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ZESO_2-2014_ganz

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SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

ZeSo<br />

Zeitschrift für Sozialhilfe<br />

02/14<br />

Schulden und sozialhilfe die Schuldenproblematik BLeibt<br />

oft ungelöst Co-Präsidium Therese frösch und felix wollfers im gespräch<br />

pforte für alles Neuenburg vereinheitlicht den Zugang zu den Sozialleistungen


SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

SKOS-FORUM<br />

Sozial medial<br />

Grenzen und Möglichkeiten medialer Instrumente in der Sozialhilfe<br />

Montag, 8. September <strong>2014</strong>, Stadttheater Olten<br />

In der Sozialhilfe werden zahlreiche Prozesse und die Informationsvermittlung medial unterstützt.<br />

In der Beratung, im Fachaustausch und im Auftritt der Sozialämter spielen neue Formen der Online-<br />

Kommunikation eine wichtige Rolle. Gefragt sind Instrumente, die das Zielpublikum gut erreichen und die<br />

institutionellen Abläufe vereinfachen.<br />

Der Einsatz dieser Medien erfordert Kenntnisse über ihre Möglichkeiten und Grenzen. Die damit<br />

verbundenen Fragen sind nicht nur für Fachleute in Sozialdiensten von hoher Bedeutung, sondern<br />

insbesondere auch für die Sozialbehörden. Die SKOS lädt Sie ein, diese Fragen am SKOS-Forum anhand<br />

von Referaten und einem Erfahrungsaustausch zu reflektieren und diskutieren.<br />

Programm und Anmeldung: www.skos.ch Veranstaltungen<br />

SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

SKOS-WEITERBILDUNG<br />

Einführung in die öffentliche Sozialhilfe<br />

Montag, 27. Oktober <strong>2014</strong>, 13 bis 18 Uhr<br />

Hotel Arte in Olten<br />

In der Praxis stellen sich Fachleuten und Behördenmitgliedern komplexe Fragen. Rechtliches Wissen ist<br />

ebenso gefragt wie methodisches Handeln und Kenntnisse des Systems der sozialen Sicherheit. Die<br />

Weiterbildung der SKOS nimmt diese Themen auf. Es werden Grundlagen zur Armutsproblematik und<br />

zur Ausgestaltung der Sozialhilfe vermittelt, Verfahrensgrundsätze thematisiert und das Prinzip der<br />

Subsidiarität erläutert. Die Veranstaltung richtet sich an Mitglieder von Sozialbehörden, Fachleute der<br />

Sozialarbeit und Sachbearbeitende von Sozialdiensten, die neu in der Sozialhilfe tätig sind.<br />

Programm und Anmeldung: www.skos.ch Veranstaltungen


Michael Fritschi<br />

Verantwortlicher Redaktor<br />

gemeinsam geht‘s besser<br />

Die Mitgliederversammlung der SKOS hat mit Therese Frösch<br />

und Felix Wolffers ein kompetentes und eingespieltes Co-<br />

Präsidium an die Spitze des Verbands gewählt. Ein erstes<br />

Interview mit dem neuen Präsidialteam, in dem Therese<br />

Frösch und Felix Wolffers über die auf sie zukommenden<br />

Aufgaben sprechen und erklären, was sie verbindet und<br />

motiviert, dieses anspruchsvolle Amt zu übernehmen, lesen<br />

Sie auf den Seiten 6 und 7.<br />

Für Sozialhilfe beziehende Menschen bedeuten Schulden oft<br />

eine zusätzliche Last. Diese Menschen besitzen nichts oder<br />

wenig, und dieses Wenige gehört eigentlich den Betreibungsämtern<br />

respektive den Gläubigern. Im Schwerpunkt Schulden<br />

und Sozialhilfe äussern sich Fachleute zur Praxis des<br />

Umgangs mit der Verschuldungsproblematik.<br />

Dabei zeigt sich, dass die geltenden gesetzlichen Bestimmungen<br />

und die darum herum existierenden administrativen<br />

Abläufe wenig Anreize bieten, sich aus Verschuldung<br />

und Sozialhilfe zu lösen. Selbst ein Privatkonkurs wird zur<br />

Scheinlösung, wenn er die «sanierten» Personen und<br />

Haushalte zwingt, in niedrigen Einkommensverhältnissen<br />

zu verharren, um die bestehenden Gläubigerforderungen<br />

nicht erneut zu gewärtigen. Die diversen Beiträge unterstreichen,<br />

dass die Gesellschaft eigentlich mehr Interesse<br />

bekunden müsste, verschuldeten Menschen Hand zu<br />

bieten für wirkliche Lösungen.<br />

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.<br />

editorial 2/14 ZeSo<br />

1


SCHWERPUNKT12–23<br />

schulden und sozialhilfe<br />

Menschen, die von der Sozialhilfe abhängig sind,<br />

sind nicht selten verschuldet. Hohe Schulden<br />

beeinträchtigen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit<br />

und sind ein Hindernis bei der Ablösung<br />

aus der Sozialhilfe. Trotzdem gehört die Schuldenberatung<br />

nicht zum Kerngeschäft der Sozialhilfe.<br />

Wie gehen Sozialdienste mit den Schuldenproblemen<br />

ihrer Klientinnen und Klienten um, und welche<br />

Ressourcen stehen ihnen in dieser Hinsicht zur<br />

Verfügung?<br />

<strong>ZESO</strong> zeitschrift für sozialhilfe<br />

Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />

www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS,<br />

Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch,<br />

Tel. 031 326 19 19 Redaktion Michael Fritschi, Regine Gerber<br />

Redaktionelle begleitung Dorothee Guggisberg Autorinnen<br />

und Autoren in dieser Ausgabe Suzanne Auer, Dominique<br />

Cattin Houser, Bruno Crestani, Olivier Cruchon, Laurent Duding,<br />

Ruedi Hofstetter, Martina Huber, Georges Köpfli, Paula Lanfranconi,<br />

Christoph Mattes, Clemenz Roland, André Sallin, Turi Schallenberg,<br />

Florence Schelling, Ingeborg Steinmann-Berns, Ruth Ziörjen<br />

Titelbild Rudolf Steiner layout Marco Bernet, mbdesign Zürich<br />

Korrektorat Karin Meier Druck und Aboverwaltung Rub<br />

Media AG, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740<br />

97 86 preise Jahresabonnement Inland CHF 82.– (für SKOS-<br />

Mitglieder CHF 69.–), Abonnement ausland CHF 120.–, Einzelnummer<br />

CHF 25.–.<br />

© SKOS. Nachdruck nur mit genehmigung der Herausgeberin.<br />

Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />

ISSN 1422-0636 / 111. Jahrgang<br />

Bild: Pixsil/Béatrice Devènes<br />

Erscheinungsdatum: 11. Juni <strong>2014</strong><br />

Die nächste Ausgabe erscheint im September <strong>2014</strong>.<br />

2 ZeSo 2/14 inhalt


INHALT<br />

5 Die Neustrukturierung des Asylbereichs<br />

ist ein Erfolg des Bundes<br />

und der Kantone. Kommentar von<br />

Ruedi Hofstetter<br />

6 Neues Co-Präsidium für die SKOS:<br />

Interview mit Therese Frösch und<br />

Felix Wolffers<br />

8 13 Fragen an Florence Schelling<br />

10 Praxis: Das Kind lebt die halbe Zeit<br />

beim Vater. Wie wird die Sozialhilfe<br />

berechnet?<br />

11 Geld und Geist in der Sozialhilfe.<br />

Gedanken von Georges Köpfli zur<br />

Ethik der SKOS-Richtlinien<br />

Die frisch gewählten<br />

Der goalie ist sie<br />

Therese Frösch und Felix Wolffers bilden das<br />

neue Co-Präsidium der SKOS. «Wir wollen<br />

erreichen, dass offen und sachlich über die<br />

Sozialhilfe diskutiert wird», umschreiben<br />

sie im Gespräch die Stossrichtung ihrer<br />

zukünftigen Arbeit.<br />

6<br />

Florence Schelling, Torhüterin der Schweizer<br />

Frauen-Eishockeynationalmannschaft<br />

und Bronzemedaillengewinnerin an den<br />

Olympischen Winterspielen, wünscht sich<br />

mehr Anerkennung und Wertschätzung der<br />

sportlichen Leistungen von Frauen.<br />

12 SCHWERPUNKT: schulden und<br />

sozialhilfe<br />

14 Schulden und ihre Relevanz<br />

für die Sozialhilfe<br />

16 Schuldenberatung erfolgt im<br />

Interesse der Allgemeinheit<br />

18 Kleinere Sozialdienste begegnen<br />

der Verschuldungsproblematik<br />

pragmatisch<br />

20 Die geltenden Bestimmungen<br />

schaden der Volkswirtschaft<br />

22 Schuldenberatung mit Blick auf<br />

biografische Einflüsse<br />

der arzt und politiker<br />

8<br />

Ignazio Cassis, Vizepräsident der<br />

nationalrätlichen Kommission für soziale<br />

Sicherheit und Gesundheit, blickt im <strong>ZESO</strong>-<br />

Interview aus bürgerlichem Blickwinkel auf<br />

aktuelle sozialpolitische Fragen.<br />

24 «Wenn die Balance nicht mehr<br />

stimmt, müssen wir handeln.»<br />

<strong>ZESO</strong>-Interview mit Ignazio Cassis<br />

28 Neuenburg hat den Zugang zu den<br />

Sozialleistungen neu organisiert<br />

30 «Eine Pfanne ist eine grosse Kiste,<br />

zum Essen kochen.» Reportage aus<br />

einem Sprachkurs für Bauarbeiter<br />

32 Plattform: Agile.ch vertritt die<br />

Interessen von 42 Behindertenorganisationen<br />

34 Lesetipps und Veranstaltungen<br />

36 Porträt: George Angehrn, Koch und<br />

Leiter einer Suchthilfeeinrichtung<br />

Der fünf-sterne-koch<br />

30<br />

Fünfundzwanzig Jahre lang kochte George<br />

Angehrn im Grandhotel Dolder in Zürich für<br />

die oberen Zehntausend. Heute leitet er das<br />

Ur-Dörfli, eine Suchthilfeeinrichtung der<br />

Stiftung Sozialwerke Pfarrer Ernst Sieber.<br />

36<br />

inhalt 2/14 ZeSo<br />

3


NACHRICHTEN<br />

Keine Einwanderung<br />

in die Sozialhilfe<br />

Das Personenfreizügigkeitsabkommen (FZA)<br />

zwischen der Schweiz und der EU führt nicht<br />

zu einer Einwanderung in die Sozialhilfe. Zu<br />

diesem Ergebnis kommt eine im April veröffentlichte<br />

Untersuchung der Geschäftsprüfungskommission<br />

des Nationalrats (GPK-N).<br />

Die Sozialhilfequote der Zugewanderten aus<br />

der EU ist tiefer als jene der Schweizerinnen<br />

und Schweizer, sie steigt aber tendenziell<br />

an. Dies vor allem, weil ein Teil der eingewanderten<br />

EU-Bürgerinnen und -Bürger in<br />

Branchen mit tiefen Löhnen und unsicheren<br />

Arbeitsverhältnissen beschäftigt ist. Die<br />

SKOS unterstützt die im Bericht vorgestellten<br />

Empfehlungen der GPK-N weitgehend.<br />

So sollen namentlich das Zusammenspiel<br />

zwischen Tiefstlöhnen und Sozialleistungsbezugsquoten<br />

genau beobachtet sowie die<br />

Informationsgrundlagen zum Sozialleistungsbezug<br />

verbessert werden. Weiter sollen die<br />

kantonalen Unterschiede bei der Deklaration<br />

des Arbeitszwecks und beim Vollzug des<br />

FZA und der Gewährung von Niederlassungsbewilligungen<br />

geklärt und wenn möglich<br />

eliminiert werden.<br />

Grundlagenpapier zum<br />

sozialen Existenzminimum<br />

Das soziale Existenzminimum ist Kern der<br />

Sozialhilfe und eine zentrale Referenzgrösse<br />

in der Schweizer Sozialpolitik. Es ermöglicht<br />

armutsbetroffenen Menschen ein menschenwürdiges<br />

Dasein und die Teilhabe am gesellschaftlichen<br />

Leben. Die SKOS hat ein Grundlagenpapier<br />

publiziert, das aufzeigt, wie das<br />

System des sozialen Existenzminimums in<br />

der Sozialhilfe ausgestaltet ist. Weiter wird<br />

erläutert, wie dieses System historisch gewachsen<br />

und begründet ist.<br />

Die Zahl der IV-Renten<br />

ist rückläufig<br />

Im Jahr 2013 verzeichnete das Bundesamt<br />

für Sozialversicherungen bei der Invalidenversicherung<br />

gegenüber dem Vorjahr<br />

einen Rückgang der Rentenzahl um zwei<br />

Prozent. Dies ist der deutlichste Rückgang<br />

seit 2006. Auch die Zahl der Neurenten<br />

hat einen Tiefstand erreicht. Sie ist in den<br />

vergangenen zehn Jahren um insgesamt<br />

51 Prozent gesunken. Dafür wurden seit<br />

2008 deutlich mehr Massnahmen zur beruflichen<br />

Eingliederung durchgeführt. Die<br />

beobachteten Zahlen widerspiegeln die<br />

Neuausrichtung der Invalidenversicherung<br />

von einer Renten- zu einer Eingliederungsversicherung.<br />

4 ZeSo 2/14 aktuell<br />

Die SKOS wird neu von einem<br />

Co-Präsidium geführt<br />

Die Mitglieder der Schweizerischen Konferenz<br />

für Sozialhilfe haben an der Mitgliederversammlung<br />

vom 22. Mai Therese Frösch<br />

und Felix Wolffers ins Verbandspräsidium<br />

gewählt. Mit dem Entscheid für ein Co-<br />

Präsidium setzt die SKOS auf die gezielte<br />

Nutzung der Ressourcen von zwei ausgewiesenen<br />

Fachpersonen. Therese Frösch<br />

und Felix Wolffers haben in den 1990er-<br />

Jahren als Direktorin und Generalsekretär<br />

während sieben Jahren gemeinsam die<br />

Finanzdirektion der Stadt Bern geführt und<br />

sind ein eingespieltes, integrierend arbeitendes<br />

und gut vernetztes Team. Therese<br />

Frösch war Sozialarbeiterin, bevor sie in<br />

die Politik wechselte. Sie war von 1993 bis<br />

2004 Finanz- und später Sozialdirektorin<br />

der Stadt Bern und von 2004 bis 2011<br />

Nationalrätin (Grüne). Der Jurist Felix<br />

Wolffers ist Leiter des Sozialamts der Stadt<br />

Bern und ist seit 2010 Geschäftsleitungsmitglied<br />

der SKOS. Von 1986 bis 1994<br />

war er Generalsekretär der Fürsorgedirektion<br />

der Stadt Biel. Er ist Autor des Standardwerks<br />

«Grundriss des Sozialhilferechts».<br />

Walter Schmid, der die SKOS fünfzehn<br />

Jahre als Präsident geführt hat, wurde an<br />

der Tagung im Verkehrshaus Luzern von<br />

den rund 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmern<br />

mit lang anhaltendem Applaus<br />

für sein kompetentes und ausserordentliches<br />

Engagement für die Armutsbekämpfung<br />

und für die Belange der Sozialhilfe<br />

gedankt. <br />

•<br />

Felix Wolffers und Therese Frösch bilden das neue Co-Präsidium der SKOS. Walter Schmid, SKOS-<br />

Präsident von 1999 bis <strong>2014</strong>, bei der «Geschäftsübergabe» im Verkehrshaus Luzern.<br />

<br />

Bild: Daniel Desborough<br />

SKOS begrüsst die Stossrichtung<br />

der Reform «Altersvorsorge 2020»<br />

Die SKOS beurteilt den Reformvorschlag<br />

«Altersvorsorge 2020» des Bundesrats grundsätzlich<br />

positiv und begrüsst insbesondere die<br />

Vorschläge zu einem flexibleren AHV-Rentenalter,<br />

zur Öffnung des Zugangs zum BVG für<br />

Personen mit tiefen Löhnen sowie die Möglichkeit,<br />

Freizügigkeitsguthaben in Rentenform<br />

beziehen zu können. In ihrer Vernehmlassungsantwort<br />

an das Bundesamt für Sozialversicherungen<br />

regt die SKOS an, in Bezug<br />

auf den Vorschlag zur Zusatzfinanzierung<br />

<br />

der AHV mittels Mehrwertsteuer-Prozenten<br />

weitere Optionen zu prüfen, die Sonderregelungen<br />

für den vorzeitigen Rentenbezug<br />

von Personen mit tiefen Einkommen auszubauen<br />

und die Einführung einer Brückenrente<br />

zu prüfen. Die SKOS bedauert hingegen,<br />

dass die Ergänzungsleistungen (EL)<br />

aus der Gesamtschau des Reformvorschlags<br />

ausgeklammert wurden, obwohl sich die EL<br />

als wichtiges Element im System der sozialen<br />

Sicherung etabliert haben. •


KOMMENTAR<br />

Die Neustrukturierung des Asylbereichs ist ein Erfolg<br />

des Bundes und der Kantone<br />

Der Asylbereich fristet in der Sozialhilfe<br />

eher ein Nischendasein. Grund dafür dürfte<br />

der eingeschränkte Handlungsspielraum<br />

der Kantone und Gemeinden sein, denn der<br />

Asylbereich ist weitgehend durch Bundesrecht<br />

definiert. Wichtigstes Ergebnis der<br />

ersten Asylkonferenz vor einem Jahr in<br />

Bern war die grundsätzliche Übereinkunft<br />

des Bundes und der Kantone, die bestehenden<br />

Probleme im Asylbereich gemeinsam<br />

zu lösen. Kein Gegeneinander, sondern<br />

ein Miteinander. Mit der Neustrukturierung<br />

sollen die Verfahren wesentlich beschleunigt<br />

werden und der Vollzug der Wegweisungen<br />

soll konsequent erfolgen, wobei<br />

die Schutzbedürfnisse von Asylsuchenden<br />

weiterhin in rechtsstaatlichen Verfahren<br />

gewährt werden.<br />

Zu den Kernelementen der Neustrukturierung<br />

gehört auch der Ausbau der Bundesunterkünfte.<br />

Die Anzahl Plätze des Bundes soll<br />

von heute rund 1650 auf 5000 erhöht werden.<br />

Auch die Haftplätze werden ausgebaut.<br />

Neu werden die Aufgaben im Asylbereich<br />

auf sechs Regionen verteilt. Asylsuchende,<br />

über deren Gesuch nicht im Rahmen<br />

des beschleunigten Verfahrens innerhalb<br />

von 100 Tagen entschieden werden kann,<br />

werden im erweiterten Verfahren weiterhin<br />

bevölkerungsproportional auf die Kantone<br />

verteilt. Wie bisher sollen alle Kantone<br />

einen Teil der anerkannten Flüchtlinge und<br />

vorläufig Aufgenommenen übernehmen. Es<br />

soll sich also kein Kanton aus der Betreuung<br />

von Asylsuchenden verabschieden<br />

können. Kantone, die besondere Leistungen<br />

erbringen, erhalten eine Kompensation bei<br />

der Zuteilung. An der zweiten Asylkonferenz<br />

am 28. März <strong>2014</strong> wurde die Neustrukturierung<br />

vom Bund und allen Kantonen<br />

einstimmig verabschiedet. Im Testzentrum<br />

in Zürich werden die neuen Abläufe bis Ende<br />

2015 geprüft. Geplant ist die Umsetzung der<br />

Neustrukturierung bis ins Jahr 2019.<br />

Der Bund und alle Kantone haben im politisch<br />

stark umkämpften Asylbereich<br />

mit der gemeinsam erarbeiteten und<br />

beschlossenen Neustrukturierung die<br />

Initiative ergriffen und ein starkes<br />

Zeichen gesetzt. Es ist zu hoffen,<br />

dass dieser beispielhafte Schwung<br />

auch Anwendung auf andere<br />

sozialpolitische Spannungsfelder<br />

findet.<br />

Die Auswirkungen auf den<br />

Sozialbereich werden spürbar<br />

sein. Das erhöhte Platzangebot<br />

des Bundes und die raschen<br />

Verfahren werden dazu führen,<br />

dass weniger Asylsuchende auf<br />

die Kantone und Gemeinden<br />

verteilt werden müssen. Der<br />

Sozialbereich wird sich verstärkt<br />

und konzentrierter als bisher<br />

für die Integration von Personen<br />

einsetzen müssen, die sich als<br />

vorläufig Aufgenommene oder als<br />

anerkannte Flüchtlinge langfristig<br />

in der Schweiz aufhalten. Für diese<br />

rasche und nachhaltige Integration<br />

braucht es neue Modelle und eine<br />

Konzentration der Kräfte.<br />

Ruedi Hofstetter<br />

Amtschef Sozialamt Kanton Zürich<br />

aktuell 2/14 ZeSo<br />

5


«Unser Ziel ist, einen breiten<br />

Konsens unter den Kantonen und<br />

Gemeinden zu erreichen»<br />

Therese Frösch und Felix<br />

Wolffers bilden das neue<br />

Co-Präsidium der SKOS. Im<br />

Gespräch erklären sie, was<br />

sie motiviert, gemeinsam<br />

dieses anspruchsvolle Amt<br />

zu übernehmen, und wo sie<br />

in den kommenden Jahren<br />

Schwerpunkte setzen wollen.<br />

Therese Frösch, Felix Wolffers, herzliche<br />

Gratulation zu Ihrer Wahl. Was<br />

hat Sie persönlich motiviert, für das<br />

Amt zu kandidieren, und wie ist es zur<br />

Zweierkandidatur gekommen?<br />

Therese Frösch: Ich habe mich schon<br />

immer für Menschen eingesetzt, die nicht<br />

auf der Sonnenseite des Lebens stehen.<br />

Als ich angefragt wurde, ob ich Präsidentin<br />

der SKOS werden möchte, konnte ich<br />

mir das gut vorstellen. Ich musste mir<br />

aber auch sehr gut überlegen, ob ich die<br />

Ressourcen und die Kraft habe, dieses<br />

anspruchsvolle Amt auszufüllen. Ich habe<br />

mit verschiedenen Personen aus meinem<br />

Umfeld gesprochen, und so entstand<br />

die Idee des Co-Präsidiums. Und als ich<br />

merkte, dass Felix Geschäftsleitungsmitglied<br />

der SKOS war, hab ich ihm eine<br />

SMS geschrieben…<br />

Felix Wolffers: Ich wurde für das Präsidium<br />

ebenfalls angefragt. Mir war aber<br />

rasch klar, dass diese Aufgabe neben der<br />

Leitung des Sozialamts der Stadt Bern für<br />

mich allein zu gross wäre. Dank dem Co-<br />

Präsidium kann ich mich nun mit einem<br />

vertretbaren zeitlichen Aufwand für die<br />

Anliegen der Sozialhilfe engagieren. Vor<br />

allem die Weiterentwicklung der Richtlinien<br />

und neue Wege in der beruflichen<br />

Integration interessieren mich sehr und<br />

motivieren mich für ein Engagement als<br />

Co-Präsident der SKOS.<br />

Ein Zweierpräsidium bedingt eine<br />

gute Zusammenarbeit. Auf welche<br />

gemeinsamen Werte und Erfahrungen<br />

stellen Sie ab?<br />

Therese Frösch: Als wir beide vor zwanzig<br />

Jahren unsere Zusammenarbeit auf der<br />

Finanzdirektion der Stadt Bern begannen,<br />

kannten wir die Wertvorstellungen des<br />

anderen erst vage. Durch die gemeinsame<br />

Arbeit – wir haben die Finanzen der Stadt<br />

Bern saniert, ohne einen Sozialabbau vorzunehmen<br />

– haben wir gemerkt, dass wir<br />

die gleichen Werte und Ziele haben: eine<br />

effiziente Bewirtschaftung der Aufgaben,<br />

die uns gestellt werden, ohne dass darunter<br />

die sozial Schwächsten leiden müssen.<br />

Felix Wolffers: Soziale Gerechtigkeit ist<br />

ein zentraler Wert in der Gesellschaft. «Die<br />

Stärke des Volkes misst sich am Wohl der<br />

Schwachen», heisst es dazu treffend in der<br />

Bundesverfassung. Soziale Gerechtigkeit<br />

zu erhalten und zu fördern, ist eine permanente<br />

Herausforderung. Diese Erfahrung<br />

haben wir gemeinsam gemacht. Wir<br />

haben in schwierigen Situationen immer<br />

wieder Ansätze gefunden, um schrittweise,<br />

pragmatisch und mit viel Kreativität gute<br />

Resultate zu erzielen. In dieser Art und<br />

Weise werden wir auch in der SKOS arbeiten.<br />

Wir haben keine Berührungsängste<br />

und werden immer den Dialog auch mit<br />

Leuten suchen, die anders denken als wir.<br />

Wie wird die Rollenteilung aussehen?<br />

Felix Wolffers: Strategisch wichtige Arbeiten<br />

werden wir gemeinsam wahrnehmen.<br />

Dort, wo eine Arbeitsteilung möglich<br />

ist, werden wir definieren, wer was übernimmt.<br />

Entscheidend ist, dass wir beide<br />

rasch über alles Wichtige informiert sind<br />

und dass die gegenseitige Stellvertretung<br />

spielt.<br />

Therese Frösch: Felix leitet ein grosses<br />

Sozialamt, ich arbeite im Rahmen meiner<br />

Mandate rund 50 Prozent. Ich habe also<br />

mehr Zeit zur Verfügung und bin deshalb<br />

flexibler, wenn es beispielsweise rasch eine<br />

Stellungnahme der SKOS braucht. Die Kontakte<br />

mit wichtigen Partnern wie der SODK<br />

werden wir gemeinsam pflegen. In der Führung<br />

der Geschäftsleitungssitzungen werden<br />

wir uns im Jahresrhythmus abwechseln.<br />

Welche der auf Sie zukommenden<br />

Aufgaben betrachten Sie als dringend?<br />

Wo werden Sie Schwerpunkte setzen?<br />

Felix Wolffers: Die SKOS ist ein gut<br />

funktionierender Verband. Walter Schmid<br />

und die Geschäftsstelle haben die SKOS<br />

in den letzten Jahren inhaltlich und strukturell<br />

erfolgreich weiterentwickelt. Das<br />

erleichtert natürlich unsere Aufgabe, es<br />

warten aber dennoch grosse Herausforderungen:<br />

Die Überprüfung der Richtlinien<br />

ist für die SKOS zentral. Die SKOS hat<br />

zwei Studien in Auftrag gegeben, die Entscheidungsgrundlagen<br />

für eine allfällige<br />

Richtlinienrevision liefern werden. Falls<br />

eine Revision zweckmässig ist, muss sie<br />

in einem partizipativen Prozess erarbeitet<br />

werden. Unser Ziel muss es sein, dann einen<br />

breiten Konsens unter den Kantonen<br />

und Gemeinden zu erreichen. Im Weiteren<br />

müssen wir das Verhältnis zur SODK<br />

klären. Wir möchten mehr Verbindlichkeit<br />

zwischen unseren Organisationen schaffen.<br />

Und die Frage, ob die SKOS als privatrechtlicher<br />

Verein heute noch die richtige<br />

Struktur hat, muss ebenfalls in nächster Zeit<br />

diskutiert werden. Generell wollen wir den<br />

Kontakt zu unseren Mitgliedern verbessern.<br />

Dazu prüfen wir auch die Durchführung<br />

einer Umfrage zu den Erwartungen und Bedürfnissen<br />

der Mitglieder.<br />

Therese Frösch: Im gesellschaftspolitischen<br />

Diskurs wollen wir auch für Sozialhilfe<br />

beziehende Menschen einsetzen. Wir müssen<br />

gegenüber den Medien, der Bevölkerung<br />

und den direkt involvierten Gemeindebehörden<br />

und Sozialarbeitenden glaubwürdig<br />

kommunizieren und mehrheitsfähige vernünftige<br />

Lösungen anbieten. Wir wollen aufzeigen,<br />

dass die SKOS nicht das Problem ist,<br />

sondern ein Teil der Lösung für gesellschaftliche<br />

Probleme wie Langzeitarbeitslosigkeit<br />

oder unzureichende Einkommen.<br />

6 ZeSo 2/14 SKOS CO-PRÄSIDIUM


«Die SKOS muss<br />

sich intensiver mit<br />

der beruflichen<br />

Integration auseinandersetzen.»<br />

Der neue Co-Präsident der SKOS Felix<br />

Wolffers leitet das Sozialamt der Stadt<br />

Bern.<br />

Felix Wolffers: Die Frage der beruflichen<br />

Integration ist ein Thema, mit dem sich die<br />

SKOS intensiver auseinandersetzen muss.<br />

Für über 55-jährige Personen in der Sozialhilfe<br />

ist die berufliche Wiedereingliederung<br />

oft nicht mehr realistisch. Hier muss die Politik<br />

neue Antworten finden, und die SKOS<br />

muss dazu Vorarbeiten leisten und Vorschläge<br />

entwickeln. Ein weiteres Thema sind für<br />

mich die Zusammenhänge zwischen Armut,<br />

Arbeitslosigkeit und Gesundheit. Als<br />

führender Fachverband muss die SKOS<br />

diese Themen beleuchten und dafür sorgen,<br />

dass beispielsweise die Gesundheitsprävention<br />

für die sozial Schwächsten grösseres<br />

Gewicht erhält.<br />

«Wir wollen aufzeigen,<br />

dass die SKOS ein Teil<br />

der Lösung ist.»<br />

Die neue Co-Präsidentin der SKOS Therese Frösch<br />

war Nationalrätin und Finanz- und Sozialdirektorin<br />

der Stadt Bern.<br />

<br />

Bilder: Béatrice Devènes<br />

Was möchten Sie als Co-Präsidentin<br />

und Co-Präsident der SKOS erreichen?<br />

Therese Frösch: Wir möchten den Verband<br />

professionell führen, den Dialog mit<br />

Fachkräften und die Grundlagenarbeit<br />

ausbauen und allgemein für ein gutes Klima<br />

sorgen. Auch Leute, die der Sozialhilfe<br />

skeptisch gegenüber stehen, sollen unsere<br />

Empfehlungen als hilfreich und nützlich<br />

erachten können.<br />

Felix Wolffers: Wichtig ist, dass es uns<br />

gelingt, den nationalen Dialog über die<br />

Weiterentwicklung der Richtlinien in Gang<br />

zu bringen und zu einem guten Ende zu<br />

führen. Wir sind erfolgreich, wenn vermehrt<br />

offen und sachlich über die Sozialhilfe<br />

diskutiert wird und die SKOS dabei<br />

als wichtiger Akteur wahrgenommen wird.<br />

Dabei dürfen wir auch die Schwachstellen<br />

der Sozialhilfe nicht ausblenden. Wir müssen<br />

verhindern, dass zwischen den Kantonen<br />

ein Sozialhilfewettbewerb entsteht, so<br />

wie es ihn heute bei den Steuern gibt. •<br />

Interview: Michael Fritschi<br />

SKOS CO-PRÄSIDIUM 2/14 ZeSo<br />

7


13 Fragen an Florence Schelling<br />

1<br />

2<br />

3<br />

Sind Sie eher arm oder eher reich?<br />

An Erfahrung und Motivation bin ich sehr reich.<br />

Gemessen am materiellen Besitz würde ich mich im<br />

Durchschnitt sehen. Ich bin erst vor einem Jahr in<br />

die Arbeitswelt eingestiegen, vorher habe ich noch<br />

studiert. Während der Studienzeit habe ich gelernt,<br />

das Geld, das ich habe, nur für Dinge auszugeben,<br />

die ich wirklich brauchte.<br />

Was empfinden Sie als besonders ungerecht?<br />

Was ich persönlich gemerkt habe und was ich<br />

besonders ungerecht finde, ist der Unterschied<br />

zwischen Mann und Frau, wenn es um Lohn und<br />

Preisgeld im Sport geht. Als die Männer-Eishockey-<br />

Nationalmannschaft im letzten Jahr an der Weltmeisterschaft<br />

in Schweden die Silbermedaille gewonnen<br />

hat, haben die Spieler einen Riesenbonus erhalten.<br />

Dies zusätzlich zu dem Geld, dass jeder so oder so<br />

verdient, wenn er die Schweiz im Eishockey vertritt.<br />

Wir Frauen dagegen erhalten nichts für die Bronzemedaille,<br />

die wir an den Olympischen Spielen in Sotschi<br />

gewonnen haben. Nicht einmal das Geld, das Swiss<br />

Olympic an den Schweizer Eishockey-Verband zahlt<br />

(dafür, dass wir eine Medaille gewonnen haben), wird<br />

uns weiter gegeben. So gesehen zahlt jede Spielerin<br />

von uns drauf. Beispielsweise, damit wir in Trainingslager<br />

für die Nationalmannschaft gehen können.<br />

Denn auch Spesen werden uns nicht bezahlt. So etwas<br />

finde ich sehr ungerecht.<br />

Glauben Sie an die Chancengleichheit?<br />

Ja und nein. Ich glaube, dass die Chancengleichheit<br />

schon viel ausgeglichener ist, als sie noch vor<br />

einigen Jahren war. Jedoch gibt es noch viel zu verbessern,<br />

in der Arbeitswelt und im Sport.<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

Was bewirken Sie mit Ihrer Arbeit?<br />

Zurzeit arbeite ich an der Rezeption des Internationalen<br />

Eishockey-Verbands. Das ist eine wichtige<br />

Position, weil ich alle Besucher empfange und auch<br />

viel mit Leuten telefoniere. Damit sich die Leute<br />

gleich wohl fühlen im Kontakt mit dem Verband,<br />

ist es wichtig, dass ich immer sehr aufgestellt und<br />

freundlich bin. Im Eishockey hoffe ich, dass ich<br />

durch meine Leistung mehr junge Mädchen zum<br />

Eishockeyspielen motivieren kann.<br />

Für welches Ereignis oder für welche Begegnung würden<br />

Sie ans andere Ende der Welt reisen?<br />

Um dem Dalai Lama zu begegnen. Den Buddhismus<br />

finde ich eine sehr interessante und spannende<br />

Religion, über die ich immer wieder gerne lese<br />

und Dokumentarfilme schaue. Daher würde ich Tibet<br />

auch sehr gerne mal bereisen.<br />

Wenn Sie in der Schweiz drei Dinge verändern könnten,<br />

welche wären das?<br />

Erstens, mehr Support für die Förderung von<br />

Randsportarten, damit mehr Menschen dazu bewegt<br />

werden, Sport zu machen und somit einen aktiveren<br />

Lifestyle leben. Sport ist etwas sehr Soziales<br />

und fördert die Zugehörigkeit, was sicher jedem und<br />

jeder von uns gut tut. Zweitens, eine grössere Akzeptanz<br />

für den Sport im Allgemeinen. Ich erlebe am<br />

eigenen Leib, wie schwierig es ist, als Profisportlerin<br />

die Arbeitswelt und die Welt des Sports unter einen<br />

Hut zu kriegen. Mehr Akzeptanz könnte die Vereinbarkeit<br />

dieser beiden Welten fördern. Und schliesslich,<br />

dass die Menschen in der Schweiz spontaner<br />

wären. Durch die fünf Jahre, die ich in den USA gelebt<br />

habe, habe ich gemerkt, dass Spontaneität in<br />

der Schweiz nicht so gross geschrieben wird. Die<br />

Schweizer organisieren und planen gerne langfristig<br />

voraus. Dabei sollte man viel öfters spontan abmachen<br />

und etwas offener sein.<br />

Können Sie gut verlieren, und woran merkt man das?<br />

Verlieren kann ich gut, aber ich mag es überhaupt<br />

nicht, zu verlieren. Ich bin sehr kompetitiv. Woran<br />

man merkt, dass ich eine gute Verliererin bin, liegt<br />

wohl darin, dass ich es einsehe, wenn der Gegner<br />

einfach besser gespielt hat oder einen besseren Tag<br />

erwischt hat, und dass ich bis am Schluss immer<br />

fair bleibe. Dem Gegner zum Sieg zu gratulieren gehört<br />

auch zu einem guten Verlierer.<br />

8 ZeSo 2/14 13 fragen an


Florence Schelling<br />

Florence Schelling (25) ist Stammtorhüterin der Schweizer Frauen-<br />

Eishockeynationalmannschaft. An der Weltmeisterschaft 2012 in den<br />

USA und an den Olympischen Spielen <strong>2014</strong> in Sotschi, wo sie als «wertvollste<br />

Spielerin» der Winterspiele ausgezeichnet wurde, gewann sie mit<br />

ihrem Team jeweils die Bronzemedaille. Florence Schelling hat in Boston<br />

Wirtschaftswissenschaften studiert (Bachelor of Science in Business Administration)<br />

und arbeitet derzeit als IT-Koordinatorin und Assistentin der<br />

Geschäftsführung für die International Icehockey Federation in Zürich.<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

Bild: Matt Slocum/Keystone<br />

12<br />

13<br />

Bügeln Sie Ihre Blusen selbst?<br />

Ich schaue immer, dass ich Blusen kaufe, die<br />

man nicht mehr bügeln muss. Wenn das aber nicht<br />

geht, bügle ich meine Blusen selber.<br />

Was bedeutet Ihnen Solidarität?<br />

Solidarität ist für mich das A und O. Solidarität<br />

war mir schon immer sehr wichtig, speziell weil ich<br />

in einer Mannschaftssportart gross geworden bin<br />

und weil ich ein super Verhältnis mit meiner <strong>ganz</strong>en<br />

Familie habe. Wenn man gemeinsam auf ein Ziel hin<br />

arbeitet, fällt es einem leichter, sich jeden Tag zu<br />

motivieren, sei es für den Sport oder die Arbeit oder<br />

<strong>ganz</strong> im Allgemeinen.<br />

Haben Sie eine persönliche Vision?<br />

Ich möchte das Frauen-Eishockey in der Schweiz<br />

verbessern. Mädchen die Möglichkeit geben, unter<br />

den gleichen Bedingungen, wie sie bei den Jungs<br />

und den Herren herrschen, den Eishockeysport<br />

auszuüben.<br />

Welcher Begriff ist für Sie ein Reizwort?<br />

Ein Wort kommt mir gerade keines in den Sinn.<br />

Jedoch stört es mich, wenn mir jemand sagt: «Ich<br />

kann das nicht.» Denn ich glaube an das berühmte<br />

Sprichwort «Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg».<br />

Gibt es Dinge, die Ihnen den Schlaf rauben?<br />

Es gibt immer wieder Dinge, die mir den Schlaf<br />

rauben. Ich studiere viel an Sachen und Situationen<br />

herum, überlege mir, wie ich etwas hätte anders<br />

machen können, oder wie man es besser gemacht<br />

hätte und so weiter. Nervosität raubt mir auch öfters<br />

den Schlaf, sei es vor einem wichtigen Spiel<br />

oder vielleicht auch nur, wenn ich eine wichtige Präsentation<br />

im Büro habe.<br />

Mit wem möchten Sie gerne per Du sein?<br />

Mit Barack Obama. Seine Art und Weise, wie er ist,<br />

wie er sich gibt und wie er redet, fasziniert mich. Er<br />

besuchte die Northeastern University in Boston, an<br />

der ich studierte. Da habe ich ihn das erste Mal live<br />

erlebt. Seine Ausdrucksweise ist klar und die Wortwahl<br />

ebenfalls toll. Auf einen Kaffee mit Barack Obama<br />

wäre ich auf jeden Fall spontan dabei.<br />

13 fragen an 2/14 ZeSo<br />

9


Das Kind lebt zur Hälfte beim Vater:<br />

Wie wird die Sozialhilfe berechnet?<br />

Eva D. wird mit Sozialhilfeleistungen unterstützt. Da eines ihrer beiden Kinder die halbe Zeit beim<br />

Vater lebt, wird der Grundbedarf für die Familie auf der Basis einer Mischrechnung angepasst.<br />

Frage<br />

Eva D. lebt mit ihren beiden minderjährigen<br />

Kindern in der Gemeinde Muster. Der<br />

neunjährige Reto und die vierjährige Margrit<br />

haben unterschiedliche Väter. Für Reto<br />

hat Eva D. das alleinige Sorgerecht. Die<br />

Kinderzulagen und Alimente für ihn gehen<br />

regelmässig ein und werden im Budget<br />

von Eva D. als Einnahmen angerechnet.<br />

Vor einiger Zeit hat Margrits Vater die gemeinsame<br />

Wohnung verlassen. Das Gericht<br />

entschied, dass die Eltern das gemeinsame<br />

Sorgerecht für ihre Tochter<br />

Margrit haben und der zivilrechtliche<br />

Wohnsitz beim Vater sei. Die Eltern teilen<br />

sich bei diesem Kind die Betreuung. Margrit<br />

verbringt jeweils während einer Woche<br />

drei Tage und während der anderen Woche<br />

vier Tage bei ihrer Mutter. Bei der Berechnung<br />

der Kinderalimente für Margrit<br />

wurde berücksichtigt, dass sie durchschnittlich<br />

3,5 Tage pro Woche bei ihrem<br />

Vater lebt. Wie aber berechnet sich das Unterstützungsbudget<br />

für Eva D. mit den beiden<br />

minderjährigen Kindern?<br />

PRAXIS<br />

In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />

der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />

und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />

Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />

Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />

(einloggen) SKOS-Line.<br />

Grundlagen<br />

Mit den neuen Bestimmungen des Zivilgesetzbuches<br />

(ZGB), die am 1. Juli <strong>2014</strong> in<br />

Kraft treten, wird unabhängig vom Zivilstand<br />

der Eltern die gemeinsame elterliche<br />

Sorge zum Regelfall. Die elterliche Sorge<br />

umfasst neben der Erziehung und Ausbildung<br />

sowie der gesetzlichen Vertretung<br />

und Verwaltung des Vermögens auch die<br />

elterliche Obhut. Darunter fällt die tägliche<br />

Betreuung und Pflege sowie auch die<br />

Bestimmung des Aufenthaltsorts. Es steht<br />

den Eltern also zu, die Obhut so zu regeln,<br />

dass beide Elternteile einzelne oder mehrere<br />

Tage pro Woche die Betreuung der gemeinsamen<br />

Kinder übernehmen können.<br />

Um der Idee des Gesetzgebers gerecht zu<br />

werden und immer auch mit Blick auf das<br />

Wohl des Kindes, ist es deshalb zu vermeiden,<br />

das Kind sozialhilferechtlich lediglich<br />

einem Haushalt zuzuordnen.<br />

Das Bundesgesetz über die Zuständigkeit<br />

für die Unterstützung Bedürftiger<br />

(ZUG) regelt die Situation eines unterschiedlichen<br />

zivilrechtlichen Wohnsitzes<br />

der Eltern so, dass das minderjährige Kind<br />

den Unterstützungswohnsitz desjenigen<br />

Elternteils hat, bei dem es wohnt (Art. 7<br />

Abs. 2 ZUG). Diese Bestimmung kann<br />

so ausgelegt werden, dass das Kind den<br />

Unterstützungswohnsitz beider Elternteile<br />

beziehungsweise abwechselnd den<br />

Unterstützungswohnsitz des einen oder<br />

des anderen teilt. Daraus folgt, dass der<br />

Elternteil mit dem minderjährigen Kind<br />

rechnerisch als ein Unterstützungsfall zu<br />

behandeln ist.<br />

Die Unterstützungsberechnung erfolgt<br />

nach den tatsächlichen Verhältnissen.<br />

Folglich sollten sich die Wohnkosten nach<br />

einer Unterstützungseinheit richten, die<br />

ein beziehungsweise zwei Kinder umfasst.<br />

Ebenso wird der Grundbedarf entsprechend<br />

angepasst. Mit dieser Berechnung<br />

wird sichergestellt, dass sich der sozialhilfebeziehende<br />

Elternteil zur Hälfte an<br />

den Kosten zur Anschaffung von Kleidern<br />

und Schuhen, an Verkehrsauslagen oder<br />

Ähnlichem beteiligen kann. Die Kinderalimente<br />

werden dabei dem Unterstützungsbudget<br />

angerechnet.<br />

Antwort<br />

Der Haushalt von Eva D. umfasst während<br />

durchschnittlich 3,5 Tagen pro Woche drei<br />

Personen und während der anderen 3,5<br />

Tage zwei Personen. Der Grundbedarf kann<br />

nach folgender Mischrechnung bestimmt<br />

werden: GBL = (GBL1-*Anzahl Wochentage/7)<br />

+ (GBL2-*Anzahl Wochentage/7).<br />

GBL1 steht in diesem Beispiel für den<br />

Grundbedarf ohne Margrit und GBL2 für<br />

denjenigen mit Margrit. Konkret lautet die<br />

Rechnung wie folgt: (Fr. 1'509.-*3.5/7<br />

= Fr. 754.50.-) plus (Fr. 1'834.-*3.5/7<br />

= Fr. 917.-) ergibt einen Grundbedarf von<br />

monatlich 1'671.50 Franken. Zudem ist<br />

Eva D. ein Mietzins zu gewähren, der die<br />

Tatsache berücksichtigt, dass zeitweise zwei<br />

Kinder in der Wohnung leben. Sämtliche<br />

Auslagen, die unter das Kapitel C der SKOS-<br />

Richtlinien fallen, werden grundsätzlich<br />

hälftig im Budget von Eva D. berücksichtigt.<br />

Die vom Gericht gesprochenen Alimente<br />

für Margrit sind im Unterstützungsbudget<br />

vollumfänglich anzurechnen, da bei der<br />

Berechnung berücksichtigt wurde, dass<br />

Margrit zur Hälfte bei ihrem Vater lebt. •<br />

Ruth Ziörjen<br />

Kommission Richtlinien<br />

und Praxishilfen<br />

10 ZeSo 2/14 praxis


Geld und Geist in der Sozialhilfe<br />

Georges Köpfli hat die Ethik und die Auslegung der SKOS-Richtlinien in den vergangenen zehn<br />

Jahren stark mitgeprägt. Er ist im Mai als Geschäftsleitungsmitglied und Präsident der Kommission<br />

Richtlinien und Praxis (RIP) zurückgetreten. Georges Köpfli reflektiert in diesem Beitrag die<br />

Grundgedanken und Prinzipien, auf denen die SKOS-Richtlinien aufbauen.<br />

Wer in der Sozialhilfe tätig ist, begegnet<br />

unausweichlich der Frage, was der Mensch<br />

zum Leben benötigt. Es ist daher nicht verwunderlich,<br />

dass die SKOS-Richtlinien und<br />

insbesondere die Höhe der Unterstützungsansätze<br />

immer wieder zu Diskussionen führen.<br />

Die Auseinandersetzungen über die<br />

Ausgestaltung der sozialen Sicherheit widerspiegeln<br />

den jeweiligen Zeitgeist und konfrontieren<br />

uns mit wichtigen Grundsatzfragen.<br />

Woran erkenne ich, ob ich gerecht<br />

handle und die Würde des Hilfesuchenden<br />

respektiere? Was ist ein «angemessenes»<br />

Existenzminimum? Aufgrund welcher<br />

Werte und Normen entscheiden wir, wann<br />

ein bestimmtes Verhalten nicht mehr gesellschaftsverträglich<br />

ist, und wer definiert<br />

diese Normen? Wie weit geht die Aufgabe<br />

des Staates, für Arme und Bedürftige zu<br />

sorgen? Die Antworten auf diese Fragen<br />

sind geprägt von Menschenbildern, und<br />

diese Menschenbilder prägen auch unser<br />

Handeln und unsere Einstellung gegenüber<br />

Hilfe suchenden Menschen.<br />

Dass sich die politische und öffentliche<br />

Diskussion über die Sozialhilfe in der<br />

jüngsten Zeit immer öfter auf die Frage reduziert,<br />

ob die Unterstützungsansätze der<br />

SKOS-Richtlinien zu hoch oder zu tief sind,<br />

greift aber in jedem Fall zu kurz. Zuallererst<br />

muss die Frage nach den Zielen der Sozialhilfe<br />

geklärt sein. Und zum Zweiten bedarf<br />

es einer Auseinandersetzung mit unseren<br />

Bildern über Menschen, die auf Unterstützung<br />

angewiesen sind. Vertreten wir die<br />

Auffassung, dass sich Unterstützungsbedürftige<br />

für eine Verbesserung ihrer Situation<br />

erst dann einsetzen, wenn sie finanziell<br />

möglichst knapp gehalten werden? Oder<br />

sind für uns die Stärkung und Förderung<br />

von Ressourcen eines Individuums zentrale<br />

Grundsätze und eine Voraussetzung, damit<br />

Menschen ermächtigt werden, ihr Schicksal<br />

selber in die Hand zu nehmen?<br />

In der Debatte um die Weiterentwicklung<br />

der SKOS-Richtlinien braucht es<br />

neben den Forderungen nach einer Überprüfung<br />

der Unterstützungsansätze die<br />

Auseinandersetzung mit dem Geist, der<br />

den Richtlinien zugrunde liegt. Die heutigen<br />

Normen bekennen sich zu einer Unterstützung,<br />

die nicht bloss das Überleben<br />

sichert, sondern auch Teilhabe und Teilnahme<br />

ermöglicht. Dieses Grundprinzip<br />

beruht auf der Haltung, dass Menschen<br />

unabhängig von ihrem ökonomischen Status<br />

Anspruch auf gesellschaftliche Zugehörigkeit<br />

haben. Damit wird die doppelte<br />

Zielsetzung der Sozialhilfe – Existenzsicherung<br />

und Integration – betont.<br />

Dass Integrationsbemühungen fehlschlagen<br />

können und der Lebensweg eines<br />

Menschen nicht unseren Werten und Normen<br />

entspricht, das gab es seit jeher in allen<br />

Gesellschaften, und das gibt es auch heute<br />

noch. Wir begegnen in der Sozialhilfe unter<br />

anderem auch gesellschaftlichen Aussenseitern,<br />

schrägen Typen, solchen, die nicht so<br />

richtig passen, die anecken, fordernd sind<br />

und uns herausfordern. Wir alle kennen den<br />

Zwang zur Normalität, den Anspruch, Menschen<br />

zu integrieren und zu re-integrieren,<br />

selbstredend mit den besten moralischen<br />

Motiven. Trotz Anreizsystemen und Integrationsprogrammen<br />

wird es aber immer Menschen<br />

geben, bei denen es nichts anzureizen<br />

gibt. Im Einzelfall kann es deshalb sinnvoll<br />

und zielführend sein, mit einer Grundsicherung<br />

die elementaren Ansprüche an ein<br />

menschenwürdiges Dasein zu sichern, ohne<br />

Anspruch auf weiterführende Ziele.<br />

Die SKOS-Richtlinien sind kein Rezeptbuch.<br />

Sie geben eine Richtung an, um dem<br />

Einzelfall möglichst gerecht zu werden.<br />

Und sie basieren auf Werten und Grundprinzipien<br />

einer Gesellschaft, die die Solidarität<br />

mit den Schwachen und Bedürftigen<br />

als gemeinsame Verantwortung versteht.<br />

Diesem gesellschaftlichen Konsens gilt es<br />

bei der Weiterentwicklung der Richtlinien<br />

und bei der Umsetzung in der Praxis der<br />

Sozialhilfe Sorge zu tragen.<br />

•<br />

Georges Köpfli<br />

Georges Köpfli<br />

Bild: zvg<br />

Georges Köpfli (68) war 2005 Mitglied der<br />

Projektgruppe für ein Schulungskonzept zu<br />

den revidierten SKOS-Richtlinien. Seither<br />

unterstützte er die SKOS als Kursleiter<br />

(«Einführung in die SKOS-Richtlinien»).<br />

Von 2008 bis zu seinem Rücktritt im Frühling<br />

<strong>2014</strong> war er Mitglied der Geschäftsleitung<br />

und Präsident der Kommission<br />

Richtlinien und Praxishilfen (RIP).<br />

Nach seiner Ausbildung zum Sozialarbeiter<br />

war er auf einem Gemeindesozialdienst<br />

tätig, absolvierte ein Nachdiplomstudium<br />

in Holland und arbeitete von 1980 bis<br />

2008 als Dozent an der Fachhochschule<br />

Zürich (ZHAW). Während 16 Jahren war er<br />

in seiner Wohngemeinde Hausen am Albis<br />

Gemeinderat und Präsident der Sozialbehörde<br />

sowie Mitglied des Vorstands der<br />

Sozialkonferenz des Kantons Zürich, in<br />

deren Auftrag er sich bis heute insbesondere<br />

in der Behördenschulung engagiert.<br />

Die SKOS dankt Georges Köpfli herzlich für<br />

seinen engagierten Einsatz.<br />

NB: Claudia Hänzi, Leiterin des Amts für<br />

soziale Sicherheit des Kantons Solothurn,<br />

übernimmt von Georges Köpfli den Vorsitz<br />

der Kommission Richtlinien und Praxis. Sie<br />

gehört neu auch der Geschäftsleitung an.<br />

SKOS-RICHTLINIEN 2/14 ZeSo<br />

11


Bild: Rudolf Steiner<br />

12 ZeSo 2/14 SCHWERPUNKT


schulden und sozialhilfe<br />

Schulden und Sozialhilfe<br />

Sozialhilfe und Schuldenproblematik liegen oft nicht weit<br />

auseinander. Schulden behindern Sozialhilfebeziehende<br />

nicht nur bei der Ablösung aus der Sozialhilfe, sie können<br />

beispielsweise auch die Suche nach einer billigeren Wohnung<br />

erschweren. Doch den Sozialdiensten fehlt es oft an<br />

Ressourcen, um sich im Rahmen ihrer primären Arbeit auch<br />

noch um eine nachhaltige Schuldenberatung zu kümmern.<br />

<strong>ZESO</strong>-SCHWERPUNKT<br />

Beiträge zum Thema Schulden und Sozialhilfe:<br />

14 Schulden und ihre Relevanz für die Sozialhilfe<br />

16 Schuldenberatung erfolgt im Interesse der Allgemeinheit<br />

18 Kleinere Sozialdienste begegnen der Verschuldungsproblematik pragmatisch<br />

20 Die geltenden Bestimmungen schaden der Volkswirtschaft<br />

22 Schuldenberatung mit Blick auf biografische Einflüsse<br />

SCHWERPUNKT 2/14 ZeSo<br />


Schulden und ihre Relevanz<br />

für die Sozialhilfe<br />

Schulden können die Lebenssituation von Sozialhilfebeziehenden in vieler Hinsicht beeinträchtigen.<br />

Wenn in der Sozialhilfe Handlungsspielräume zur Regulierung von Schulden geschaffen würden,<br />

könnten sowohl die betroffenen Personen als auch die öffentlichen Kassen davon profitieren. Deshalb<br />

sollte der Schuldenproblematik in der sozialpolitischen Agenda ein hoher Stellenwert eingeräumt werden.<br />

Verschuldung kann dann als problematisch betrachtet werden,<br />

wenn sie zu Betreibungen oder Lohnpfändungen führt. Weniger<br />

formal betrachtet sind Schulden dann problematisch, wenn sie<br />

die finanziellen Spielräume einer Person oder eines Haushalts<br />

soweit einengen, dass die verbleibenden finanziellen Mittel nicht<br />

mehr für den laufenden Lebensunterhalt ausreichen. Schulden<br />

betreffen und belasten also nicht bloss die verschuldete Person.<br />

Häufig leiden Familienangehörige ebenfalls unter den durch<br />

Schulden zusätzlich angespannten wirtschaftlichen Verhältnissen<br />

eines Haushalts.<br />

Für Menschen in prekären Lebensumständen bedeutet Verschuldung,<br />

dass sie ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit überschätzt<br />

und quasi vorweggenommen haben. Sie sind nicht mehr<br />

in der Lage, die Schulden aus eigener Kraft, in absehbarer Zeit<br />

und im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten zurückzuzahlen.<br />

Doch nicht nur die Höhe der Schulden spielt bei der Verschuldung<br />

von Privatpersonen eine Rolle. Gerade bei Menschen mit sehr<br />

wenig finanziellen Ressourcen zeigt sich als ein zentrales Problem,<br />

dass sie schnell den Überblick über ihre finanziellen Angelegenheiten<br />

verlieren können. Trifft dies zu, entstehen oft Konstellationen<br />

mit nicht nur einem, sondern einem <strong>ganz</strong>en «Ensemble» von<br />

Inkassounternehmen und staatlichen sowie privaten Gläubigervertretern.<br />

Dies wiederum kann sich stark belastend auf die verschuldeten<br />

Personen auswirken und Verdrängungsmechanismen<br />

fördern.<br />

Die Spanne zwischen<br />

sozialhilferechtlichem und<br />

betreibungsrechtlichem<br />

Existenzminimum ist<br />

gering – und somit auch<br />

der finanzielle Anreiz,<br />

aus der Sozialhilfe<br />

herauszukommen.<br />

Personen im Sozialhilfebezug müssen aufgrund ihrer stark eingeschränkten<br />

finanziellen Spielräume zwangsläufig sparsam, also<br />

rational und wirtschaftlich, handeln. Von einer unübersehbaren<br />

Zahl von Gläubigern gemahnt, betrieben oder bedrängt zu werden,<br />

kann allerdings zu einem Umgang mit Geld führen, der für<br />

Aussenstehende schwer zu verstehen ist und der manchmal vorschnell<br />

als unwirtschaftlich oder «unsinnig» beurteilt wird: Es<br />

kommt zu Situationen, bei denen eigentlich nachrangige, aber<br />

aufdringlich mahnende Gläubiger vorrangig bedient werden, und<br />

laufende Kosten, beispielsweise für die Wohnung oder die Krankenversicherung,<br />

nicht bezahlt werden. Daraus ergeben sich die<br />

bekannten Situationen, dass die Sozialhilfe bei der Existenzsicherung<br />

mit Strom-, Miet- oder Prämienschulden bei Krankenversicherungen<br />

konfrontiert ist.<br />

Die Kontrolle über die eigenen Finanzen geht verloren<br />

Insbesondere der Gesundheitsbereich stellt ein zunehmendes Problem<br />

bei verschuldeten Menschen dar. Namentlich jene Krankenversicherungen,<br />

die niedrige Prämien verlangen, und zu deren Wahl<br />

Menschen in der Sozialhilfe – teilweise mit Nachdruck – geraten<br />

wird, gerade diese Krankenversicherungen wickeln selbst keine Zahlungen<br />

mit Apotheken, Ärzten, Krankenhäusern usw. ab. Diese<br />

Arbeit überlassen sie den Versicherten. Unter den geschilderten<br />

Umständen von Überlastung und Unübersichtlichkeit der eigenen<br />

Finanzen führt diese Praxis fast zwangsläufig zu Zahlungsrückständen<br />

oder Schulden bei den Leistungserbringern des Gesundheitsbereichs<br />

und auch zum Verlust der Kontrolle über den Selbstbehalt<br />

und die Franchise. Menschen mit Schulden wenden sich<br />

später an die Sozialhilfebehörden, um Hilfen zu beantragen – das<br />

hat die Studie zum Buch «Der schwere Gang zum Sozialdienst»<br />

von Rosmarie Ruder et al. anschaulich aufgezeigt.<br />

Schulden erschweren die Ablösung von der Sozialhilfe<br />

Umgekehrt dürfte vielen verschuldeten Sozialhilfebeziehenden<br />

aber auch der Anreiz fehlen, wieder eine volle Arbeitsstelle anzunehmen<br />

und sich so von der Sozialhilfe abzulösen. Denn die Spanne<br />

zwischen dem sozialhilferechtlichen und dem betreibungsrechtlichen<br />

Existenzminimum ist je nach Haushaltssituation zwar<br />

unterschiedlich, aber in jedem Fall gering – und somit auch der<br />

finanzielle Anreiz, aus der Sozialhilfe herauszukommen. Umso<br />

verwunderlicher erscheint es, dass bei den vielen Bemühungen um<br />

die Arbeitsintegration das Thema Verschuldung bislang weitgehend<br />

ausgeklammert wurde. Und auch wenn die Problematik der<br />

Alimente-Schulden und der Alimente-Bevorschussung strukturell<br />

nicht direkt zur Sozialhilfe gehört, sind hier dennoch Parallelen<br />

14 ZeSo 2/14 SCHWERPUNKT


schulden und sozialhilfe<br />

Wenn verschuldete Menschen eine billigere Wohnung suchen, sind Betreibungsregistereinträge ein Hindernis.<br />

Bild: Pixsil/Béatrice Devènes<br />

und Zusammenhänge erkennbar. Auch Unterhaltsschulden entstehen<br />

oft in komplexen Situationen, beispielsweise wenn bereits<br />

Ratenverpflichtungen bestehen oder die finanzielle Situation einer<br />

Person unübersichtlich ist. Wenn aber zum laufenden Unterhalt<br />

und möglichen Unterhaltsschulden noch weitere Schuldverpflichtungen<br />

hinzukommen, wirkt sich das letztlich auch auf die öffentlichen<br />

Kassen aus.<br />

Auswirkungen von Betreibungsregistereinträgen<br />

Bei der Bewerbung für eine Mietwohnung wird oft ein Betreibungsregisterauszug<br />

verlangt. Menschen im Sozialhilfebezug können<br />

zwar nicht gepfändet werden, aber etwaige Betreibungen erscheinen<br />

dennoch in den Betreibungsregisterauszügen. Solche<br />

Einträge sind bei der Wohnungssuche von Bedeutung, denn durch<br />

sie sinkt die Chance, den Zuschlag für eine Wohnung zu erhalten.<br />

Die Betreibungsregistereinträge schränken verschuldete Menschen<br />

in ihrer Flexibilität ein, sich veränderten Einkommens- oder<br />

Lebensbedingungen anzupassen. Es wird ihnen nahezu unmöglich,<br />

in einen ihrer finanziellen Situation eher entsprechenden,<br />

billigeren Wohnraum umzuziehen und mit ihren Sozialhilfegeldern<br />

auszukommen.<br />

Die erschwerte Wohnungssuche für Menschen mit negativem<br />

Betreibungsregisterauszug wirkt sich zudem oft auch auf die Ablösung<br />

junger Menschen vom elterlichen Haushalt aus. Junge<br />

verschuldete Menschen sind nicht nur wegen ihres noch geringen<br />

oder ungesicherten Einkommens, sondern auch wegen den Einträgen<br />

im Betreibungsregister auf dem Wohnungsmarkt benachteiligt.<br />

Sozialhilfe als Chance, eine Lösung zu finden<br />

Diese Ausführungen zeigen, dass Schulden die Lebenssituation<br />

von Menschen im Sozialhilfebezug in mehrfacher Hinsicht beeinträchtigen<br />

können. Andererseits könnte der Sozialhilfebezug aus<br />

Sicht der Schuldenberatung eine gute Verhandlungsposition bieten,<br />

um mit Gläubigern eine Lösung zu finden und nennenswerte<br />

Teilerlasse für die betroffenen Menschen zu erreichen und diese<br />

damit in ihrer wirtschaftlichen Gesundung zu unterstützen. Doch<br />

dazu ist erforderlich, dass in der Sozialhilfe Handlungsspielräume<br />

zur Regulierung von Schulden geschaffen werden. Sowohl die<br />

betroffenen Personen als auch die öffentlichen Kassen könnten<br />

davon profitieren. <br />

•<br />

Christoph Mattes<br />

Hochschule für Soziale Arbeit der FHNW<br />

Themenschwerpunkte Armut und Verschuldung<br />

SCHWERPUNKT 2/14 ZeSo<br />


Schuldenberatung erfolgt im Interesse<br />

der Allgemeinheit<br />

In Lausanne betreibt der städtische Sozialdienst eine Schuldenberatungsstelle, die auch<br />

Sozialhilfebeziehenden offen steht. Ihnen drohen bei der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit<br />

aufgrund der Betreibungen, die gegen sie laufen, oft jahrelange Lohnpfändungen. Umso wichtiger ist<br />

es, die Betroffenen über Alternativen wie den Privatkonkurs zu informieren.<br />

Die Unité d'assainissement financier (Unafin), die Fachstelle für<br />

Schuldensanierung des Lausanner Sozialdienstes, besteht seit<br />

2001. Dass die Stadtverwaltung eine eigene, dem Sozialdienst angegliederte<br />

Schuldenberatungsstelle betreibt, liegt im Interesse<br />

der Allgemeinheit an einem Instrument gegen die wachsende<br />

Überschuldung von Privathaushalten. Denn eine hohe Verschuldungsquote<br />

in der Bevölkerung hat negative Auswirkungen auf<br />

das Gesundheitswesen und auf die kommunale Wohlfahrt. Die mit<br />

560 Stellenprozenten ausgestattete Fachstelle hat den Auftrag, als<br />

städtisches Kompetenzzentrum für Schuldenmanagement mit Präventionsmassnahmen<br />

der Überschuldung der Bürgerinnen und<br />

Bürger entgegenzuwirken und Privathaushalte bei der Schuldensanierung<br />

zu begleiten. Konkret bietet die Unafin ihren Klientinnen<br />

und Klienten folgende Dienstleistungen an:<br />

- Überprüfung ihrer finanziellen Situation, mit dem Ziel, realistische<br />

Massnahmen für eine Schuldensanierung einzuleiten<br />

- Budgetkontrolle und -optimierung, mit dem Ziel, neue Schulden<br />

zu vermeiden<br />

- Begleitung im Sanierungsprozess<br />

- Einreichen eines Gesuchs zur Eröffnung des Privatkonkurses<br />

und Bevorschussung der damit verbundenen Gebühren, um<br />

verschuldeten Personen, bei denen eine Schuldensanierung<br />

unmöglich ist, einen Neuanfang zu ermöglichen.<br />

eine Unterstützung durch das Schuldenmanagement erfüllt sind.<br />

Voraussetzungen sind eine hohe Motivation zum Schuldenabbau,<br />

ein Einkommen über dem Existenzminimum sowie stabile Wohn-,<br />

Arbeits- und Familienverhältnisse und gute Gesundheit.<br />

Privatkonkurs ist oft die einzige Lösung<br />

Gründe für eine Überschuldung gibt es viele. Meistens haben sich<br />

die Betroffenen nicht aktiv, sondern passiv verschuldet. Der Verschuldung<br />

liegen Ereignisse wie Arbeitslosigkeit, eine dauerhafte ge-<br />

Ein Viertel der Klienten wird intern überwiesen<br />

Die meisten Klientinnen und Klienten gelangen über die Anlaufstelle<br />

«Info Sociale» des Lausanner Sozialdienstes (Service social<br />

Lausanne, SSL) an die Unafin. «Info Sociale» ist als Eingangspforte<br />

zum SSL konzipiert und triagiert die Anfragen aus dem Internet<br />

und der Personen, die sich auf Anraten des Konkursamts oder des<br />

Bezirksgerichts melden. Andere werden von der Schuldenberatungs-Hotline<br />

«Info Budget» an die Unafin überwiesen. Die Hotline<br />

wird vom kantonalen Sozialamt finanziert und gemeinsam<br />

von Caritas, vom Sozialdienst der evangelisch-reformierten Kirche,<br />

der Fachstelle Unafin und vom Westschweizer Konsumentenschutz<br />

FRC betrieben.<br />

Rund ein Viertel der Klienten wird intern an die Unafin überwiesen.<br />

Dies geschieht dann, wenn die Sozialarbeitenden des<br />

Lausanner Sozialdienstes feststellen, dass die Voraussetzungen für<br />

Eingangsbereich zum Service Social<br />

der Stadt Lausanne.<br />

Bild: Hugues Siegenthaler<br />

16 ZeSo 2/14 SCHWERPUNKT


schulden und sozialhilfe<br />

sundheitliche Beeinträchtigung oder eine Scheidung zugrunde. Es<br />

lässt sich kein typisches Verhalten ableiten, das eine Überschuldung<br />

begünstigt. Das Problem kann eigentlich jeden treffen.<br />

Viele Betroffene wenden sich erst an die Unafin, nachdem sie<br />

schon mehrere Jahre in schwierigen finanziellen Verhältnissen<br />

gelebt haben. Damit verschärfen sie das Problem und schwächen<br />

sich in vielerlei Hinsicht selbst, denn ein Schuldenberg kann<br />

neben dem Familienleben auch die Arbeit und die Gesundheit<br />

beeinträchtigen. Leider verlässt einige Klienten der Mut und sie<br />

brechen die Zusammenarbeit ab, noch bevor sich eine Lösung abzeichnet.<br />

Die Bedingungen für erfolgreiche Schuldensanierungen<br />

werden aber auch immer seltener erfüllt, meistens weil in den betroffenen<br />

Haushalten die finanziellen Möglichkeiten für eine Sanierung<br />

nicht erfüllt sind oder der Schuldenberg schneller wächst<br />

als das Einkommen. Ein anderer Grund, weshalb Schuldensanierungen<br />

oft scheitern, sind Gläubiger, die in der Tendenz immer<br />

Die Kosten, die für<br />

die Lösung anfallen,<br />

sind eine Investition<br />

in die Gesellschaft.<br />

unnachgiebiger werden. Mangels Alternativen ist der Privatkonkurs<br />

heute sehr oft die einzige Lösung.<br />

Gemäss den Dossiers, die im Jahr 2013 geschlossen wurden,<br />

gelang es 14 Prozent der Klienten der Unafin, ihre Schulden teilweise<br />

oder <strong>ganz</strong> abzubauen. 17 Prozent konnten ihre Verschuldung<br />

stoppen, 22 Prozent erhielten eine Schuldenberatung und<br />

20 Prozent erhielten von der Unafin Antworten auf spezifische<br />

Fragen. In 27 Prozent der Fälle konnte die Fachstelle keine Lösung<br />

finden. Meistens, weil die Zusammenarbeit mit der Fachstelle abgebrochen<br />

wurde.<br />

In den ersten Betriebsjahren betreute die Unafin hauptsächlich<br />

Personen, die nicht auf Sozialhilfe angewiesen waren. Im Lauf der<br />

Zeit öffnete die Fachstelle ihre Dienstleistungen für Sozialhilfebeziehende.<br />

Ihnen drohen bei einer Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit<br />

aufgrund der Betreibungen, die gegen sie laufen,<br />

jahrelange Lohnpfändungen, eine Aussicht, die nicht eben motivationsfördernd<br />

für die Stellensuche ist. Umso wichtiger ist es, die<br />

Betroffenen zu informieren, dass es für den Fall, dass sie eine Stelle<br />

finden, Alternativen zur Lohnpfändung gibt. Der Privatkonkurs<br />

beispielsweise bietet ihnen neue Perspektiven und verschafft ihnen<br />

wieder Luft zum Atmen.<br />

Von der Prävention der Jugendverschuldung über die Budgetberatung<br />

bis hin zur Unterstützung und Motivierung von Sozialhilfeempfängerinnen<br />

und -empfängern, die wegen ihrer Überschuldung<br />

die Hoffnung auf ein finanziell unabhängiges Leben bereits aufgegeben<br />

haben – die Arbeit der Unafin nützt allen. Unter diesem<br />

Blickwinkel sind die Kosten, die für die Lausanner Lösung anfallen,<br />

eine Investition in die Gesellschaft. Natürlich gibt es Hürden,<br />

die nicht allein auf der Gemeindeebene überwunden werden<br />

können. Deshalb ist es notwendig, die Schuldenproblematik und<br />

ihre Konsequenzen auf nationaler Ebene anzugehen und schweizweit<br />

über taugliche Präventionsmassnahmen im Kampf gegen die<br />

Überschuldung nachzudenken, wie es zum Beispiel der Verein<br />

Schuldenberatung Schweiz tut. <br />

•<br />

Olivier Cruchon<br />

Leiter Schuldenberatungsstelle (Unafin)<br />

Sozialdienst Stadt Lausanne<br />

SCHWERPUNKT 2/14 ZeSo<br />


Kleinere Sozialdienste begegnen der<br />

Verschuldungsproblematik pragmatisch<br />

Verschuldung ist ein Thema, das zur alltäglichen Arbeit der Sozialarbeitenden gehört. Für eine<br />

ausführliche Schuldenberatung bleibt wegen fehlender Ressourcen allerdings oft wenig Zeit. Die<br />

<strong>ZESO</strong> hat sich bei vier kleineren, eher ländlich geprägten Sozialdiensten erkundigt, mit welchen<br />

Schuldenproblemen die Leute zu ihnen in die Sozialhilfe kommen und welche Hilfestellungen Sie<br />

anbieten können.<br />

«für anspruchsvolle Schuldenregulierungen<br />

Fehlen die Ressourcen»<br />

Wir stellen bei den Erstgesprächen vielfach fest, dass die Klienten<br />

Kleinkredite aufgenommen oder Leasingverträge abgeschlossen<br />

haben. Die damit verbundenen hohen monatlichen Ratenzahlungen<br />

führen dazu, dass andere, lebenswichtige Rechnungen wie<br />

Krankenkassenprämien, die Miete und anderes mehr nicht bezahlt<br />

werden. Falls die Ausstände bei der Krankenkasse oder der<br />

Miete nicht seit länger als drei Monaten bestehen, übernehmen<br />

wir diese, um zu verhindern, dass die Krankenkasse einen Leistungsstopp<br />

verfügt oder die betroffene Person ihre Wohnung verliert.<br />

Unser gut ausgebildetes Team ist in der Lage, zu erkennen,<br />

wann eine Person oder eine Familie an eine spezialisierte Schuldenberatungsstelle<br />

weiter verwiesen werden muss. Denn obwohl<br />

wir fachlich dazu ausgebildet sind, verfügt unser Sozialdienst<br />

nicht über eigene personelle Ressourcen, um anspruchsvollere<br />

Schuldenregulierungen durchzuführen. In Einzelfällen kann<br />

unser Sozialdienst eine Schuldensanierung übernehmen. Allerdings<br />

auch nur, wenn die Schuldensumme 10 000 Franken<br />

nicht übersteigt.<br />

Wir arbeiten deshalb eng und sehr gut mit der Schuldenberatungsstelle<br />

des Roten Kreuzes Graubünden zusammen, mit der<br />

das kantonale Sozialamt eine Leistungsvereinbarung abgeschlossen<br />

hat. Der einzige Nachteil für unsere Klientinnen und Klienten<br />

besteht darin, dass das Rote Kreuz diese Dienstleistung nur<br />

zentral in Chur und nicht in den einzelnen Regionen anbietet.<br />

Dadurch sind die Klientinnen und Klienten gezwungen, den<br />

Weg von Davos nach Chur auf sich zu nehmen. Aufgrund unserer<br />

Erfahrungen ist dem Thema Verschuldung<br />

bei Jugendlichen und<br />

jungen Erwachsenen eine besondere<br />

Bedeutung zuzumessen.<br />

«wir Versuchen, eine weitere<br />

Verschuldung zu verhindern»<br />

Die meisten Personen, die sich an die Sozialhilfe wenden, sind bereits<br />

verschuldet. Oft handelt es sich um Steuerschulden oder nicht<br />

bezahlte Krankenkassenprämien. Die Sozialhilfe kann bekanntlich<br />

keine Schulden übernehmen. Hingegen versuchen wir sicherzustellen,<br />

dass Rechnungen wie die Miete oder der Selbstbehalt<br />

auf den Arztkosten, die von der Sozialhilfe übernommen werden<br />

können, tatsächlich bezahlt werden, um so weitere Schulden zu<br />

vermeiden.<br />

Die sozialarbeiterische Ausbildung an einer Fachhochschule ermöglicht<br />

es sehr gut, auf solche Situationen einzugehen. Natürlich<br />

ist eine Mitarbeiterin mit einer Zusatzausbildung oder Erfahrung<br />

in der Schuldenberatung ein Plus für den Dienst. Wenn angezeigt,<br />

arbeiten wir auch mit dem Schuldenberatungsdienst der Caritas<br />

Jura zusammen. Da es selten möglich ist, für Sozialhilfebeziehende<br />

einen Schuldensanierungsplan zu erstellen, findet diese<br />

Zusammenarbeit eher unregelmässig statt. Wenn jemand hingegen<br />

vor der Ablösung von der Sozialhilfe steht und die finanzielle<br />

Situation in den Griff bekommen möchte, dann verweisen wir ihn<br />

an die Caritas.<br />

Wir kümmern uns also primär darum, dass der minimale Lebensbedarf<br />

der betroffenen Personen gedeckt ist, und versuchen<br />

gleichzeitig zu verhindern, dass sie sich noch weiter verschulden.<br />

Allerdings geniessen die Soziahlhilfebeziehenden bei der Verwendung<br />

des monatlichen Unterhaltsbeitrags eine gewisse Autonomie,<br />

und uns fehlen für die Begleichung von Rechnungen direkt<br />

durch den Sozialdienst die Ressourcen und Instrumente, beispielsweise<br />

dazu notwendige Vollmachten. Die Betreuung von verschuldeten<br />

Sozialhilfebeziehenden<br />

bedingt ferner, dass die Klientin<br />

oder der Klient gut kooperiert und<br />

bereit ist, die zweckdienlichen Informationen<br />

und Unterlagen weiterzugeben.<br />

Bilder: zvg<br />

18 ZeSo 2/14 SCHWERPUNKT<br />

Clemenz Roland<br />

Leiter Sozialdienst Davos<br />

Dominique Cattin Houser<br />

Directrice du Service social régional des<br />

Franches-Montagnes, Le Noirmont


schulden und sozialhilfe<br />

«Wir begegnen einfachen Zahlungsrückständen<br />

und Verschuldungen<br />

über die Millionengrenze hinaus.»<br />

Die Schuldenthemen sind sehr divers. Wir begegnen sowohl einfachen<br />

Zahlungsrückständen wie Verschuldungen über die Millionengrenze<br />

hinaus. Hauptgründe für die Verschuldungen sind<br />

tiefe oder fehlende Einkommen oder ein Leben über den Verhältnissen.<br />

Je nachdem, wie hoch der Schuldenberg ist, wird die Schuldenthematik<br />

unterschiedlich angegangen. Nach der Prüfung der<br />

Ansprüche beim Intake wird als Erstes die aktuelle Situation geregelt.<br />

Anschliessend wird der Fall individuell hinsichtlich der Schuldensituation<br />

beurteilt.<br />

Bei verhältnismässig tiefen Schulden, keinen Betreibungen<br />

und guten Aussichten für ein eigenständiges Einkommen kann<br />

eine Schuldensanierung durch uns ins Auge gefasst und mit den<br />

Klienten besprochen werden. Die Intervision gibt den Sozialarbeitenden<br />

die Möglichkeit, sich intern auszutauschen und sich dabei<br />

Fachwissen anzueignen. Wenn sich zeigt, dass jemand aufgrund<br />

seiner Einkünfte keine finanzielle Unterstützung zugut hat, wird<br />

er oder sie an eine Schuldenberatungsstelle weiter verwiesen.<br />

Diese Stellen arbeiten allerdings oft mit anderen methodischen<br />

Ansätzen als die Sozialhilfe und ihre Leistungen sind für den Klienten<br />

nicht gratis. Dafür verfügen sie über mehr fachspezifisches<br />

Know-how und häufig über ein nützliches Netzwerk.<br />

Es kann auch vorkommen, dass ehemalige Klienten, die finanziell<br />

unterstützt wurden und sich dann von der Sozialhilfe ablösen<br />

konnten, bei genügendem Einkommen bei einer Schuldensanierung<br />

im Sinne einer freiwilligen Einkommensverwaltung weiter<br />

von uns unterstützt werden. Um Schuldensanierungen durchführen<br />

zu können, braucht es neben Fachwissen auch zeitliche<br />

Ressourcen. In der aktuellen politischen Sparrunde gibt es nur<br />

wenig Möglichkeiten, Ressourcen<br />

für diese sinnvollen Zusatzaufgaben<br />

einzusetzen.<br />

Turi Schallenberg<br />

Leiter Soziale Dienste Frauenfeld<br />

«sozialarbeiterisches Denken allein<br />

genügt hier nicht.»<br />

Oft geht es um Zahlungsrückstände bei der Miete, der Krankenkasse<br />

oder den Steuern. Entweder weil das Einkommen nicht ausreicht<br />

oder weil anderem wie Ratenzahlungen für Leasing- oder Bankkredite<br />

eine höhere Priorität eingeräumt wird. Bei kleinen Beträgen<br />

versuchen wir, pragmatische Lösungen zu finden, mit Zahlungsvereinbarungen,<br />

einem Beitrag aus einem privaten Fonds oder<br />

durch die Übernahme von Mietrückständen. Manchmal verwalten<br />

wir auch die Einkünfte, um eine Verschuldung zu vermeiden. Das<br />

bedingt aber das Einverständnis und eine sehr gute Zusammenarbeit<br />

mit der betroffenen Person und kommt einer Beistandschaft<br />

ohne Auftrag gleich. Das ist sehr aufwändig für uns.<br />

Für Verhandlungen mit Betreibungsinstanzen oder für umfassende<br />

Schuldensanierungspläne fehlt uns das Know-how: Die<br />

Schuldenberatung, aber auch die gegenüber Kreditinstituten zu<br />

unternehmenden Schritte und das benötigte verfahrensrechtliche<br />

Wissen sind zu spezifisch. Dafür braucht es kompetentes Fachpersonal,<br />

sozialarbeiterisches Denken allein genügt hier nicht.<br />

Solche Fälle lenken wir in Richtung Errichtung einer Beistandschaft<br />

oder wir empfehlen den Betroffenen, sich an Caritas zu wenden,<br />

die im Kanton Freiburg für die Schuldenberatung zuständig<br />

ist. Hin und wieder haben wir uns auch schon an den Konsumentinnenverband<br />

gewandt, um Budgets erstellen zu lassen. Ein Sozialdienst<br />

von der Grösse des unseren ist nicht in der Lage, eine adäquatere<br />

Hilfe für Schuldensanierungen anzubieten. Die Dossiers<br />

werden je länger, je komplexer, die Gesuchstellenden beschreiten<br />

den Rechtsweg usw. Wir müssen auf das fokussieren, was zum Lebensbedarf<br />

gehört. Es ist – nebenbei bemerkt – unglaublich, wie<br />

viel Energie, Zeit und Ressourcen für Schuldensanierungen eingesetzt<br />

werden müssen und wie gering gleichzeitig der politische<br />

Wille ist, die Ursachen der Verschuldungsproblematik<br />

anzupacken und<br />

einen Rahmen zu schaffen, damit es<br />

möglichst gar nicht so weit kommt.<br />

Ein Beispiel dazu ist die wiederholte<br />

Ablehnung von Vorstössen, die<br />

zum Ziel haben, Kreditvergaben an<br />

Jugendliche zu verbieten, durch die<br />

eidgenössischen Räte.<br />

André Sallin<br />

Chef du Service social de la Gruyère, Bulle<br />

SCHWERPUNKT 2/14 ZeSo<br />


Die geltenden Bestimmungen schaden<br />

der Volkswirtschaft<br />

Gesetzliche Vorgaben und administrative Abläufe sorgen dafür, dass die Schuldenproblematik bei<br />

Sozialhilfebezügern in erster Linie verwaltet statt gelöst wird, dass dem Staat hohe, wenig Nutzen<br />

bringende Kosten anfallen, und dass die Schuldner wenig Sinn darin sehen, sich aus der Sozialhilfe<br />

abzulösen.<br />

Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger sind für die Betreibungsämter<br />

auf den ersten Blick eine relativ einfache Kundschaft: Sie<br />

stellen keine grosse fachliche Herausforderung dar, denn bei ihnen<br />

gibt es eigentlich nichts zu holen. Anträge auf Pfändung bei<br />

Sozialhilfebeziehenden enden – weil weder pfändbares Vermögen<br />

noch Einkommen vorhanden ist – in den meisten Fällen mit einem<br />

Verlustschein. Erst beim genaueren Hinschauen offenbaren<br />

sich Problematiken, die zu reflektieren sich lohnt.<br />

Da sind zum einen administrative Abläufe, die wenig zur Problemlösung<br />

beitragen, aber hohe Kosten verursachen. Schuldet<br />

ein Sozialhilfebezüger beispielsweise der Krankenkasse seine Versicherungsprämien,<br />

so wird der <strong>ganz</strong>e betreibungsamtliche Ablauf<br />

bis zur Ausstellung des Verlustscheins durchgespielt. Also, zuerst<br />

die Zustellung des Zahlungsbefehls, dann der Vollzug der Pfändung.<br />

Beides in der Regel, wie leider bei den meisten Schuldnerinnen<br />

und Schuldnern, nicht auf den ersten Versuch des Amtes<br />

hin. Die aufgelaufenen Kosten des Betreibungsamts verdoppeln<br />

in vielen Fällen die betriebene Monatsprämie, insbesondere dann,<br />

wenn die Krankenkasse die Prämie monatlich eintreiben lässt. Mit<br />

dem Verlustschein kann dann aber die Krankenversicherung die<br />

Prämie beim Staat einfordern. Das ist ein volkswirtschaftlicher<br />

Unsinn, führt zu vermeidbaren Schulden und wirkt einer späteren<br />

Schuldensanierung entgegen.<br />

Datenschutz hemmt die Effizienz<br />

Sozialhilfebeziehende müssen in vielen Kantonen keine Steuern bezahlen.<br />

Verzichten Sozialhilfebeziehende allerdings aus Unwissen<br />

oder aus Gleichgültigkeit darauf, eine Steuererklärung einzureichen,<br />

und ist die Steuerbehörde deshalb nicht über die Einkommensverhältnisse<br />

informiert, so werden diese Personen vom Steueramt<br />

eingeschätzt. Sie erhalten eine rechtskräftige Steuerrechnung<br />

für eine eigentlich nicht geschuldete Forderung. Auch hier enden<br />

die Bemühungen des Betreibungsamts mit einem Verlustschein<br />

(siehe oben) und auch hier entsteht vor allem ein kostspieliger administrativer<br />

Aufwand, der wenig bis keinen Nutzen erzeugt. Das Problem<br />

beruht auf dem Umstand, dass die Sozialdienste, Steuerämter<br />

und andere beteiligte Institutionen keine Daten austauschen. Wäre<br />

ihnen ein gesetzlich geregelter zweckgebundener Datenaustausch<br />

erlaubt, wären einfachere und effizientere Abläufe möglich. Solange<br />

der Datenschutz über der Forderung nach mehr Effizienz im System<br />

der staatlichen Leistungserbringer steht, entstehen unnötige Kosten,<br />

und es wird ein System unterhalten, mit dem letztlich nur Geld<br />

umverteilt wird. Man darf sich zu Recht fragen, wem dies nützen<br />

soll, auch wenn die Betreibungsämter durch die anfallenden Gebühren<br />

davon eher profitieren.<br />

Die Auskunftspflicht der Sozialämter gegenüber den Betreibungsämtern<br />

ist gesetzlich geregelt und in Folge dessen unproblematisch.<br />

Wir würden uns aber wünschen, dass Sozialhilfebeziehende<br />

mehr niederschwellige Unterstützung durch die<br />

Sozialämter erfahren würden (beim Ausfüllen der Steuererklärung<br />

oder im Hinblick auf Kontakte mit Betreibungsämtern und anderen<br />

Amtsstellen).<br />

Dem System fehlen positive Anreize<br />

Ist eine Sozialhilfe beziehende Person, die von der Schuldenproblematik<br />

betroffen ist, einmal soweit, dass sie sich von der Sozialhilfe<br />

lösen kann, dann steht sie mit einiger Wahrscheinlichkeit vor<br />

einem Stapel Verlustscheinen (die erst nach 20 Jahren verjähren).<br />

Anstelle der Möglichkeit, wieder einmal auf einen grünen Zweig<br />

zu kommen, wartet auf sie die Aussicht, dass der Lohn umgehend<br />

bis auf das Existenzminimum gepfändet wird. Das wirkt demotivierend.<br />

Die geltenden Bedingungen sorgen also dafür, dass jemand,<br />

der tief in der finanziellen Klemme steckt, nur wenig Chancen<br />

hat, wirtschaftlich je wieder Fuss zu fassen. Auch der<br />

mutmassliche Anreiz, eine Teilzeitbeschäftigung zu finden, um<br />

sich das Sozialgeld aufzubessern, führt nicht zum gewünschten<br />

Erfolg. Denn der Teillohn ist pfändbar, sobald der Totaleinkommensbetrag<br />

grösser ist als das betreibungsamtliche Existenzminimum.<br />

Mehr Geld steht unter diesen Bedingungen also nicht zur<br />

Verfügung. Eine Teilzeitbeschäftigung ist aber dennoch sinnvoll,<br />

weil sie eine geregelte Tagesstruktur und die Integration dieser<br />

Menschen fördert.<br />

Ein weiterer problematischer Punkt beim Ineinandergreifen<br />

der verschiedenen Aufgaben und der fachlichen Arbeit ist, dass<br />

das betreibungsrechtliche Existenzminimum und das Existenzminimum<br />

in der Sozialhilfe aufgrund unterschiedlicher Ziele,<br />

Berechnung und Handhabe schlecht «harmonieren». Gerade die<br />

Motivationsdiskussion sollte dazu führen, dass verschuldete Personen,<br />

die arbeiten, finanziell besser gestellt sind als Personen,<br />

die nicht arbeiten und ausschliesslich von der Sozialhilfe leben.<br />

Ich bin persönlich der Ansicht, dass die Ansätze der Sozialhilfe<br />

nicht gesenkt werden sollen, sondern die Grundbeträge des betreibungsamtlichen<br />

Existenzminimums erhöht werden müssten.<br />

Den volkswirtschaftlichen Unfug abstellen<br />

Es stellt sich also die grundsätzliche Frage, wie attraktiv es überhaupt<br />

ist, aus der Sozialhilfe herauszukommen, und wie eine vorliegende<br />

Verschuldung nach einer Ablösung überwunden werden<br />

kann. Bei tiefen Einkommen ist die Möglichkeit zu prüfen, einen<br />

Privatkonkurs anzustreben. Solange das spätere Einkommen tief<br />

20 ZeSo 2/14 SCHWERPUNKT


schulden und sozialhilfe<br />

Nicht die Ansätze<br />

der Sozialhilfe sollen<br />

gesenkt, sondern die<br />

Grundbeträge des<br />

betreibungsamtlichen<br />

Existenzminimums<br />

müssten erhöht<br />

werden.<br />

Die Stärkung der Gesundheit von langzeitarbeitslosen Menschen – hier<br />

am Einsatzplatz – ist ein Pionierfeld. Bild: Marco Finsterwald die Möglichkeit zu nehmen, je wieder aus dem Schuldensumpf<br />

herauszufinden. Das in Deutschland praktizierte Modell der<br />

Restentschuldung (mehrjährige Verfahrensdauer) könnte auch in<br />

der Schweiz zu mehr positiven Fallverläufen beitragen. Schuldner,<br />

die das Verfahren erfolgreich bestritten haben, erhalten eine echte<br />

Die geltenden Bestimmungen helfen Sozialhilfe beziehenden Menschen<br />

wenig, um wirtschaftlich wieder Fuss fassen zu können. Bild: Keystone<br />

bleibt, haben frühere Gläubiger wenig Chancen, ihre Forderungen<br />

geltend zu machen. Eine Job- und Lohnverbesserung wäre in nicht<br />

wenigen Fällen hingegen kontraproduktiv. Allerdings gilt es auch<br />

hier, die föderalistischen Unterschiede und Besonderheiten zu beachten:<br />

Je nach Kanton oder sogar Richter gelten andere Vermögens-<br />

und Einkommensgrenzbeträge und Vorgaben bei der Beurteilung<br />

des «neuen Vermögens» nach dem Konkurs. Hilfreich bei<br />

der Beurteilung, ob sich ein Privatkonkurs lohnt, kann der «Privatkonkurs-Test»<br />

der Caritas sein (www.caritas-schuldenberatung.ch/<br />

de/loesungen). Diese Website bietet übrigens auch einen «Existenzminimum-Test»<br />

an.<br />

Es ist ein volkswirtschaftlicher Unfug, motivierten Personen<br />

mit den beschriebenen Motivationsblockern und Restriktionen<br />

Chance, wieder zu finanziell unbelasteten Menschen zu werden<br />

und später, als normale Konsumenten, der Volkswirtschaft einen<br />

«Return-of-Investment» zurück zu geben. Der Lösungsansatz von<br />

Isaak Meier und Carlo Hamburger scheint mir richtig zu sein<br />

(«Die Entschuldung von Privathaushalten im schweizerischen<br />

Recht», SJZ 110 (<strong>2014</strong>) Nr. 4, Seite 93 ff.). Nur müsste er politisch<br />

umgesetzt werden.<br />

Vorwärtsschauend wäre es meines Erachtens unabdingbar, dass<br />

das Thema Finanzkompetenz gesamtschweizerisch in den Lehrplan<br />

integriert würde. Die Stadt Zürich hat eine Fachstelle «Schuldenprävention»<br />

eingerichtet und bietet Abschlussklassen der Oberstufe<br />

kostenlose Workshops mit Informationen, Übungen und<br />

konkreten Tipps zur Schuldenprävention an. Neben den Workshops<br />

stellen sie den Lehrpersonen auch Unterrichtsmaterial zur<br />

Verfügung und führen Elternabende zum Thema durch. •<br />

Bruno Crestani<br />

Stadtammann und Betreibungsbeamter, Zürich<br />

SCHWERPUNKT 2/14 ZeSo<br />


Schuldenberatung mit Blick auf<br />

biografische Einflüsse<br />

Die systemische Beratungsmethodik kann Menschen zu neuen Erkenntnissen über ihre Situation<br />

und insbesondere über ihre Stärken und Möglichkeiten verhelfen. Der Ansatz kann auch bei der<br />

Beratung von Sozialhilfebeziehenden im Hinblick auf den Umgang mit Schulden angewendet werden.<br />

Kaum etwas im Leben ist so kompliziert wie das Thema Geld. Geld<br />

beeinflusst unser Denken und Handeln – und ist trotzdem und<br />

immer noch etwas, über das selten offen gesprochen wird. Kein<br />

Geld zu haben, wird als grosser Makel empfunden, seine Schulden<br />

nicht zurückzahlen zu können als persönliches Versagen. Die<br />

Schuldnerberatung ist deshalb mehr als das Errechnen von Haushalts-<br />

und Zahlungsplänen, sie bedeutet intensive Beratungsarbeit<br />

mit Menschen, die in Krisen stecken.<br />

Viele Beratungsschulen gehen davon aus, dass Menschen über<br />

Kompetenzen und Ressourcen verfügen, die sie zur Lösung von<br />

Problemen benötigen, auch wenn sie diese momentan nicht nutzen<br />

können. Die systemische Beratung zeichnet sich durch ein<br />

besonderes Verständnis des Menschen und seiner sozialen Beziehungen<br />

aus. Sie geht von der Annahme aus, dass alle Dinge<br />

in ihrer Komplexität zusammenhängen. Auch in der Schuldnerberatung<br />

kann die Beratungsarbeit auf der Grundlage des systemischen<br />

Gedankens erfolgen.<br />

Menschen, die eine Schuldnerberatung aufsuchen, möchten<br />

ihr Schuldenproblem in irgendeiner Weise bewältigen. Es geht<br />

ihnen häufig schlecht. Sie fühlen sich als Versager und tragen oft<br />

eine hohe moralische Last. Oft bringen sie auch andere Probleme<br />

mit in die Beratung, eine gescheiterte Beziehung, Sorgen um ein<br />

Kind, das in der Schule nicht mehr zurecht kommt usw. Solche<br />

zusätzlichen Belastungen erschliessen sich manchmal erst auf den<br />

zweiten Blick. Und doch sind sie so dominant, dass sie die Arbeit<br />

an der Schuldenproblematik in den Hintergrund drängen.<br />

Die systemische Theorie geht davon aus, dass sich Systeme und<br />

damit die darin handelnden Menschen nicht von aussen verändern<br />

lassen, sondern dass die Veränderung nur von ihnen selber<br />

Die Rückschau<br />

auf Erlerntes und<br />

Erlebtes kann<br />

positive Erfahrungen<br />

sichtbar machen.<br />

ausgehen kann. Diese zentrale Erkenntnis hilft einem in der Beratungsarbeit,<br />

besser zu verstehen, dass man etwas anregen, aber<br />

nicht verändern kann. Jeder Mensch macht in jeder Situation das,<br />

was er in dem Augenblick für richtig hält.<br />

Die Methode des zirkulären Fragens<br />

In der Beratungsarbeit können Systeme irritiert und zu Veränderungen<br />

ermutigt werden. Dazu bedient sich die systemische Beratung<br />

verschiedener Methoden und Handwerkszeuge. Ein wichtiges<br />

Element ist das Erstinterview, mit dessen Hilfe nicht nur die<br />

Problemlage detailliert erfragt wird, sondern auch der Auftrag und<br />

die Anliegen der Klienten in den Fokus genommen werden. Mithilfe<br />

von so genannten zirkulären Fragen werden dabei auch andere<br />

Systeme aus dem Umfeld des Klienten in die Betrachtung miteinbezogen.<br />

Die Methode des zirkulären Fragens macht sich zu<br />

Nutze, dass Menschen ständig über andere nachdenken und darüber,<br />

was andere über sie denken, und was andere denken, was sie<br />

über andere denken. Sie macht auch Beziehungen und Kommunikationsmechanismen<br />

deutlich. Man könnte es «um die Ecke<br />

denken» nennen.<br />

Ein Beispiel: In einem Beratungsgespräch wird eine Klientin<br />

oder ein Klient gebeten, «Stellen Sie sich vor, Sie reden nicht mehr<br />

über Geld und Geldprobleme in Ihrer Familie», gekoppelt mit der<br />

Frage «Worüber würden Sie dann sprechen?». Die Frage impliziert,<br />

dass es noch andere Themen in der Familie gibt, die wichtig<br />

sind, dass es auch schöne Themen geben kann und dass nicht alles<br />

auf die Situation der Verschuldung reduziert werden muss. Zirkuläre<br />

Fragen machen neugierig und regen neue Sichtweisen und<br />

Denkprozesse an. Mit jeder Frage wird ein Angebot gemacht, sich<br />

auf eine andere Sicht einzulassen und das System, in dem man<br />

lebt, von einer Aussenperspektive zu betrachten.<br />

Ein anderes Beispiel: In einer Beratung merkt die Beraterin,<br />

dass Herr und Frau Z. sehr unterschiedliche Vorstellungen über die<br />

Verwaltung des Geldes haben und dass gegenseitige Schuldzuweisungen<br />

den Prozess blockieren. Die Beraterin nutzt die zirkuläre<br />

Methode, um die erlernten Rollen und Muster und damit die unterschiedlichen<br />

Erwartungen deutlich zu machen. Sie beginnt die<br />

Arbeit, indem sie Herrn Z. fragt: «Wenn Sie zurückdenken, als Sie<br />

ein Kind waren, wie sind Ihre Eltern mit Geld umgegangen? Wer<br />

hat damals das Geld verwaltet?» Heraus kommt, dass Herr Z. die<br />

Erinnerung hat, dass die Mutter das Geld verwaltet hat.<br />

Die Frage «Ist denn Ihrer Meinung nach die Geldeinteilung<br />

Frauensache?» bejaht Herr Z. ohne Zögern. Frau Z. zieht die Augenbrauen<br />

hoch, sagt jedoch nichts. Die nächste Frage «Denken<br />

Sie, dass Ihre Frau weiss, dass sie die Verantwortung für die Einteilung<br />

des Geldes hat, und was würde sie sagen, wenn ich sie<br />

22 ZeSo 2/14 SCHWERPUNKT


schulden und sozialhilfe<br />

Fragen wie jene, ob es eine «Familientradition» im Umgang mit Geld und Schulden gibt, können Verhaltensmuster in Frage stellen.<br />

Bild: Imagepoint<br />

fragen würde?» bringt Herrn Z. ins Grübeln. Seine Frau reagiert<br />

mit einem erstaunten Ausruf. Die anschliessende Frage an Frau<br />

Z. «Wissen Sie, dass Sie die Verantwortung für das Geld haben?»<br />

bringt einen konstruktiven Austausch über die unterschiedlichen<br />

Einstellungen in Gang und schafft Raum für Überlegungen, wie<br />

der Umgang mit Geld und die Verteilung der Verantwortlichkeiten<br />

zukünftig gestaltet werden könnte. Der Blick für Stärken<br />

und Ressourcen wird geöffnet.<br />

Die Ressourcenperspektive wendet den Blick der Beteiligten im<br />

Beratungsprozess von der Fixierung auf das Problem hin zu den<br />

Stärken und Potenzialen im Menschen und seiner Umwelt. Dazu<br />

kann auch gehören, neue Lösungsideen zu suchen und neue Lebensmuster<br />

zu entwickeln, wie mit den Schulden gelebt werden<br />

kann, wenn eine Rückzahlung unmöglich ist und diese den Menschen<br />

ein Leben lang begleiten werden.<br />

Positiver Blick in die Vergangenheit<br />

Sehr aufschlussreich ist auch die Arbeit mit dem Genogramm, einer<br />

piktografischen Darstellung des Familiensystems. Mit der<br />

Methode werden Familienbande und -abhängigkeiten sichtbar.<br />

In Bezug auf Geld und Schulden wird beispielsweise erkennbar,<br />

wer aus der Familie ebenfalls Schulden hat, ob es so etwas wie<br />

eine Familientradition in dieser Hinsicht gibt. Genogramme ermöglichen<br />

einen raschen Überblick über komplexe Familienstrukturen<br />

und bieten viel Potenzial für die Bildung von<br />

Hypothesen, die für die Beratungsarbeit nützlich sein können.<br />

Die Arbeit mit dem Genogramm ist für die Klienten sehr span-<br />

nend. Sie zeigen oft grosses Interesse und erkennen Zusammenhänge,<br />

die ihnen neue Handlungsideen erschliessen.<br />

Eine weitere Methode ist die biografische Arbeit, also die Rückschau<br />

auf Erlerntes und Erlebtes und auf positive Erfahrungen.<br />

Sie kann helfen, die eigenen Ressourcen oder nicht mehr präsente<br />

Kräfte und Stärken aufzuspüren und zu finden und für die weitere<br />

Arbeit zu nutzen. In Bezug auf Schulden kann die biografische<br />

Arbeit dazu genutzt werden, den Blickwinkel von der ausschliesslich<br />

negativen Sichtweise auf eine positive Seite zu richten, die es<br />

auch gegeben hat. Da wurde ein Kredit vielleicht aufgenommen,<br />

um ein letztes Mal mit den Grosseltern Urlaub zu machen, oder<br />

damit die Konfirmation der Kinder zu einem unvergesslichen Erlebnis<br />

wurde. Natürlich kann im Rahmen der Schuldnerberatung<br />

keine umfassende Biografiearbeit geleistet werden, sie kann jedoch<br />

punktuell für die Entwicklung neuer und entlastender Sichtweisen<br />

genutzt werden. Ziel einer gelungenen Beratung ist immer auch zu<br />

verhindern, dass neue Schulden gemacht werden, und zu ermöglichen,<br />

dass Familiensysteme Wege aus dem Schuldenkarussell finden.<br />

Auch hier lässt sich die systemische Arbeit gut nutzen. Bereits<br />

die Frage «Stellen Sie sich vor, Ihre Kinder würden in zehn Jahren<br />

hier sitzen und genauso viele Schulden haben wie Sie heute – Wie<br />

wäre das für Sie, was können Sie tun, um das zu verhindern?» ist<br />

eine aufrüttelnde Intervention im Sinne der Präventionsarbeit. •<br />

Ingeborg Steinmann-Berns<br />

Dipl.-Pädagogin und systemische Familientherapeutin<br />

Duisburg<br />


«Wenn die Balance nicht mehr<br />

stimmt, müssen wir handeln»<br />

Ignazio Cassis, Vizepräsident der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit,<br />

blickt im <strong>ZESO</strong>-Interview aus bürgerlichem Blickwinkel auf aktuelle sozialpolitische Fragen. Er warnt<br />

davor, die Stimmung in der Bevölkerung zu ignorieren, weil dies die Bereitschaft, gesellschaftliche<br />

Aufgaben solidarisch zu tragen, untergraben könnte.<br />

Nach der klaren Annahme der Volks.<br />

initiative «gegen Masseneinwanderung»<br />

im Kanton Tessin weiss die<br />

<strong>ganz</strong>e Schweiz, das Tessin hat ein<br />

Tieflohnproblem. Welche sozialen<br />

Probleme sind damit verbunden?<br />

Ignazio Cassis: Italien und insbesondere<br />

die Lombardei sind von einer massiven<br />

Wirtschaftskrise betroffen. Die Arbeitslosenquote<br />

bei den Jungen beträgt 30 bis 40 Prozent.<br />

Hinzu kommt, dass viele Firmen<br />

wegen der hohen Steuerbelastung und<br />

den administrativen Hürden von Italien<br />

ins Tessin gezogen sind. Dies und das für<br />

italienische Arbeitnehmer sehr günstige<br />

Steuerabkommen von 1974 haben im Tessin<br />

zu Lohndumping geführt. Einheimische<br />

Arbeitskräfte werden verdrängt und an ihrer<br />

Stelle werden italienische Arbeitskräfte zu<br />

billigeren Löhnen angestellt.<br />

Wie wirkt sich das auf die Sozialpolitik<br />

des Kantons Tessin aus?<br />

Das Problem trifft neu die Finanz- und<br />

Dienstleistungsbranche und weniger Branchen<br />

wie das Gastgewerbe, den Bausektor<br />

oder das Gesundheitswesen, in denen traditionell<br />

viele Ausländer beschäftigt sind.<br />

Eine junge Tessiner kaufmännische Angestellte<br />

findet keinen Arbeitsplatz mehr,<br />

weil an ihrer Stelle auch eine italienische<br />

Akademikerin angestellt werden kann,<br />

die, obschon sie höher qualifiziert ist,<br />

bereit ist, für 3200 Franken zu arbeiten.<br />

Die Quote der Tessiner Arbeitslosen steigt<br />

und mit ihr die Sozialkosten und der Unmut<br />

der Bevölkerung. Es handelt sich um<br />

ein internationales Wirtschaftsproblem,<br />

von dessen Auswirkungen das Tessin besonders<br />

stark betroffen ist.<br />

Hätte ein gesetzlich vorgeschriebener<br />

Mindestlohn geholfen, die Situation<br />

zu entschärfen?<br />

Nein. Ein Mindestlohn bringt uns nicht<br />

weiter, er würde nur zusätzliche Probleme<br />

schaffen. Wenn ein KMU mit Löhnen<br />

zwischen 2000 und 3000 Franken heute<br />

gerade existieren kann, dann wird es<br />

nicht plötzlich Löhne von 4000 Franken<br />

zahlen können. Wenn ein Mindestlohn<br />

eingeführt wurde, müssten viele Unternehmen<br />

schliessen. Zudem haben beim<br />

derzeitigen Lohnniveau auch wenig qualifizierte<br />

Personen noch Chancen auf eine<br />

Stelle und können so auf eigenen Beinen<br />

stehen, ohne von der Sozialhilfe abhängig<br />

zu sein. Wenn ihre Arbeitsmöglichkeiten<br />

verschwinden, entsteht ein neues Problem.<br />

Schliesslich hätte ein Mindestlohn im Tessin<br />

eine zusätzliche Sogwirkung auf die<br />

Grenzgänger.<br />

Welche anderen sozialen Themen<br />

beschäftigen die Leute im Tessin?<br />

Wir Tessiner erleben zurzeit eine schwierige<br />

Situation. Der Arbeitsmarkt steht unter<br />

Druck, die Migration wird als Bedrohung<br />

empfunden und wir fühlen uns von Bundesbern<br />

vernachlässigt. Das Vertrauen in<br />

das Establishment – Wirtschaft, Staat und<br />

Politik – ist gering. Diese soziale Unruhe<br />

wird parteipolitisch ausgenützt und isolationistische<br />

und nationalistische Züge finden<br />

Mehrheiten. Rational zu argumentieren<br />

ist heikel und unpopulär, zudem fehlt es<br />

an mutigen Politikern. Eine derart schwierige<br />

und konfuse Zeit habe ich bis anhin in<br />

meinem Kanton noch nicht erlebt.<br />

Welche Herausforderungen stellen die<br />

Flüchtlingsströme an Behörden und<br />

Bevölkerung?<br />

Vor zwei Jahren hatten wir ein Riesenproblem<br />

mit Asylbewerbern in Chiasso.<br />

Ihr Anteil an der Bevölkerung hatte ein<br />

unerträgliches Mass erreicht, und das ist<br />

Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.<br />

Mit der neuen Asylkoordination des<br />

Bundes ist nun Bewegung in die Sache<br />

gekommen, auch wenn das Problem noch<br />

nicht wirklich gelöst ist.<br />

Wie ist die Stimmung gegenüber der<br />

Sozialhilfe im Kanton Tessin?<br />

Die Sozialhilfe wird als etwas wahrgenommen,<br />

das viel mit Ausländern zu tun<br />

hat, auch weil deren Anteil unter den Sozialhilfebeziehenden<br />

rasant zugenommen<br />

hat. Gefühlsmässig zocken die Ausländer<br />

die Sozialhilfe ab. Was mir auch immer<br />

wieder zugetragen wird, ist die Wahrnehmung,<br />

dass die Sozialhilfe nicht mehr wie<br />

ursprünglich bei vorübergehenden Notlagen<br />

zur Anwendung kommt, sondern als<br />

stabile Einnahmequelle, um andere Problemsituationen<br />

aufzufangen.<br />

Wie denken Sie darüber?<br />

Wir beobachten auf der einen Seite<br />

Schweizer, die verarmen, und auf der anderen<br />

Seite eine falschverstandene Grosszügigkeit,<br />

insbesondere gegenüber «Profiteuren»<br />

und Migranten. Ein Sozialhilfebezüger mag<br />

das anders sehen. Er will mehr als nur eine<br />

Überlebenshilfe. Als Liberaler geht mir diese<br />

Haltung zu weit. Die Sozialhilfe ist nicht<br />

dafür da, den Leuten ihr normales Einkommen<br />

zu ersetzen. Hier spüre ich ein grosses<br />

Spannungsfeld.<br />

Wie beurteilen Sie die Debatte über<br />

die Sozialhilfe in den Medien und die<br />

Forderung nach Kürzungen bei der<br />

Unterstützung?<br />

Sie ist begründet und muss ernst genommen<br />

werden. Wenn es uns nicht gelingt,<br />

den Puls der Bevölkerung zu fühlen<br />

und deren Anliegen aufzunehmen, dann<br />

kommt es in unserem direktdemokratischen<br />

System zu Entscheiden mit «historischem<br />

Charakter», wie bei der Massen-<br />

24 ZeSo 2/14 interview


«Die Sozialhilfe<br />

wird als etwas<br />

wahrgenommen,<br />

das viel mit<br />

Ausländern zu<br />

tun hat.»<br />

einwanderungsinitiative vom 9. Februar.<br />

Wenn Familien sich angewöhnen, mit Sozialhilfe<br />

so zu leben wie andere Familien,<br />

die arbeiten müssen, und jene sehen, dass<br />

die anderen, die nicht arbeiten, mit dem<br />

gleichen materiellen Reichtum leben dürfen,<br />

dann stimmt etwas nicht. Die Solidarität<br />

in der Bevölkerung wird untergraben,<br />

weil das als ungerecht empfunden wird.<br />

Arbeiten muss sich immer lohnen! Unter<br />

dem Aspekt ist die Sozialhilfe reformbedürftig.<br />

Bilder: Béatrice Devènes<br />

Was wäre Ihre Lösung?<br />

Wir müssen das Problem flexibel und<br />

tabulos angehen. In der Zeit des ungebremsten<br />

Wirtschaftswachstums konnten<br />

wir die Sozialversicherungen und die Sozialhilfe<br />

ausbauen. Jetzt, wo die Perspektiven<br />

nicht mehr so gut sind, müssen wir<br />

gewisse Leistungen abbauen und auf das<br />

Gleichgewicht zwischen Einnahmen und<br />

Ausgaben achten. Das Verhältnis zwischen<br />

Nehmer und Geber darf eine gewisse Quote<br />

nicht überschreiten, sonst weigern sich<br />

die Geber, zu geben. Natürlich gehen einzelne<br />

Kürzungsforderungen zu weit, aber<br />

die Anpassung der Sozialwerke an die<br />

Konjunktur als Sozialabbau oder Verstoss<br />

gegen die Menschenrechte zu disqualifizieren<br />

ist reine Propaganda. Wenn die Balance<br />

nicht mehr stimmt, dann müssen wir<br />

verantwortungsvoll handeln, auch wenn es<br />

unpopulär ist.<br />

Die Sozialhilfe und die Gesundheitsbranche<br />

werden wegen steigender<br />

Kosten kritisiert. Wie beurteilen Sie<br />

als Präsident des neuen Krankenversicherer-Verbands<br />

Curafutura das Image<br />

der Krankenkassen, das wie bei der<br />

Sozialhilfe von einer Kostendiskussion<br />

mitbestimmt wird?<br />

Ein grosser Teil dieses Unmuts ist<br />

selbstverschuldet, etwas mehr Psychologie<br />

in Umgang mit Versicherten, Behörden<br />

und Politik hätte sicher nicht geschadet.<br />

Aber die Ressourcen sind im Gegensatz<br />

zu den Bedürfnissen der Patienten nicht<br />

unendlich. Als Arzt, ehemaliger FMH-<br />

Vizepräsident und Präsident des Verbands<br />

der Schweizer Pflegeinstitutionen, Curaviva,<br />

war ich mein Leben lang auf der Leis-<br />

<br />

interview 2/14 ZeSo<br />

25


tungserbringerseite und ich habe in jener<br />

Funktion die Kassen häufig kritisiert. Vor<br />

einem Jahr haben sich vier grosse Krankenversicherer<br />

von Santésuisse abgewendet,<br />

weil sie eine neue Politik wollen. Ich versuche<br />

als Präsident von Curafutura meinen<br />

Beitrag zur Verbesserung des Systems<br />

zu leisten.<br />

Was unternehmen Sie gegen das<br />

Imageproblem?<br />

Meine Lösung für die Imageverbesserung<br />

zielt auf mehr gesellschaftliches<br />

Engagement und eine offene Kommunikation.<br />

Ich möchte, dass die Versicherer<br />

in ihrer gesetzlichen Funktion als Treuhänder<br />

der Versicherten so auch wahrgenommen<br />

werden, und dass sie in einem<br />

konstruktiven und vertrauensvollen Klima<br />

mit den Leistungserbringern Verträge abschliessen.<br />

Die Gesellschaft sollte andererseits<br />

vermehrt den Nutzen von medizinischen<br />

Leistungen hinterfragen. Man<br />

muss den Versicherten die Wahl geben,<br />

ob sie auf gewisse «Pseudo-Fortschritte»<br />

verzichten wollen.<br />

Wie beurteilen Sie die Chancengleichheit<br />

in Bezug auf Gesundheitsleistungen<br />

in der Schweiz?<br />

Das ist kein Problem. Alle haben einen<br />

gesicherten Zugang zum Gesundheitswesen.<br />

Jenen, die für Leistungen nicht<br />

zahlen können, wird geholfen. Die Summe<br />

der Prämienverbilligungen beträgt rund<br />

4 Milliarden Franken. 30 bis 40 Prozent<br />

der Haushalte werden damit unterstützt.<br />

«Es gibt Probleme,<br />

die man dezentralisiert<br />

lösen muss.»<br />

Viele Armutsbetroffene wählen die<br />

höchste Franchise, und wenn sie<br />

ernsthaft krank werden, fehlt ihnen<br />

das nötige Geld, eine teure Behandlung<br />

finanzieren zu können. Andere<br />

landen auf schwarzen Listen der Krankenkassen.<br />

Auf schwarze Listen kommen nur<br />

diejenigen, die nicht zahlen, obschon<br />

sie zahlen könnten, die Trittbrettfahrer.<br />

Arme Menschen zahlen die Prämien<br />

nicht selbst, deshalb brauchen sie auch<br />

keine höhere Franchise zu wählen. Terre<br />

des Hommes hat vor einigen Jahren eine<br />

Studie durchgeführt und ist der Frage<br />

nachgegangen, ob es in der Schweiz indiziert<br />

sei, ähnlich wie in anderen Ländern,<br />

Ambulatorien zur Betreuung der<br />

Ärmsten einzurichten. Es zeigte sich,<br />

dass dies nicht nötig ist, weil die Leute in<br />

der Schweiz eben Zugang haben zum Gesundheitssystem,<br />

egal wie arm oder reich<br />

sie sind.<br />

26 ZeSo 2/14 interview


Was halten Sie von der Idee, Zahnarztbehandlungen<br />

in die Grundversicherung<br />

aufzunehmen, was den weniger<br />

Vermögenden entgegenkommen<br />

würde?<br />

Ich bin dagegen. Unser System funktioniert<br />

gut. Die Schweiz hat international gesehen<br />

eine sehr gute orale Gesundheit: Das<br />

gewünschte Resultat ist also erreicht. Für<br />

die Zahngesundheit von ärmeren Kindern<br />

und Jugendlichen gibt es immer noch die<br />

zahnmedizinische Unterstützung durch<br />

die Gemeinden.<br />

Es gibt ältere Menschen, die beispielsweise<br />

eine «Zahnsanierung» nötig<br />

haben und sie nicht bezahlen können.<br />

Aus meiner Zeit als Kantonsarzt kenne<br />

ich solche seltenen Fälle. Ich versuchte<br />

jeweils situativ zu entscheiden. Wenn es<br />

funktional notwendig ist, beispielsweise<br />

um normal essen zu können, dann soll die<br />

Sozialhilfe solche Beträge übernehmen.<br />

Aber klar, es stellt sich auch hier immer die<br />

Frage, wie weit man gehen will.<br />

Sie lehnen die Einführung einer Einheitskrankenkasse<br />

ab. Unter welchen<br />

Rahmenbedingungen könnte eine<br />

Einheitskrankenkasse trotzdem sinnvoll<br />

sein?<br />

Wenn unser Gesundheitssystem einmal<br />

derart schlecht wird, dass wir für eine<br />

Behandlung lieber ins Ausland gehen,<br />

dann bräuchten wir einen Systemwechsel.<br />

Wenn wir aber heute einen Systemwechsel<br />

vornehmen, ist mir die Begründung nicht<br />

<strong>ganz</strong> klar, zumal selbst die Befürworter<br />

nicht mit einer Prämienreduktion rechnen.<br />

Wir wissen, was wir haben, wir wissen aber<br />

nicht, was mit einer Einheitskasse auf uns<br />

zukommt. In Frankreich und in Österreich<br />

sehen wir eher abschreckende Beispiele. Da<br />

müssen Sie nur einmal mit den Betroffenen<br />

sprechen. Wir kennen auch keine Wartelisten<br />

in der Schweiz. Doch natürlich gibt<br />

Ignazio Cassis<br />

Ignazio Cassis (53) ist Arzt und<br />

freisinnig-liberaler Vizepräsident der<br />

nationalrätlichen Kommission für soziale<br />

Sicherheit und Gesundheit. Als Präsident<br />

der Verbände Curaviva Schweiz (Verband<br />

Heime und Institutionen Schweiz) und<br />

Curafutura («die innovativen Krankenversicherer»)<br />

sowie der Stiftung<br />

Radix vertritt er sowohl Interessen von<br />

Leistungserbringern im Gesundheitsbereich<br />

wie auch von Krankenversicherern.<br />

Ignazio Cassis war Tessiner<br />

Kantonsarzt (1996-2008) und unter<br />

anderem Präsident von Public Health<br />

Schweiz (2001-2009), Mitglied der<br />

Expertenkommission «Prävention und<br />

Gesundheitsförderung» (2005-2007)<br />

und Vizepräsident der Ärztevereinigung<br />

FMH (2008-2012). Ignazio Cassis lebt in<br />

Montagnola und ist verheiratet.<br />

es auch bei uns Verbesserungspotenzial. Im<br />

Parlament haben wir eben erst mit der Verfeinerung<br />

des Risikoausgleichs einen bahnbrechenden<br />

Entscheid getroffen. Die Krankenkassen<br />

müssen ihre Geschäftsmodelle<br />

nun grundlegend ändern, weil es sich für<br />

sie nicht mehr lohnt, möglichst viele günstige<br />

Risiken unter den Kunden zu haben.<br />

Sie profitieren in Zukunft mehr, wenn sie<br />

kostenintensive Versicherte betreuen. Fehler<br />

muss man en cours de route korrigieren,<br />

aber wir sollten nicht das <strong>ganz</strong>e bewährte<br />

System über Bord werfen.<br />

Das Tessin kennt seit vielen Jahren Ergänzungsleistungen<br />

für Familien mit<br />

tiefem Einkommen. Wie beurteilen<br />

Sie dieses Modell?<br />

Das hat sich gut bewährt. Wir hatten<br />

zuvor ein sehr fragmentiertes System, dessen<br />

Schnittstellen und die Diskussionen,<br />

wer welche Leistungen übernehmen sollte,<br />

enorm aufwändig waren. Der damalige Regierungsrat<br />

hat dann einen viel einfacheren<br />

Ansatz gewählt. Seither müssen sich unterstützte<br />

Familien nicht mehr an verschiedene<br />

Schalter wenden. Was wir mit der finanziellen<br />

Entlastung der Familien nicht erreichen<br />

konnten ist eine Steigerung der Geburtenrate...<br />

das hat leider nicht funktioniert.<br />

Aus Sicht der Sozialhilfe sind solche<br />

Modelle sinnvoll, und sie tragen erst<br />

noch zur Entlastung der Sozialhilfe<br />

bei. Können Sie sich vorstellen, dass<br />

der Freisinn solche Familien-EL-<br />

Projekte auch in anderen Kantonen<br />

unterstützen würde?<br />

Grundsätzlich schon. Die SP hat ja versucht,<br />

das Modell auf Bundesebene durchzusetzen.<br />

Da war ich dagegen, weil das einen<br />

Eingriff in den Föderalismus darstellt.<br />

Es gibt Probleme, die muss man dezentralisiert<br />

lösen, um wirksame und zweckmässige<br />

Lösungen zu finden. So funktioniert nun<br />

einmal die Schweiz. Ich könnte mir aber<br />

durchaus vorstellen, dass insbesondere in<br />

der französischsprechenden Schweiz auch<br />

der Freisinn diesem Ansatz zustimmen<br />

könnte. In der Ostschweiz mag die Lage anders<br />

sein. Die Bevölkerung glaubt dort weniger<br />

an die Allmacht des Staates und stellt<br />

den freien und verantwortlichen Menschen<br />

mehr ins Zentrum der Gesellschaft. Appenzell<br />

ist nicht gleich Genf!<br />

•<br />

Das Gespräch führte<br />

Michael Fritschi<br />

interview 2/14 ZeSo<br />

27


Neuenburg hat den Zugang zu den<br />

Sozialleistungen neu organisiert<br />

Von der Einführung von regionalen Anlaufstellen für Sozialleistungen erhofft sich der Kanton<br />

Neuenburg eine bessere Steuerung der Angebote. Von den Synergien, die durch die einheitliche<br />

Beurteilung und durch die neue Ein-Dossier-Systematk entstehen, können auch die Klientinnen und<br />

Klienten profitieren. Sie müssen die relevanten Dokumente nur noch einmal einreichen.<br />

Seit Anfang <strong>2014</strong> werden die Anträge auf<br />

Sozialleistungen im Kanton Neuenburg<br />

über acht regionale Anlaufstellen für Soziales<br />

(Guichets Sociaux Régionaux) abgewickelt.<br />

Sie triagieren die Gesuche auf der<br />

Basis eines neuen, vereinheitlichten Verfahrens<br />

und entscheiden nach der Überprüfung<br />

der familiären und finanziellen<br />

Verhältnisse des Antragstellers oder der Antragstellerin,<br />

ob ein Gesuch bewilligt wird.<br />

Die Grundlage für die Überprüfung bilden<br />

die im Rahmen der Reorganisation vereinheitlichten<br />

Referenzwerte «wirtschaftliche<br />

Haushaltseinheit» (Unité économique de<br />

référence) und «massgebendes Einkom-<br />

men» (Revenu déterminant unifié). Die Kriterien,<br />

die die Referenzwerte definieren,<br />

wurden im Zug der umfassenden Reformarbeiten<br />

von den beteiligten Akteuren gemeinsam<br />

erarbeitet und in die kantonalen<br />

Reglemente aufgenommen.<br />

Merkmale des Verfahrens<br />

Die Einwohnerinnen und Einwohner können<br />

– mit einem nun ebenfalls einheitlichen<br />

Formular – beim Guichet Social Régional,<br />

dem ihre Gemeinde angegliedert ist,<br />

Anträge auf folgende fünf Sozialleistungen<br />

stellen: Alimentenbevorschussung, berufliche<br />

Eingliederungsmassnahme, Verbilligung<br />

der Krankenversicherungsprämie,<br />

Stipendium und Sozialhilfe.<br />

Das im Rahmen der Reform «Accord»<br />

eingeführte Verfahren sieht vor, dass die<br />

regionale Anlaufstelle das Dossier eröffnet.<br />

Dieses Dossier umfasst alle Personen, die<br />

zur Haushaltseinheit der Antragstellerin<br />

oder des Antragstellers gehören und zum<br />

massgebenden Einkommen beitragen.<br />

Damit der Antrag korrekt geprüft werden<br />

kann, müssen dem Dossier alle relevanten<br />

Dokumente, Belege und Bescheinigungen<br />

beiliegen (Lohnausweis, Scheidungsurteil<br />

usw.). Sobald der Antrag vollständig ist,<br />

wird er elektronisch erfasst und an den<br />

Im Empfangsbereich des GSR Val-de-Ruz werden die Gesuche auf Sozialhilfeleistungen der Einwohnerinnen und Einwohner der Gemeinden Val-de-Ruz,<br />

Brot-Dessous und Rochefort triagiert und geprüft. <br />

Bild: zvg<br />

28 ZeSo 2/14 REGIONALE ANLAUFSTELLLEN


oder die möglichen Leistungserbringer<br />

übermittelt, die dem Antragsteller anschliessend<br />

ihren Entscheid eröffnen. Der<br />

Vorteil des neuen Ein-Dossier-Systems<br />

besteht darin, dass die Dossiers alle für<br />

die Beurteilung des Antrags notwendigen<br />

Informationen enthalten und dass die<br />

Leistungserbringer dank der elektronischen<br />

Dossierführung jederzeit Einsicht<br />

in die dem Antrag beigelegten Dokumente<br />

und Belege haben. Konkret bezweckt die<br />

Reform folgende Ziele:<br />

- Ein einziges Dossier pro Klient oder<br />

Klientin: Der Klient muss die für die<br />

Prüfung seines Antrags notwendigen<br />

Dokumente nur einmal einreichen,<br />

und pro Haushalt wird nur ein Dossier<br />

geführt, das sich an der definierten<br />

Haushaltseinheit orientiert. Mit diesem<br />

Vorgehen wird eine effizientere Abwicklung<br />

des Verfahrens angestrebt.<br />

- Einheitliche Beurteilungskriterien: Die<br />

von den Anlaufstellen gesammelten Daten<br />

umfassen sowohl Informationen zur<br />

familiären Situation (Haushaltseinheit)<br />

als auch zur finanziellen Situation (massgebendes<br />

Einkommen) des Antragstellers.<br />

Auf diese zwei Referenzwerte können<br />

sich alle Leistungserbringer bei der<br />

Beurteilung der Anträge abstützen. Dieses<br />

System bietet nicht nur mehr Transparenz,<br />

sondern es hat auch den Vorteil,<br />

dass alle Akteure über Änderungen im<br />

Dossier informiert werden.<br />

- Klarer Ablauf dank koordiniertem Verfahren:<br />

Hat die regionale Anlaufstelle<br />

einmal festgelegt, an welche Stelle<br />

oder Stellen der Antrag zu richten ist,<br />

folgt die Leistungsprüfung einem klar<br />

geregelten Ablauf. Das Dossier wird<br />

von einem Leistungserbringer an den<br />

nächsten übermittelt und die jeweiligen<br />

Dienste berücksichtigen bei der Beurteilung<br />

des Antrags die eventuell von anderen<br />

Stellen ausgerichteten Leistungen.<br />

- Umfassende Prüfung des Leistungsanspruchs:<br />

Für jeden eingereichten Antrag<br />

wird der Leistungsanspruch aller<br />

Haushaltsmitglieder, die die wirtschaftliche<br />

Haushaltseinheit des Antrags bilden,<br />

geprüft.<br />

Schalterfunktion wird weiterentwickelt<br />

Mittelfristig sollen die Guichets Sociaux<br />

Régionaux ihre Funktion weiterentwickeln<br />

und als umfassende Auskunftsschalter einem<br />

erweiterten Kreis von öffentlichen<br />

und privaten Anspruchsgruppen für Leistungen<br />

und Informationen über das Sozialwesen<br />

zur Verfügung stehen. Bis es so weit<br />

ist, dauert es zwar noch eine Weile, doch<br />

die Erfahrungen, die das Personal derzeit<br />

bei der täglichen Arbeit sammelt, sind bereits<br />

Schritte in diese Richtung.<br />

Die im Zug der Reform eingeführten<br />

Instrumente dürften längerfristig auch<br />

eine bessere Steuerung der Sozialpolitik<br />

ermöglichen. Dank einer neu entwickelten<br />

Informatikanwendung wird es künftig<br />

möglich sein, eine vertiefte Einsicht in die<br />

Interaktionen zwischen den verschiedenen<br />

Leistungserbringern zu erhalten, mögliche<br />

Lücken oder Fehlentwicklungen zu erkennen<br />

und Klientinnen und Klienten, deren<br />

bedarfsabhängige Sozialleistungen neu<br />

definiert werden müssen, besser zu begleiten.<br />

Schulung im Hinblick auf die neuen<br />

Aufgaben<br />

Mit der Schaffung der regionalen Anlaufstellen<br />

ist auch ein neuer Tätigkeitsbereich<br />

entstanden. Damit das neue Personal, das<br />

drei Monate vor Beginn der Reform eingestellt<br />

wurde, die neu definierten Aufgaben<br />

kennt und wahrnehmen kann, musste es<br />

zuerst geschult werden. Dazu durchliefen<br />

die Mitarbeitenden eine modulare Ausbildung,<br />

die sich an den Vorgaben und Eckwerten<br />

der Reform orientiert und die<br />

ihnen die neuen Instrumente, also die<br />

wirtschaftliche Haushaltseinheit, das<br />

massgebende Einkommen und das Beurteilungsverfahren<br />

sowie die neue Informatikanwendung,<br />

näherbrachte. Ferner umfasste<br />

die Ausbildung Informationen zu<br />

den am Projekt beteiligten Akteuren,<br />

einen Überblick über weitere Sozialleistungen<br />

wie jene der Arbeitslosenversicherung,<br />

eine Einführung in thematisch verwandte<br />

Rechtsgebiete (Familienrecht,<br />

Schuldbetreibungs- und Konkursrecht)<br />

und ein Modul, in dem die Mitarbeitenden<br />

im Umgang mit den Klienten geschult<br />

wurden. Seit der Eröffnung der regionalen<br />

Anlaufstellen werden die Mitarbeitenden<br />

laufend aus- und weitergebildet. Ein zentraler<br />

Gegenstand der Schulungen ist das<br />

vereinheitlichte massgebende Einkommen<br />

und dessen Berechnung, ein Punkt,<br />

über den sich die Teams der Anlaufstellen<br />

und die Mitarbeitenden der Leistungserbringer<br />

regelmässig austauschen.<br />

Vielseitiges Aufgabengebiet<br />

Die geografische Aufteilung der Anlaufstellen<br />

entspricht jener der regionalen Sozialdienste.<br />

Die Anlaufstellen sind fachlich für<br />

drei Bereiche zuständig: Zum einen für die<br />

Entgegennahme der Anträge auf Sozialleistungen<br />

und für die Eröffnung der entsprechenden<br />

Dossiers. Zum andern sind ihnen<br />

die Sozialhilfe und die regionalen AHV/IV-<br />

Zweigstellen angegliedert, die seit 2009<br />

im Auftrag des Bundes über die Ausrichtung<br />

von Ergänzungsleistungen entscheiden.<br />

Die Nähe der neuen Anlaufstellen zur<br />

Sozialhilfe ist ein heikler Punkt der Reform:<br />

Einerseits sind die Abläufe bei einem<br />

Antrag auf Sozialleistungen nicht vergleichbar<br />

mit der Betreuung von Sozialhilfebeziehenden,<br />

andererseits wird auch in<br />

Neuenburg über das Ausmass der Ausgaben<br />

diskutiert, die die materielle Sozialhilfe<br />

angenommen hat. Umso wichtiger ist es,<br />

dass die regionalen Anlaufstellen keine<br />

«Sogwirkung» haben. Das Projektteam beobachtet<br />

die Situation aus nächster Nähe.<br />

Derzeit ist es allerdings noch zu früh, um<br />

Lehren ziehen zu können.<br />

Die Eröffnung der regionalen Anlaufstellen<br />

folgt auf einen langen Prozess der<br />

Konsensfindung. Dem Kanton und den<br />

Gemeinden ist es gelungen, in einem<br />

konstruktiven Dialog auf ein gemeinsames<br />

Ziel hinzuarbeiten. Nun gilt es,<br />

die Früchte dieser Arbeit zu ernten und<br />

gleichzeitig die eingeführten Prozesse<br />

laufend zu optimieren.<br />

•<br />

Laurent Duding<br />

Collaborateur scientifique<br />

Service de l‘action sociale, Neuchâtel<br />

REGIONALE ANLAUFSTELLLEN 2/14 ZeSo<br />

29


«Eine Pfanne ist eine grosse Kiste,<br />

zum Essen kochen»<br />

Bessere Verständigung am Arbeitsplatz und im Alltag, bessere Integration: Diese Ziele verfolgen die<br />

Kurse «Deutsch auf der Baustelle», die Gewerkschaften und der Schweizerische Baumeisterverband<br />

gemeinsam anbieten. Ein Besuch im Schulzimmer.<br />

Stadion – dick – Baugerüst – Brücke – Polizei<br />

– Plastik – Eisen: Diese Wörter hat Rosario<br />

letzten Samstag auf das A3-Blatt geschrieben,<br />

das jeweils an der Wand des Kursraums<br />

hängt. Er ist 33, stammt aus Italien,<br />

seit einem Jahr und fünf Monaten ist er in<br />

der Schweiz. Nun sitzt er in einem der<br />

Kursräume der Stiftung Ecap in Basel, die<br />

auf Erwachsenenbildung spezialisiert ist<br />

und diverse Deutschkurse für Leute mit<br />

Migrationshintergrund anbietet.<br />

Rosario besucht den Kurs «Deutsch auf<br />

der Baustelle». Vor ihm liegen ein Ordner<br />

mit den Kursunterlagen, ein Vokabelheft,<br />

ein Bleistift und ein Radiergummi sowie<br />

ein Langenscheidt-Wörterbuch Italienisch-<br />

Deutsch. An den in U-Form aneinandergereihten<br />

Pulten sitzen auch Fernando,<br />

Sergio, Sebastian und José, Giuseppe,<br />

Nicola, Martín und Vitor. Sie stammen aus<br />

Italien, Spanien und Portugal und sind an<br />

diesem sonnigen Samstagmorgen hergekommen,<br />

um mit Kursleiter Christian an<br />

ihrem Deutsch zu arbeiten.<br />

Es ist kurz nach neun Uhr und es gilt,<br />

die letzte Woche notierten Wörter in einen<br />

Lückentext einzufügen. «Er hat gestern<br />

das <strong>ganz</strong>e Baugerüst geputzt», liest Rosario<br />

vor. «Möchte jemand schreiben?», fragt<br />

Kursleiter Christian. Hier im Kurs duzen<br />

sich alle. «Ich», sagt Martín und geht zum<br />

Whiteboard. «Vor dem Stadion kontrolliert<br />

die Polizei die Fussballfans», fährt Rosario<br />

fort. «Mein Freund, du solltest nicht so viel<br />

essen, du bist ein wenig dick geworden.»<br />

Martín schreibt mit: Baugerüst, Stadion,<br />

Polizei, dick, Brücke, Eisen, Plastik. Als seine<br />

eigenen Wörter an die Reihe kommen,<br />

kehrt er an den Platz zurück und liest: «In<br />

der Küche neben dem Kühlschrank hat es<br />

eine Steckdose». «Entschuldigung, was ist<br />

Steckdose?», fragt Giuseppe. «Enchufe» –<br />

«Bitte auf Deutsch» – «Weisst du, Strom»,<br />

sagt Martín und zeigt auf die Steckdose an<br />

der Wand direkt hinter sich. «Guet», sagt<br />

Giuseppe und beugt sich wieder über sein<br />

Blatt. Auch weitere Begriffe erklären die<br />

Kursteilnehmer einander gegenseitig. Wo<br />

nötig hilft Kursleiter Christian mit – und<br />

passt auf, dass niemand in die Muttersprache<br />

wechselt. So erklärt etwa Nicola:<br />

«Eine Pfanne ist eine grosse Kiste, zum Essen<br />

kochen.» «Kiste», notiert Martín in sein<br />

Vokabelheft.<br />

Schwerpunkt Verstehen und Sprechen<br />

«Die meisten ausländischen Bauarbeiter<br />

können sich auf der Baustelle gut verständigen»,<br />

sagt Heinrich Bütikofer, Vizedirektor<br />

des Schweizerischen Baumeisterverbandes<br />

(SBV). Er ist zuständig für das Projekt<br />

«Deutsch auf der Baustelle», das der SBV<br />

gemeinsam mit den Gewerkschaften Unia<br />

und Synia initiiert hat. «Deutschkurse für<br />

Bauarbeiter gibt es in der Schweiz schon<br />

seit mehr als zwanzig Jahren», sagt er. Ziel<br />

der neuen Kurse sei aber mehr als bloss die<br />

bessere Verständigung auf der Baustelle<br />

selbst. Ausländische Bauarbeiter sollen sich<br />

auch in Alltagssituationen zurechtfinden<br />

und sich so besser integrieren können. Der<br />

Unbekannte Begriffe erklären die Kursteilnehmer einander gegenseitig.<br />

Fokus der Kurse liegt nicht auf Grammatik<br />

und Schreiben, sondern darauf, Deutsch<br />

verstehen und sprechen zu können.<br />

Kursleiter Christian hat unterdessen<br />

blaue Blätter verteilt, auf jedem ein<br />

Name: Müller, Mühler, Muller, Muhler,<br />

Moller, Mohler, Möller, Möhler, Miller<br />

und Mieler. «Wo ist Herr Muller?», fragt er.<br />

Mehrere Teilnehmer heben ihr Blatt in<br />

die Höhe. «Es gibt nur einen. Es ist Muller,<br />

mit kurzem u. Nicht Muuuuhler. Auch<br />

nicht Müller. Es ist Muller. Sind Sie Herr<br />

Muller?» – «Ja, ich bin Herr Muller» – «Ah,<br />

guten Tag Herr Muller» – «Guten Tag<br />

Christian». Giuseppe lacht. Nachdem sich<br />

alle vorgestellt haben, werden die Namen<br />

repetiert. «Müüühler» spricht Christian<br />

vor. «Muler» spricht jemand nach. «Es<br />

heisst: Müüühler. Müüühler.» – «Müüühler».<br />

Einer nach dem anderen muss die<br />

Namen korrekt nachsprechen.<br />

«Mein Leben ist jetzt in der Schweiz»,<br />

sagt Vitor in der Pause auf die Frage, weshalb<br />

er den Kurs besucht: Er will lernen,<br />

gut Deutsch zu sprechen. Das sei wichtig<br />

bei der Arbeit, aber auch in der Freizeit,<br />

30 ZeSo 2/14 reportage


Die ausländischen Bauarbeiter üben im Kurs, sich am Arbeitsplatz und in Alltagssituationen besser verständigen zu können. <br />

Bilder: Roland Schmid<br />

beispielsweise um neue Freunde zu finden.<br />

Auch Nicola und Giuseppe wollen<br />

mit Schweizern sprechen können, hier<br />

neue Leute kennen lernen, die Kultur besser<br />

verstehen. Sergio und Fernando ergänzen,<br />

wie wichtig Deutsch ist, wenn sie hier<br />

beispielsweise zum Arzt müssen oder sonst<br />

ein Problem haben. Martín will nicht nur<br />

besser sprechen: «Ich will auch lesen und<br />

schreiben lernen».<br />

Lehren aus der Pilotphase<br />

Die ersten Kurse «Deutsch auf der Baustelle»<br />

fanden im Winter 2012/13 statt. Im<br />

Auftrag von SBV und Gewerkschaften hatte<br />

Ecap Kursunterlagen nach dem praxisorientierten<br />

Sprachlernsystem «fide» (für<br />

Französisch, Italienisch, Deutsch) erstellt<br />

und drei Pilotkurse konzipiert, in Basel in<br />

Zusammenarbeit mit der Bauunternehmung<br />

Implenia, in Bern mit der Ramseier<br />

AG und in St. Gallen und Frauenfeld mit<br />

der Stutz AG. Die Kurse fanden in Containern<br />

direkt auf den Baustellen statt und<br />

wurden von rund 60 Arbeitern besucht. In<br />

Basel fanden sie jeweils nach Feierabend<br />

statt, in Bern am Morgen vor und während<br />

der Arbeitszeit, in der Ostschweiz am Samstagmorgen.<br />

«Letzteres hat sich bewährt»,<br />

fasst Bütikofer die Auswertung der Pilotphase<br />

zusammen. Im Abendkurs waren die<br />

Kursteilnehmer zu müde und nicht mehr<br />

aufnahmefähig. Am Morgen lernten die<br />

Bauarbeiter zwar gut, fehlten aber auf der<br />

Baustelle. «Wenn wichtige Fachleute wie etwa<br />

ein Kranführer im Deutschkurs sitzen,<br />

kann das die <strong>ganz</strong>e Arbeit blockieren», so<br />

Bütikofer. Deshalb orientieren sich die<br />

Sprachkurse, die seit Herbst 2013 in der<br />

<strong>ganz</strong>en Schweiz angeboten werden, am<br />

Modell Samstagmorgen. Wer den Kurs, der<br />

in der Freizeit stattfindet, regelmässig besucht<br />

und einen Abschlusstest besteht, erhält<br />

eine Lohnprämie von 750 Franken.<br />

Die Kurse sind laut Bütikofer ein grosser<br />

Erfolg. «Mehrere Kursteilnehmer sind so<br />

begeistert, dass sie auch Familienmitglieder<br />

mitnehmen wollen», sagt er. Was natürlich<br />

nicht möglich ist: Die Kurse werden<br />

finanziert vom Parifonds Bau, in den Bauunternehmer<br />

und Bauarbeiter einzahlen.<br />

Nur wer im Bauhauptgewebe arbeitet oder<br />

gearbeitet hat und somit Beiträge entrichtet<br />

hat, darf teilnehmen.<br />

Nach der Pause befragen sich die Kursteilnehmer<br />

gegenseitig, was sie in der letzten<br />

Woche gemacht haben und halten es<br />

schriftlich fest. Sergio hat eine Decke geschalt,<br />

José einen Platz gepflastert, Martín<br />

eine Treppe montiert. Vitor hat einen Stahlträger<br />

montiert, Giuseppe einen Schacht gesetzt<br />

und Rohre verlegt, Nicola Dachpappe<br />

geschweisst. Rosario hat Milch für seine beiden<br />

Kinder gekauft, Fernando einen Schoko-<br />

Osterhasen für seine Kinder in Portugal.<br />

Während den letzten Übungen stehen einige<br />

auf und notieren auf dem A3-Blatt an der<br />

Wand die Wörter, die sie bis zum nächsten<br />

Samstag lernen wollen. Brille – Schrank –<br />

Kiste – Heft – Fenster – Schuhe – Licht hat<br />

Martín notiert. Die neuen Wörter von Rosario<br />

lauten: Verputz – feucht – Helm – gründen<br />

– Geschäft – Minister.<br />

•<br />

Martina Huber<br />

reportage 2/14 ZeSo<br />

31


Für die Anliegen von Menschen mit<br />

Behinderung sensibilisieren<br />

Agile.ch ist der Dachverband der Behinderten-Selbsthilfeorganisationen in der Schweiz. Er vertritt die<br />

Interessen von 42 Mitgliedorganisationen und will dem Vorurteil entgegenwirken, dass Menschen mit<br />

Behinderung nicht beweglich seien.<br />

In der Schweiz leben mehr als 1,4 Millionen<br />

Menschen mit Behinderungen. Die<br />

Zahl der verschiedenen Arten von Beeinträchtigungen<br />

ist gross. Generell lassen<br />

sich vier Gruppen unterscheiden: körperliche,<br />

sensorielle, die das Sehen und Hören<br />

betreffen, geistige und psychische Behinderungen.<br />

Trotz der Unterschiede haben<br />

die Betroffenen gemeinsame Interessen<br />

und Probleme. Diese Interessen vertreten<br />

zahlreiche Verbände und Organisationen<br />

verschiedener Grösse. Dabei wird zwischen<br />

Fachhilfe und Selbsthilfe unterschieden.<br />

Das Merkmal von Selbsthilfeorganisationen<br />

ist, dass sie von Menschen geführt<br />

werden, die selbst von einer Behinderung<br />

betroffen sind. Eine solche Selbsthilfeorganisation<br />

ist Agile.ch.<br />

Als Dachverband vertritt Agile.ch die<br />

Interessen von 42 Behindertenorganisationen<br />

mit dem Zweck, als gemeinsame<br />

Stimme in der nationalen Behindertenpolitik<br />

wahrgenommen zu werden. Der<br />

Verband wurde 1951 als Askio (Arbeitsgemeinschaft<br />

Schweizerischer Krankenund<br />

Invaliden-Selbsthilfeorganisationen)<br />

gegründet und später in Agile umbenannt.<br />

Agile bedeutet in zahlreichen Sprachen<br />

beweglich, geistig rege und flink. Genau<br />

das will der Dachverband sein und unter<br />

anderem dem Vorurteil entgegenwirken,<br />

dass Menschen mit Behinderung nicht beweglich<br />

seien. Die Mitgliedorganisationen<br />

repräsentieren Menschen aller Behinderungsgruppen<br />

und ihre Angehörigen.<br />

Durch seine behinderungsübergreifende<br />

PLATTFORM<br />

Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />

diese Seite als Plattform an. In dieser Ausgabe<br />

dem Dachverband der Behinderten-Selbsthilfeorganisationen.<br />

Mitarbeitende des Zentralsekretariats von Agile.ch. <br />

Tätigkeit trägt der Dachverband auch zum<br />

gegenseitigen Verständnis und zur Solidarität<br />

zwischen den verschiedenen Behinderungsgruppen<br />

bei.<br />

Dachverband als politische Kraft<br />

Agile.ch setzt sich für die Inklusion, Gleichstellung<br />

und Existenzsicherung von Menschen<br />

mit Behinderung ein. Sie sollen<br />

rechtlich und tatsächlich gleichgestellt sein<br />

mit Nicht-Behinderten, ihr Leben selber<br />

bestimmen können und Teil unserer Gesellschaft<br />

sein. Der Verband vertritt diese<br />

Interessen gegenüber Politik, Verwaltung,<br />

Wirtschaft und Öffentlichkeit. Dass Agile.ch<br />

sich als politische Kraft versteht, kommt<br />

auch im selbstbewussten Motto «Wir bestimmen<br />

mit!» zum Ausdruck.<br />

Als Dachverband befasst sich Agile.ch<br />

mit den Themen Sozialversicherungen,<br />

Erwerbsarbeit, berufliche Integration, Bildung<br />

und Verkehr sowie allgemein mit der<br />

Sozial- und Finanzpolitik. Konkret heisst<br />

das, dass der Verband beispielsweise in<br />

der Eidgenössischen AHV-/IV-Kommission<br />

mitarbeitet, an Vernehmlassungen<br />

zu Gesetzesentwürfen und Anhörungen<br />

teilnimmt und auch im National- und<br />

Ständerat lobbyiert. Weiter engagiert sich<br />

Agile.ch für einen barrierefreien öffentlichen<br />

Verkehr (BöV), indem sie die Fachstelle<br />

BöV mitfinanziert. Zudem ist sie<br />

Initiantin und Trägerin des Gleichstellungsrats<br />

Égalité Handicap. Und schliesslich<br />

steht Agile.ch Ratsuchenden als Informationsdrehscheibe<br />

zur Verfügung.<br />

Entsprechend wichtig ist auch die<br />

Medien- und Öffentlichkeitsarbeit. Der<br />

Dachverband organisiert regelmässig Veranstaltungen<br />

zu aktuellen behindertenpolitischen<br />

Fragen, wie etwa den Gleichstellungstag,<br />

der jeweils im Herbst stattfindet,<br />

und gibt viermal im Jahr die Zeitschrift<br />

«agile – Behinderung und Politik» heraus,<br />

sowie einen Newsletter, der rund 6000<br />

Abonnenten und Abonnentinnen erreicht.<br />

Die Website des Verbands hat in den letzten<br />

beiden Jahren eine steigende Nutzung<br />

32 ZeSo 2/14 plattform


Dachverband der Behinderten-<br />

Selbsthilfeorganisationen<br />

Der Dachverband Agile.ch vertritt seit mehr als 60 Jahren die<br />

Interessen von Menschen mit Behinderung gegenüber Politik,<br />

Verwaltung, Wirtschaft und Öffentlichkeit.<br />

Die 42 Mitgliedorganisationen repräsentieren Menschen aller<br />

Behinderungsgruppen und ihre Angehörigen. Sie werden –<br />

wie Agile.ch selbst – im Wesentlichen von Betroffenen selbst<br />

geführt.<br />

erfahren. Eine Präsentationsmappe, die<br />

verschiedene Flyer über Agile.ch selbst<br />

und über diverse sachbezogene Themen<br />

enthält, wird für Lobbying und Öffentlichkeitsarbeit<br />

genutzt.<br />

Mitarbeitende sind Betroffene<br />

Agile.ch wird nach dem Grundsatz der Verbandsdemokratie<br />

geführt. Oberstes Organ<br />

ist die Delegiertenversammlung, die politische<br />

und strategische Führung liegt beim<br />

Vorstand. Sowohl der Präsident als auch<br />

die Vorstandsmitglieder sind von einer Behinderung<br />

oder einer chronischen Krankheit<br />

betroffen. Für die praktische Umsetzung<br />

der verbandspolitischen Beschlüsse<br />

ist das Zentralsekretariat zuständig. Es befindet<br />

sich in Bern und beschäftigt zurzeit<br />

neun Mitarbeitende in 5,5 Vollzeitstellen.<br />

Auch hier sind die Mitarbeitenden Betroffene.<br />

Finanziert wird der Verband über vier<br />

Quellen: Etwa zwei Drittel der jährlich<br />

rund 1,2 Millionen Franken Einnahmen<br />

Bilder:zvg<br />

stammen aus einem Leistungsvertrag mit<br />

dem Bundesamt für Sozialversicherungen.<br />

Hinzu kommen die Mitgliederbeiträge der<br />

Aktiv- und Solidarmitglieder und Einnahmen<br />

aus Dienstleistungen. Als gemeinnütziger<br />

Verein ist Agile.ch aber auch auf<br />

Spenden angewiesen. Die aktiven Spenderinnen<br />

und Spender unterstützen den<br />

Verband mit rund 200 000 Franken pro<br />

Jahr. Sie zeigen damit ihre Solidarität mit<br />

Menschen mit Behinderung.<br />

Viele Ideen, wenig Mittel<br />

Ein aktuelles Vorhaben von Agile.ch ist die<br />

Publikation einer Broschüre zum Thema<br />

Sprachgebrauch. Es ist immer noch nicht<br />

überall selbstverständlich, Menschen mit<br />

Behinderung sprachlich nicht zu diskriminieren.<br />

Die Broschüre soll in politischen<br />

Gremien und öffentlichen Verwaltungen,<br />

bei den Medien und in der Öffentlichkeit<br />

gestreut werden. Noch ist allerdings fraglich,<br />

ob und wie die Entwicklungs- und<br />

Produktionskosten von rund 20 000 Franken<br />

gedeckt werden können. Eine weitere<br />

geplante Broschüre soll sich an Ärztinnen<br />

und Ärzte sowie an Zahnärztinnen und<br />

Zahnärzte richten. Zahlreiche Praxen in<br />

der Schweiz sind nicht behindertengerecht<br />

gebaut und nicht barrierefrei ausgestattet.<br />

Oft könnte mit wenig Aufwand viel erreicht<br />

werden. Was genau möglich ist und wie<br />

das umzusetzen wäre, dazu soll die Broschüre<br />

Tipps und Hinweise geben. Ziel ist,<br />

sie allen Berufsangehörigen, die Mitglied<br />

beim jeweiligen Berufsverband sind, zukommen<br />

zu lassen. Weil auch hierfür die<br />

zur Verfügung stehenden Mittel beschränkt<br />

sind, hofft Agile.ch, für diese Projekte Sponsoringpartnerschaften<br />

eingehen zu können.<br />

Gerade im Bereich Sensibilisierung für die<br />

Anliegen und Probleme von Menschen mit<br />

Behinderung bestehen grosse Potenziale,<br />

die gemeinsam angepackt und entwickelt<br />

werden könnten.<br />

•<br />

Suzanne Auer<br />

Zentralsekretärin Agile.ch<br />

plattform 2/14 ZeSo<br />

33


Lesetipps<br />

Behinderung und<br />

Arbeit<br />

Bildungschancen<br />

nach Migration<br />

Soziale<br />

Erschöpfung<br />

Sozialversicherungen<br />

in der Schweiz<br />

Wie können Menschen mit einer<br />

Behinderung in den Arbeitsmarkt<br />

integriert werden? Diese Frage<br />

ist mit der Annahme der 5. und<br />

6. IVG-Revision aktueller denn je.<br />

Die Behindertenselbsthilfe beider<br />

Basel (IVB) hat einen Überblick<br />

zum Thema zusammengestellt. Das<br />

Buch beinhaltet Informationen zu<br />

Behinderungsformen, zur Planung<br />

von Eingliederungen sowie zu Anreizen<br />

und Unterstützungsleistungen.<br />

Weiter werden Fragen zu hindernisfreiem<br />

Bauen und angepassten<br />

Arbeitsplätzen diskutiert. Ergänzt<br />

wird der Band mit verschiedenen<br />

Checklisten, Hilfsmitteln, nützlichen<br />

Adressen und Hinweisen auf<br />

weiterführende Literatur. Damit<br />

eignet sich das Handbuch auch als<br />

Arbeitsinstrument für die Praxis. Es<br />

richtet sich sowohl an Mitarbeitende<br />

im Beratungs- und Sozialbereich wie<br />

auch an Arbeitgeber und betroffene<br />

Personen.<br />

Das deutsche Bildungssystem<br />

schafft es nicht, ungleiche Startbedingungen<br />

ausreichend abzubauen.<br />

Bei Migrantinnen und Migranten verstärken<br />

sich soziale und migrationsspezifische<br />

Faktoren während der<br />

Schulzeit sogar noch. Sie führen oft<br />

zu geringeren Bildungserfolgen, die<br />

sich anschliessend negativ auf die<br />

Chancen der Jugendlichen auf dem<br />

Arbeitsmarkt auswirken. Bildungsanbieter<br />

stehen vor der Aufgabe,<br />

den Handlungsbedarf zu erkennen<br />

und in praktisches und wirksames<br />

Handeln umzusetzen. Das Buch<br />

«Zukunftschancen» fasst den Stand<br />

der Bildungs- und Jugendforschung<br />

zum Thema zusammen. Zudem gibt<br />

das Buch einen Einblick in die aktuelle<br />

Förderung von Jugendlichen mit<br />

Migrationshintergrund, indem die<br />

Theorie mit konkreten Ergebnissen<br />

und Erfahrungen aus der praktischen<br />

Jugendarbeit ergänzt wird.<br />

Seit Jahren ist eine Zunahme und<br />

Verfestigung sozialer Ungleichheit erkennbar.<br />

Wachsende soziale Verunsicherung,<br />

ökonomische Zumutungen<br />

und Benachteiligungen verstärken<br />

in Teilen der Gesellschaft Armut und<br />

Ausgrenzung. Diese Prozesse sind<br />

von Arbeits- und Einkommensverlusten<br />

geprägt und verdichten sich<br />

bei prekärer Beschäftigung. Sie<br />

verursachen Ängste, weiter abzusteigen,<br />

und führen bei vielen Menschen<br />

zu einem Verharren in der Armut, da<br />

Perspektiven des Aufstiegs für sie<br />

kaum mehr erkennbar sind. Diese<br />

dauerhafte Armut wird zunehmend<br />

als normal begriffen und stellt immer<br />

weniger einen sozialpolitischen<br />

Skandal dar. Der Zustand der «sozialen<br />

Erschöpfung» wird zu einem<br />

Kennzeichen einer sich immer weiter<br />

spaltenden Gesellschaft und schlägt<br />

sich in gesellschaftlichen Strukturen<br />

und Handlungsmustern nieder.<br />

Die Sozialversicherungen der<br />

Schweiz sind historisch und unterschiedlich<br />

gewachsen. Seit den<br />

ersten vier Auflagen dieses Buches<br />

haben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen<br />

weiter verändert.<br />

Einzelne Zweige der Sozialversicherung<br />

sind tiefgreifend revidiert<br />

worden, beispielsweise das IVG<br />

(Teil a der 6. IVG-Revision). Das vorliegende<br />

Buch nimmt die neuesten<br />

Änderungen auf und legt mit einem<br />

ereignisorientierten Ansatz die<br />

verschiedenen rechtlichen Bestimmungen<br />

dar. Ergänzt wird das Buch<br />

mit Fallbeispielen aus dem Leben<br />

einer unselbstständig erwerbstätigen<br />

Person. Das Handbuch richtet<br />

sich an Mitarbeitende bei Sozialversicherungen,<br />

Verantwortliche im<br />

Personalbereich, Juristinnen und<br />

Juristen sowie auch an betroffene<br />

Personen.<br />

Hansjürg Minder, ABC Arbeit und<br />

Behinderung, neue, ergänzte Auflage,<br />

Behindertenselbsthilfe beider Basel, <strong>2014</strong>,<br />

240 Seiten, CHF 38.–<br />

Zu beziehen bei ivb@ivb.ch<br />

Jürgen Capelle (Hrsg.), Zukunftschancen.<br />

Ausbildungsbeteiligung und -förderung<br />

von Jugendlichen mit Migrationshintergrund,<br />

Springer, <strong>2014</strong>, 225 Seiten,<br />

CHF 30.–<br />

ISBN 978-3-658-03174-9<br />

Ronald Lutz, Soziale Erschöpfung,<br />

Kulturelle Kontexte sozialer Ungleichheit,<br />

Juventa, <strong>2014</strong>, 155 Seiten, CHF 22.–<br />

ISBN 978-3-7799-2723-5<br />

Kurt Häcki, Sozialversicherungen in der<br />

Schweiz, 5., aktualisierte Auflage,<br />

Rüegger, <strong>2014</strong>, 366 Seiten, CHF 54.–<br />

ISBN 978-3-7253-1015-9<br />

34 ZeSo 2/14 service


Hundert Jahre<br />

Frauenzentrale<br />

Seit einem Jahrhundert setzt sich die<br />

Frauenzentrale Zürich für Anliegen<br />

von Frauen ein. Ihre politischen Ziele<br />

reichten von der Einführung des<br />

obligatorischen Hauswirtschaftsunterrichts<br />

bis zum Kampf um das<br />

Frauenstimmrecht. Zum Jubiläum hat<br />

der Verein ein Buch herausgegeben,<br />

das Einblick in die eigene Geschichte<br />

gibt und sie im Kontext der bürgerlichen<br />

Frauenbewegung verortet.<br />

Zunächst als Zusammenschluss<br />

bestehender Frauenorganisationen<br />

geschaffen, um während des Ersten<br />

Weltkrieges Nothilfe zu leisten,<br />

konstituierte sich die Frauenzentrale<br />

1916 als ein auf Dauer angelegter<br />

Verein. Ab 1940 entwickelte sich die<br />

Frauenzentrale mehr und mehr zu<br />

einem kantonalen Dachverband für<br />

Frauenorganisationen, die sich im<br />

sozialen Bereich engagierten. Die<br />

Frauen organisierten Krisenhilfe,<br />

gründeten Institutionen und entwickelten<br />

Beratungsangebote.<br />

Brigitte Ruckstuhl, Elisabeth Ryter,<br />

Beraten – bewegen – bewirken, Zürcher<br />

Frauenzentrale 1914-<strong>2014</strong>, Chronos, <strong>2014</strong>,<br />

256 Seiten, CHF 38.–<br />

ISBN 978-3-0340-1232-4<br />

Praxis des<br />

Eheschutzes<br />

Welche juristischen Fragen und<br />

Probleme stellen sich, wenn ein<br />

gemeinsamer Haushalt aufgehoben<br />

wird? Das Handbuch bietet dazu<br />

einen praxisnahen Überblick. Es<br />

beinhaltet Informationen zum Eheschutzverfahren,<br />

zu gerichtlichen<br />

Massnahmen bei der Aufhebung des<br />

gemeinsamen Haushalts oder zu<br />

Ehegattenunterhaltsbeiträgen. Weiter<br />

werden Themen wie Inkassohilfe,<br />

Bevorschussung und die internationale<br />

Vollstreckung von Unterhaltsansprüchen<br />

behandelt. Berücksichtigt<br />

wird auch die kantonale Gerichtspraxis,<br />

die in Eheschutzverfahren<br />

von grosser Bedeutung ist. Die<br />

aktualisierte Neuauflage des Buchs<br />

befasst sich insbesondere mit der<br />

am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen<br />

Schweizerischen Zivilprozessordnung<br />

und geht auch auf die<br />

Sorgerechtsnovelle ein, die am 1. Juli<br />

<strong>2014</strong> in Kraft tritt.<br />

Jann Six, Eheschutz, ein Handbuch für die<br />

Praxis, 2. Auflage, Editions Weblaw, <strong>2014</strong>,<br />

250 Seiten, CHF 89.–<br />

ISBN 978-3-906230-10-8<br />

veranstaltungen<br />

Europäische Konferenz<br />

des Sozialwesens<br />

Wie können in Zeiten, in denen vielerorts die öffentlichen Etats<br />

gekürzt werden, das Sozialwesen und die damit zusammenhängenden<br />

Bereiche wie das Gesundheits-, Bildungs-, und<br />

Wohnungswesen nachhaltig gestaltet werden? Und wie können<br />

die öffentlichen Gelder, die Infrastruktur und das Humankapital<br />

optimal genutzt werden? Diese Fragen werden an der<br />

Europäischen Konferenz des Sozialwesens in Rom diskutiert.<br />

Die Tagung bietet zudem die Gelegenheit zu erfahren, welche<br />

Probleme in den verschiedenen europäischen Ländern zurzeit<br />

aktuell sind. SKOS-Mitglieder profitieren von ermässigten<br />

Teilnahmegebühren.<br />

European Social Services Conference<br />

Montag, 7. Juli bis Mittwoch, 9. Juli <strong>2014</strong>, Rom<br />

www.esn-conference.org<br />

Markt und Sozialstaat<br />

Soziale Marktwirtschaft heisst, dass der Markt durch sozial<br />

begründete und staatlich verankerte Rahmenbedingungen<br />

eingeschränkt ist. Gibt es aber auch einen Markt innerhalb der<br />

sozialen Sicherheit? Können Marktelemente wie Wettbewerb<br />

die soziale Sicherheit besser, schneller oder effizienter machen?<br />

Die Schweizerische Vereinigung für Sozialpolitik (SVSP) geht an<br />

ihrer Jahrestagung diesen grundsätzlichen Fragen nach. In<br />

Referaten und Workshops werden die Zusammenhänge<br />

zwischen Markt und Sozialstaat beleuchtet und in Bezug zu<br />

aktuellen sozialpolitischen Entwicklungen gestellt.<br />

SVSP-Tagung<br />

Donnerstag, 18. September <strong>2014</strong>, Hotel Bern, Bern<br />

www.svsp.ch<br />

Rechtsprechung in der Sozialhilfe<br />

Für die Sozialhilfe sind die föderalistische Organisation und<br />

das rechtliche Ermessen beim Festlegen von Leistungsansprüchen<br />

grundlegend. Gleichzeitig gilt es, die verfassungs- und<br />

verfahrensmässigen Prinzipien des Verwaltungsrechts zu<br />

beachten. Die Luzerner Tagung zum Sozialhilferecht verschafft<br />

eine Übersicht über den Inhalt und die Entwicklungslinien der<br />

Rechtsprechung in der Sozialhilfe. Der Fokus liegt sowohl auf<br />

den Grundentscheidungen des Bundesgerichts als auch auf<br />

wesentlichen Urteilen kantonaler Ober- und Verwaltungsgerichte.<br />

Die Tagung richtet sich an Fachpersonen aus Sozialämtern<br />

und Beratungsstellen, Juristinnen und Juristen sowie<br />

an Behördenmitglieder, die sich mit der Ausgestaltung von<br />

Auflagen und Weisungen für Klientinnen und Klienten auseinandersetzen.<br />

Luzerner Tagung zum Sozialhilferecht<br />

Donnerstag, 23. Oktober <strong>2014</strong>, Hochschule Luzern – Soziale Arbeit<br />

www.hslu.ch/fachtagung-sozialhilferecht<br />

service 2/14 ZeSo<br />

35


George Angehrn, Betriebsleiter des Ur-Dörflis: «Die Hauptarbeit besorgen meine Mitarbeitenden.»<br />

Bild: Ursula Markus<br />

Der Fünf-Sterne-Koch<br />

Fünfundzwanzig Jahre lang kochte George Angehrn im Grandhotel Dolder in Zürich für die oberen<br />

Zehntausend. Heute leitet er das Ur-Dörfli, eine Suchthilfeeinrichtung der Stiftung Sozialwerke Pfarrer<br />

Ernst Sieber. Er sei hier bloss Cheerleader, sagt er.<br />

Ein athletisch gebauter Mann wartet vor<br />

dem Hotel Bahnhof im zürcherischen Pfäffikon.<br />

Gschaffige Hände, goldener Ohrring,<br />

träfe Sprache, US-Akzent. Und ein<br />

jungenhaftes Lachen, das George Angehrns<br />

62 Jahre vergessen lässt. Es ist Mittagszeit,<br />

Essensdüfte durchziehen das Hotel<br />

Bahnhof. Seit 2009 fungiert das Haus<br />

nicht mehr als Hotel, sondern als Auffangstation<br />

für 20 bis 25 Menschen, die<br />

ihr Leben auf der Gasse verbrachten. Etwa<br />

ein Jahr bleiben sie hier. Es geht um Schadensminderung<br />

– Stabilisierung, gesundheitlich<br />

und sozial. Nicht mehr, aber auch<br />

nicht weniger. Die Hauptarbeit, sagt George<br />

Angehrn, besorgten seine 22 Mitarbeitenden,<br />

Fachleute aus Sozialarbeit, Sozialpädagogik<br />

und Arbeitsagogik. «Ich bin<br />

hier nur Cheerleader, erledige die Büroarbeit<br />

und halte den Leuten den Rücken<br />

frei», sagt er mit dem für ihn typischen Understatement.<br />

Angehrn hat einen unkonventionellen<br />

Weg hinter sich. Als Sohn eines Schweizer<br />

Auswandererpaares wächst er in einem Vorort<br />

von New York auf. Der Vietnamkrieg politisiert<br />

ihn. Zuerst will er Priester werden.<br />

Aber ein Leben ohne Frauen? Ein no-go für<br />

den vitalen Youngster. Er erinnert sich an<br />

seinen Aufenthalt bei einer Tante im Zürcher<br />

Oberland, an die Düfte in ihrem Restaurant:<br />

Koch will er werden! Er kommt in<br />

die Schweiz, macht eine Kochlehre beim bekannten<br />

Koch Paul Wannenwetsch. Dann,<br />

im Alter von 23 Jahren, wechselt er ins Nobelhotel<br />

Dolder. 25 Jahre lang, davon 13<br />

als Küchenchef, bekocht er dort mit einem<br />

55-köpfigen Team die bessere Gesellschaft.<br />

Radikaler Wechsel<br />

Im Jahr 2000 kommt die grosse Wende.<br />

Das Dolder entlässt den Direktor. Fristlos.<br />

Billiger, effizienter und mit weniger Leuten<br />

arbeiten, heisst nun die Devise. Dem<br />

gestandenen Küchenchef «lupft es den Deckel».<br />

Er ist nun 48 – Zeit für einen radikalen<br />

Wechsel. Er will weg vom Shareholder-<br />

Denken und der Gesellschaft etwas<br />

zurückgeben, als Koch in einer sozialen Institution.<br />

Er bespricht sich mit seiner Frau<br />

Monica. Das Paar stellt ein Krisenbudget<br />

auf. Angehrn schreibt zum ersten Mal im<br />

Leben Bewerbungen. Und erntet lauter Absagen.<br />

Seine Karriere im Grandhotel<br />

scheint die Institutionen abzuschrecken.<br />

In einer neuen Bewerbungsrunde betont<br />

er, sein Lohn sei sekundär. Nun kommen<br />

ein paar Angebote. Er entscheidet sich für<br />

Pfarrer Siebers Ur-Dörfli. Der Wechsel von<br />

der Fünfsternecuisine in die damalige Urdorfer<br />

Containersiedlung mit ihren bejahrten<br />

Kochherden ist ziemlich krass. Zudem<br />

realisiert der Kochprofi: «Ich verstehe<br />

die Sprache der Sozis nicht!» Nun geht er<br />

aufs Ganze, bildet sich zum Arbeitsagogen<br />

aus und erwirbt das Heimleiterdiplom, alles<br />

neben seinem 100-Prozent-Job. Nach<br />

zwei Jahren ist er Betriebsleiter des Ur-<br />

Dörflis.<br />

Freiräume nutzen<br />

George Angehrn ist einer, der Freiräume<br />

zu nutzen weiss. Menschlichkeit und Augenmass<br />

sind ihm wichtig. Die zunehmende<br />

Spezialisierung und Verrechtlichung im<br />

Sozialbereich mache ihm Mühe, sagt er.<br />

«Man versteckt sich hinter Prozessen und<br />

Paragrafen. Niemand will mehr Verantwortung<br />

übernehmen».<br />

In drei Jahren könnte er seine Verantwortung<br />

abgeben und in Pension gehen. Doch<br />

er wird noch zwei, drei Jahre anhängen,<br />

denn das Ur-Dörfli muss bis 2019 einen<br />

neuen Standort finden. Keine einfache Aufgabe,<br />

aber wohl das Richtige für ihn, den<br />

Cheerleader. Und danach? Anghern lacht.<br />

«Endlich ein bisschen mehr Zeit mit der<br />

Frau verbringen. Noch mehr für den Naturschutz<br />

tun, öfter beim Kollegen auf dem<br />

Bauernhof aushelfen.» Eine Weltreise brauche<br />

er nicht, sagt er beim Abschied. «Ich sah<br />

ja die <strong>ganz</strong>e Welt an mir vorbeigehen.» •<br />

Paula Lanfranconi<br />

Sozialwerke Pfarrer Ernst Sieber: www.swsieber.ch<br />

36 ZeSo 2/14 porträt


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