />
Initiative ergriffen und ein starkes<br />
Zeichen gesetzt. Es ist zu hoffen,<br />
dass dieser beispielhafte Schwung<br />
auch Anwendung auf andere<br />
sozialpolitische Spannungsfelder<br />
findet.<br />
Die Auswirkungen auf den<br />
Sozialbereich werden spürbar<br />
sein. Das erhöhte Platzangebot<br />
des Bundes und die raschen<br />
Verfahren werden dazu führen,<br />
dass weniger Asylsuchende auf<br />
die Kantone und Gemeinden<br />
verteilt werden müssen. Der<br />
Sozialbereich wird sich verstärkt<br />
und konzentrierter als bisher<br />
für die Integration von Personen<br />
einsetzen müssen, die sich als<br />
vorläufig Aufgenommene oder als<br />
anerkannte Flüchtlinge langfristig<br />
in der Schweiz aufhalten. Für diese<br />
rasche und nachhaltige Integration<br />
braucht es neue Modelle und eine<br />
Konzentration der Kräfte.<br />
Ruedi Hofstetter<br />
Amtschef Sozialamt Kanton Zürich<br />
aktuell 2/14 ZeSo<br />
5
«Unser Ziel ist, einen breiten<br />
Konsens unter den Kantonen und<br />
Gemeinden zu erreichen»<br />
Therese Frösch und Felix<br />
Wolffers bilden das neue<br />
Co-Präsidium der SKOS. Im<br />
Gespräch erklären sie, was<br />
sie motiviert, gemeinsam<br />
dieses anspruchsvolle Amt<br />
zu übernehmen, und wo sie<br />
in den kommenden Jahren<br />
Schwerpunkte setzen wollen.<br />
Therese Frösch, Felix Wolffers, herzliche<br />
Gratulation zu Ihrer Wahl. Was<br />
hat Sie persönlich motiviert, für das<br />
Amt zu kandidieren, und wie ist es zur<br />
Zweierkandidatur gekommen?<br />
Therese Frösch: Ich habe mich schon<br />
immer für Menschen eingesetzt, die nicht<br />
auf der Sonnenseite des Lebens stehen.<br />
Als ich angefragt wurde, ob ich Präsidentin<br />
der SKOS werden möchte, konnte ich<br />
mir das gut vorstellen. Ich musste mir<br />
aber auch sehr gut überlegen, ob ich die<br />
Ressourcen und die Kraft habe, dieses<br />
anspruchsvolle Amt auszufüllen. Ich habe<br />
mit verschiedenen Personen aus meinem<br />
Umfeld gesprochen, und so entstand<br />
die Idee des Co-Präsidiums. Und als ich<br />
merkte, dass Felix Geschäftsleitungsmitglied<br />
der SKOS war, hab ich ihm eine<br />
SMS geschrieben…<br />
Felix Wolffers: Ich wurde für das Präsidium<br />
ebenfalls angefragt. Mir war aber<br />
rasch klar, dass diese Aufgabe neben der<br />
Leitung des Sozialamts der Stadt Bern für<br />
mich allein zu gross wäre. Dank dem Co-<br />
Präsidium kann ich mich nun mit einem<br />
vertretbaren zeitlichen Aufwand für die<br />
Anliegen der Sozialhilfe engagieren. Vor<br />
allem die Weiterentwicklung der Richtlinien<br />
und neue Wege in der beruflichen<br />
Integration interessieren mich sehr und<br />
motivieren mich für ein Engagement als<br />
Co-Präsident der SKOS.<br />
Ein Zweierpräsidium bedingt eine<br />
gute Zusammenarbeit. Auf welche<br />
gemeinsamen Werte und Erfahrungen<br />
stellen Sie ab?<br />
Therese Frösch: Als wir beide vor zwanzig<br />
Jahren unsere Zusammenarbeit auf der<br />
Finanzdirektion der Stadt Bern begannen,<br />
kannten wir die Wertvorstellungen des<br />
anderen erst vage. Durch die gemeinsame<br />
Arbeit – wir haben die Finanzen der Stadt<br />
Bern saniert, ohne einen Sozialabbau vorzunehmen<br />
– haben wir gemerkt, dass wir<br />
die gleichen Werte und Ziele haben: eine<br />
effiziente Bewirtschaftung der Aufgaben,<br />
die uns gestellt werden, ohne dass darunter<br />
die sozial Schwächsten leiden müssen.<br />
Felix Wolffers: Soziale Gerechtigkeit ist<br />
ein zentraler Wert in der Gesellschaft. «Die<br />
Stärke des Volkes misst sich am Wohl der<br />
Schwachen», heisst es dazu treffend in der<br />
Bundesverfassung. Soziale Gerechtigkeit<br />
zu erhalten und zu fördern, ist eine permanente<br />
Herausforderung. Diese Erfahrung<br />
haben wir gemeinsam gemacht. Wir<br />
haben in schwierigen Situationen immer<br />
wieder Ansätze gefunden, um schrittweise,<br />
pragmatisch und mit viel Kreativität gute<br />
Resultate zu erzielen. In dieser Art und<br />
Weise werden wir auch in der SKOS arbeiten.<br />
Wir haben keine Berührungsängste<br />
und werden immer den Dialog auch mit<br />
Leuten suchen, die anders denken als wir.<br />
Wie wird die Rollenteilung aussehen?<br />
Felix Wolffers: Strategisch wichtige Arbeiten<br />
werden wir gemeinsam wahrnehmen.<br />
Dort, wo eine Arbeitsteilung möglich<br />
ist, werden wir definieren, wer was übernimmt.<br />
Entscheidend ist, dass wir beide<br />
rasch über alles Wichtige informiert sind<br />
und dass die gegenseitige Stellvertretung<br />
spielt.<br />
Therese Frösch: Felix leitet ein grosses<br />
Sozialamt, ich arbeite im Rahmen meiner<br />
Mandate rund 50 Prozent. Ich habe also<br />
mehr Zeit zur Verfügung und bin deshalb<br />
flexibler, wenn es beispielsweise rasch eine<br />
Stellungnahme der SKOS braucht. Die Kontakte<br />
mit wichtigen Partnern wie der SODK<br />
werden wir gemeinsam pflegen. In der Führung<br />
der Geschäftsleitungssitzungen werden<br />
wir uns im Jahresrhythmus abwechseln.<br />
Welche der auf Sie zukommenden<br />
Aufgaben betrachten Sie als dringend?<br />
Wo werden Sie Schwerpunkte setzen?<br />
Felix Wolffers: Die SKOS ist ein gut<br />
funktionierender Verband. Walter Schmid<br />
und die Geschäftsstelle haben die SKOS<br />
in den letzten Jahren inhaltlich und strukturell<br />
erfolgreich weiterentwickelt. Das<br />
erleichtert natürlich unsere Aufgabe, es<br />
warten aber dennoch grosse Herausforderungen:<br />
Die Überprüfung der Richtlinien<br />
ist für die SKOS zentral. Die SKOS hat<br />
zwei Studien in Auftrag gegeben, die Entscheidungsgrundlagen<br />
für eine allfällige<br />
Richtlinienrevision liefern werden. Falls<br />
eine Revision zweckmässig ist, muss sie<br />
in einem partizipativen Prozess erarbeitet<br />
werden. Unser Ziel muss es sein, dann einen<br />
breiten Konsens unter den Kantonen<br />
und Gemeinden zu erreichen. Im Weiteren<br />
müssen wir das Verhältnis zur SODK<br />
klären. Wir möchten mehr Verbindlichkeit<br />
zwischen unseren Organisationen schaffen.<br />
Und die Frage, ob die SKOS als privatrechtlicher<br />
Verein heute noch die richtige<br />
Struktur hat, muss ebenfalls in nächster Zeit<br />
diskutiert werden. Generell wollen wir den<br />
Kontakt zu unseren Mitgliedern verbessern.<br />
Dazu prüfen wir auch die Durchführung<br />
einer Umfrage zu den Erwartungen und Bedürfnissen<br />
der Mitglieder.<br />
Therese Frösch: Im gesellschaftspolitischen<br />
Diskurs wollen wir auch für Sozialhilfe<br />
beziehende Menschen einsetzen. Wir müssen<br />
gegenüber den Medien, der Bevölkerung<br />
und den direkt involvierten Gemeindebehörden<br />
und Sozialarbeitenden glaubwürdig<br />
kommunizieren und mehrheitsfähige vernünftige<br />
Lösungen anbieten. Wir wollen aufzeigen,<br />
dass die SKOS nicht das Problem ist,<br />
sondern ein Teil der Lösung für gesellschaftliche<br />
Probleme wie Langzeitarbeitslosigkeit<br />
oder unzureichende Einkommen.<br />
6 ZeSo 2/14 SKOS CO-PRÄSIDIUM
«Die SKOS muss<br />
sich intensiver mit<br />
der beruflichen<br />
Integration auseinandersetzen.»<br />
Der neue Co-Präsident der SKOS Felix<br />
Wolffers leitet das Sozialamt der Stadt<br />
Bern.<br />
Felix Wolffers: Die Frage der beruflichen<br />
Integration ist ein Thema, mit dem sich die<br />
SKOS intensiver auseinandersetzen muss.<br />
Für über 55-jährige Personen in der Sozialhilfe<br />
ist die berufliche Wiedereingliederung<br />
oft nicht mehr realistisch. Hier muss die Politik<br />
neue Antworten finden, und die SKOS<br />
muss dazu Vorarbeiten leisten und Vorschläge<br />
entwickeln. Ein weiteres Thema sind für<br />
mich die Zusammenhänge zwischen Armut,<br />
Arbeitslosigkeit und Gesundheit. Als<br />
führender Fachverband muss die SKOS<br />
diese Themen beleuchten und dafür sorgen,<br />
dass beispielsweise die Gesundheitsprävention<br />
für die sozial Schwächsten grösseres<br />
Gewicht erhält.<br />
«Wir wollen aufzeigen,<br />
dass die SKOS ein Teil<br />
der Lösung ist.»<br />
Die neue Co-Präsidentin der SKOS Therese Frösch<br />
war Nationalrätin und Finanz- und Sozialdirektorin<br />
der Stadt Bern.<br />
<br />
Bilder: Béatrice Devènes<br />
Was möchten Sie als Co-Präsidentin<br />
und Co-Präsident der SKOS erreichen?<br />
Therese Frösch: Wir möchten den Verband<br />
professionell führen, den Dialog mit<br />
Fachkräften und die Grundlagenarbeit<br />
ausbauen und allgemein für ein gutes Klima<br />
sorgen. Auch Leute, die der Sozialhilfe<br />
skeptisch gegenüber stehen, sollen unsere<br />
Empfehlungen als hilfreich und nützlich<br />
erachten können.<br />
Felix Wolffers: Wichtig ist, dass es uns<br />
gelingt, den nationalen Dialog über die<br />
Weiterentwicklung der Richtlinien in Gang<br />
zu bringen und zu einem guten Ende zu<br />
führen. Wir sind erfolgreich, wenn vermehrt<br />
offen und sachlich über die Sozialhilfe<br />
diskutiert wird und die SKOS dabei<br />
als wichtiger Akteur wahrgenommen wird.<br />
Dabei dürfen wir auch die Schwachstellen<br />
der Sozialhilfe nicht ausblenden. Wir müssen<br />
verhindern, dass zwischen den Kantonen<br />
ein Sozialhilfewettbewerb entsteht, so<br />
wie es ihn heute bei den Steuern gibt. •<br />
Interview: Michael Fritschi<br />
SKOS CO-PRÄSIDIUM 2/14 ZeSo<br />
7
13 Fragen an Florence Schelling<br />
1<br />
2<br />
3<br />
Sind Sie eher arm oder eher reich?<br />
An Erfahrung und Motivation bin ich sehr reich.<br />
Gemessen am materiellen Besitz würde ich mich im<br />
Durchschnitt sehen. Ich bin erst vor einem Jahr in<br />
die Arbeitswelt eingestiegen, vorher habe ich noch<br />
studiert. Während der Studienzeit habe ich gelernt,<br />
das Geld, das ich habe, nur für Dinge auszugeben,<br />
die ich wirklich brauchte.<br />
Was empfinden Sie als besonders ungerecht?<br />
Was ich persönlich gemerkt habe und was ich<br />
besonders ungerecht finde, ist der Unterschied<br />
zwischen Mann und Frau, wenn es um Lohn und<br />
Preisgeld im Sport geht. Als die Männer-Eishockey-<br />
Nationalmannschaft im letzten Jahr an der Weltmeisterschaft<br />
in Schweden die Silbermedaille gewonnen<br />
hat, haben die Spieler einen Riesenbonus erhalten.<br />
Dies zusätzlich zu dem Geld, dass jeder so oder so<br />
verdient, wenn er die Schweiz im Eishockey vertritt.<br />
Wir Frauen dagegen erhalten nichts für die Bronzemedaille,<br />
die wir an den Olympischen Spielen in Sotschi<br />
gewonnen haben. Nicht einmal das Geld, das Swiss<br />
Olympic an den Schweizer Eishockey-Verband zahlt<br />
(dafür, dass wir eine Medaille gewonnen haben), wird<br />
uns weiter gegeben. So gesehen zahlt jede Spielerin<br />
von uns drauf. Beispielsweise, damit wir in Trainingslager<br />
für die Nationalmannschaft gehen können.<br />
Denn auch Spesen werden uns nicht bezahlt. So etwas<br />
finde ich sehr ungerecht.<br />
Glauben Sie an die Chancengleichheit?<br />
Ja und nein. Ich glaube, dass die Chancengleichheit<br />
schon viel ausgeglichener ist, als sie noch vor<br />
einigen Jahren war. Jedoch gibt es noch viel zu verbessern,<br />
in der Arbeitswelt und im Sport.<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
Was bewirken Sie mit Ihrer Arbeit?<br />
Zurzeit arbeite ich an der Rezeption des Internationalen<br />
Eishockey-Verbands. Das ist eine wichtige<br />
Position, weil ich alle Besucher empfange und auch<br />
viel mit Leuten telefoniere. Damit sich die Leute<br />
gleich wohl fühlen im Kontakt mit dem Verband,<br />
ist es wichtig, dass ich immer sehr aufgestellt und<br />
freundlich bin. Im Eishockey hoffe ich, dass ich<br />
durch meine Leistung mehr junge Mädchen zum<br />
Eishockeyspielen motivieren kann.<br />
Für welches Ereignis oder für welche Begegnung würden<br />
Sie ans andere Ende der Welt reisen?<br />
Um dem Dalai Lama zu begegnen. Den Buddhismus<br />
finde ich eine sehr interessante und spannende<br />
Religion, über die ich immer wieder gerne lese<br />
und Dokumentarfilme schaue. Daher würde ich Tibet<br />
auch sehr gerne mal bereisen.<br />
Wenn Sie in der Schweiz drei Dinge verändern könnten,<br />
welche wären das?<br />
Erstens, mehr Support für die Förderung von<br />
Randsportarten, damit mehr Menschen dazu bewegt<br />
werden, Sport zu machen und somit einen aktiveren<br />
Lifestyle leben. Sport ist etwas sehr Soziales<br />
und fördert die Zugehörigkeit, was sicher jedem und<br />
jeder von uns gut tut. Zweitens, eine grössere Akzeptanz<br />
für den Sport im Allgemeinen. Ich erlebe am<br />
eigenen Leib, wie schwierig es ist, als Profisportlerin<br />
die Arbeitswelt und die Welt des Sports unter einen<br />
Hut zu kriegen. Mehr Akzeptanz könnte die Vereinbarkeit<br />
dieser beiden Welten fördern. Und schliesslich,<br />
dass die Menschen in der Schweiz spontaner<br />
wären. Durch die fünf Jahre, die ich in den USA gelebt<br />
habe, habe ich gemerkt, dass Spontaneität in<br />
der Schweiz nicht so gross geschrieben wird. Die<br />
Schweizer organisieren und planen gerne langfristig<br />
voraus. Dabei sollte man viel öfters spontan abmachen<br />
und etwas offener sein.<br />
Können Sie gut verlieren, und woran merkt man das?<br />
Verlieren kann ich gut, aber ich mag es überhaupt<br />
nicht, zu verlieren. Ich bin sehr kompetitiv. Woran<br />
man merkt, dass ich eine gute Verliererin bin, liegt<br />
wohl darin, dass ich es einsehe, wenn der Gegner<br />
einfach besser gespielt hat oder einen besseren Tag<br />
erwischt hat, und dass ich bis am Schluss immer<br />
fair bleibe. Dem Gegner zum Sieg zu gratulieren gehört<br />
auch zu einem guten Verlierer.<br />
8 ZeSo 2/14 13 fragen an
Florence Schelling<br />
Florence Schelling (25) ist Stammtorhüterin der Schweizer Frauen-<br />
Eishockeynationalmannschaft. An der Weltmeisterschaft 2012 in den<br />
USA und an den Olympischen Spielen <strong>2014</strong> in Sotschi, wo sie als «wertvollste<br />
Spielerin» der Winterspiele ausgezeichnet wurde, gewann sie mit<br />
ihrem Team jeweils die Bronzemedaille. Florence Schelling hat in Boston<br />
Wirtschaftswissenschaften studiert (Bachelor of Science in Business Administration)<br />
und arbeitet derzeit als IT-Koordinatorin und Assistentin der<br />
Geschäftsführung für die International Icehockey Federation in Zürich.<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
Bild: Matt Slocum/Keystone<br />
12<br />
13<br />
Bügeln Sie Ihre Blusen selbst?<br />
Ich schaue immer, dass ich Blusen kaufe, die<br />
man nicht mehr bügeln muss. Wenn das aber nicht<br />
geht, bügle ich meine Blusen selber.<br />
Was bedeutet Ihnen Solidarität?<br />
Solidarität ist für mich das A und O. Solidarität<br />
war mir schon immer sehr wichtig, speziell weil ich<br />
in einer Mannschaftssportart gross geworden bin<br />
und weil ich ein super Verhältnis mit meiner <strong>ganz</strong>en<br />
Familie habe. Wenn man gemeinsam auf ein Ziel hin<br />
arbeitet, fällt es einem leichter, sich jeden Tag zu<br />
motivieren, sei es für den Sport oder die Arbeit oder<br />
<strong>ganz</strong> im Allgemeinen.<br />
Haben Sie eine persönliche Vision?<br />
Ich möchte das Frauen-Eishockey in der Schweiz<br />
verbessern. Mädchen die Möglichkeit geben, unter<br />
den gleichen Bedingungen, wie sie bei den Jungs<br />
und den Herren herrschen, den Eishockeysport<br />
auszuüben.<br />
Welcher Begriff ist für Sie ein Reizwort?<br />
Ein Wort kommt mir gerade keines in den Sinn.<br />
Jedoch stört es mich, wenn mir jemand sagt: «Ich<br />
kann das nicht.» Denn ich glaube an das berühmte<br />
Sprichwort «Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg».<br />
Gibt es Dinge, die Ihnen den Schlaf rauben?<br />
Es gibt immer wieder Dinge, die mir den Schlaf<br />
rauben. Ich studiere viel an Sachen und Situationen<br />
herum, überlege mir, wie ich etwas hätte anders<br />
machen können, oder wie man es besser gemacht<br />
hätte und so weiter. Nervosität raubt mir auch öfters<br />
den Schlaf, sei es vor einem wichtigen Spiel<br />
oder vielleicht auch nur, wenn ich eine wichtige Präsentation<br />
im Büro habe.<br />
Mit wem möchten Sie gerne per Du sein?<br />
Mit Barack Obama. Seine Art und Weise, wie er ist,<br />
wie er sich gibt und wie er redet, fasziniert mich. Er<br />
besuchte die Northeastern University in Boston, an<br />
der ich studierte. Da habe ich ihn das erste Mal live<br />
erlebt. Seine Ausdrucksweise ist klar und die Wortwahl<br />
ebenfalls toll. Auf einen Kaffee mit Barack Obama<br />
wäre ich auf jeden Fall spontan dabei.<br />
13 fragen an 2/14 ZeSo<br />
9
Das Kind lebt zur Hälfte beim Vater:<br />
Wie wird die Sozialhilfe berechnet?<br />
Eva D. wird mit Sozialhilfeleistungen unterstützt. Da eines ihrer beiden Kinder die halbe Zeit beim<br />
Vater lebt, wird der Grundbedarf für die Familie auf der Basis einer Mischrechnung angepasst.<br />
Frage<br />
Eva D. lebt mit ihren beiden minderjährigen<br />
Kindern in der Gemeinde Muster. Der<br />
neunjährige Reto und die vierjährige Margrit<br />
haben unterschiedliche Väter. Für Reto<br />
hat Eva D. das alleinige Sorgerecht. Die<br />
Kinderzulagen und Alimente für ihn gehen<br />
regelmässig ein und werden im Budget<br />
von Eva D. als Einnahmen angerechnet.<br />
Vor einiger Zeit hat Margrits Vater die gemeinsame<br />
Wohnung verlassen. Das Gericht<br />
entschied, dass die Eltern das gemeinsame<br />
Sorgerecht für ihre Tochter<br />
Margrit haben und der zivilrechtliche<br />
Wohnsitz beim Vater sei. Die Eltern teilen<br />
sich bei diesem Kind die Betreuung. Margrit<br />
verbringt jeweils während einer Woche<br />
drei Tage und während der anderen Woche<br />
vier Tage bei ihrer Mutter. Bei der Berechnung<br />
der Kinderalimente für Margrit<br />
wurde berücksichtigt, dass sie durchschnittlich<br />
3,5 Tage pro Woche bei ihrem<br />
Vater lebt. Wie aber berechnet sich das Unterstützungsbudget<br />
für Eva D. mit den beiden<br />
minderjährigen Kindern?<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />
und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />
Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />
(einloggen) SKOS-Line.<br />
Grundlagen<br />
Mit den neuen Bestimmungen des Zivilgesetzbuches<br />
(ZGB), die am 1. Juli <strong>2014</strong> in<br />
Kraft treten, wird unabhängig vom Zivilstand<br />
der Eltern die gemeinsame elterliche<br />
Sorge zum Regelfall. Die elterliche Sorge<br />
umfasst neben der Erziehung und Ausbildung<br />
sowie der gesetzlichen Vertretung<br />
und Verwaltung des Vermögens auch die<br />
elterliche Obhut. Darunter fällt die tägliche<br />
Betreuung und Pflege sowie auch die<br />
Bestimmung des Aufenthaltsorts. Es steht<br />
den Eltern also zu, die Obhut so zu regeln,<br />
dass beide Elternteile einzelne oder mehrere<br />
Tage pro Woche die Betreuung der gemeinsamen<br />
Kinder übernehmen können.<br />
Um der Idee des Gesetzgebers gerecht zu<br />
werden und immer auch mit Blick auf das<br />
Wohl des Kindes, ist es deshalb zu vermeiden,<br />
das Kind sozialhilferechtlich lediglich<br />
einem Haushalt zuzuordnen.<br />
Das Bundesgesetz über die Zuständigkeit<br />
für die Unterstützung Bedürftiger<br />
(ZUG) regelt die Situation eines unterschiedlichen<br />
zivilrechtlichen Wohnsitzes<br />
der Eltern so, dass das minderjährige Kind<br />
den Unterstützungswohnsitz desjenigen<br />
Elternteils hat, bei dem es wohnt (Art. 7<br />
Abs. 2 ZUG). Diese Bestimmung kann<br />
so ausgelegt werden, dass das Kind den<br />
Unterstützungswohnsitz beider Elternteile<br />
beziehungsweise abwechselnd den<br />
Unterstützungswohnsitz des einen oder<br />
des anderen teilt. Daraus folgt, dass der<br />
Elternteil mit dem minderjährigen Kind<br />
rechnerisch als ein Unterstützungsfall zu<br />
behandeln ist.<br />
Die Unterstützungsberechnung erfolgt<br />
nach den tatsächlichen Verhältnissen.<br />
Folglich sollten sich die Wohnkosten nach<br />
einer Unterstützungseinheit richten, die<br />
ein beziehungsweise zwei Kinder umfasst.<br />
Ebenso wird der Grundbedarf entsprechend<br />
angepasst. Mit dieser Berechnung<br />
wird sichergestellt, dass sich der sozialhilfebeziehende<br />
Elternteil zur Hälfte an<br />
den Kosten zur Anschaffung von Kleidern<br />
und Schuhen, an Verkehrsauslagen oder<br />
Ähnlichem beteiligen kann. Die Kinderalimente<br />
werden dabei dem Unterstützungsbudget<br />
angerechnet.<br />
Antwort<br />
Der Haushalt von Eva D. umfasst während<br />
durchschnittlich 3,5 Tagen pro Woche drei<br />
Personen und während der anderen 3,5<br />
Tage zwei Personen. Der Grundbedarf kann<br />
nach folgender Mischrechnung bestimmt<br />
werden: GBL = (GBL1-*Anzahl Wochentage/7)<br />
+ (GBL2-*Anzahl Wochentage/7).<br />
GBL1 steht in diesem Beispiel für den<br />
Grundbedarf ohne Margrit und GBL2 für<br />
denjenigen mit Margrit. Konkret lautet die<br />
Rechnung wie folgt: (Fr. 1'509.-*3.5/7<br />
= Fr. 754.50.-) plus (Fr. 1'834.-*3.5/7<br />
= Fr. 917.-) ergibt einen Grundbedarf von<br />
monatlich 1'671.50 Franken. Zudem ist<br />
Eva D. ein Mietzins zu gewähren, der die<br />
Tatsache berücksichtigt, dass zeitweise zwei<br />
Kinder in der Wohnung leben. Sämtliche<br />
Auslagen, die unter das Kapitel C der SKOS-<br />
Richtlinien fallen, werden grundsätzlich<br />
hälftig im Budget von Eva D. berücksichtigt.<br />
Die vom Gericht gesprochenen Alimente<br />
für Margrit sind im Unterstützungsbudget<br />
vollumfänglich anzurechnen, da bei der<br />
Berechnung berücksichtigt wurde, dass<br />
Margrit zur Hälfte bei ihrem Vater lebt. •<br />
Ruth Ziörjen<br />
Kommission Richtlinien<br />
und Praxishilfen<br />
10 ZeSo 2/14 praxis
Geld und Geist in der Sozialhilfe<br />
Georges Köpfli hat die Ethik und die Auslegung der SKOS-Richtlinien in den vergangenen zehn<br />
Jahren stark mitgeprägt. Er ist im Mai als Geschäftsleitungsmitglied und Präsident der Kommission<br />
Richtlinien und Praxis (RIP) zurückgetreten. Georges Köpfli reflektiert in diesem Beitrag die<br />
Grundgedanken und Prinzipien, auf denen die SKOS-Richtlinien aufbauen.<br />
Wer in der Sozialhilfe tätig ist, begegnet<br />
unausweichlich der Frage, was der Mensch<br />
zum Leben benötigt. Es ist daher nicht verwunderlich,<br />
dass die SKOS-Richtlinien und<br />
insbesondere die Höhe der Unterstützungsansätze<br />
immer wieder zu Diskussionen führen.<br />
Die Auseinandersetzungen über die<br />
Ausgestaltung der sozialen Sicherheit widerspiegeln<br />
den jeweiligen Zeitgeist und konfrontieren<br />
uns mit wichtigen Grundsatzfragen.<br />
Woran erkenne ich, ob ich gerecht<br />
handle und die Würde des Hilfesuchenden<br />
respektiere? Was ist ein «angemessenes»<br />
Existenzminimum? Aufgrund welcher<br />
Werte und Normen entscheiden wir, wann<br />
ein bestimmtes Verhalten nicht mehr gesellschaftsverträglich<br />
ist, und wer definiert<br />
diese Normen? Wie weit geht die Aufgabe<br />
des Staates, für Arme und Bedürftige zu<br />
sorgen? Die Antworten auf diese Fragen<br />
sind geprägt von Menschenbildern, und<br />
diese Menschenbilder prägen auch unser<br />
Handeln und unsere Einstellung gegenüber<br />
Hilfe suchenden Menschen.<br />
Dass sich die politische und öffentliche<br />
Diskussion über die Sozialhilfe in der<br />
jüngsten Zeit immer öfter auf die Frage reduziert,<br />
ob die Unterstützungsansätze der<br />
SKOS-Richtlinien zu hoch oder zu tief sind,<br />
greift aber in jedem Fall zu kurz. Zuallererst<br />
muss die Frage nach den Zielen der Sozialhilfe<br />
geklärt sein. Und zum Zweiten bedarf<br />
es einer Auseinandersetzung mit unseren<br />
Bildern über Menschen, die auf Unterstützung<br />
angewiesen sind. Vertreten wir die<br />
Auffassung, dass sich Unterstützungsbedürftige<br />
für eine Verbesserung ihrer Situation<br />
erst dann einsetzen, wenn sie finanziell<br />
möglichst knapp gehalten werden? Oder<br />
sind für uns die Stärkung und Förderung<br />
von Ressourcen eines Individuums zentrale<br />
Grundsätze und eine Voraussetzung, damit<br />
Menschen ermächtigt werden, ihr Schicksal<br />
selber in die Hand zu nehmen?<br />
In der Debatte um die Weiterentwicklung<br />
der SKOS-Richtlinien braucht es<br />
neben den Forderungen nach einer Überprüfung<br />
der Unterstützungsansätze die<br />
Auseinandersetzung mit dem Geist, der<br />
den Richtlinien zugrunde liegt. Die heutigen<br />
Normen bekennen sich zu einer Unterstützung,<br />
die nicht bloss das Überleben<br />
sichert, sondern auch Teilhabe und Teilnahme<br />
ermöglicht. Dieses Grundprinzip<br />
beruht auf der Haltung, dass Menschen<br />
unabhängig von ihrem ökonomischen Status<br />
Anspruch auf gesellschaftliche Zugehörigkeit<br />
haben. Damit wird die doppelte<br />
Zielsetzung der Sozialhilfe – Existenzsicherung<br />
und Integration – betont.<br />
Dass Integrationsbemühungen fehlschlagen<br />
können und der Lebensweg eines<br />
Menschen nicht unseren Werten und Normen<br />
entspricht, das gab es seit jeher in allen<br />
Gesellschaften, und das gibt es auch heute<br />
noch. Wir begegnen in der Sozialhilfe unter<br />
anderem auch gesellschaftlichen Aussenseitern,<br />
schrägen Typen, solchen, die nicht so<br />
richtig passen, die anecken, fordernd sind<br />
und uns herausfordern. Wir alle kennen den<br />
Zwang zur Normalität, den Anspruch, Menschen<br />
zu integrieren und zu re-integrieren,<br />
selbstredend mit den besten moralischen<br />
Motiven. Trotz Anreizsystemen und Integrationsprogrammen<br />
wird es aber immer Menschen<br />
geben, bei denen es nichts anzureizen<br />
gibt. Im Einzelfall kann es deshalb sinnvoll<br />
und zielführend sein, mit einer Grundsicherung<br />
die elementaren Ansprüche an ein<br />
menschenwürdiges Dasein zu sichern, ohne<br />
Anspruch auf weiterführende Ziele.<br />
Die SKOS-Richtlinien sind kein Rezeptbuch.<br />
Sie geben eine Richtung an, um dem<br />
Einzelfall möglichst gerecht zu werden.<br />
Und sie basieren auf Werten und Grundprinzipien<br />
einer Gesellschaft, die die Solidarität<br />
mit den Schwachen und Bedürftigen<br />
als gemeinsame Verantwortung versteht.<br />
Diesem gesellschaftlichen Konsens gilt es<br />
bei der Weiterentwicklung der Richtlinien<br />
und bei der Umsetzung in der Praxis der<br />
Sozialhilfe Sorge zu tragen.<br />
•<br />
Georges Köpfli<br />
Georges Köpfli<br />
Bild: zvg<br />
Georges Köpfli (68) war 2005 Mitglied der<br />
Projektgruppe für ein Schulungskonzept zu<br />
den revidierten SKOS-Richtlinien. Seither<br />
unterstützte er die SKOS als Kursleiter<br />
(«Einführung in die SKOS-Richtlinien»).<br />
Von 2008 bis zu seinem Rücktritt im Frühling<br />
<strong>2014</strong> war er Mitglied der Geschäftsleitung<br />
und Präsident der Kommission<br />
Richtlinien und Praxishilfen (RIP).<br />
Nach seiner Ausbildung zum Sozialarbeiter<br />
war er auf einem Gemeindesozialdienst<br />
tätig, absolvierte ein Nachdiplomstudium<br />
in Holland und arbeitete von 1980 bis<br />
2008 als Dozent an der Fachhochschule<br />
Zürich (ZHAW). Während 16 Jahren war er<br />
in seiner Wohngemeinde Hausen am Albis<br />
Gemeinderat und Präsident der Sozialbehörde<br />
sowie Mitglied des Vorstands der<br />
Sozialkonferenz des Kantons Zürich, in<br />
deren Auftrag er sich bis heute insbesondere<br />
in der Behördenschulung engagiert.<br />
Die SKOS dankt Georges Köpfli herzlich für<br />
seinen engagierten Einsatz.<br />
NB: Claudia Hänzi, Leiterin des Amts für<br />
soziale Sicherheit des Kantons Solothurn,<br />
übernimmt von Georges Köpfli den Vorsitz<br />
der Kommission Richtlinien und Praxis. Sie<br />
gehört neu auch der Geschäftsleitung an.<br />
SKOS-RICHTLINIEN 2/14 ZeSo<br />
11
Bild: Rudolf Steiner<br />
12 ZeSo 2/14 SCHWERPUNKT
schulden und sozialhilfe<br />
Schulden und Sozialhilfe<br />
Sozialhilfe und Schuldenproblematik liegen oft nicht weit<br />
auseinander. Schulden behindern Sozialhilfebeziehende<br />
nicht nur bei der Ablösung aus der Sozialhilfe, sie können<br />
beispielsweise auch die Suche nach einer billigeren Wohnung<br />
erschweren. Doch den Sozialdiensten fehlt es oft an<br />
Ressourcen, um sich im Rahmen ihrer primären Arbeit auch<br />
noch um eine nachhaltige Schuldenberatung zu kümmern.<br />
<strong>ZESO</strong>-SCHWERPUNKT<br />
Beiträge zum Thema Schulden und Sozialhilfe:<br />
14 Schulden und ihre Relevanz für die Sozialhilfe<br />
16 Schuldenberatung erfolgt im Interesse der Allgemeinheit<br />
18 Kleinere Sozialdienste begegnen der Verschuldungsproblematik pragmatisch<br />
20 Die geltenden Bestimmungen schaden der Volkswirtschaft<br />
22 Schuldenberatung mit Blick auf biografische Einflüsse<br />
SCHWERPUNKT 2/14 ZeSo<br />
Schulden und ihre Relevanz<br />
für die Sozialhilfe<br />
Schulden können die Lebenssituation von Sozialhilfebeziehenden in vieler Hinsicht beeinträchtigen.<br />
Wenn in der Sozialhilfe Handlungsspielräume zur Regulierung von Schulden geschaffen würden,<br />
könnten sowohl die betroffenen Personen als auch die öffentlichen Kassen davon profitieren. Deshalb<br />
sollte der Schuldenproblematik in der sozialpolitischen Agenda ein hoher Stellenwert eingeräumt werden.<br />
Verschuldung kann dann als problematisch betrachtet werden,<br />
wenn sie zu Betreibungen oder Lohnpfändungen führt. Weniger<br />
formal betrachtet sind Schulden dann problematisch, wenn sie<br />
die finanziellen Spielräume einer Person oder eines Haushalts<br />
soweit einengen, dass die verbleibenden finanziellen Mittel nicht<br />
mehr für den laufenden Lebensunterhalt ausreichen. Schulden<br />
betreffen und belasten also nicht bloss die verschuldete Person.<br />
Häufig leiden Familienangehörige ebenfalls unter den durch<br />
Schulden zusätzlich angespannten wirtschaftlichen Verhältnissen<br />
eines Haushalts.<br />
Für Menschen in prekären Lebensumständen bedeutet Verschuldung,<br />
dass sie ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit überschätzt<br />
und quasi vorweggenommen haben. Sie sind nicht mehr<br />
in der Lage, die Schulden aus eigener Kraft, in absehbarer Zeit<br />
und im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten zurückzuzahlen.<br />
Doch nicht nur die Höhe der Schulden spielt bei der Verschuldung<br />
von Privatpersonen eine Rolle. Gerade bei Menschen mit sehr<br />
wenig finanziellen Ressourcen zeigt sich als ein zentrales Problem,<br />
dass sie schnell den Überblick über ihre finanziellen Angelegenheiten<br />
verlieren können. Trifft dies zu, entstehen oft Konstellationen<br />
mit nicht nur einem, sondern einem <strong>ganz</strong>en «Ensemble» von<br />
Inkassounternehmen und staatlichen sowie privaten Gläubigervertretern.<br />
Dies wiederum kann sich stark belastend auf die verschuldeten<br />
Personen auswirken und Verdrängungsmechanismen<br />
fördern.<br />
Die Spanne zwischen<br />
sozialhilferechtlichem und<br />
betreibungsrechtlichem<br />
Existenzminimum ist<br />
gering – und somit auch<br />
der finanzielle Anreiz,<br />
aus der Sozialhilfe<br />
herauszukommen.<br />
Personen im Sozialhilfebezug müssen aufgrund ihrer stark eingeschränkten<br />
finanziellen Spielräume zwangsläufig sparsam, also<br />
rational und wirtschaftlich, handeln. Von einer unübersehbaren<br />
Zahl von Gläubigern gemahnt, betrieben oder bedrängt zu werden,<br />
kann allerdings zu einem Umgang mit Geld führen, der für<br />
Aussenstehende schwer zu verstehen ist und der manchmal vorschnell<br />
als unwirtschaftlich oder «unsinnig» beurteilt wird: Es<br />
kommt zu Situationen, bei denen eigentlich nachrangige, aber<br />
aufdringlich mahnende Gläubiger vorrangig bedient werden, und<br />
laufende Kosten, beispielsweise für die Wohnung oder die Krankenversicherung,<br />
nicht bezahlt werden. Daraus ergeben sich die<br />
bekannten Situationen, dass die Sozialhilfe bei der Existenzsicherung<br />
mit Strom-, Miet- oder Prämienschulden bei Krankenversicherungen<br />
konfrontiert ist.<br />
Die Kontrolle über die eigenen Finanzen geht verloren<br />
Insbesondere der Gesundheitsbereich stellt ein zunehmendes Problem<br />
bei verschuldeten Menschen dar. Namentlich jene Krankenversicherungen,<br />
die niedrige Prämien verlangen, und zu deren Wahl<br />
Menschen in der Sozialhilfe – teilweise mit Nachdruck – geraten<br />
wird, gerade diese Krankenversicherungen wickeln selbst keine Zahlungen<br />
mit Apotheken, Ärzten, Krankenhäusern usw. ab. Diese<br />
Arbeit überlassen sie den Versicherten. Unter den geschilderten<br />
Umständen von Überlastung und Unübersichtlichkeit der eigenen<br />
Finanzen führt diese Praxis fast zwangsläufig zu Zahlungsrückständen<br />
oder Schulden bei den Leistungserbringern des Gesundheitsbereichs<br />
und auch zum Verlust der Kontrolle über den Selbstbehalt<br />
und die Franchise. Menschen mit Schulden wenden sich<br />
später an die Sozialhilfebehörden, um Hilfen zu beantragen – das<br />
hat die Studie zum Buch «Der schwere Gang zum Sozialdienst»<br />
von Rosmarie Ruder et al. anschaulich aufgezeigt.<br />
Schulden erschweren die Ablösung von der Sozialhilfe<br />
Umgekehrt dürfte vielen verschuldeten Sozialhilfebeziehenden<br />
aber auch der Anreiz fehlen, wieder eine volle Arbeitsstelle anzunehmen<br />
und sich so von der Sozialhilfe abzulösen. Denn die Spanne<br />
zwischen dem sozialhilferechtlichen und dem betreibungsrechtlichen<br />
Existenzminimum ist je nach Haushaltssituation zwar<br />
unterschiedlich, aber in jedem Fall gering – und somit auch der<br />
finanzielle Anreiz, aus der Sozialhilfe herauszukommen. Umso<br />
verwunderlicher erscheint es, dass bei den vielen Bemühungen um<br />
die Arbeitsintegration das Thema Verschuldung bislang weitgehend<br />
ausgeklammert wurde. Und auch wenn die Problematik der<br />
Alimente-Schulden und der Alimente-Bevorschussung strukturell<br />
nicht direkt zur Sozialhilfe gehört, sind hier dennoch Parallelen<br />
14 ZeSo 2/14 SCHWERPUNKT
schulden und sozialhilfe<br />
Wenn verschuldete Menschen eine billigere Wohnung suchen, sind Betreibungsregistereinträge ein Hindernis.<br />
Bild: Pixsil/Béatrice Devènes<br />
und Zusammenhänge erkennbar. Auch Unterhaltsschulden entstehen<br />
oft in komplexen Situationen, beispielsweise wenn bereits<br />
Ratenverpflichtungen bestehen oder die finanzielle Situation einer<br />
Person unübersichtlich ist. Wenn aber zum laufenden Unterhalt<br />
und möglichen Unterhaltsschulden noch weitere Schuldverpflichtungen<br />
hinzukommen, wirkt sich das letztlich auch auf die öffentlichen<br />
Kassen aus.<br />
Auswirkungen von Betreibungsregistereinträgen<br />
Bei der Bewerbung für eine Mietwohnung wird oft ein Betreibungsregisterauszug<br />
verlangt. Menschen im Sozialhilfebezug können<br />
zwar nicht gepfändet werden, aber etwaige Betreibungen erscheinen<br />
dennoch in den Betreibungsregisterauszügen. Solche<br />
Einträge sind bei der Wohnungssuche von Bedeutung, denn durch<br />
sie sinkt die Chance, den Zuschlag für eine Wohnung zu erhalten.<br />
Die Betreibungsregistereinträge schränken verschuldete Menschen<br />
in ihrer Flexibilität ein, sich veränderten Einkommens- oder<br />
Lebensbedingungen anzupassen. Es wird ihnen nahezu unmöglich,<br />
in einen ihrer finanziellen Situation eher entsprechenden,<br />
billigeren Wohnraum umzuziehen und mit ihren Sozialhilfegeldern<br />
auszukommen.<br />
Die erschwerte Wohnungssuche für Menschen mit negativem<br />
Betreibungsregisterauszug wirkt sich zudem oft auch auf die Ablösung<br />
junger Menschen vom elterlichen Haushalt aus. Junge<br />
verschuldete Menschen sind nicht nur wegen ihres noch geringen<br />
oder ungesicherten Einkommens, sondern auch wegen den Einträgen<br />
im Betreibungsregister auf dem Wohnungsmarkt benachteiligt.<br />
Sozialhilfe als Chance, eine Lösung zu finden<br />
Diese Ausführungen zeigen, dass Schulden die Lebenssituation<br />
von Menschen im Sozialhilfebezug in mehrfacher Hinsicht beeinträchtigen<br />
können. Andererseits könnte der Sozialhilfebezug aus<br />
Sicht der Schuldenberatung eine gute Verhandlungsposition bieten,<br />
um mit Gläubigern eine Lösung zu finden und nennenswerte<br />
Teilerlasse für die betroffenen Menschen zu erreichen und diese<br />
damit in ihrer wirtschaftlichen Gesundung zu unterstützen. Doch<br />
dazu ist erforderlich, dass in der Sozialhilfe Handlungsspielräume<br />
zur Regulierung von Schulden geschaffen werden. Sowohl die<br />
betroffenen Personen als auch die öffentlichen Kassen könnten<br />
davon profitieren. <br />
•<br />
Christoph Mattes<br />
Hochschule für Soziale Arbeit der FHNW<br />
Themenschwerpunkte Armut und Verschuldung<br />
SCHWERPUNKT 2/14 ZeSo<br />
Schuldenberatung erfolgt im Interesse<br />
der Allgemeinheit<br />
In Lausanne betreibt der städtische Sozialdienst eine Schuldenberatungsstelle, die auch<br />
Sozialhilfebeziehenden offen steht. Ihnen drohen bei der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit<br />
aufgrund der Betreibungen, die gegen sie laufen, oft jahrelange Lohnpfändungen. Umso wichtiger ist<br />
es, die Betroffenen über Alternativen wie den Privatkonkurs zu informieren.<br />
Die Unité d'assainissement financier (Unafin), die Fachstelle für<br />
Schuldensanierung des Lausanner Sozialdienstes, besteht seit<br />
2001. Dass die Stadtverwaltung eine eigene, dem Sozialdienst angegliederte<br />
Schuldenberatungsstelle betreibt, liegt im Interesse<br />
der Allgemeinheit an einem Instrument gegen die wachsende<br />
Überschuldung von Privathaushalten. Denn eine hohe Verschuldungsquote<br />
in der Bevölkerung hat negative Auswirkungen auf<br />
das Gesundheitswesen und auf die kommunale Wohlfahrt. Die mit<br />
560 Stellenprozenten ausgestattete Fachstelle hat den Auftrag, als<br />
städtisches Kompetenzzentrum für Schuldenmanagement mit Präventionsmassnahmen<br />
der Überschuldung der Bürgerinnen und<br />
Bürger entgegenzuwirken und Privathaushalte bei der Schuldensanierung<br />
zu begleiten. Konkret bietet die Unafin ihren Klientinnen<br />
und Klienten folgende Dienstleistungen an:<br />
- Überprüfung ihrer finanziellen Situation, mit dem Ziel, realistische<br />
Massnahmen für eine Schuldensanierung einzuleiten<br />
- Budgetkontrolle und -optimierung, mit dem Ziel, neue Schulden<br />
zu vermeiden<br />
- Begleitung im Sanierungsprozess<br />
- Einreichen eines Gesuchs zur Eröffnung des Privatkonkurses<br />
und Bevorschussung der damit verbundenen Gebühren, um<br />
verschuldeten Personen, bei denen eine Schuldensanierung<br />
unmöglich ist, einen Neuanfang zu ermöglichen.<br />
eine Unterstützung durch das Schuldenmanagement erfüllt sind.<br />
Voraussetzungen sind eine hohe Motivation zum Schuldenabbau,<br />
ein Einkommen über dem Existenzminimum sowie stabile Wohn-,<br />
Arbeits- und Familienverhältnisse und gute Gesundheit.<br />
Privatkonkurs ist oft die einzige Lösung<br />
Gründe für eine Überschuldung gibt es viele. Meistens haben sich<br />
die Betroffenen nicht aktiv, sondern passiv verschuldet. Der Verschuldung<br />
liegen Ereignisse wie Arbeitslosigkeit, eine dauerhafte ge-<br />
Ein Viertel der Klienten wird intern überwiesen<br />
Die meisten Klientinnen und Klienten gelangen über die Anlaufstelle<br />
«Info Sociale» des Lausanner Sozialdienstes (Service social<br />
Lausanne, SSL) an die Unafin. «Info Sociale» ist als Eingangspforte<br />
zum SSL konzipiert und triagiert die Anfragen aus dem Internet<br />
und der Personen, die sich auf Anraten des Konkursamts oder des<br />
Bezirksgerichts melden. Andere werden von der Schuldenberatungs-Hotline<br />
«Info Budget» an die Unafin überwiesen. Die Hotline<br />
wird vom kantonalen Sozialamt finanziert und gemeinsam<br />
von Caritas, vom Sozialdienst der evangelisch-reformierten Kirche,<br />
der Fachstelle Unafin und vom Westschweizer Konsumentenschutz<br />
FRC betrieben.<br />
Rund ein Viertel der Klienten wird intern an die Unafin überwiesen.<br />
Dies geschieht dann, wenn die Sozialarbeitenden des<br />
Lausanner Sozialdienstes feststellen, dass die Voraussetzungen für<br />
Eingangsbereich zum Service Social<br />
der Stadt Lausanne.<br />
Bild: Hugues Siegenthaler<br />
16 ZeSo 2/14 SCHWERPUNKT
schulden und sozialhilfe<br />
sundheitliche Beeinträchtigung oder eine Scheidung zugrunde. Es<br />
lässt sich kein typisches Verhalten ableiten, das eine Überschuldung<br />
begünstigt. Das Problem kann eigentlich jeden treffen.<br />
Viele Betroffene wenden sich erst an die Unafin, nachdem sie<br />
schon mehrere Jahre in schwierigen finanziellen Verhältnissen<br />
gelebt haben. Damit verschärfen sie das Problem und schwächen<br />
sich in vielerlei Hinsicht selbst, denn ein Schuldenberg kann<br />
neben dem Familienleben auch die Arbeit und die Gesundheit<br />
beeinträchtigen. Leider verlässt einige Klienten der Mut und sie<br />
brechen die Zusammenarbeit ab, noch bevor sich eine Lösung abzeichnet.<br />
Die Bedingungen für erfolgreiche Schuldensanierungen<br />
werden aber auch immer seltener erfüllt, meistens weil in den betroffenen<br />
Haushalten die finanziellen Möglichkeiten für eine Sanierung<br />
nicht erfüllt sind oder der Schuldenberg schneller wächst<br />
als das Einkommen. Ein anderer Grund, weshalb Schuldensanierungen<br />
oft scheitern, sind Gläubiger, die in der Tendenz immer<br />
Die Kosten, die für<br />
die Lösung anfallen,<br />
sind eine Investition<br />
in die Gesellschaft.<br />
unnachgiebiger werden. Mangels Alternativen ist der Privatkonkurs<br />
heute sehr oft die einzige Lösung.<br />
Gemäss den Dossiers, die im Jahr 2013 geschlossen wurden,<br />
gelang es 14 Prozent der Klienten der Unafin, ihre Schulden teilweise<br />
oder <strong>ganz</strong> abzubauen. 17 Prozent konnten ihre Verschuldung<br />
stoppen, 22 Prozent erhielten eine Schuldenberatung und<br />
20 Prozent erhielten von der Unafin Antworten auf spezifische<br />
Fragen. In 27 Prozent der Fälle konnte die Fachstelle keine Lösung<br />
finden. Meistens, weil die Zusammenarbeit mit der Fachstelle abgebrochen<br />
wurde.<br />
In den ersten Betriebsjahren betreute die Unafin hauptsächlich<br />
Personen, die nicht auf Sozialhilfe angewiesen waren. Im Lauf der<br />
Zeit öffnete die Fachstelle ihre Dienstleistungen für Sozialhilfebeziehende.<br />
Ihnen drohen bei einer Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit<br />
aufgrund der Betreibungen, die gegen sie laufen,<br />
jahrelange Lohnpfändungen, eine Aussicht, die nicht eben motivationsfördernd<br />
für die Stellensuche ist. Umso wichtiger ist es, die<br />
Betroffenen zu informieren, dass es für den Fall, dass sie eine Stelle<br />
finden, Alternativen zur Lohnpfändung gibt. Der Privatkonkurs<br />
beispielsweise bietet ihnen neue Perspektiven und verschafft ihnen<br />
wieder Luft zum Atmen.<br />
Von der Prävention der Jugendverschuldung über die Budgetberatung<br />
bis hin zur Unterstützung und Motivierung von Sozialhilfeempfängerinnen<br />
und -empfängern, die wegen ihrer Überschuldung<br />
die Hoffnung auf ein finanziell unabhängiges Leben bereits aufgegeben<br />
haben – die Arbeit der Unafin nützt allen. Unter diesem<br />
Blickwinkel sind die Kosten, die für die Lausanner Lösung anfallen,<br />
eine Investition in die Gesellschaft. Natürlich gibt es Hürden,<br />
die nicht allein auf der Gemeindeebene überwunden werden<br />
können. Deshalb ist es notwendig, die Schuldenproblematik und<br />
ihre Konsequenzen auf nationaler Ebene anzugehen und schweizweit<br />
über taugliche Präventionsmassnahmen im Kampf gegen die<br />
Überschuldung nachzudenken, wie es zum Beispiel der Verein<br />
Schuldenberatung Schweiz tut. <br />
•<br />
Olivier Cruchon<br />
Leiter Schuldenberatungsstelle (Unafin)<br />
Sozialdienst Stadt Lausanne<br />
SCHWERPUNKT 2/14 ZeSo<br />
Kleinere Sozialdienste begegnen der<br />
Verschuldungsproblematik pragmatisch<br />
Verschuldung ist ein Thema, das zur alltäglichen Arbeit der Sozialarbeitenden gehört. Für eine<br />
ausführliche Schuldenberatung bleibt wegen fehlender Ressourcen allerdings oft wenig Zeit. Die<br />
<strong>ZESO</strong> hat sich bei vier kleineren, eher ländlich geprägten Sozialdiensten erkundigt, mit welchen<br />
Schuldenproblemen die Leute zu ihnen in die Sozialhilfe kommen und welche Hilfestellungen Sie<br />
anbieten können.<br />
«für anspruchsvolle Schuldenregulierungen<br />
Fehlen die Ressourcen»<br />
Wir stellen bei den Erstgesprächen vielfach fest, dass die Klienten<br />
Kleinkredite aufgenommen oder Leasingverträge abgeschlossen<br />
haben. Die damit verbundenen hohen monatlichen Ratenzahlungen<br />
führen dazu, dass andere, lebenswichtige Rechnungen wie<br />
Krankenkassenprämien, die Miete und anderes mehr nicht bezahlt<br />
werden. Falls die Ausstände bei der Krankenkasse oder der<br />
Miete nicht seit länger als drei Monaten bestehen, übernehmen<br />
wir diese, um zu verhindern, dass die Krankenkasse einen Leistungsstopp<br />
verfügt oder die betroffene Person ihre Wohnung verliert.<br />
Unser gut ausgebildetes Team ist in der Lage, zu erkennen,<br />
wann eine Person oder eine Familie an eine spezialisierte Schuldenberatungsstelle<br />
weiter verwiesen werden muss. Denn obwohl<br />
wir fachlich dazu ausgebildet sind, verfügt unser Sozialdienst<br />
nicht über eigene personelle Ressourcen, um anspruchsvollere<br />
Schuldenregulierungen durchzuführen. In Einzelfällen kann<br />
unser Sozialdienst eine Schuldensanierung übernehmen. Allerdings<br />
auch nur, wenn die Schuldensumme 10 000 Franken<br />
nicht übersteigt.<br />
Wir arbeiten deshalb eng und sehr gut mit der Schuldenberatungsstelle<br />
des Roten Kreuzes Graubünden zusammen, mit der<br />
das kantonale Sozialamt eine Leistungsvereinbarung abgeschlossen<br />
hat. Der einzige Nachteil für unsere Klientinnen und Klienten<br />
besteht darin, dass das Rote Kreuz diese Dienstleistung nur<br />
zentral in Chur und nicht in den einzelnen Regionen anbietet.<br />
Dadurch sind die Klientinnen und Klienten gezwungen, den<br />
Weg von Davos nach Chur auf sich zu nehmen. Aufgrund unserer<br />
Erfahrungen ist dem Thema Verschuldung<br />
bei Jugendlichen und<br />
jungen Erwachsenen eine besondere<br />
Bedeutung zuzumessen.<br />
«wir Versuchen, eine weitere<br />
Verschuldung zu verhindern»<br />
Die meisten Personen, die sich an die Sozialhilfe wenden, sind bereits<br />
verschuldet. Oft handelt es sich um Steuerschulden oder nicht<br />
bezahlte Krankenkassenprämien. Die Sozialhilfe kann bekanntlich<br />
keine Schulden übernehmen. Hingegen versuchen wir sicherzustellen,<br />
dass Rechnungen wie die Miete oder der Selbstbehalt<br />
auf den Arztkosten, die von der Sozialhilfe übernommen werden<br />
können, tatsächlich bezahlt werden, um so weitere Schulden zu<br />
vermeiden.<br />
Die sozialarbeiterische Ausbildung an einer Fachhochschule ermöglicht<br />
es sehr gut, auf solche Situationen einzugehen. Natürlich<br />
ist eine Mitarbeiterin mit einer Zusatzausbildung oder Erfahrung<br />
in der Schuldenberatung ein Plus für den Dienst. Wenn angezeigt,<br />
arbeiten wir auch mit dem Schuldenberatungsdienst der Caritas<br />
Jura zusammen. Da es selten möglich ist, für Sozialhilfebeziehende<br />
einen Schuldensanierungsplan zu erstellen, findet diese<br />
Zusammenarbeit eher unregelmässig statt. Wenn jemand hingegen<br />
vor der Ablösung von der Sozialhilfe steht und die finanzielle<br />
Situation in den Griff bekommen möchte, dann verweisen wir ihn<br />
an die Caritas.<br />
Wir kümmern uns also primär darum, dass der minimale Lebensbedarf<br />
der betroffenen Personen gedeckt ist, und versuchen<br />
gleichzeitig zu verhindern, dass sie sich noch weiter verschulden.<br />
Allerdings geniessen die Soziahlhilfebeziehenden bei der Verwendung<br />
des monatlichen Unterhaltsbeitrags eine gewisse Autonomie,<br />
und uns fehlen für die Begleichung von Rechnungen direkt<br />
durch den Sozialdienst die Ressourcen und Instrumente, beispielsweise<br />
dazu notwendige Vollmachten. Die Betreuung von verschuldeten<br />
Sozialhilfebeziehenden<br />
bedingt ferner, dass die Klientin<br />
oder der Klient gut kooperiert und<br />
bereit ist, die zweckdienlichen Informationen<br />
und Unterlagen weiterzugeben.<br />
Bilder: zvg<br />
18 ZeSo 2/14 SCHWERPUNKT<br />
Clemenz Roland<br />
Leiter Sozialdienst Davos<br />
Dominique Cattin Houser<br />
Directrice du Service social régional des<br />
Franches-Montagnes, Le Noirmont
schulden und sozialhilfe<br />
«Wir begegnen einfachen Zahlungsrückständen<br />
und Verschuldungen<br />
über die Millionengrenze hinaus.»<br />
Die Schuldenthemen sind sehr divers. Wir begegnen sowohl einfachen<br />
Zahlungsrückständen wie Verschuldungen über die Millionengrenze<br />
hinaus. Hauptgründe für die Verschuldungen sind<br />
tiefe oder fehlende Einkommen oder ein Leben über den Verhältnissen.<br />
Je nachdem, wie hoch der Schuldenberg ist, wird die Schuldenthematik<br />
unterschiedlich angegangen. Nach der Prüfung der<br />
Ansprüche beim Intake wird als Erstes die aktuelle Situation geregelt.<br />
Anschliessend wird der Fall individuell hinsichtlich der Schuldensituation<br />
beurteilt.<br />
Bei verhältnismässig tiefen Schulden, keinen Betreibungen<br />
und guten Aussichten für ein eigenständiges Einkommen kann<br />
eine Schuldensanierung durch uns ins Auge gefasst und mit den<br />
Klienten besprochen werden. Die Intervision gibt den Sozialarbeitenden<br />
die Möglichkeit, sich intern auszutauschen und sich dabei<br />
Fachwissen anzueignen. Wenn sich zeigt, dass jemand aufgrund<br />
seiner Einkünfte keine finanzielle Unterstützung zugut hat, wird<br />
er oder sie an eine Schuldenberatungsstelle weiter verwiesen.<br />
Diese Stellen arbeiten allerdings oft mit anderen methodischen<br />
Ansätzen als die Sozialhilfe und ihre Leistungen sind für den Klienten<br />
nicht gratis. Dafür verfügen sie über mehr fachspezifisches<br />
Know-how und häufig über ein nützliches Netzwerk.<br />
Es kann auch vorkommen, dass ehemalige Klienten, die finanziell<br />
unterstützt wurden und sich dann von der Sozialhilfe ablösen<br />
konnten, bei genügendem Einkommen bei einer Schuldensanierung<br />
im Sinne einer freiwilligen Einkommensverwaltung weiter<br />
von uns unterstützt werden. Um Schuldensanierungen durchführen<br />
zu können, braucht es neben Fachwissen auch zeitliche<br />
Ressourcen. In der aktuellen politischen Sparrunde gibt es nur<br />
wenig Möglichkeiten, Ressourcen<br />
für diese sinnvollen Zusatzaufgaben<br />
einzusetzen.<br />
Turi Schallenberg<br />
Leiter Soziale Dienste Frauenfeld<br />
«sozialarbeiterisches Denken allein<br />
genügt hier nicht.»<br />
Oft geht es um Zahlungsrückstände bei der Miete, der Krankenkasse<br />
oder den Steuern. Entweder weil das Einkommen nicht ausreicht<br />
oder weil anderem wie Ratenzahlungen für Leasing- oder Bankkredite<br />
eine höhere Priorität eingeräumt wird. Bei kleinen Beträgen<br />
versuchen wir, pragmatische Lösungen zu finden, mit Zahlungsvereinbarungen,<br />
einem Beitrag aus einem privaten Fonds oder<br />
durch die Übernahme von Mietrückständen. Manchmal verwalten<br />
wir auch die Einkünfte, um eine Verschuldung zu vermeiden. Das<br />
bedingt aber das Einverständnis und eine sehr gute Zusammenarbeit<br />
mit der betroffenen Person und kommt einer Beistandschaft<br />
ohne Auftrag gleich. Das ist sehr aufwändig für uns.<br />
Für Verhandlungen mit Betreibungsinstanzen oder für umfassende<br />
Schuldensanierungspläne fehlt uns das Know-how: Die<br />
Schuldenberatung, aber auch die gegenüber Kreditinstituten zu<br />
unternehmenden Schritte und das benötigte verfahrensrechtliche<br />
Wissen sind zu spezifisch. Dafür braucht es kompetentes Fachpersonal,<br />
sozialarbeiterisches Denken allein genügt hier nicht.<br />
Solche Fälle lenken wir in Richtung Errichtung einer Beistandschaft<br />
oder wir empfehlen den Betroffenen, sich an Caritas zu wenden,<br />
die im Kanton Freiburg für die Schuldenberatung zuständig<br />
ist. Hin und wieder haben wir uns auch schon an den Konsumentinnenverband<br />
gewandt, um Budgets erstellen zu lassen. Ein Sozialdienst<br />
von der Grösse des unseren ist nicht in der Lage, eine adäquatere<br />
Hilfe für Schuldensanierungen anzubieten. Die Dossiers<br />
werden je länger, je komplexer, die Gesuchstellenden beschreiten<br />
den Rechtsweg usw. Wir müssen auf das fokussieren, was zum Lebensbedarf<br />
gehört. Es ist – nebenbei bemerkt – unglaublich, wie<br />
viel Energie, Zeit und Ressourcen für Schuldensanierungen eingesetzt<br />
werden müssen und wie gering gleichzeitig der politische<br />
Wille ist, die Ursachen der Verschuldungsproblematik<br />
anzupacken und<br />
einen Rahmen zu schaffen, damit es<br />
möglichst gar nicht so weit kommt.<br />
Ein Beispiel dazu ist die wiederholte<br />
Ablehnung von Vorstössen, die<br />
zum Ziel haben, Kreditvergaben an<br />
Jugendliche zu verbieten, durch die<br />
eidgenössischen Räte.<br />
André Sallin<br />
Chef du Service social de la Gruyère, Bulle<br />
SCHWERPUNKT 2/14 ZeSo<br />
Die geltenden Bestimmungen schaden<br />
der Volkswirtschaft<br />
Gesetzliche Vorgaben und administrative Abläufe sorgen dafür, dass die Schuldenproblematik bei<br />
Sozialhilfebezügern in erster Linie verwaltet statt gelöst wird, dass dem Staat hohe, wenig Nutzen<br />
bringende Kosten anfallen, und dass die Schuldner wenig Sinn darin sehen, sich aus der Sozialhilfe<br />
abzulösen.<br />
Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger sind für die Betreibungsämter<br />
auf den ersten Blick eine relativ einfache Kundschaft: Sie<br />
stellen keine grosse fachliche Herausforderung dar, denn bei ihnen<br />
gibt es eigentlich nichts zu holen. Anträge auf Pfändung bei<br />
Sozialhilfebeziehenden enden – weil weder pfändbares Vermögen<br />
noch Einkommen vorhanden ist – in den meisten Fällen mit einem<br />
Verlustschein. Erst beim genaueren Hinschauen offenbaren<br />
sich Problematiken, die zu reflektieren sich lohnt.<br />
Da sind zum einen administrative Abläufe, die wenig zur Problemlösung<br />
beitragen, aber hohe Kosten verursachen. Schuldet<br />
ein Sozialhilfebezüger beispielsweise der Krankenkasse seine Versicherungsprämien,<br />
so wird der <strong>ganz</strong>e betreibungsamtliche Ablauf<br />
bis zur Ausstellung des Verlustscheins durchgespielt. Also, zuerst<br />
die Zustellung des Zahlungsbefehls, dann der Vollzug der Pfändung.<br />
Beides in der Regel, wie leider bei den meisten Schuldnerinnen<br />
und Schuldnern, nicht auf den ersten Versuch des Amtes<br />
hin. Die aufgelaufenen Kosten des Betreibungsamts verdoppeln<br />
in vielen Fällen die betriebene Monatsprämie, insbesondere dann,<br />
wenn die Krankenkasse die Prämie monatlich eintreiben lässt. Mit<br />
dem Verlustschein kann dann aber die Krankenversicherung die<br />
Prämie beim Staat einfordern. Das ist ein volkswirtschaftlicher<br />
Unsinn, führt zu vermeidbaren Schulden und wirkt einer späteren<br />
Schuldensanierung entgegen.<br />
Datenschutz hemmt die Effizienz<br />
Sozialhilfebeziehende müssen in vielen Kantonen keine Steuern bezahlen.<br />
Verzichten Sozialhilfebeziehende allerdings aus Unwissen<br />
oder aus Gleichgültigkeit darauf, eine Steuererklärung einzureichen,<br />
und ist die Steuerbehörde deshalb nicht über die Einkommensverhältnisse<br />
informiert, so werden diese Personen vom Steueramt<br />
eingeschätzt. Sie erhalten eine rechtskräftige Steuerrechnung<br />
für eine eigentlich nicht geschuldete Forderung. Auch hier enden<br />
die Bemühungen des Betreibungsamts mit einem Verlustschein<br />
(siehe oben) und auch hier entsteht vor allem ein kostspieliger administrativer<br />
Aufwand, der wenig bis keinen Nutzen erzeugt. Das Problem<br />
beruht auf dem Umstand, dass die Sozialdienste, Steuerämter<br />
und andere beteiligte Institutionen keine Daten austauschen. Wäre<br />
ihnen ein gesetzlich geregelter zweckgebundener Datenaustausch<br />
erlaubt, wären einfachere und effizientere Abläufe möglich. Solange<br />
der Datenschutz über der Forderung nach mehr Effizienz im System<br />
der staatlichen Leistungserbringer steht, entstehen unnötige Kosten,<br />
und es wird ein System unterhalten, mit dem letztlich nur Geld<br />
umverteilt wird. Man darf sich zu Recht fragen, wem dies nützen<br />
soll, auch wenn die Betreibungsämter durch die anfallenden Gebühren<br />
davon eher profitieren.<br />
Die Auskunftspflicht der Sozialämter gegenüber den Betreibungsämtern<br />
ist gesetzlich geregelt und in Folge dessen unproblematisch.<br />
Wir würden uns aber wünschen, dass Sozialhilfebeziehende<br />
mehr niederschwellige Unterstützung durch die<br />
Sozialämter erfahren würden (beim Ausfüllen der Steuererklärung<br />
oder im Hinblick auf Kontakte mit Betreibungsämtern und anderen<br />
Amtsstellen).<br />
Dem System fehlen positive Anreize<br />
Ist eine Sozialhilfe beziehende Person, die von der Schuldenproblematik<br />
betroffen ist, einmal soweit, dass sie sich von der Sozialhilfe<br />
lösen kann, dann steht sie mit einiger Wahrscheinlichkeit vor<br />
einem Stapel Verlustscheinen (die erst nach 20 Jahren verjähren).<br />
Anstelle der Möglichkeit, wieder einmal auf einen grünen Zweig<br />
zu kommen, wartet auf sie die Aussicht, dass der Lohn umgehend<br />
bis auf das Existenzminimum gepfändet wird. Das wirkt demotivierend.<br />
Die geltenden Bedingungen sorgen also dafür, dass jemand,<br />
der tief in der finanziellen Klemme steckt, nur wenig Chancen<br />
hat, wirtschaftlich je wieder Fuss zu fassen. Auch der<br />
mutmassliche Anreiz, eine Teilzeitbeschäftigung zu finden, um<br />
sich das Sozialgeld aufzubessern, führt nicht zum gewünschten<br />
Erfolg. Denn der Teillohn ist pfändbar, sobald der Totaleinkommensbetrag<br />
grösser ist als das betreibungsamtliche Existenzminimum.<br />
Mehr Geld steht unter diesen Bedingungen also nicht zur<br />
Verfügung. Eine Teilzeitbeschäftigung ist aber dennoch sinnvoll,<br />
weil sie eine geregelte Tagesstruktur und die Integration dieser<br />
Menschen fördert.<br />
Ein weiterer problematischer Punkt beim Ineinandergreifen<br />
der verschiedenen Aufgaben und der fachlichen Arbeit ist, dass<br />
das betreibungsrechtliche Existenzminimum und das Existenzminimum<br />
in der Sozialhilfe aufgrund unterschiedlicher Ziele,<br />
Berechnung und Handhabe schlecht «harmonieren». Gerade die<br />
Motivationsdiskussion sollte dazu führen, dass verschuldete Personen,<br />
die arbeiten, finanziell besser gestellt sind als Personen,<br />
die nicht arbeiten und ausschliesslich von der Sozialhilfe leben.<br />
Ich bin persönlich der Ansicht, dass die Ansätze der Sozialhilfe<br />
nicht gesenkt werden sollen, sondern die Grundbeträge des betreibungsamtlichen<br />
Existenzminimums erhöht werden müssten.<br />
Den volkswirtschaftlichen Unfug abstellen<br />
Es stellt sich also die grundsätzliche Frage, wie attraktiv es überhaupt<br />
ist, aus der Sozialhilfe herauszukommen, und wie eine vorliegende<br />
Verschuldung nach einer Ablösung überwunden werden<br />
kann. Bei tiefen Einkommen ist die Möglichkeit zu prüfen, einen<br />
Privatkonkurs anzustreben. Solange das spätere Einkommen tief<br />
20 ZeSo 2/14 SCHWERPUNKT
schulden und sozialhilfe<br />
Nicht die Ansätze<br />
der Sozialhilfe sollen<br />
gesenkt, sondern die<br />
Grundbeträge des<br />
betreibungsamtlichen<br />
Existenzminimums<br />
müssten erhöht<br />
werden.<br />
Die Stärkung der Gesundheit von langzeitarbeitslosen Menschen – hier<br />
am Einsatzplatz – ist ein Pionierfeld. Bild: Marco Finsterwald die Möglichkeit zu nehmen, je wieder aus dem Schuldensumpf<br />
herauszufinden. Das in Deutschland praktizierte Modell der<br />
Restentschuldung (mehrjährige Verfahrensdauer) könnte auch in<br />
der Schweiz zu mehr positiven Fallverläufen beitragen. Schuldner,<br />
die das Verfahren erfolgreich bestritten haben, erhalten eine echte<br />
Die geltenden Bestimmungen helfen Sozialhilfe beziehenden Menschen<br />
wenig, um wirtschaftlich wieder Fuss fassen zu können. Bild: Keystone<br />
bleibt, haben frühere Gläubiger wenig Chancen, ihre Forderungen<br />
geltend zu machen. Eine Job- und Lohnverbesserung wäre in nicht<br />
wenigen Fällen hingegen kontraproduktiv. Allerdings gilt es auch<br />
hier, die föderalistischen Unterschiede und Besonderheiten zu beachten:<br />
Je nach Kanton oder sogar Richter gelten andere Vermögens-<br />
und Einkommensgrenzbeträge und Vorgaben bei der Beurteilung<br />
des «neuen Vermögens» nach dem Konkurs. Hilfreich bei<br />
der Beurteilung, ob sich ein Privatkonkurs lohnt, kann der «Privatkonkurs-Test»<br />
der Caritas sein (www.caritas-schuldenberatung.ch/<br />
de/loesungen). Diese Website bietet übrigens auch einen «Existenzminimum-Test»<br />
an.<br />
Es ist ein volkswirtschaftlicher Unfug, motivierten Personen<br />
mit den beschriebenen Motivationsblockern und Restriktionen<br />
Chance, wieder zu finanziell unbelasteten Menschen zu werden<br />
und später, als normale Konsumenten, der Volkswirtschaft einen<br />
«Return-of-Investment» zurück zu geben. Der Lösungsansatz von<br />
Isaak Meier und Carlo Hamburger scheint mir richtig zu sein<br />
(«Die Entschuldung von Privathaushalten im schweizerischen<br />
Recht», SJZ 110 (<strong>2014</strong>) Nr. 4, Seite 93 ff.). Nur müsste er politisch<br />
umgesetzt werden.<br />
Vorwärtsschauend wäre es meines Erachtens unabdingbar, dass<br />
das Thema Finanzkompetenz gesamtschweizerisch in den Lehrplan<br />
integriert würde. Die Stadt Zürich hat eine Fachstelle «Schuldenprävention»<br />
eingerichtet und bietet Abschlussklassen der Oberstufe<br />
kostenlose Workshops mit Informationen, Übungen und<br />
konkreten Tipps zur Schuldenprävention an. Neben den Workshops<br />
stellen sie den Lehrpersonen auch Unterrichtsmaterial zur<br />
Verfügung und führen Elternabende zum Thema durch. •<br />
Bruno Crestani<br />
Stadtammann und Betreibungsbeamter, Zürich<br />
SCHWERPUNKT 2/14 ZeSo<br />
Schuldenberatung mit Blick auf<br />
biografische Einflüsse<br />
Die systemische Beratungsmethodik kann Menschen zu neuen Erkenntnissen über ihre Situation<br />
und insbesondere über ihre Stärken und Möglichkeiten verhelfen. Der Ansatz kann auch bei der<br />
Beratung von Sozialhilfebeziehenden im Hinblick auf den Umgang mit Schulden angewendet werden.<br />
Kaum etwas im Leben ist so kompliziert wie das Thema Geld. Geld<br />
beeinflusst unser Denken und Handeln – und ist trotzdem und<br />
immer noch etwas, über das selten offen gesprochen wird. Kein<br />
Geld zu haben, wird als grosser Makel empfunden, seine Schulden<br />
nicht zurückzahlen zu können als persönliches Versagen. Die<br />
Schuldnerberatung ist deshalb mehr als das Errechnen von Haushalts-<br />
und Zahlungsplänen, sie bedeutet intensive Beratungsarbeit<br />
mit Menschen, die in Krisen stecken.<br />
Viele Beratungsschulen gehen davon aus, dass Menschen über<br />
Kompetenzen und Ressourcen verfügen, die sie zur Lösung von<br />
Problemen benötigen, auch wenn sie diese momentan nicht nutzen<br />
können. Die systemische Beratung zeichnet sich durch ein<br />
besonderes Verständnis des Menschen und seiner sozialen Beziehungen<br />
aus. Sie geht von der Annahme aus, dass alle Dinge<br />
in ihrer Komplexität zusammenhängen. Auch in der Schuldnerberatung<br />
kann die Beratungsarbeit auf der Grundlage des systemischen<br />
Gedankens erfolgen.<br />
Menschen, die eine Schuldnerberatung aufsuchen, möchten<br />
ihr Schuldenproblem in irgendeiner Weise bewältigen. Es geht<br />
ihnen häufig schlecht. Sie fühlen sich als Versager und tragen oft<br />
eine hohe moralische Last. Oft bringen sie auch andere Probleme<br />
mit in die Beratung, eine gescheiterte Beziehung, Sorgen um ein<br />
Kind, das in der Schule nicht mehr zurecht kommt usw. Solche<br />
zusätzlichen Belastungen erschliessen sich manchmal erst auf den<br />
zweiten Blick. Und doch sind sie so dominant, dass sie die Arbeit<br />
an der Schuldenproblematik in den Hintergrund drängen.<br />
Die systemische Theorie geht davon aus, dass sich Systeme und<br />
damit die darin handelnden Menschen nicht von aussen verändern<br />
lassen, sondern dass die Veränderung nur von ihnen selber<br />
Die Rückschau<br />
auf Erlerntes und<br />
Erlebtes kann<br />
positive Erfahrungen<br />
sichtbar machen.<br />
ausgehen kann. Diese zentrale Erkenntnis hilft einem in der Beratungsarbeit,<br />
besser zu verstehen, dass man etwas anregen, aber<br />
nicht verändern kann. Jeder Mensch macht in jeder Situation das,<br />
was er in dem Augenblick für richtig hält.<br />
Die Methode des zirkulären Fragens<br />
In der Beratungsarbeit können Systeme irritiert und zu Veränderungen<br />
ermutigt werden. Dazu bedient sich die systemische Beratung<br />
verschiedener Methoden und Handwerkszeuge. Ein wichtiges<br />
Element ist das Erstinterview, mit dessen Hilfe nicht nur die<br />
Problemlage detailliert erfragt wird, sondern auch der Auftrag und<br />
die Anliegen der Klienten in den Fokus genommen werden. Mithilfe<br />
von so genannten zirkulären Fragen werden dabei auch andere<br />
Systeme aus dem Umfeld des Klienten in die Betrachtung miteinbezogen.<br />
Die Methode des zirkulären Fragens macht sich zu<br />
Nutze, dass Menschen ständig über andere nachdenken und darüber,<br />
was andere über sie denken, und was andere denken, was sie<br />
über andere denken. Sie macht auch Beziehungen und Kommunikationsmechanismen<br />
deutlich. Man könnte es «um die Ecke<br />
denken» nennen.<br />
Ein Beispiel: In einem Beratungsgespräch wird eine Klientin<br />
oder ein Klient gebeten, «Stellen Sie sich vor, Sie reden nicht mehr<br />
über Geld und Geldprobleme in Ihrer Familie», gekoppelt mit der<br />
Frage «Worüber würden Sie dann sprechen?». Die Frage impliziert,<br />
dass es noch andere Themen in der Familie gibt, die wichtig<br />
sind, dass es auch schöne Themen geben kann und dass nicht alles<br />
auf die Situation der Verschuldung reduziert werden muss. Zirkuläre<br />
Fragen machen neugierig und regen neue Sichtweisen und<br />
Denkprozesse an. Mit jeder Frage wird ein Angebot gemacht, sich<br />
auf eine andere Sicht einzulassen und das System, in dem man<br />
lebt, von einer Aussenperspektive zu betrachten.<br />
Ein anderes Beispiel: In einer Beratung merkt die Beraterin,<br />
dass Herr und Frau Z. sehr unterschiedliche Vorstellungen über die<br />
Verwaltung des Geldes haben und dass gegenseitige Schuldzuweisungen<br />
den Prozess blockieren. Die Beraterin nutzt die zirkuläre<br />
Methode, um die erlernten Rollen und Muster und damit die unterschiedlichen<br />
Erwartungen deutlich zu machen. Sie beginnt die<br />
Arbeit, indem sie Herrn Z. fragt: «Wenn Sie zurückdenken, als Sie<br />
ein Kind waren, wie sind Ihre Eltern mit Geld umgegangen? Wer<br />
hat damals das Geld verwaltet?» Heraus kommt, dass Herr Z. die<br />
Erinnerung hat, dass die Mutter das Geld verwaltet hat.<br />
Die Frage «Ist denn Ihrer Meinung nach die Geldeinteilung<br />
Frauensache?» bejaht Herr Z. ohne Zögern. Frau Z. zieht die Augenbrauen<br />
hoch, sagt jedoch nichts. Die nächste Frage «Denken<br />
Sie, dass Ihre Frau weiss, dass sie die Verantwortung für die Einteilung<br />
des Geldes hat, und was würde sie sagen, wenn ich sie<br />
22 ZeSo 2/14 SCHWERPUNKT
schulden und sozialhilfe<br />
Fragen wie jene, ob es eine «Familientradition» im Umgang mit Geld und Schulden gibt, können Verhaltensmuster in Frage stellen.<br />
Bild: Imagepoint<br />
fragen würde?» bringt Herrn Z. ins Grübeln. Seine Frau reagiert<br />
mit einem erstaunten Ausruf. Die anschliessende Frage an Frau<br />
Z. «Wissen Sie, dass Sie die Verantwortung für das Geld haben?»<br />
bringt einen konstruktiven Austausch über die unterschiedlichen<br />
Einstellungen in Gang und schafft Raum für Überlegungen, wie<br />
der Umgang mit Geld und die Verteilung der Verantwortlichkeiten<br />
zukünftig gestaltet werden könnte. Der Blick für Stärken<br />
und Ressourcen wird geöffnet.<br />
Die Ressourcenperspektive wendet den Blick der Beteiligten im<br />
Beratungsprozess von der Fixierung auf das Problem hin zu den<br />
Stärken und Potenzialen im Menschen und seiner Umwelt. Dazu<br />
kann auch gehören, neue Lösungsideen zu suchen und neue Lebensmuster<br />
zu entwickeln, wie mit den Schulden gelebt werden<br />
kann, wenn eine Rückzahlung unmöglich ist und diese den Menschen<br />
ein Leben lang begleiten werden.<br />
Positiver Blick in die Vergangenheit<br />
Sehr aufschlussreich ist auch die Arbeit mit dem Genogramm, einer<br />
piktografischen Darstellung des Familiensystems. Mit der<br />
Methode werden Familienbande und -abhängigkeiten sichtbar.<br />
In Bezug auf Geld und Schulden wird beispielsweise erkennbar,<br />
wer aus der Familie ebenfalls Schulden hat, ob es so etwas wie<br />
eine Familientradition in dieser Hinsicht gibt. Genogramme ermöglichen<br />
einen raschen Überblick über komplexe Familienstrukturen<br />
und bieten viel Potenzial für die Bildung von<br />
Hypothesen, die für die Beratungsarbeit nützlich sein können.<br />
Die Arbeit mit dem Genogramm ist für die Klienten sehr span-<br />
nend. Sie zeigen oft grosses Interesse und erkennen Zusammenhänge,<br />
die ihnen neue Handlungsideen erschliessen.<br />
Eine weitere Methode ist die biografische Arbeit, also die Rückschau<br />
auf Erlerntes und Erlebtes und auf positive Erfahrungen.<br />
Sie kann helfen, die eigenen Ressourcen oder nicht mehr präsente<br />
Kräfte und Stärken aufzuspüren und zu finden und für die weitere<br />
Arbeit zu nutzen. In Bezug auf Schulden kann die biografische<br />
Arbeit dazu genutzt werden, den Blickwinkel von der ausschliesslich<br />
negativen Sichtweise auf eine positive Seite zu richten, die es<br />
auch gegeben hat. Da wurde ein Kredit vielleicht aufgenommen,<br />
um ein letztes Mal mit den Grosseltern Urlaub zu machen, oder<br />
damit die Konfirmation der Kinder zu einem unvergesslichen Erlebnis<br />
wurde. Natürlich kann im Rahmen der Schuldnerberatung<br />
keine umfassende Biografiearbeit geleistet werden, sie kann jedoch<br />
punktuell für die Entwicklung neuer und entlastender Sichtweisen<br />
genutzt werden. Ziel einer gelungenen Beratung ist immer auch zu<br />
verhindern, dass neue Schulden gemacht werden, und zu ermöglichen,<br />
dass Familiensysteme Wege aus dem Schuldenkarussell finden.<br />
Auch hier lässt sich die systemische Arbeit gut nutzen. Bereits<br />
die Frage «Stellen Sie sich vor, Ihre Kinder würden in zehn Jahren<br />
hier sitzen und genauso viele Schulden haben wie Sie heute – Wie<br />
wäre das für Sie, was können Sie tun, um das zu verhindern?» ist<br />
eine aufrüttelnde Intervention im Sinne der Präventionsarbeit. •<br />
Ingeborg Steinmann-Berns<br />
Dipl.-Pädagogin und systemische Familientherapeutin<br />
Duisburg<br />
«Wenn die Balance nicht mehr<br />
stimmt, müssen wir handeln»<br />
Ignazio Cassis, Vizepräsident der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit,<br />
blickt im <strong>ZESO</strong>-Interview aus bürgerlichem Blickwinkel auf aktuelle sozialpolitische Fragen. Er warnt<br />
davor, die Stimmung in der Bevölkerung zu ignorieren, weil dies die Bereitschaft, gesellschaftliche<br />
Aufgaben solidarisch zu tragen, untergraben könnte.<br />
Nach der klaren Annahme der Volks.<br />
initiative «gegen Masseneinwanderung»<br />
im Kanton Tessin weiss die<br />
<strong>ganz</strong>e Schweiz, das Tessin hat ein<br />
Tieflohnproblem. Welche sozialen<br />
Probleme sind damit verbunden?<br />
Ignazio Cassis: Italien und insbesondere<br />
die Lombardei sind von einer massiven<br />
Wirtschaftskrise betroffen. Die Arbeitslosenquote<br />
bei den Jungen beträgt 30 bis 40 Prozent.<br />
Hinzu kommt, dass viele Firmen<br />
wegen der hohen Steuerbelastung und<br />
den administrativen Hürden von Italien<br />
ins Tessin gezogen sind. Dies und das für<br />
italienische Arbeitnehmer sehr günstige<br />
Steuerabkommen von 1974 haben im Tessin<br />
zu Lohndumping geführt. Einheimische<br />
Arbeitskräfte werden verdrängt und an ihrer<br />
Stelle werden italienische Arbeitskräfte zu<br />
billigeren Löhnen angestellt.<br />
Wie wirkt sich das auf die Sozialpolitik<br />
des Kantons Tessin aus?<br />
Das Problem trifft neu die Finanz- und<br />
Dienstleistungsbranche und weniger Branchen<br />
wie das Gastgewerbe, den Bausektor<br />
oder das Gesundheitswesen, in denen traditionell<br />
viele Ausländer beschäftigt sind.<br />
Eine junge Tessiner kaufmännische Angestellte<br />
findet keinen Arbeitsplatz mehr,<br />
weil an ihrer Stelle auch eine italienische<br />
Akademikerin angestellt werden kann,<br />
die, obschon sie höher qualifiziert ist,<br />
bereit ist, für 3200 Franken zu arbeiten.<br />
Die Quote der Tessiner Arbeitslosen steigt<br />
und mit ihr die Sozialkosten und der Unmut<br />
der Bevölkerung. Es handelt sich um<br />
ein internationales Wirtschaftsproblem,<br />
von dessen Auswirkungen das Tessin besonders<br />
stark betroffen ist.<br />
Hätte ein gesetzlich vorgeschriebener<br />
Mindestlohn geholfen, die Situation<br />
zu entschärfen?<br />
Nein. Ein Mindestlohn bringt uns nicht<br />
weiter, er würde nur zusätzliche Probleme<br />
schaffen. Wenn ein KMU mit Löhnen<br />
zwischen 2000 und 3000 Franken heute<br />
gerade existieren kann, dann wird es<br />
nicht plötzlich Löhne von 4000 Franken<br />
zahlen können. Wenn ein Mindestlohn<br />
eingeführt wurde, müssten viele Unternehmen<br />
schliessen. Zudem haben beim<br />
derzeitigen Lohnniveau auch wenig qualifizierte<br />
Personen noch Chancen auf eine<br />
Stelle und können so auf eigenen Beinen<br />
stehen, ohne von der Sozialhilfe abhängig<br />
zu sein. Wenn ihre Arbeitsmöglichkeiten<br />
verschwinden, entsteht ein neues Problem.<br />
Schliesslich hätte ein Mindestlohn im Tessin<br />
eine zusätzliche Sogwirkung auf die<br />
Grenzgänger.<br />
Welche anderen sozialen Themen<br />
beschäftigen die Leute im Tessin?<br />
Wir Tessiner erleben zurzeit eine schwierige<br />
Situation. Der Arbeitsmarkt steht unter<br />
Druck, die Migration wird als Bedrohung<br />
empfunden und wir fühlen uns von Bundesbern<br />
vernachlässigt. Das Vertrauen in<br />
das Establishment – Wirtschaft, Staat und<br />
Politik – ist gering. Diese soziale Unruhe<br />
wird parteipolitisch ausgenützt und isolationistische<br />
und nationalistische Züge finden<br />
Mehrheiten. Rational zu argumentieren<br />
ist heikel und unpopulär, zudem fehlt es<br />
an mutigen Politikern. Eine derart schwierige<br />
und konfuse Zeit habe ich bis anhin in<br />
meinem Kanton noch nicht erlebt.<br />
Welche Herausforderungen stellen die<br />
Flüchtlingsströme an Behörden und<br />
Bevölkerung?<br />
Vor zwei Jahren hatten wir ein Riesenproblem<br />
mit Asylbewerbern in Chiasso.<br />
Ihr Anteil an der Bevölkerung hatte ein<br />
unerträgliches Mass erreicht, und das ist<br />
Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.<br />
Mit der neuen Asylkoordination des<br />
Bundes ist nun Bewegung in die Sache<br />
gekommen, auch wenn das Problem noch<br />
nicht wirklich gelöst ist.<br />
Wie ist die Stimmung gegenüber der<br />
Sozialhilfe im Kanton Tessin?<br />
Die Sozialhilfe wird als etwas wahrgenommen,<br />
das viel mit Ausländern zu tun<br />
hat, auch weil deren Anteil unter den Sozialhilfebeziehenden<br />
rasant zugenommen<br />
hat. Gefühlsmässig zocken die Ausländer<br />
die Sozialhilfe ab. Was mir auch immer<br />
wieder zugetragen wird, ist die Wahrnehmung,<br />
dass die Sozialhilfe nicht mehr wie<br />
ursprünglich bei vorübergehenden Notlagen<br />
zur Anwendung kommt, sondern als<br />
stabile Einnahmequelle, um andere Problemsituationen<br />
aufzufangen.<br />
Wie denken Sie darüber?<br />
Wir beobachten auf der einen Seite<br />
Schweizer, die verarmen, und auf der anderen<br />
Seite eine falschverstandene Grosszügigkeit,<br />
insbesondere gegenüber «Profiteuren»<br />
und Migranten. Ein Sozialhilfebezüger mag<br />
das anders sehen. Er will mehr als nur eine<br />
Überlebenshilfe. Als Liberaler geht mir diese<br />
Haltung zu weit. Die Sozialhilfe ist nicht<br />
dafür da, den Leuten ihr normales Einkommen<br />
zu ersetzen. Hier spüre ich ein grosses<br />
Spannungsfeld.<br />
Wie beurteilen Sie die Debatte über<br />
die Sozialhilfe in den Medien und die<br />
Forderung nach Kürzungen bei der<br />
Unterstützung?<br />
Sie ist begründet und muss ernst genommen<br />
werden. Wenn es uns nicht gelingt,<br />
den Puls der Bevölkerung zu fühlen<br />
und deren Anliegen aufzunehmen, dann<br />
kommt es in unserem direktdemokratischen<br />
System zu Entscheiden mit «historischem<br />
Charakter», wie bei der Massen-<br />
24 ZeSo 2/14 interview
«Die Sozialhilfe<br />
wird als etwas<br />
wahrgenommen,<br />
das viel mit<br />
Ausländern zu<br />
tun hat.»<br />
einwanderungsinitiative vom 9. Februar.<br />
Wenn Familien sich angewöhnen, mit Sozialhilfe<br />
so zu leben wie andere Familien,<br />
die arbeiten müssen, und jene sehen, dass<br />
die anderen, die nicht arbeiten, mit dem<br />
gleichen materiellen Reichtum leben dürfen,<br />
dann stimmt etwas nicht. Die Solidarität<br />
in der Bevölkerung wird untergraben,<br />
weil das als ungerecht empfunden wird.<br />
Arbeiten muss sich immer lohnen! Unter<br />
dem Aspekt ist die Sozialhilfe reformbedürftig.<br />
Bilder: Béatrice Devènes<br />
Was wäre Ihre Lösung?<br />
Wir müssen das Problem flexibel und<br />
tabulos angehen. In der Zeit des ungebremsten<br />
Wirtschaftswachstums konnten<br />
wir die Sozialversicherungen und die Sozialhilfe<br />
ausbauen. Jetzt, wo die Perspektiven<br />
nicht mehr so gut sind, müssen wir<br />
gewisse Leistungen abbauen und auf das<br />
Gleichgewicht zwischen Einnahmen und<br />
Ausgaben achten. Das Verhältnis zwischen<br />
Nehmer und Geber darf eine gewisse Quote<br />
nicht überschreiten, sonst weigern sich<br />
die Geber, zu geben. Natürlich gehen einzelne<br />
Kürzungsforderungen zu weit, aber<br />
die Anpassung der Sozialwerke an die<br />
Konjunktur als Sozialabbau oder Verstoss<br />
gegen die Menschenrechte zu disqualifizieren<br />
ist reine Propaganda. Wenn die Balance<br />
nicht mehr stimmt, dann müssen wir<br />
verantwortungsvoll handeln, auch wenn es<br />
unpopulär ist.<br />
Die Sozialhilfe und die Gesundheitsbranche<br />
werden wegen steigender<br />
Kosten kritisiert. Wie beurteilen Sie<br />
als Präsident des neuen Krankenversicherer-Verbands<br />
Curafutura das Image<br />
der Krankenkassen, das wie bei der<br />
Sozialhilfe von einer Kostendiskussion<br />
mitbestimmt wird?<br />
Ein grosser Teil dieses Unmuts ist<br />
selbstverschuldet, etwas mehr Psychologie<br />
in Umgang mit Versicherten, Behörden<br />
und Politik hätte sicher nicht geschadet.<br />
Aber die Ressourcen sind im Gegensatz<br />
zu den Bedürfnissen der Patienten nicht<br />
unendlich. Als Arzt, ehemaliger FMH-<br />
Vizepräsident und Präsident des Verbands<br />
der Schweizer Pflegeinstitutionen, Curaviva,<br />
war ich mein Leben lang auf der Leis-<br />
<br />
interview 2/14 ZeSo<br />
25
tungserbringerseite und ich habe in jener<br />
Funktion die Kassen häufig kritisiert. Vor<br />
einem Jahr haben sich vier grosse Krankenversicherer<br />
von Santésuisse abgewendet,<br />
weil sie eine neue Politik wollen. Ich versuche<br />
als Präsident von Curafutura meinen<br />
Beitrag zur Verbesserung des Systems<br />
zu leisten.<br />
Was unternehmen Sie gegen das<br />
Imageproblem?<br />
Meine Lösung für die Imageverbesserung<br />
zielt auf mehr gesellschaftliches<br />
Engagement und eine offene Kommunikation.<br />
Ich möchte, dass die Versicherer<br />
in ihrer gesetzlichen Funktion als Treuhänder<br />
der Versicherten so auch wahrgenommen<br />
werden, und dass sie in einem<br />
konstruktiven und vertrauensvollen Klima<br />
mit den Leistungserbringern Verträge abschliessen.<br />
Die Gesellschaft sollte andererseits<br />
vermehrt den Nutzen von medizinischen<br />
Leistungen hinterfragen. Man<br />
muss den Versicherten die Wahl geben,<br />
ob sie auf gewisse «Pseudo-Fortschritte»<br />
verzichten wollen.<br />
Wie beurteilen Sie die Chancengleichheit<br />
in Bezug auf Gesundheitsleistungen<br />
in der Schweiz?<br />
Das ist kein Problem. Alle haben einen<br />
gesicherten Zugang zum Gesundheitswesen.<br />
Jenen, die für Leistungen nicht<br />
zahlen können, wird geholfen. Die Summe<br />
der Prämienverbilligungen beträgt rund<br />
4 Milliarden Franken. 30 bis 40 Prozent<br />
der Haushalte werden damit unterstützt.<br />
«Es gibt Probleme,<br />
die man dezentralisiert<br />
lösen muss.»<br />
Viele Armutsbetroffene wählen die<br />
höchste Franchise, und wenn sie<br />
ernsthaft krank werden, fehlt ihnen<br />
das nötige Geld, eine teure Behandlung<br />
finanzieren zu können. Andere<br />
landen auf schwarzen Listen der Krankenkassen.<br />
Auf schwarze Listen kommen nur<br />
diejenigen, die nicht zahlen, obschon<br />
sie zahlen könnten, die Trittbrettfahrer.<br />
Arme Menschen zahlen die Prämien<br />
nicht selbst, deshalb brauchen sie auch<br />
keine höhere Franchise zu wählen. Terre<br />
des Hommes hat vor einigen Jahren eine<br />
Studie durchgeführt und ist der Frage<br />
nachgegangen, ob es in der Schweiz indiziert<br />
sei, ähnlich wie in anderen Ländern,<br />
Ambulatorien zur Betreuung der<br />
Ärmsten einzurichten. Es zeigte sich,<br />
dass dies nicht nötig ist, weil die Leute in<br />
der Schweiz eben Zugang haben zum Gesundheitssystem,<br />
egal wie arm oder reich<br />
sie sind.<br />
26 ZeSo 2/14 interview
Was halten Sie von der Idee, Zahnarztbehandlungen<br />
in die Grundversicherung<br />
aufzunehmen, was den weniger<br />
Vermögenden entgegenkommen<br />
würde?<br />
Ich bin dagegen. Unser System funktioniert<br />
gut. Die Schweiz hat international gesehen<br />
eine sehr gute orale Gesundheit: Das<br />
gewünschte Resultat ist also erreicht. Für<br />
die Zahngesundheit von ärmeren Kindern<br />
und Jugendlichen gibt es immer noch die<br />
zahnmedizinische Unterstützung durch<br />
die Gemeinden.<br />
Es gibt ältere Menschen, die beispielsweise<br />
eine «Zahnsanierung» nötig<br />
haben und sie nicht bezahlen können.<br />
Aus meiner Zeit als Kantonsarzt kenne<br />
ich solche seltenen Fälle. Ich versuchte<br />
jeweils situativ zu entscheiden. Wenn es<br />
funktional notwendig ist, beispielsweise<br />
um normal essen zu können, dann soll die<br />
Sozialhilfe solche Beträge übernehmen.<br />
Aber klar, es stellt sich auch hier immer die<br />
Frage, wie weit man gehen will.<br />
Sie lehnen die Einführung einer Einheitskrankenkasse<br />
ab. Unter welchen<br />
Rahmenbedingungen könnte eine<br />
Einheitskrankenkasse trotzdem sinnvoll<br />
sein?<br />
Wenn unser Gesundheitssystem einmal<br />
derart schlecht wird, dass wir für eine<br />
Behandlung lieber ins Ausland gehen,<br />
dann bräuchten wir einen Systemwechsel.<br />
Wenn wir aber heute einen Systemwechsel<br />
vornehmen, ist mir die Begründung nicht<br />
<strong>ganz</strong> klar, zumal selbst die Befürworter<br />
nicht mit einer Prämienreduktion rechnen.<br />
Wir wissen, was wir haben, wir wissen aber<br />
nicht, was mit einer Einheitskasse auf uns<br />
zukommt. In Frankreich und in Österreich<br />
sehen wir eher abschreckende Beispiele. Da<br />
müssen Sie nur einmal mit den Betroffenen<br />
sprechen. Wir kennen auch keine Wartelisten<br />
in der Schweiz. Doch natürlich gibt<br />
Ignazio Cassis<br />
Ignazio Cassis (53) ist Arzt und<br />
freisinnig-liberaler Vizepräsident der<br />
nationalrätlichen Kommission für soziale<br />
Sicherheit und Gesundheit. Als Präsident<br />
der Verbände Curaviva Schweiz (Verband<br />
Heime und Institutionen Schweiz) und<br />
Curafutura («die innovativen Krankenversicherer»)<br />
sowie der Stiftung<br />
Radix vertritt er sowohl Interessen von<br />
Leistungserbringern im Gesundheitsbereich<br />
wie auch von Krankenversicherern.<br />
Ignazio Cassis war Tessiner<br />
Kantonsarzt (1996-2008) und unter<br />
anderem Präsident von Public Health<br />
Schweiz (2001-2009), Mitglied der<br />
Expertenkommission «Prävention und<br />
Gesundheitsförderung» (2005-2007)<br />
und Vizepräsident der Ärztevereinigung<br />
FMH (2008-2012). Ignazio Cassis lebt in<br />
Montagnola und ist verheiratet.<br />
es auch bei uns Verbesserungspotenzial. Im<br />
Parlament haben wir eben erst mit der Verfeinerung<br />
des Risikoausgleichs einen bahnbrechenden<br />
Entscheid getroffen. Die Krankenkassen<br />
müssen ihre Geschäftsmodelle<br />
nun grundlegend ändern, weil es sich für<br />
sie nicht mehr lohnt, möglichst viele günstige<br />
Risiken unter den Kunden zu haben.<br />
Sie profitieren in Zukunft mehr, wenn sie<br />
kostenintensive Versicherte betreuen. Fehler<br />
muss man en cours de route korrigieren,<br />
aber wir sollten nicht das <strong>ganz</strong>e bewährte<br />
System über Bord werfen.<br />
Das Tessin kennt seit vielen Jahren Ergänzungsleistungen<br />
für Familien mit<br />
tiefem Einkommen. Wie beurteilen<br />
Sie dieses Modell?<br />
Das hat sich gut bewährt. Wir hatten<br />
zuvor ein sehr fragmentiertes System, dessen<br />
Schnittstellen und die Diskussionen,<br />
wer welche Leistungen übernehmen sollte,<br />
enorm aufwändig waren. Der damalige Regierungsrat<br />
hat dann einen viel einfacheren<br />
Ansatz gewählt. Seither müssen sich unterstützte<br />
Familien nicht mehr an verschiedene<br />
Schalter wenden. Was wir mit der finanziellen<br />
Entlastung der Familien nicht erreichen<br />
konnten ist eine Steigerung der Geburtenrate...<br />
das hat leider nicht funktioniert.<br />
Aus Sicht der Sozialhilfe sind solche<br />
Modelle sinnvoll, und sie tragen erst<br />
noch zur Entlastung der Sozialhilfe<br />
bei. Können Sie sich vorstellen, dass<br />
der Freisinn solche Familien-EL-<br />
Projekte auch in anderen Kantonen<br />
unterstützen würde?<br />
Grundsätzlich schon. Die SP hat ja versucht,<br />
das Modell auf Bundesebene durchzusetzen.<br />
Da war ich dagegen, weil das einen<br />
Eingriff in den Föderalismus darstellt.<br />
Es gibt Probleme, die muss man dezentralisiert<br />
lösen, um wirksame und zweckmässige<br />
Lösungen zu finden. So funktioniert nun<br />
einmal die Schweiz. Ich könnte mir aber<br />
durchaus vorstellen, dass insbesondere in<br />
der französischsprechenden Schweiz auch<br />
der Freisinn diesem Ansatz zustimmen<br />
könnte. In der Ostschweiz mag die Lage anders<br />
sein. Die Bevölkerung glaubt dort weniger<br />
an die Allmacht des Staates und stellt<br />
den freien und verantwortlichen Menschen<br />
mehr ins Zentrum der Gesellschaft. Appenzell<br />
ist nicht gleich Genf!<br />
•<br />
Das Gespräch führte<br />
Michael Fritschi<br />
interview 2/14 ZeSo<br />
27
Neuenburg hat den Zugang zu den<br />
Sozialleistungen neu organisiert<br />
Von der Einführung von regionalen Anlaufstellen für Sozialleistungen erhofft sich der Kanton<br />
Neuenburg eine bessere Steuerung der Angebote. Von den Synergien, die durch die einheitliche<br />
Beurteilung und durch die neue Ein-Dossier-Systematk entstehen, können auch die Klientinnen und<br />
Klienten profitieren. Sie müssen die relevanten Dokumente nur noch einmal einreichen.<br />
Seit Anfang <strong>2014</strong> werden die Anträge auf<br />
Sozialleistungen im Kanton Neuenburg<br />
über acht regionale Anlaufstellen für Soziales<br />
(Guichets Sociaux Régionaux) abgewickelt.<br />
Sie triagieren die Gesuche auf der<br />
Basis eines neuen, vereinheitlichten Verfahrens<br />
und entscheiden nach der Überprüfung<br />
der familiären und finanziellen<br />
Verhältnisse des Antragstellers oder der Antragstellerin,<br />
ob ein Gesuch bewilligt wird.<br />
Die Grundlage für die Überprüfung bilden<br />
die im Rahmen der Reorganisation vereinheitlichten<br />
Referenzwerte «wirtschaftliche<br />
Haushaltseinheit» (Unité économique de<br />
référence) und «massgebendes Einkom-<br />
men» (Revenu déterminant unifié). Die Kriterien,<br />
die die Referenzwerte definieren,<br />
wurden im Zug der umfassenden Reformarbeiten<br />
von den beteiligten Akteuren gemeinsam<br />
erarbeitet und in die kantonalen<br />
Reglemente aufgenommen.<br />
Merkmale des Verfahrens<br />
Die Einwohnerinnen und Einwohner können<br />
– mit einem nun ebenfalls einheitlichen<br />
Formular – beim Guichet Social Régional,<br />
dem ihre Gemeinde angegliedert ist,<br />
Anträge auf folgende fünf Sozialleistungen<br />
stellen: Alimentenbevorschussung, berufliche<br />
Eingliederungsmassnahme, Verbilligung<br />
der Krankenversicherungsprämie,<br />
Stipendium und Sozialhilfe.<br />
Das im Rahmen der Reform «Accord»<br />
eingeführte Verfahren sieht vor, dass die<br />
regionale Anlaufstelle das Dossier eröffnet.<br />
Dieses Dossier umfasst alle Personen, die<br />
zur Haushaltseinheit der Antragstellerin<br />
oder des Antragstellers gehören und zum<br />
massgebenden Einkommen beitragen.<br />
Damit der Antrag korrekt geprüft werden<br />
kann, müssen dem Dossier alle relevanten<br />
Dokumente, Belege und Bescheinigungen<br />
beiliegen (Lohnausweis, Scheidungsurteil<br />
usw.). Sobald der Antrag vollständig ist,<br />
wird er elektronisch erfasst und an den<br />
Im Empfangsbereich des GSR Val-de-Ruz werden die Gesuche auf Sozialhilfeleistungen der Einwohnerinnen und Einwohner der Gemeinden Val-de-Ruz,<br />
Brot-Dessous und Rochefort triagiert und geprüft. <br />
Bild: zvg<br />
28 ZeSo 2/14 REGIONALE ANLAUFSTELLLEN
oder die möglichen Leistungserbringer<br />
übermittelt, die dem Antragsteller anschliessend<br />
ihren Entscheid eröffnen. Der<br />
Vorteil des neuen Ein-Dossier-Systems<br />
besteht darin, dass die Dossiers alle für<br />
die Beurteilung des Antrags notwendigen<br />
Informationen enthalten und dass die<br />
Leistungserbringer dank der elektronischen<br />
Dossierführung jederzeit Einsicht<br />
in die dem Antrag beigelegten Dokumente<br />
und Belege haben. Konkret bezweckt die<br />
Reform folgende Ziele:<br />
- Ein einziges Dossier pro Klient oder<br />
Klientin: Der Klient muss die für die<br />
Prüfung seines Antrags notwendigen<br />
Dokumente nur einmal einreichen,<br />
und pro Haushalt wird nur ein Dossier<br />
geführt, das sich an der definierten<br />
Haushaltseinheit orientiert. Mit diesem<br />
Vorgehen wird eine effizientere Abwicklung<br />
des Verfahrens angestrebt.<br />
- Einheitliche Beurteilungskriterien: Die<br />
von den Anlaufstellen gesammelten Daten<br />
umfassen sowohl Informationen zur<br />
familiären Situation (Haushaltseinheit)<br />
als auch zur finanziellen Situation (massgebendes<br />
Einkommen) des Antragstellers.<br />
Auf diese zwei Referenzwerte können<br />
sich alle Leistungserbringer bei der<br />
Beurteilung der Anträge abstützen. Dieses<br />
System bietet nicht nur mehr Transparenz,<br />
sondern es hat auch den Vorteil,<br />
dass alle Akteure über Änderungen im<br />
Dossier informiert werden.<br />
- Klarer Ablauf dank koordiniertem Verfahren:<br />
Hat die regionale Anlaufstelle<br />
einmal festgelegt, an welche Stelle<br />
oder Stellen der Antrag zu richten ist,<br />
folgt die Leistungsprüfung einem klar<br />
geregelten Ablauf. Das Dossier wird<br />
von einem Leistungserbringer an den<br />
nächsten übermittelt und die jeweiligen<br />
Dienste berücksichtigen bei der Beurteilung<br />
des Antrags die eventuell von anderen<br />
Stellen ausgerichteten Leistungen.<br />
- Umfassende Prüfung des Leistungsanspruchs:<br />
Für jeden eingereichten Antrag<br />
wird der Leistungsanspruch aller<br />
Haushaltsmitglieder, die die wirtschaftliche<br />
Haushaltseinheit des Antrags bilden,<br />
geprüft.<br />
Schalterfunktion wird weiterentwickelt<br />
Mittelfristig sollen die Guichets Sociaux<br />
Régionaux ihre Funktion weiterentwickeln<br />
und als umfassende Auskunftsschalter einem<br />
erweiterten Kreis von öffentlichen<br />
und privaten Anspruchsgruppen für Leistungen<br />
und Informationen über das Sozialwesen<br />
zur Verfügung stehen. Bis es so weit<br />
ist, dauert es zwar noch eine Weile, doch<br />
die Erfahrungen, die das Personal derzeit<br />
bei der täglichen Arbeit sammelt, sind bereits<br />
Schritte in diese Richtung.<br />
Die im Zug der Reform eingeführten<br />
Instrumente dürften längerfristig auch<br />
eine bessere Steuerung der Sozialpolitik<br />
ermöglichen. Dank einer neu entwickelten<br />
Informatikanwendung wird es künftig<br />
möglich sein, eine vertiefte Einsicht in die<br />
Interaktionen zwischen den verschiedenen<br />
Leistungserbringern zu erhalten, mögliche<br />
Lücken oder Fehlentwicklungen zu erkennen<br />
und Klientinnen und Klienten, deren<br />
bedarfsabhängige Sozialleistungen neu<br />
definiert werden müssen, besser zu begleiten.<br />
Schulung im Hinblick auf die neuen<br />
Aufgaben<br />
Mit der Schaffung der regionalen Anlaufstellen<br />
ist auch ein neuer Tätigkeitsbereich<br />
entstanden. Damit das neue Personal, das<br />
drei Monate vor Beginn der Reform eingestellt<br />
wurde, die neu definierten Aufgaben<br />
kennt und wahrnehmen kann, musste es<br />
zuerst geschult werden. Dazu durchliefen<br />
die Mitarbeitenden eine modulare Ausbildung,<br />
die sich an den Vorgaben und Eckwerten<br />
der Reform orientiert und die<br />
ihnen die neuen Instrumente, also die<br />
wirtschaftliche Haushaltseinheit, das<br />
massgebende Einkommen und das Beurteilungsverfahren<br />
sowie die neue Informatikanwendung,<br />
näherbrachte. Ferner umfasste<br />
die Ausbildung Informationen zu<br />
den am Projekt beteiligten Akteuren,<br />
einen Überblick über weitere Sozialleistungen<br />
wie jene der Arbeitslosenversicherung,<br />
eine Einführung in thematisch verwandte<br />
Rechtsgebiete (Familienrecht,<br />
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht)<br />
und ein Modul, in dem die Mitarbeitenden<br />
im Umgang mit den Klienten geschult<br />
wurden. Seit der Eröffnung der regionalen<br />
Anlaufstellen werden die Mitarbeitenden<br />
laufend aus- und weitergebildet. Ein zentraler<br />
Gegenstand der Schulungen ist das<br />
vereinheitlichte massgebende Einkommen<br />
und dessen Berechnung, ein Punkt,<br />
über den sich die Teams der Anlaufstellen<br />
und die Mitarbeitenden der Leistungserbringer<br />
regelmässig austauschen.<br />
Vielseitiges Aufgabengebiet<br />
Die geografische Aufteilung der Anlaufstellen<br />
entspricht jener der regionalen Sozialdienste.<br />
Die Anlaufstellen sind fachlich für<br />
drei Bereiche zuständig: Zum einen für die<br />
Entgegennahme der Anträge auf Sozialleistungen<br />
und für die Eröffnung der entsprechenden<br />
Dossiers. Zum andern sind ihnen<br />
die Sozialhilfe und die regionalen AHV/IV-<br />
Zweigstellen angegliedert, die seit 2009<br />
im Auftrag des Bundes über die Ausrichtung<br />
von Ergänzungsleistungen entscheiden.<br />
Die Nähe der neuen Anlaufstellen zur<br />
Sozialhilfe ist ein heikler Punkt der Reform:<br />
Einerseits sind die Abläufe bei einem<br />
Antrag auf Sozialleistungen nicht vergleichbar<br />
mit der Betreuung von Sozialhilfebeziehenden,<br />
andererseits wird auch in<br />
Neuenburg über das Ausmass der Ausgaben<br />
diskutiert, die die materielle Sozialhilfe<br />
angenommen hat. Umso wichtiger ist es,<br />
dass die regionalen Anlaufstellen keine<br />
«Sogwirkung» haben. Das Projektteam beobachtet<br />
die Situation aus nächster Nähe.<br />
Derzeit ist es allerdings noch zu früh, um<br />
Lehren ziehen zu können.<br />
Die Eröffnung der regionalen Anlaufstellen<br />
folgt auf einen langen Prozess der<br />
Konsensfindung. Dem Kanton und den<br />
Gemeinden ist es gelungen, in einem<br />
konstruktiven Dialog auf ein gemeinsames<br />
Ziel hinzuarbeiten. Nun gilt es,<br />
die Früchte dieser Arbeit zu ernten und<br />
gleichzeitig die eingeführten Prozesse<br />
laufend zu optimieren.<br />
•<br />
Laurent Duding<br />
Collaborateur scientifique<br />
Service de l‘action sociale, Neuchâtel<br />
REGIONALE ANLAUFSTELLLEN 2/14 ZeSo<br />
29
«Eine Pfanne ist eine grosse Kiste,<br />
zum Essen kochen»<br />
Bessere Verständigung am Arbeitsplatz und im Alltag, bessere Integration: Diese Ziele verfolgen die<br />
Kurse «Deutsch auf der Baustelle», die Gewerkschaften und der Schweizerische Baumeisterverband<br />
gemeinsam anbieten. Ein Besuch im Schulzimmer.<br />
Stadion – dick – Baugerüst – Brücke – Polizei<br />
– Plastik – Eisen: Diese Wörter hat Rosario<br />
letzten Samstag auf das A3-Blatt geschrieben,<br />
das jeweils an der Wand des Kursraums<br />
hängt. Er ist 33, stammt aus Italien,<br />
seit einem Jahr und fünf Monaten ist er in<br />
der Schweiz. Nun sitzt er in einem der<br />
Kursräume der Stiftung Ecap in Basel, die<br />
auf Erwachsenenbildung spezialisiert ist<br />
und diverse Deutschkurse für Leute mit<br />
Migrationshintergrund anbietet.<br />
Rosario besucht den Kurs «Deutsch auf<br />
der Baustelle». Vor ihm liegen ein Ordner<br />
mit den Kursunterlagen, ein Vokabelheft,<br />
ein Bleistift und ein Radiergummi sowie<br />
ein Langenscheidt-Wörterbuch Italienisch-<br />
Deutsch. An den in U-Form aneinandergereihten<br />
Pulten sitzen auch Fernando,<br />
Sergio, Sebastian und José, Giuseppe,<br />
Nicola, Martín und Vitor. Sie stammen aus<br />
Italien, Spanien und Portugal und sind an<br />
diesem sonnigen Samstagmorgen hergekommen,<br />
um mit Kursleiter Christian an<br />
ihrem Deutsch zu arbeiten.<br />
Es ist kurz nach neun Uhr und es gilt,<br />
die letzte Woche notierten Wörter in einen<br />
Lückentext einzufügen. «Er hat gestern<br />
das <strong>ganz</strong>e Baugerüst geputzt», liest Rosario<br />
vor. «Möchte jemand schreiben?», fragt<br />
Kursleiter Christian. Hier im Kurs duzen<br />
sich alle. «Ich», sagt Martín und geht zum<br />
Whiteboard. «Vor dem Stadion kontrolliert<br />
die Polizei die Fussballfans», fährt Rosario<br />
fort. «Mein Freund, du solltest nicht so viel<br />
essen, du bist ein wenig dick geworden.»<br />
Martín schreibt mit: Baugerüst, Stadion,<br />
Polizei, dick, Brücke, Eisen, Plastik. Als seine<br />
eigenen Wörter an die Reihe kommen,<br />
kehrt er an den Platz zurück und liest: «In<br />
der Küche neben dem Kühlschrank hat es<br />
eine Steckdose». «Entschuldigung, was ist<br />
Steckdose?», fragt Giuseppe. «Enchufe» –<br />
«Bitte auf Deutsch» – «Weisst du, Strom»,<br />
sagt Martín und zeigt auf die Steckdose an<br />
der Wand direkt hinter sich. «Guet», sagt<br />
Giuseppe und beugt sich wieder über sein<br />
Blatt. Auch weitere Begriffe erklären die<br />
Kursteilnehmer einander gegenseitig. Wo<br />
nötig hilft Kursleiter Christian mit – und<br />
passt auf, dass niemand in die Muttersprache<br />
wechselt. So erklärt etwa Nicola:<br />
«Eine Pfanne ist eine grosse Kiste, zum Essen<br />
kochen.» «Kiste», notiert Martín in sein<br />
Vokabelheft.<br />
Schwerpunkt Verstehen und Sprechen<br />
«Die meisten ausländischen Bauarbeiter<br />
können sich auf der Baustelle gut verständigen»,<br />
sagt Heinrich Bütikofer, Vizedirektor<br />
des Schweizerischen Baumeisterverbandes<br />
(SBV). Er ist zuständig für das Projekt<br />
«Deutsch auf der Baustelle», das der SBV<br />
gemeinsam mit den Gewerkschaften Unia<br />
und Synia initiiert hat. «Deutschkurse für<br />
Bauarbeiter gibt es in der Schweiz schon<br />
seit mehr als zwanzig Jahren», sagt er. Ziel<br />
der neuen Kurse sei aber mehr als bloss die<br />
bessere Verständigung auf der Baustelle<br />
selbst. Ausländische Bauarbeiter sollen sich<br />
auch in Alltagssituationen zurechtfinden<br />
und sich so besser integrieren können. Der<br />
Unbekannte Begriffe erklären die Kursteilnehmer einander gegenseitig.<br />
Fokus der Kurse liegt nicht auf Grammatik<br />
und Schreiben, sondern darauf, Deutsch<br />
verstehen und sprechen zu können.<br />
Kursleiter Christian hat unterdessen<br />
blaue Blätter verteilt, auf jedem ein<br />
Name: Müller, Mühler, Muller, Muhler,<br />
Moller, Mohler, Möller, Möhler, Miller<br />
und Mieler. «Wo ist Herr Muller?», fragt er.<br />
Mehrere Teilnehmer heben ihr Blatt in<br />
die Höhe. «Es gibt nur einen. Es ist Muller,<br />
mit kurzem u. Nicht Muuuuhler. Auch<br />
nicht Müller. Es ist Muller. Sind Sie Herr<br />
Muller?» – «Ja, ich bin Herr Muller» – «Ah,<br />
guten Tag Herr Muller» – «Guten Tag<br />
Christian». Giuseppe lacht. Nachdem sich<br />
alle vorgestellt haben, werden die Namen<br />
repetiert. «Müüühler» spricht Christian<br />
vor. «Muler» spricht jemand nach. «Es<br />
heisst: Müüühler. Müüühler.» – «Müüühler».<br />
Einer nach dem anderen muss die<br />
Namen korrekt nachsprechen.<br />
«Mein Leben ist jetzt in der Schweiz»,<br />
sagt Vitor in der Pause auf die Frage, weshalb<br />
er den Kurs besucht: Er will lernen,<br />
gut Deutsch zu sprechen. Das sei wichtig<br />
bei der Arbeit, aber auch in der Freizeit,<br />
30 ZeSo 2/14 reportage
Die ausländischen Bauarbeiter üben im Kurs, sich am Arbeitsplatz und in Alltagssituationen besser verständigen zu können. <br />
Bilder: Roland Schmid<br />
beispielsweise um neue Freunde zu finden.<br />
Auch Nicola und Giuseppe wollen<br />
mit Schweizern sprechen können, hier<br />
neue Leute kennen lernen, die Kultur besser<br />
verstehen. Sergio und Fernando ergänzen,<br />
wie wichtig Deutsch ist, wenn sie hier<br />
beispielsweise zum Arzt müssen oder sonst<br />
ein Problem haben. Martín will nicht nur<br />
besser sprechen: «Ich will auch lesen und<br />
schreiben lernen».<br />
Lehren aus der Pilotphase<br />
Die ersten Kurse «Deutsch auf der Baustelle»<br />
fanden im Winter 2012/13 statt. Im<br />
Auftrag von SBV und Gewerkschaften hatte<br />
Ecap Kursunterlagen nach dem praxisorientierten<br />
Sprachlernsystem «fide» (für<br />
Französisch, Italienisch, Deutsch) erstellt<br />
und drei Pilotkurse konzipiert, in Basel in<br />
Zusammenarbeit mit der Bauunternehmung<br />
Implenia, in Bern mit der Ramseier<br />
AG und in St. Gallen und Frauenfeld mit<br />
der Stutz AG. Die Kurse fanden in Containern<br />
direkt auf den Baustellen statt und<br />
wurden von rund 60 Arbeitern besucht. In<br />
Basel fanden sie jeweils nach Feierabend<br />
statt, in Bern am Morgen vor und während<br />
der Arbeitszeit, in der Ostschweiz am Samstagmorgen.<br />
«Letzteres hat sich bewährt»,<br />
fasst Bütikofer die Auswertung der Pilotphase<br />
zusammen. Im Abendkurs waren die<br />
Kursteilnehmer zu müde und nicht mehr<br />
aufnahmefähig. Am Morgen lernten die<br />
Bauarbeiter zwar gut, fehlten aber auf der<br />
Baustelle. «Wenn wichtige Fachleute wie etwa<br />
ein Kranführer im Deutschkurs sitzen,<br />
kann das die <strong>ganz</strong>e Arbeit blockieren», so<br />
Bütikofer. Deshalb orientieren sich die<br />
Sprachkurse, die seit Herbst 2013 in der<br />
<strong>ganz</strong>en Schweiz angeboten werden, am<br />
Modell Samstagmorgen. Wer den Kurs, der<br />
in der Freizeit stattfindet, regelmässig besucht<br />
und einen Abschlusstest besteht, erhält<br />
eine Lohnprämie von 750 Franken.<br />
Die Kurse sind laut Bütikofer ein grosser<br />
Erfolg. «Mehrere Kursteilnehmer sind so<br />
begeistert, dass sie auch Familienmitglieder<br />
mitnehmen wollen», sagt er. Was natürlich<br />
nicht möglich ist: Die Kurse werden<br />
finanziert vom Parifonds Bau, in den Bauunternehmer<br />
und Bauarbeiter einzahlen.<br />
Nur wer im Bauhauptgewebe arbeitet oder<br />
gearbeitet hat und somit Beiträge entrichtet<br />
hat, darf teilnehmen.<br />
Nach der Pause befragen sich die Kursteilnehmer<br />
gegenseitig, was sie in der letzten<br />
Woche gemacht haben und halten es<br />
schriftlich fest. Sergio hat eine Decke geschalt,<br />
José einen Platz gepflastert, Martín<br />
eine Treppe montiert. Vitor hat einen Stahlträger<br />
montiert, Giuseppe einen Schacht gesetzt<br />
und Rohre verlegt, Nicola Dachpappe<br />
geschweisst. Rosario hat Milch für seine beiden<br />
Kinder gekauft, Fernando einen Schoko-<br />
Osterhasen für seine Kinder in Portugal.<br />
Während den letzten Übungen stehen einige<br />
auf und notieren auf dem A3-Blatt an der<br />
Wand die Wörter, die sie bis zum nächsten<br />
Samstag lernen wollen. Brille – Schrank –<br />
Kiste – Heft – Fenster – Schuhe – Licht hat<br />
Martín notiert. Die neuen Wörter von Rosario<br />
lauten: Verputz – feucht – Helm – gründen<br />
– Geschäft – Minister.<br />
•<br />
Martina Huber<br />
reportage 2/14 ZeSo<br />
31
Für die Anliegen von Menschen mit<br />
Behinderung sensibilisieren<br />
Agile.ch ist der Dachverband der Behinderten-Selbsthilfeorganisationen in der Schweiz. Er vertritt die<br />
Interessen von 42 Mitgliedorganisationen und will dem Vorurteil entgegenwirken, dass Menschen mit<br />
Behinderung nicht beweglich seien.<br />
In der Schweiz leben mehr als 1,4 Millionen<br />
Menschen mit Behinderungen. Die<br />
Zahl der verschiedenen Arten von Beeinträchtigungen<br />
ist gross. Generell lassen<br />
sich vier Gruppen unterscheiden: körperliche,<br />
sensorielle, die das Sehen und Hören<br />
betreffen, geistige und psychische Behinderungen.<br />
Trotz der Unterschiede haben<br />
die Betroffenen gemeinsame Interessen<br />
und Probleme. Diese Interessen vertreten<br />
zahlreiche Verbände und Organisationen<br />
verschiedener Grösse. Dabei wird zwischen<br />
Fachhilfe und Selbsthilfe unterschieden.<br />
Das Merkmal von Selbsthilfeorganisationen<br />
ist, dass sie von Menschen geführt<br />
werden, die selbst von einer Behinderung<br />
betroffen sind. Eine solche Selbsthilfeorganisation<br />
ist Agile.ch.<br />
Als Dachverband vertritt Agile.ch die<br />
Interessen von 42 Behindertenorganisationen<br />
mit dem Zweck, als gemeinsame<br />
Stimme in der nationalen Behindertenpolitik<br />
wahrgenommen zu werden. Der<br />
Verband wurde 1951 als Askio (Arbeitsgemeinschaft<br />
Schweizerischer Krankenund<br />
Invaliden-Selbsthilfeorganisationen)<br />
gegründet und später in Agile umbenannt.<br />
Agile bedeutet in zahlreichen Sprachen<br />
beweglich, geistig rege und flink. Genau<br />
das will der Dachverband sein und unter<br />
anderem dem Vorurteil entgegenwirken,<br />
dass Menschen mit Behinderung nicht beweglich<br />
seien. Die Mitgliedorganisationen<br />
repräsentieren Menschen aller Behinderungsgruppen<br />
und ihre Angehörigen.<br />
Durch seine behinderungsübergreifende<br />
PLATTFORM<br />
Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />
diese Seite als Plattform an. In dieser Ausgabe<br />
dem Dachverband der Behinderten-Selbsthilfeorganisationen.<br />
Mitarbeitende des Zentralsekretariats von Agile.ch. <br />
Tätigkeit trägt der Dachverband auch zum<br />
gegenseitigen Verständnis und zur Solidarität<br />
zwischen den verschiedenen Behinderungsgruppen<br />
bei.<br />
Dachverband als politische Kraft<br />
Agile.ch setzt sich für die Inklusion, Gleichstellung<br />
und Existenzsicherung von Menschen<br />
mit Behinderung ein. Sie sollen<br />
rechtlich und tatsächlich gleichgestellt sein<br />
mit Nicht-Behinderten, ihr Leben selber<br />
bestimmen können und Teil unserer Gesellschaft<br />
sein. Der Verband vertritt diese<br />
Interessen gegenüber Politik, Verwaltung,<br />
Wirtschaft und Öffentlichkeit. Dass Agile.ch<br />
sich als politische Kraft versteht, kommt<br />
auch im selbstbewussten Motto «Wir bestimmen<br />
mit!» zum Ausdruck.<br />
Als Dachverband befasst sich Agile.ch<br />
mit den Themen Sozialversicherungen,<br />
Erwerbsarbeit, berufliche Integration, Bildung<br />
und Verkehr sowie allgemein mit der<br />
Sozial- und Finanzpolitik. Konkret heisst<br />
das, dass der Verband beispielsweise in<br />
der Eidgenössischen AHV-/IV-Kommission<br />
mitarbeitet, an Vernehmlassungen<br />
zu Gesetzesentwürfen und Anhörungen<br />
teilnimmt und auch im National- und<br />
Ständerat lobbyiert. Weiter engagiert sich<br />
Agile.ch für einen barrierefreien öffentlichen<br />
Verkehr (BöV), indem sie die Fachstelle<br />
BöV mitfinanziert. Zudem ist sie<br />
Initiantin und Trägerin des Gleichstellungsrats<br />
Égalité Handicap. Und schliesslich<br />
steht Agile.ch Ratsuchenden als Informationsdrehscheibe<br />
zur Verfügung.<br />
Entsprechend wichtig ist auch die<br />
Medien- und Öffentlichkeitsarbeit. Der<br />
Dachverband organisiert regelmässig Veranstaltungen<br />
zu aktuellen behindertenpolitischen<br />
Fragen, wie etwa den Gleichstellungstag,<br />
der jeweils im Herbst stattfindet,<br />
und gibt viermal im Jahr die Zeitschrift<br />
«agile – Behinderung und Politik» heraus,<br />
sowie einen Newsletter, der rund 6000<br />
Abonnenten und Abonnentinnen erreicht.<br />
Die Website des Verbands hat in den letzten<br />
beiden Jahren eine steigende Nutzung<br />
32 ZeSo 2/14 plattform
Dachverband der Behinderten-<br />
Selbsthilfeorganisationen<br />
Der Dachverband Agile.ch vertritt seit mehr als 60 Jahren die<br />
Interessen von Menschen mit Behinderung gegenüber Politik,<br />
Verwaltung, Wirtschaft und Öffentlichkeit.<br />
Die 42 Mitgliedorganisationen repräsentieren Menschen aller<br />
Behinderungsgruppen und ihre Angehörigen. Sie werden –<br />
wie Agile.ch selbst – im Wesentlichen von Betroffenen selbst<br />
geführt.<br />
erfahren. Eine Präsentationsmappe, die<br />
verschiedene Flyer über Agile.ch selbst<br />
und über diverse sachbezogene Themen<br />
enthält, wird für Lobbying und Öffentlichkeitsarbeit<br />
genutzt.<br />
Mitarbeitende sind Betroffene<br />
Agile.ch wird nach dem Grundsatz der Verbandsdemokratie<br />
geführt. Oberstes Organ<br />
ist die Delegiertenversammlung, die politische<br />
und strategische Führung liegt beim<br />
Vorstand. Sowohl der Präsident als auch<br />
die Vorstandsmitglieder sind von einer Behinderung<br />
oder einer chronischen Krankheit<br />
betroffen. Für die praktische Umsetzung<br />
der verbandspolitischen Beschlüsse<br />
ist das Zentralsekretariat zuständig. Es befindet<br />
sich in Bern und beschäftigt zurzeit<br />
neun Mitarbeitende in 5,5 Vollzeitstellen.<br />
Auch hier sind die Mitarbeitenden Betroffene.<br />
Finanziert wird der Verband über vier<br />
Quellen: Etwa zwei Drittel der jährlich<br />
rund 1,2 Millionen Franken Einnahmen<br />
Bilder:zvg<br />
stammen aus einem Leistungsvertrag mit<br />
dem Bundesamt für Sozialversicherungen.<br />
Hinzu kommen die Mitgliederbeiträge der<br />
Aktiv- und Solidarmitglieder und Einnahmen<br />
aus Dienstleistungen. Als gemeinnütziger<br />
Verein ist Agile.ch aber auch auf<br />
Spenden angewiesen. Die aktiven Spenderinnen<br />
und Spender unterstützen den<br />
Verband mit rund 200 000 Franken pro<br />
Jahr. Sie zeigen damit ihre Solidarität mit<br />
Menschen mit Behinderung.<br />
Viele Ideen, wenig Mittel<br />
Ein aktuelles Vorhaben von Agile.ch ist die<br />
Publikation einer Broschüre zum Thema<br />
Sprachgebrauch. Es ist immer noch nicht<br />
überall selbstverständlich, Menschen mit<br />
Behinderung sprachlich nicht zu diskriminieren.<br />
Die Broschüre soll in politischen<br />
Gremien und öffentlichen Verwaltungen,<br />
bei den Medien und in der Öffentlichkeit<br />
gestreut werden. Noch ist allerdings fraglich,<br />
ob und wie die Entwicklungs- und<br />
Produktionskosten von rund 20 000 Franken<br />
gedeckt werden können. Eine weitere<br />
geplante Broschüre soll sich an Ärztinnen<br />
und Ärzte sowie an Zahnärztinnen und<br />
Zahnärzte richten. Zahlreiche Praxen in<br />
der Schweiz sind nicht behindertengerecht<br />
gebaut und nicht barrierefrei ausgestattet.<br />
Oft könnte mit wenig Aufwand viel erreicht<br />
werden. Was genau möglich ist und wie<br />
das umzusetzen wäre, dazu soll die Broschüre<br />
Tipps und Hinweise geben. Ziel ist,<br />
sie allen Berufsangehörigen, die Mitglied<br />
beim jeweiligen Berufsverband sind, zukommen<br />
zu lassen. Weil auch hierfür die<br />
zur Verfügung stehenden Mittel beschränkt<br />
sind, hofft Agile.ch, für diese Projekte Sponsoringpartnerschaften<br />
eingehen zu können.<br />
Gerade im Bereich Sensibilisierung für die<br />
Anliegen und Probleme von Menschen mit<br />
Behinderung bestehen grosse Potenziale,<br />
die gemeinsam angepackt und entwickelt<br />
werden könnten.<br />
•<br />
Suzanne Auer<br />
Zentralsekretärin Agile.ch<br />
plattform 2/14 ZeSo<br />
33
Lesetipps<br />
Behinderung und<br />
Arbeit<br />
Bildungschancen<br />
nach Migration<br />
Soziale<br />
Erschöpfung<br />
Sozialversicherungen<br />
in der Schweiz<br />
Wie können Menschen mit einer<br />
Behinderung in den Arbeitsmarkt<br />
integriert werden? Diese Frage<br />
ist mit der Annahme der 5. und<br />
6. IVG-Revision aktueller denn je.<br />
Die Behindertenselbsthilfe beider<br />
Basel (IVB) hat einen Überblick<br />
zum Thema zusammengestellt. Das<br />
Buch beinhaltet Informationen zu<br />
Behinderungsformen, zur Planung<br />
von Eingliederungen sowie zu Anreizen<br />
und Unterstützungsleistungen.<br />
Weiter werden Fragen zu hindernisfreiem<br />
Bauen und angepassten<br />
Arbeitsplätzen diskutiert. Ergänzt<br />
wird der Band mit verschiedenen<br />
Checklisten, Hilfsmitteln, nützlichen<br />
Adressen und Hinweisen auf<br />
weiterführende Literatur. Damit<br />
eignet sich das Handbuch auch als<br />
Arbeitsinstrument für die Praxis. Es<br />
richtet sich sowohl an Mitarbeitende<br />
im Beratungs- und Sozialbereich wie<br />
auch an Arbeitgeber und betroffene<br />
Personen.<br />
Das deutsche Bildungssystem<br />
schafft es nicht, ungleiche Startbedingungen<br />
ausreichend abzubauen.<br />
Bei Migrantinnen und Migranten verstärken<br />
sich soziale und migrationsspezifische<br />
Faktoren während der<br />
Schulzeit sogar noch. Sie führen oft<br />
zu geringeren Bildungserfolgen, die<br />
sich anschliessend negativ auf die<br />
Chancen der Jugendlichen auf dem<br />
Arbeitsmarkt auswirken. Bildungsanbieter<br />
stehen vor der Aufgabe,<br />
den Handlungsbedarf zu erkennen<br />
und in praktisches und wirksames<br />
Handeln umzusetzen. Das Buch<br />
«Zukunftschancen» fasst den Stand<br />
der Bildungs- und Jugendforschung<br />
zum Thema zusammen. Zudem gibt<br />
das Buch einen Einblick in die aktuelle<br />
Förderung von Jugendlichen mit<br />
Migrationshintergrund, indem die<br />
Theorie mit konkreten Ergebnissen<br />
und Erfahrungen aus der praktischen<br />
Jugendarbeit ergänzt wird.<br />
Seit Jahren ist eine Zunahme und<br />
Verfestigung sozialer Ungleichheit erkennbar.<br />
Wachsende soziale Verunsicherung,<br />
ökonomische Zumutungen<br />
und Benachteiligungen verstärken<br />
in Teilen der Gesellschaft Armut und<br />
Ausgrenzung. Diese Prozesse sind<br />
von Arbeits- und Einkommensverlusten<br />
geprägt und verdichten sich<br />
bei prekärer Beschäftigung. Sie<br />
verursachen Ängste, weiter abzusteigen,<br />
und führen bei vielen Menschen<br />
zu einem Verharren in der Armut, da<br />
Perspektiven des Aufstiegs für sie<br />
kaum mehr erkennbar sind. Diese<br />
dauerhafte Armut wird zunehmend<br />
als normal begriffen und stellt immer<br />
weniger einen sozialpolitischen<br />
Skandal dar. Der Zustand der «sozialen<br />
Erschöpfung» wird zu einem<br />
Kennzeichen einer sich immer weiter<br />
spaltenden Gesellschaft und schlägt<br />
sich in gesellschaftlichen Strukturen<br />
und Handlungsmustern nieder.<br />
Die Sozialversicherungen der<br />
Schweiz sind historisch und unterschiedlich<br />
gewachsen. Seit den<br />
ersten vier Auflagen dieses Buches<br />
haben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen<br />
weiter verändert.<br />
Einzelne Zweige der Sozialversicherung<br />
sind tiefgreifend revidiert<br />
worden, beispielsweise das IVG<br />
(Teil a der 6. IVG-Revision). Das vorliegende<br />
Buch nimmt die neuesten<br />
Änderungen auf und legt mit einem<br />
ereignisorientierten Ansatz die<br />
verschiedenen rechtlichen Bestimmungen<br />
dar. Ergänzt wird das Buch<br />
mit Fallbeispielen aus dem Leben<br />
einer unselbstständig erwerbstätigen<br />
Person. Das Handbuch richtet<br />
sich an Mitarbeitende bei Sozialversicherungen,<br />
Verantwortliche im<br />
Personalbereich, Juristinnen und<br />
Juristen sowie auch an betroffene<br />
Personen.<br />
Hansjürg Minder, ABC Arbeit und<br />
Behinderung, neue, ergänzte Auflage,<br />
Behindertenselbsthilfe beider Basel, <strong>2014</strong>,<br />
240 Seiten, CHF 38.–<br />
Zu beziehen bei ivb@ivb.ch<br />
Jürgen Capelle (Hrsg.), Zukunftschancen.<br />
Ausbildungsbeteiligung und -förderung<br />
von Jugendlichen mit Migrationshintergrund,<br />
Springer, <strong>2014</strong>, 225 Seiten,<br />
CHF 30.–<br />
ISBN 978-3-658-03174-9<br />
Ronald Lutz, Soziale Erschöpfung,<br />
Kulturelle Kontexte sozialer Ungleichheit,<br />
Juventa, <strong>2014</strong>, 155 Seiten, CHF 22.–<br />
ISBN 978-3-7799-2723-5<br />
Kurt Häcki, Sozialversicherungen in der<br />
Schweiz, 5., aktualisierte Auflage,<br />
Rüegger, <strong>2014</strong>, 366 Seiten, CHF 54.–<br />
ISBN 978-3-7253-1015-9<br />
34 ZeSo 2/14 service
Hundert Jahre<br />
Frauenzentrale<br />
Seit einem Jahrhundert setzt sich die<br />
Frauenzentrale Zürich für Anliegen<br />
von Frauen ein. Ihre politischen Ziele<br />
reichten von der Einführung des<br />
obligatorischen Hauswirtschaftsunterrichts<br />
bis zum Kampf um das<br />
Frauenstimmrecht. Zum Jubiläum hat<br />
der Verein ein Buch herausgegeben,<br />
das Einblick in die eigene Geschichte<br />
gibt und sie im Kontext der bürgerlichen<br />
Frauenbewegung verortet.<br />
Zunächst als Zusammenschluss<br />
bestehender Frauenorganisationen<br />
geschaffen, um während des Ersten<br />
Weltkrieges Nothilfe zu leisten,<br />
konstituierte sich die Frauenzentrale<br />
1916 als ein auf Dauer angelegter<br />
Verein. Ab 1940 entwickelte sich die<br />
Frauenzentrale mehr und mehr zu<br />
einem kantonalen Dachverband für<br />
Frauenorganisationen, die sich im<br />
sozialen Bereich engagierten. Die<br />
Frauen organisierten Krisenhilfe,<br />
gründeten Institutionen und entwickelten<br />
Beratungsangebote.<br />
Brigitte Ruckstuhl, Elisabeth Ryter,<br />
Beraten – bewegen – bewirken, Zürcher<br />
Frauenzentrale 1914-<strong>2014</strong>, Chronos, <strong>2014</strong>,<br />
256 Seiten, CHF 38.–<br />
ISBN 978-3-0340-1232-4<br />
Praxis des<br />
Eheschutzes<br />
Welche juristischen Fragen und<br />
Probleme stellen sich, wenn ein<br />
gemeinsamer Haushalt aufgehoben<br />
wird? Das Handbuch bietet dazu<br />
einen praxisnahen Überblick. Es<br />
beinhaltet Informationen zum Eheschutzverfahren,<br />
zu gerichtlichen<br />
Massnahmen bei der Aufhebung des<br />
gemeinsamen Haushalts oder zu<br />
Ehegattenunterhaltsbeiträgen. Weiter<br />
werden Themen wie Inkassohilfe,<br />
Bevorschussung und die internationale<br />
Vollstreckung von Unterhaltsansprüchen<br />
behandelt. Berücksichtigt<br />
wird auch die kantonale Gerichtspraxis,<br />
die in Eheschutzverfahren<br />
von grosser Bedeutung ist. Die<br />
aktualisierte Neuauflage des Buchs<br />
befasst sich insbesondere mit der<br />
am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen<br />
Schweizerischen Zivilprozessordnung<br />
und geht auch auf die<br />
Sorgerechtsnovelle ein, die am 1. Juli<br />
<strong>2014</strong> in Kraft tritt.<br />
Jann Six, Eheschutz, ein Handbuch für die<br />
Praxis, 2. Auflage, Editions Weblaw, <strong>2014</strong>,<br />
250 Seiten, CHF 89.–<br />
ISBN 978-3-906230-10-8<br />
veranstaltungen<br />
Europäische Konferenz<br />
des Sozialwesens<br />
Wie können in Zeiten, in denen vielerorts die öffentlichen Etats<br />
gekürzt werden, das Sozialwesen und die damit zusammenhängenden<br />
Bereiche wie das Gesundheits-, Bildungs-, und<br />
Wohnungswesen nachhaltig gestaltet werden? Und wie können<br />
die öffentlichen Gelder, die Infrastruktur und das Humankapital<br />
optimal genutzt werden? Diese Fragen werden an der<br />
Europäischen Konferenz des Sozialwesens in Rom diskutiert.<br />
Die Tagung bietet zudem die Gelegenheit zu erfahren, welche<br />
Probleme in den verschiedenen europäischen Ländern zurzeit<br />
aktuell sind. SKOS-Mitglieder profitieren von ermässigten<br />
Teilnahmegebühren.<br />
European Social Services Conference<br />
Montag, 7. Juli bis Mittwoch, 9. Juli <strong>2014</strong>, Rom<br />
www.esn-conference.org<br />
Markt und Sozialstaat<br />
Soziale Marktwirtschaft heisst, dass der Markt durch sozial<br />
begründete und staatlich verankerte Rahmenbedingungen<br />
eingeschränkt ist. Gibt es aber auch einen Markt innerhalb der<br />
sozialen Sicherheit? Können Marktelemente wie Wettbewerb<br />
die soziale Sicherheit besser, schneller oder effizienter machen?<br />
Die Schweizerische Vereinigung für Sozialpolitik (SVSP) geht an<br />
ihrer Jahrestagung diesen grundsätzlichen Fragen nach. In<br />
Referaten und Workshops werden die Zusammenhänge<br />
zwischen Markt und Sozialstaat beleuchtet und in Bezug zu<br />
aktuellen sozialpolitischen Entwicklungen gestellt.<br />
SVSP-Tagung<br />
Donnerstag, 18. September <strong>2014</strong>, Hotel Bern, Bern<br />
www.svsp.ch<br />
Rechtsprechung in der Sozialhilfe<br />
Für die Sozialhilfe sind die föderalistische Organisation und<br />
das rechtliche Ermessen beim Festlegen von Leistungsansprüchen<br />
grundlegend. Gleichzeitig gilt es, die verfassungs- und<br />
verfahrensmässigen Prinzipien des Verwaltungsrechts zu<br />
beachten. Die Luzerner Tagung zum Sozialhilferecht verschafft<br />
eine Übersicht über den Inhalt und die Entwicklungslinien der<br />
Rechtsprechung in der Sozialhilfe. Der Fokus liegt sowohl auf<br />
den Grundentscheidungen des Bundesgerichts als auch auf<br />
wesentlichen Urteilen kantonaler Ober- und Verwaltungsgerichte.<br />
Die Tagung richtet sich an Fachpersonen aus Sozialämtern<br />
und Beratungsstellen, Juristinnen und Juristen sowie<br />
an Behördenmitglieder, die sich mit der Ausgestaltung von<br />
Auflagen und Weisungen für Klientinnen und Klienten auseinandersetzen.<br />
Luzerner Tagung zum Sozialhilferecht<br />
Donnerstag, 23. Oktober <strong>2014</strong>, Hochschule Luzern – Soziale Arbeit<br />
www.hslu.ch/fachtagung-sozialhilferecht<br />
service 2/14 ZeSo<br />
35
George Angehrn, Betriebsleiter des Ur-Dörflis: «Die Hauptarbeit besorgen meine Mitarbeitenden.»<br />
Bild: Ursula Markus<br />
Der Fünf-Sterne-Koch<br />
Fünfundzwanzig Jahre lang kochte George Angehrn im Grandhotel Dolder in Zürich für die oberen<br />
Zehntausend. Heute leitet er das Ur-Dörfli, eine Suchthilfeeinrichtung der Stiftung Sozialwerke Pfarrer<br />
Ernst Sieber. Er sei hier bloss Cheerleader, sagt er.<br />
Ein athletisch gebauter Mann wartet vor<br />
dem Hotel Bahnhof im zürcherischen Pfäffikon.<br />
Gschaffige Hände, goldener Ohrring,<br />
träfe Sprache, US-Akzent. Und ein<br />
jungenhaftes Lachen, das George Angehrns<br />
62 Jahre vergessen lässt. Es ist Mittagszeit,<br />
Essensdüfte durchziehen das Hotel<br />
Bahnhof. Seit 2009 fungiert das Haus<br />
nicht mehr als Hotel, sondern als Auffangstation<br />
für 20 bis 25 Menschen, die<br />
ihr Leben auf der Gasse verbrachten. Etwa<br />
ein Jahr bleiben sie hier. Es geht um Schadensminderung<br />
– Stabilisierung, gesundheitlich<br />
und sozial. Nicht mehr, aber auch<br />
nicht weniger. Die Hauptarbeit, sagt George<br />
Angehrn, besorgten seine 22 Mitarbeitenden,<br />
Fachleute aus Sozialarbeit, Sozialpädagogik<br />
und Arbeitsagogik. «Ich bin<br />
hier nur Cheerleader, erledige die Büroarbeit<br />
und halte den Leuten den Rücken<br />
frei», sagt er mit dem für ihn typischen Understatement.<br />
Angehrn hat einen unkonventionellen<br />
Weg hinter sich. Als Sohn eines Schweizer<br />
Auswandererpaares wächst er in einem Vorort<br />
von New York auf. Der Vietnamkrieg politisiert<br />
ihn. Zuerst will er Priester werden.<br />
Aber ein Leben ohne Frauen? Ein no-go für<br />
den vitalen Youngster. Er erinnert sich an<br />
seinen Aufenthalt bei einer Tante im Zürcher<br />
Oberland, an die Düfte in ihrem Restaurant:<br />
Koch will er werden! Er kommt in<br />
die Schweiz, macht eine Kochlehre beim bekannten<br />
Koch Paul Wannenwetsch. Dann,<br />
im Alter von 23 Jahren, wechselt er ins Nobelhotel<br />
Dolder. 25 Jahre lang, davon 13<br />
als Küchenchef, bekocht er dort mit einem<br />
55-köpfigen Team die bessere Gesellschaft.<br />
Radikaler Wechsel<br />
Im Jahr 2000 kommt die grosse Wende.<br />
Das Dolder entlässt den Direktor. Fristlos.<br />
Billiger, effizienter und mit weniger Leuten<br />
arbeiten, heisst nun die Devise. Dem<br />
gestandenen Küchenchef «lupft es den Deckel».<br />
Er ist nun 48 – Zeit für einen radikalen<br />
Wechsel. Er will weg vom Shareholder-<br />
Denken und der Gesellschaft etwas<br />
zurückgeben, als Koch in einer sozialen Institution.<br />
Er bespricht sich mit seiner Frau<br />
Monica. Das Paar stellt ein Krisenbudget<br />
auf. Angehrn schreibt zum ersten Mal im<br />
Leben Bewerbungen. Und erntet lauter Absagen.<br />
Seine Karriere im Grandhotel<br />
scheint die Institutionen abzuschrecken.<br />
In einer neuen Bewerbungsrunde betont<br />
er, sein Lohn sei sekundär. Nun kommen<br />
ein paar Angebote. Er entscheidet sich für<br />
Pfarrer Siebers Ur-Dörfli. Der Wechsel von<br />
der Fünfsternecuisine in die damalige Urdorfer<br />
Containersiedlung mit ihren bejahrten<br />
Kochherden ist ziemlich krass. Zudem<br />
realisiert der Kochprofi: «Ich verstehe<br />
die Sprache der Sozis nicht!» Nun geht er<br />
aufs Ganze, bildet sich zum Arbeitsagogen<br />
aus und erwirbt das Heimleiterdiplom, alles<br />
neben seinem 100-Prozent-Job. Nach<br />
zwei Jahren ist er Betriebsleiter des Ur-<br />
Dörflis.<br />
Freiräume nutzen<br />
George Angehrn ist einer, der Freiräume<br />
zu nutzen weiss. Menschlichkeit und Augenmass<br />
sind ihm wichtig. Die zunehmende<br />
Spezialisierung und Verrechtlichung im<br />
Sozialbereich mache ihm Mühe, sagt er.<br />
«Man versteckt sich hinter Prozessen und<br />
Paragrafen. Niemand will mehr Verantwortung<br />
übernehmen».<br />
In drei Jahren könnte er seine Verantwortung<br />
abgeben und in Pension gehen. Doch<br />
er wird noch zwei, drei Jahre anhängen,<br />
denn das Ur-Dörfli muss bis 2019 einen<br />
neuen Standort finden. Keine einfache Aufgabe,<br />
aber wohl das Richtige für ihn, den<br />
Cheerleader. Und danach? Anghern lacht.<br />
«Endlich ein bisschen mehr Zeit mit der<br />
Frau verbringen. Noch mehr für den Naturschutz<br />
tun, öfter beim Kollegen auf dem<br />
Bauernhof aushelfen.» Eine Weltreise brauche<br />
er nicht, sagt er beim Abschied. «Ich sah<br />
ja die <strong>ganz</strong>e Welt an mir vorbeigehen.» •<br />
Paula Lanfranconi<br />
Sozialwerke Pfarrer Ernst Sieber: www.swsieber.ch<br />
36 ZeSo 2/14 porträt
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(23. Oktober <strong>2014</strong>)<br />
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