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ZESO_1-2014_ganz

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SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

<strong>ZESO</strong><br />

ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE<br />

01/14<br />

GESUNDHEIT DIE GESUNDHEITSCHANCEN SIND AUCH IN DER SCHWEIZ UNGLEICH<br />

VERTEILT 15 JAHRE SKOS-PRÄSIDENT ABSCHIEDSGESPRÄCH MIT WALTER SCHMID<br />

WOHNUNGSSUCHE DIE STIFTUNG APOLLO HILFT MENSCHEN IN SCHWIERIGEN SITUATIONEN


SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

SKOS-Mitgliederversammlung<br />

Soziale Gerechtigkeit<br />

22. Mai <strong>2014</strong> im Verkehrshaus Luzern<br />

Soziale Gerechtigkeit ist als gesellschaftlicher Anspruch unbestritten. Wie die Güterverteilung aussehen<br />

und soziale Gerechtigkeit erreicht werden sollen, muss ausgehandelt werden. Verschiedene Kräfte und<br />

Interessen wirken auf diesen Prozess ein. Sozialhilfe trägt wesentlich zum sozialen Ausgleich bei.<br />

Die Mitgliederversammlung der SKOS setzt sich mit wirtschaftsethischen, politischen und medialen<br />

Aspekten der sozialen Gerechtigkeit auseinander und diskutiert, wie soziale Gerechtigkeit in der heutigen<br />

Zeit erreicht werden kann. Gastreferenten sind Roger de Weck, Florian Wettstein und Andreas Gross.<br />

Programm und Anmeldung: www.skos.ch Veranstaltungen<br />

SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

Rechtsberatung für SKOS-Mitglieder<br />

Die Soziale Arbeit ist stark auf juristisches Wissen angewiesen. Viele Fragen können nur von Expertinnen<br />

und Experten beantwortet werden. Die SKOS ermöglicht ihren Mitgliedern einen privilegierten Zugang zum<br />

Beratungszentrum der Zeitschrift «Beobachter». Dieses gibt kompetent und umfassend Auskunft zu<br />

Rechtsfragen, die sich in der Praxis der Sozialen Arbeit stellen.<br />

SKOS-Mitgliedern stehen folgende Dienstleistungen des «Beobachters» zur Verfügung:<br />

- Rechtsberatung per E-Mail und Telefon (Montag bis Freitag)<br />

- Dossierstudium<br />

- Zugriff auf die Beratungsplattform HelpOnline.ch rund um die Uhr<br />

- Abonnement der Zeitschriften «Beobachter» und «Beobachter Natur»<br />

Ab 660 Franken pro Jahr, je nach Anzahl Mitarbeitende und gewünschter Beratungsleistung<br />

Jetzt bestellen: www.skos.ch Sozialhilfe und Praxis Dienstleistungen


Michael Fritschi<br />

Verantwortlicher Redaktor<br />

«Gesundheit!»<br />

«Gesundheit!» wünschen wir dem Gegenüber, das eben<br />

unüberhörbar geniest hat. Aber weshalb tun wir das<br />

eigentlich? Es wurde doch ziemlich sicher nur von einem<br />

herumfliegenden Staubkorn oder von einem verirrten<br />

Sonnenstrahl kurz an der Nase gekitzelt? Ein unmittelbares<br />

Risiko, dass die Person erkrankt, besteht jedenfalls<br />

kaum. Dieses Risiko betrifft viel eher Menschen, die in<br />

prekären Verhältnissen leben müssen und deren Gesundheitschancen<br />

durch Mangelversorgung beeinträchtigt<br />

werden.<br />

Der Schwerpunkt dieser Zeso-Nummer beschreibt, wie<br />

Armut das Risiko erhöht, krank zu werden, und weshalb<br />

kranke Menschen einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt<br />

sind: Wer wenig Geld hat, spart bei den Gesundheitsleistungen.<br />

Wer ein Bildungsmanko hat, läuft Gefahr, dass<br />

sie oder er Gesundheitsinformationen nicht zum eigenen<br />

Vorteil zu deuten und zu nutzen weiss. Dadurch werden<br />

Handlungsspielräume eingeschränkt, und die Wahrscheinlichkeit,<br />

in Armut und Krankheit – beispielsweise in<br />

schlechter psychischer Verfassung – zu verharren, wächst.<br />

Viel eher sollten wir diesen Menschen «gute Gesundheit!»<br />

zurufen. Denn eine gute Gesundheit ist eine entscheidende<br />

Lebensqualität und auch eine zentrale Voraussetzung für<br />

die Integration in den Arbeitsmarkt.<br />

Auf einer <strong>ganz</strong> anderen Ebene spielt sich in den kommenden<br />

Monaten der bereits angekündigte Wechsel an der<br />

Verbandsspitze der SKOS ab. Im <strong>ZESO</strong>-Interview reflektiert<br />

Walter Schmid, der im Mai sein Amt als Präsident der SKOS<br />

niederlegt, die Chancen und Risiken unseres Verbands,<br />

der zweckgebunden in einem von der Gesellschaft nicht<br />

sonderlich geliebten Spannungsfeld tätig ist. Ich wünsche<br />

Ihnen eine anregende Lektüre.<br />

editorial 1/14 ZeSo<br />

1


SCHWERPUNKT16–27<br />

gESUNDHEIT<br />

Armut macht krank, und soziale Einschränkungen<br />

führen zu gesundheitlichen Belastungen. Ein geringer<br />

Sozialstatus wird so zum Gesundheitsrisiko.<br />

Das Problem wird akzentuiert, wenn Ärzte wenig<br />

Kenntnis über die Zusammenhänge der Armutsproblematik<br />

haben, und Sozialversicherungen der<br />

psychischen Verfassung ihrer Klientinnen und<br />

Klienten zu wenig Aufmerksamkeit schenken.<br />

Durch besser abgestimmte Hilfen könnten mehr<br />

Personen mit psychischen Problemen im Arbeitsmarkt<br />

gehalten werden.<br />

<strong>ZESO</strong> zeitschrift für sozialhilfe<br />

Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />

www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS,<br />

Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch,<br />

Tel. 031 326 19 19 Redaktion Michael Fritschi Redaktionelle<br />

begleitung Dorothee Guggisberg Autorinnen und Autoren<br />

in dieser Ausgabe Niklas Baer, Franziska Ehrler, Rachèle Féret,<br />

Bettina Fredrich, Regine Gerber, Paula Lanfranconi, Lucrezia Meier-<br />

Schatz, Markus Morger, Daniela Moro, Rahel Müller de Menezes,<br />

Christian Rupp, Emine Sariaslan, Margrit Schmid, Simon Steger,<br />

Martin Wild-Näf, Hans Wolff Titelbild Rudolf Steiner layout<br />

mbdesign Zürich, Marco Bernet Korrektorat Peter Brand<br />

Druck und Aboverwaltung Rub Media AG, Postfach, 3001 Bern,<br />

zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 preise Jahresabonnement<br />

Inland CHF 82.– (für SKOS-Mitglieder CHF 69.–),<br />

Abonnement ausland CHF 120.–, Einzelnummer CHF 25.–.<br />

© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin.<br />

Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />

ISSN 1422-0636 / 111. Jahrgang<br />

Bild: Keystone<br />

Erscheinungsdatum: 10. März <strong>2014</strong><br />

Die nächste Ausgabe erscheint im Juni <strong>2014</strong>.<br />

2 ZeSo 1/14 inhalt


INHALT<br />

5 Nach wie vor hoher Handlungsbedarf<br />

in der Familienpolitik. Kommentar<br />

von Lucrezia Meier-Schatz<br />

6 13 Fragen an Margrit Schmid<br />

8 Die Besteuerung von Sozialhilfeleistungen<br />

schafft neue Probleme<br />

10 Praxis: Unregelmässige Einkommen<br />

– wann ist die Soziahilfeablösung<br />

möglich?<br />

11 Frühe Förderung zahlt sich aus<br />

12 «Das Eröffnen von Perspektiven<br />

ist das A und O jeder Hilfe»: Interview<br />

zum Rücktritt von Walter Schmid<br />

16 SCHWERPUNKT: gesundheit<br />

18 Armut und Unterversorgung schaden<br />

der Gesundheit<br />

21 Migrantenvereine als Plattform für die<br />

Anliegen der Gesundheitsförderung<br />

22 Psychische Krankheit und Armut<br />

sind eng miteinander verbunden<br />

24 Informationslücken an der Schnittstelle<br />

von medizinischer und sozialer<br />

Tätigkeit<br />

26 Freiwillige leisten Unterstützung bei<br />

der Bewältigung des Alltags<br />

Die verlegerin<br />

Der sozialhilfepromotor<br />

die milizsozialberater<br />

Margrit Schmid ist Verlagsleiterin des<br />

Schweizerischen Jugendschriftenwerks<br />

(SJW), das Kindern und Jugendlichen<br />

Literatur in allen vier Landessprachen<br />

bietet. Sie ist auch als Dokumentarfilmerin<br />

und Ausstellungsmacherin tätig.<br />

6<br />

Im Mai tritt SKOS-Präsident Walter Schmid<br />

nach 15 Jahren engagiertem Einsatz von<br />

seinem Amt zurück. Die SKOS nehme<br />

in einem sehr schwierigen Politikfeld<br />

eine Brückenbauerfunktion ein, sagt er<br />

im Interview, und blickt auf kommende<br />

Herausforderungen für den Verband und die<br />

Sozialhilfe.<br />

12<br />

Die Büros des Armeesozialdienstes<br />

lassen einen militärischen Kontext kaum<br />

erahnen. Hier werden die Einsätze der<br />

26 Milizsozialberater koordiniert, die im<br />

Rahmen ihres Militärdienstes Beratungen in<br />

den Rekrutenschulen durchführen.<br />

28 Professionelle Sozialarbeit bedingt<br />

flexible Vorgehensweisen<br />

30 Reportage: Wenn in der Rekrutenschule<br />

das Geld ausgeht<br />

32 Plattform: Die Stiftung Apollo hilft<br />

Benachteiligten bei der Wohnungssuche<br />

34 Lesetipps und Veranstaltungen<br />

36 Porträt: Schwester Agnes Schneider,<br />

Lehrerin in Tansania<br />

Die Missionarin<br />

30<br />

Schwester Agnes Schneider unterrichtet<br />

auch mit 74 Jahren noch an der St. Martins<br />

Girls Secondary School in Tansania. Sie hat<br />

eine Mission: Junge Frauen durch Bildung<br />

vor Aids und Drogen bewahren.<br />

36<br />

inhalt 1/14 ZeSo<br />

3


NACHRICHTEN<br />

Die Sozialhilfequote blieb<br />

2012 stabil<br />

Die Sozialhilfestatistik 2012 zeigt einen anhaltenden<br />

Trend: Im Jahr 2012 wurden in der<br />

Schweiz rund 250 000 Personen mit Sozialhilfeleistungen<br />

unterstützt, das sind 14 000<br />

mehr als im Vorjahr. Die Zunahme ist auf<br />

das allgemeine Bevölkerungswachtum in<br />

der Schweiz zurückzuführen. Sie weist aber<br />

auch darauf hin, dass die Fallzahlen in der<br />

Sozialhilfe abhängig von Revisionen in den<br />

vorgelagerten Leistungssystemen sind und<br />

dass sie unabhängig von der Konjunkturlage<br />

steigen. Nach wie vor stabil ist Sozialhilfequote<br />

mit 3,1 Prozent im Jahr 2012. In<br />

den Vorjahren hatte sie jeweils 3,0 Prozent<br />

betragen.<br />

Bestandesaufnahme zur<br />

IIZ in der Schweiz<br />

Das Bundesamt für Sozialversicherungen<br />

und das Staatssekretariat für Wirtschaft<br />

haben eine Studie zur interinstitutionellen<br />

Zusammenarbeit (IIZ) veröffentlicht. Sie<br />

soll dazu dienen, die Weiterentwicklung der<br />

IIZ auf gesamtschweizerischer Ebene zu<br />

steuern und den Austausch zwischen den<br />

Kantonen sowie die Verbreitung von Good<br />

Practices zu fördern. Aus der Studie resultieren<br />

die Empfehlungen, die Definition der<br />

IIZ auf nationaler Ebene zu vereinheitlichen<br />

und Expertenpools aufzubauen. Die bilaterale<br />

Zusammenarbeit soll gefördert und<br />

die regelmässigen Treffen zwischen den<br />

nationalen IIZ-Verantwortlichen und den<br />

kantonalen Partnern sollen weitergeführt<br />

werden. Zudem wird empfohlen, die Hürden<br />

bei der Anmeldung von IIZ-Fällen zu senken<br />

und den Informationsaustausch zu vereinfachen.<br />

Die Umsetzung verschiedener Empfehlungen<br />

ist bereits im Gang.<br />

Die SKOS hat eine neue<br />

Website<br />

Informativer, benutzerfreundlicher, moderner:<br />

Mit dieser Zielsetzung wurde im Lauf<br />

des letzten Jahres die neue SKOS-Website<br />

entwickelt und am 1. Januar in Betrieb<br />

genommen. Sie bietet mehr aktuelle Informationen<br />

sowie Themendossiers, die eine<br />

praktische Bündelung der Inhalte ermöglichen<br />

– derzeit zu den Themen «Arbeit»,<br />

«Bildung», «Familie» und «soziale Sicherheit».<br />

Spezifisches Fachwissen kann nun<br />

auch über eine Suchfunktion erschlossen<br />

werden, und auch der Webshop erscheint<br />

in neuer Aufmachung. Der Premium-Bereich<br />

für die SKOS-Mitglieder heisst neu «Mitgliederbereich».<br />

4 ZeSo 1/14 aktuell<br />

Viele IV-Rentnerinnen und -Rentner waren lange Zeit auf Sozialhilfe angewiesen. <br />

3 von 10 neuen IV-Rentenbeziehenden<br />

wurden von der Sozialhilfe unterstützt<br />

Eine Studie des Bundesamts für Sozialversicherungen<br />

stellt fest, dass rund ein Drittel<br />

aller neuen Bezügerinnen und Bezüger von<br />

IV-Renten in den fünf Jahren zuvor Sozialhilfe<br />

bezogen hat. Im Durchschnitt wurden<br />

diese Personen während zweieinhalb Jahren<br />

von der Sozialhilfe unterstützt. Diejenigen<br />

unter ihnen, die vor dem Sozialhilfebezug<br />

kein Anrecht auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung<br />

hatten, wurden<br />

durchschnittlich sogar während dreieinhalb<br />

Jahren unterstützt. Insgesamt haben<br />

mehr IV-Neurentner und -Neurentnerinnen<br />

Leistungen der Sozialhilfe bezogen als von<br />

der Arbeitslosenversicherung. Insbesondere<br />

Personen mit psychischen Krankheiten<br />

haben vor dem IV-Rentenbezug Sozialhilfe<br />

bezogen. Jeder siebte IV-Neurentenbeziehende<br />

wurde zudem vorher als Working<br />

Poor ergänzend mit Sozialhilfe unterstützt.<br />

Dass die Sozialhilfe eine wichtige Überbrückungsfunktion<br />

zur IV übernimmt, ist<br />

bekannt. Die festgestellte Anzahl der Fälle<br />

und die langen Unterstützungszeiträume<br />

werfen für die SKOS aber Fragen auf. Um<br />

die Schnittstelle zwischen Sozialhilfe und<br />

IV besser beurteilen zu können, sind zusätzliche<br />

Informationen zum Verlauf des<br />

Gesundheitszustands während des Sozialhilfebezugs<br />

und Erklärungen für die<br />

lange Unterstützungsdauer notwendig.<br />

Die Ergebnisse der Studie zeigen auch,<br />

dass eine gut funktionierende interinstitutionelle<br />

Zusammenarbeit und eine <strong>ganz</strong>heitliche<br />

Sicht auf das System der sozialen<br />

Sicherheit unabdingbar sind. •<br />

<br />

OECD-Bericht zum Thema «Psychische<br />

Gesundheit und Arbeit» in der Schweiz<br />

In der Schweiz wird zu wenig getan, um die<br />

Erwerbsbeteiligung von Menschen mit psychischen<br />

Beeinträchtigungen zu erhalten.<br />

Dies schreibt die Organisation für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit und Entwicklung<br />

(OECD) im Bericht «Psychische Gesundheit<br />

und Arbeit: Schweiz». Die OECD empfiehlt,<br />

das Krankheitsmonitoring und die Präventionsmassnahmen<br />

am Arbeitsplatz zu verstärken.<br />

Zudem müsse die Invalidenversicherung<br />

die Arbeitgeber stärker einbeziehen, damit<br />

die Frühintervention besser funktioniere.<br />

Weiter soll der Leistungsumfang der regionalen<br />

Arbeitsvermittlungszentren (RAV) erweitert<br />

werden, um eine Ausrichtung auf<br />

Klientinnen und Klienten mit psychischen<br />

Erkrankungen zu ermöglichen. Auch die<br />

Sozialhilfe müsse ihre Kapazitäten für den<br />

Umgang mit Personen mit psychischen<br />

Problemen stärken. Und es sei unerlässlich,<br />

dass das Gesundheitswesen zum gleichwertigen<br />

IIZ-Partner werde. Mehr zum Thema<br />

«Psychische Gesundheit und Arbeit» im<br />

Schwerpunkt (ab S. 16).<br />

•<br />

<br />

Bild: Keystone


KOMMENTAR<br />

Nach wie vor hoher Handlungsbedarf in der Familienpolitik<br />

Vor zwanzig Jahren rief die UNO das<br />

Internationale Jahr der Familie ins Leben.<br />

Erinnerungen an die Anstrengungen, die im<br />

Zuge der damaligen Formulierung von familienorientierten<br />

Grundsätzen unternommen<br />

wurden, werden wach. Die von Pro Familia<br />

Schweiz ins Leben gerufene Nationale<br />

Kommission für das Internationale Jahr<br />

der Familie hatte den Schwerpunkt auf die<br />

Anerkennung der Leistungen der Familien<br />

gelegt und forderte die Schaffung einer<br />

eidgenössischen Kommission für Familienfragen.<br />

Pro Familia ihrerseits war mit einer<br />

Wanderausstellung in allen Landesteilen<br />

präsent und legte die Schwerpunkte auf<br />

die Anerkennung der Vielfalt der Familienformen<br />

und auf die Förderung der Vereinbarkeit<br />

von Beruf und Familie.<br />

Zwanzig Jahre später sind wir einen kleinen,<br />

bescheidenen Schritt weiter. Zwischenzeitlich<br />

wurde 1995 die Eidgenössische<br />

Koordinationskommission für Familienfragen<br />

EKFF als beratendes Organ des Bundesrats<br />

eingesetzt. Der Bund publizierte,<br />

nach 1981, im Jahr 2004 endlich den<br />

2. Familienbericht. Die Familienpolitik ist<br />

mittlerweile nicht nur auf kantonaler, sondern<br />

auch auf Bundesebene Gegenstand<br />

der politischen Auseinandersetzungen. Und<br />

doch bleibt viel zu tun!<br />

Für die Begehung des 20. Jubiläums des<br />

Internationalen Jahres der Familie legen<br />

die Vereinten Nationen den Schwerpunkt<br />

auf die Förderung der Familienpolitik. Die<br />

europäischen Staaten ihrerseits wie auch<br />

Pro Familia Schweiz – die offizielle Schweiz<br />

verzichtet auf die Begehung dieses Jubiläums<br />

– bearbeiten weiterhin das Thema der<br />

Vereinbarkeit, denn es braucht noch viel<br />

mehr Anstrengungen, um die Schaffung<br />

eines Gleichgewichts zwischen Familie<br />

und Beruf zu erreichen. Die familienpolitischen<br />

Herausforderungen sind zahlreich:<br />

Entwicklung und Begleitung der Kinder,<br />

wandelnde Wahrnehmung der Rolle des<br />

Vaters, Forderung nach höherer Erwerbsquote<br />

der Frauen, wachsende Familienarmut<br />

und langsame Erosion eines Teils<br />

des Mittelstands und damit die wirtschaftliche<br />

Absicherung der Familie, Folgen der<br />

älter werdenden Gesellschaft und Verfügbarkeit<br />

der pflegenden Angehörigen.<br />

Die sozio-ökonomischen und soziodemographischen<br />

Veränderungen sind<br />

für Familien enorm herausfordernd und<br />

verlangen ein Mitdenken und Mitgestalten,<br />

sowohl von der Gesellschaft als auch von<br />

der Wirtschaft. Denn um ihre innerfamiliären<br />

und gesellschaftlichen Leistungen zu<br />

erbringen, brauchen Familien vor allem drei<br />

Dinge: Zeit, Geld und Infrastrukturen. Die<br />

Unterstützung ist nach wie vor lückenhaft<br />

und bleibt ungenügend. Es braucht bessere<br />

Rahmenbedingungen, die es Familien<br />

endlich ermöglichen, alles unter einen<br />

Hut zu kriegen. Es braucht Einsichten und<br />

Aussichten und schliesslich den Mut zur<br />

Veränderung, um sich dem Alltag der Familien<br />

anzunähern.<br />

Lucrezia Meier-Schatz<br />

Geschäftsführerin Pro Familia Schweiz<br />

aktuell 1/14 ZeSo<br />

5


13 Fragen an Margrit Schmid<br />

1<br />

2<br />

3<br />

Sind Sie eher arm oder eher reich?<br />

Arm und reich sein ist relativ, auch in Bezug auf<br />

Geld. Meine Urgrossmutter besass davon wenig, im<br />

Vergleich zu ihr bin ich eher reich. Sie besass aber<br />

einen grossen Bauerngarten, in dem sie Lauch,<br />

Kabis, Salat, Beeren, Kräuter und vieles mehr ernten<br />

und die schönsten Blumen pflücken konnte. Diesbezüglich<br />

bin ich im Vergleich zu meiner Urgrossmutter<br />

sehr arm. Und im Vergleich zu den 300 Schweizer<br />

Milliardären bin ich eine arme Kirchenmaus.<br />

Was empfinden Sie als besonders ungerecht?<br />

Bevorzugung oder Diskriminierung aufgrund<br />

der sozialen Herkunft und Stellung, der Hautfarbe,<br />

der Religion, des Alters, einer Behinderung oder des<br />

Geschlechts. Besonders ungerecht ist auch, wenn<br />

der Zugang zu Wissen verhindert wird, wenn Kinder<br />

unterschätzt, unterfordert und überbehütet werden.<br />

Glauben Sie an die Chancengleichheit?<br />

Ich unterstütze Chancengleichheit, die es allerdings<br />

– ähnlich wie Freiheit – nie zu hundert Prozent<br />

geben wird. Sie kann höchstens angestrebt<br />

und immer wieder neu erprobt werden. Es gibt<br />

Menschen, die glauben, ihr Schicksal liege in den<br />

Händen Gottes und alles sei bereits bei der Geburt<br />

festgelegt. Dies war in Europa teilweise bis ins<br />

20. Jahrhundert zu beobachten. Heute lernen wir,<br />

dass mit Wille und Eigenleistung oder gar mit Gewalt<br />

versucht werden kann, Chancengleichheit und<br />

Gerechtigkeit zu erreichen und durchzusetzen. Wir<br />

Menschen haben die Fähigkeit, Chancenungleichheit<br />

und damit auch Ungerechtigkeit zu erkennen.<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

Was bewirken Sie mit Ihrer Arbeit?<br />

Das müssten die Leute beantworten, die meiner<br />

Arbeit und der meiner Mitarbeiterinnen begegnen.<br />

Schön wäre, wenn unsere Arbeit beim SJW bei einer<br />

jugendlichen Leserschaft Bewusstsein schafft<br />

für den kulturellen Reichtum wie beispielsweise die<br />

Sprachenvielfalt in der Schweiz oder für die Schweizer<br />

Geschichte. Aber auch dafür, dass Lesen Spass<br />

machen kann, bereichert, Wissen vermittelt, neue<br />

Welten öffnet. Und dass die Verbindung von Tradition<br />

und Moderne, wie sie in unserem Verlag oft wahrzunehmen<br />

ist, kein Widerspruch ist, sondern belebt,<br />

anregt und interessante Spannungen auslösen<br />

kann.<br />

Für welches Ereignis oder für welche Begegnung würden<br />

Sie ans andere Ende der Welt reisen?<br />

Ich sehe mir sehr gerne den Mond an, auch einen<br />

Himmel voller Sterne, oder Wolken, die vom Wind<br />

zerzaust dahinsausen. Solche Ereignisse sind einzigartig<br />

und lassen sich an allen Enden der Welt beobachten,<br />

nie und nirgends ein zweites Mal. Da wir<br />

auf einer Kugel leben, gibt es kein «anderes Ende»<br />

auf dieser Welt, ich kann das gut von hier aus machen.<br />

Wenn Sie in der Schweiz drei Dinge verändern könnten,<br />

welche wären das?<br />

Folgendes würde ich einrichten: Astronomie,<br />

Physik und Chemie, Geschichte und Philosophie ab<br />

Kindergartenstufe – unter genau diesen Namen,<br />

nicht unter «Mensch und Umwelt». Folgendes wünsche<br />

ich: Wer Gelegenheit hat, acht bis zehn Jahre<br />

oder mehr die Schule zu besuchen, sollte diese mit<br />

einem differenzierten Wissen über die Geschichte<br />

der Schweiz, Europas und der weiten Welt verlassen<br />

und wissen, wie man das Leben in unserem Land<br />

mitgestalten kann.<br />

Können Sie gut verlieren, und woran merkt man das?<br />

Ich verliere täglich vieles und bin täglich auf der<br />

Suche nach Verlorenem. Ohne Verlorenes wieder gefunden<br />

zu haben, gehe ich ungern weiter. Ich bin somit<br />

eine schlechte Verliererin. In einem von Regeln<br />

bestimmten Spiel, in dem eine Person gewinnt, eine<br />

verliert, kann ich gut zu den Verlierern zählen, nicht<br />

aber ohne alles versucht zu haben, um Gewinnerin<br />

zu sein. Beim Verlieren eines geliebten Menschen,<br />

durch Tod oder auch durch eine Neuorientierung<br />

dieses Menschen, wage ich über meine Fähigkeit,<br />

eine gute oder schlechte Verliererin zu sein, nichts<br />

zu sagen.<br />

6 ZeSo 1/14 13 fragen an


Margrit Schmid<br />

Bild: Ursula Markus<br />

Margrit Schmid ist seit acht Jahren Verlagsleiterin des Schweizerischen<br />

Jugendschriftenwerks (SJW), das Kindern und Jugendlichen Literatur in<br />

allen vier Landessprachen bietet. Sie hat visuelle Kommunikation an der<br />

Hochschule für bildende Künste in Berlin sowie Ethnologie und Volkskunde<br />

an der Universität Zürich studiert. Margrit Schmid ist auch als Dokumentarfilmerin<br />

und Ausstellungsmacherin tätig und lebt in Zürich.<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

Bügeln Sie Ihre Blusen selbst?<br />

Ich habe nur drei davon und ich freue mich, wenn<br />

mir das Bügeln gelungen ist.<br />

Was bedeutet Ihnen Solidarität?<br />

Während meiner Studienzeit in Berlin konnte<br />

ich zahlreiche Solidaritätsaktionen der Studenten<br />

mit der Arbeiterklasse beobachten. Als Arbeiterkind<br />

staunte ich darüber sehr, insbesondere da mir<br />

das Leben vieler Studierenden im Vergleich zu dem<br />

der Arbeiter luxuriös vorkam. Solidarisch sein mit<br />

Gleichgesinnten heisst für mich zu überdenken, mit<br />

wem, gegen wen, für und gegen was ich mich solidarisieren<br />

will. Im Kleinen bedeutet mir solidarisches<br />

Handeln, rücksichtsvoll und hilfsbereit gegenüber<br />

Mitmenschen zu sein, auch dort, wo es zunächst<br />

wenig sinnvoll erscheint. Die Pflege der Solidarität<br />

ist auch Aufgabe des Staates. Wo private Solidarität<br />

Benachteiligte oder Bedürftige nicht erreicht, soll<br />

sie gesetzlich geregelt werden.<br />

Haben Sie eine persönliche Vision?<br />

Ja. Sie ist allerdings in ständiger Bewegung und<br />

stellt sich immer wieder neu dar: Visionen neuer Projekte,<br />

Visionen vom Himmel, der Hölle, vom Jenseits,<br />

von der Zukunft. Visionen halten mich am Leben und<br />

treiben mich vorwärts bei allem, was ich tue.<br />

Welcher Begriff ist für Sie ein Reizwort?<br />

Wenn gemeint ist, was mein Interesse reizt,<br />

dann: Berge, Regen, die Nacht, die Genesis, Vögel,<br />

der Waldrap, C. Gesner, J.J. Scheuchzer, H. Blumenberg<br />

und andere. Negative Reizwörter interessieren<br />

mich weniger.<br />

Gibt es Dinge, die Ihnen den Schlaf rauben?<br />

Ja. Ideen, Projekte, Bilder, Worte rauben mir den<br />

Schlaf. Alles, was ich anpacken, umsetzen, realisieren<br />

möchte, wird zuerst in der Nacht, sozusagen im<br />

Schutz der Dunkelheit, durchgedacht, durchgespielt<br />

oder verworfen, so dass ich mich oft zum Einschlafen<br />

zwingen muss.<br />

Mit wem möchten Sie gerne per Du sein?<br />

«Sie» zu sagen ist mir nicht unangenehm. Ich<br />

nehme aber gerne das Angebot an, wenn mir jemand<br />

das «Du» anbietet.<br />

13 fragen an 1/14 ZeSo<br />

7


Die Besteuerung von Sozialhilfeleistungen<br />

schafft neue Probleme<br />

Bei einem guten Steueraufkommen kann der Staat mehr Leistungen anbieten, was insbesondere<br />

einkommensschwachen Haushalten zugute kommt. Doch Steuern sind nicht gleich Steuern. Sie<br />

können auch Armut begünstigen. Und die Besteuerung von Sozialhilfeleistungen würde mehr<br />

Probleme schaffen, als sie löst.<br />

Steuern lassen sich grob in zwei Kategorien<br />

einteilen: in Steuern auf Einkommen und<br />

Vermögen sowie in Verbrauchssteuern. Bei<br />

den Verbrauchssteuern fällt die Mehrwertsteuer<br />

für einkommensschwache Haushalte<br />

am stärksten ins Gewicht. Einkommensschwache<br />

Haushalte geben insgesamt zwar<br />

einen kleineren Betrag, anteilmässig aber<br />

einen grösseren Teil ihres Einkommens für<br />

den unmittelbaren Konsum aus als Haushalte<br />

mit hohen Einkommen. Einkommensschwache<br />

Haushalte sind deshalb von<br />

Erhöhungen der Mehrwertsteuer stärker<br />

betroffen. Sie können ihren bereits bescheidenen<br />

Konsum nicht weiter reduzieren. In<br />

der anderen Kategorie sind für einkommensschwache<br />

Haushalte vor allem die<br />

Einkommenssteuern von Bedeutung. Für<br />

einkommensschwache Haushalte ist es wesentlich,<br />

wie Einkommen besteuert und<br />

welche Abzüge getätigt werden können<br />

und wie das Steuer- und das Sozialtransfersystem<br />

aufeinander abgestimmt sind.<br />

Zwischen Sozial- und Fiskalpolitik<br />

Das Einkommen eines Haushalts umfasst<br />

nicht nur den Lohn, sondern alle finanziellen<br />

Einkünfte des Haushalts. Dazu gehören<br />

auch Sozialversicherungs- und Bedarfsleistungen.<br />

Diese werden unterschiedlich<br />

besteuert. Die Renten der AHV und der IV<br />

sowie Leistungen der Arbeitslosenversicherung<br />

werden beispielsweise vollständig<br />

besteuert, und auch bevorschusste Alimente<br />

und Kinderzulagen werden wie Lohneinkommen<br />

besteuert. Andere Renten und<br />

Pensionen hingegen werden mit einem tieferen<br />

Steuersatz besteuert, beispielsweise<br />

Renten aus der beruflichen Vorsorge und<br />

Leibrenten. Von den Steuern ausgenommen<br />

sind Stipendien, Ergänzungsleistungen<br />

zur AHV oder IV und Leistungen der<br />

Sozialhilfe. Wie viele Steuern ein Haushalt<br />

bezahlen muss, hängt also nicht unwesentlich<br />

davon ab, wie sich sein Einkommen<br />

zusammensetzt.<br />

Neben dem Einkommen spielen bei der<br />

Berechnung der Steuern auch die Abzüge<br />

eine Rolle. Mit diesen werden teilweise explizit<br />

sozialpolitische Ziele verfolgt. So wird<br />

beispielsweise der verminderten finanziellen<br />

Leistungsfähigkeit eines Haushalts<br />

mit Kindern gegenüber einem Haushalt<br />

ohne Kinder Rechnung getragen, indem<br />

ein Kinderabzug getätigt werden kann<br />

und Kosten für die familienergänzende<br />

Kinderbetreuung in Abzug gebracht wer-<br />

Ohne sorgfältige Abstimmung zwischen dem Steuer- und dem Sozialsystem können Ineffizienz und Ungerechtigkeit entstehen.<br />

Bild: Keystone<br />

8 ZeSo 1/14 position skos


den können. Solche Abzüge können Haushalte<br />

steuerlich entlasten und damit im<br />

besten Fall Armut verhindern. Allerdings<br />

schmälert eine allgemeine Erhöhung der<br />

Abzüge das Steueraufkommen, und aufgrund<br />

der progressiven Ausgestaltung des<br />

Steuersystems fällt die Steuereinsparung<br />

für tiefe Einkommen geringer aus als für<br />

hohe Einkommen. Ein weiterer Faktor ist<br />

der Steuersatz, mit dem tiefe Einkommen<br />

besteuert werden. Die Zusammenhänge<br />

zwischen dem Steuer- und dem Sozialsystem<br />

sind also vielfältig, und es braucht eine<br />

sorgfältige Abstimmung zwischen den beiden<br />

Systemen, damit beide effizient und<br />

gerecht funktionieren können.<br />

Working-Poor-Haushalte sind<br />

besonders betroffen<br />

Dies ist vor allem in Bezug auf Working-<br />

Poor-Haushalte eine Herausforderung. Für<br />

sie kann die Steuerbelastung der Tropfen<br />

sein, der das Fass zum Überlaufen bringt<br />

und die Armutsproblematik akzentuiert.<br />

Zudem kann eine mangelhafte Abstimmung<br />

der Systeme dazu führen, dass sich<br />

Working-Poor-Haushalte in einer Situation<br />

wiederfinden, in der sich Erwerbsarbeit<br />

finanziell nicht mehr lohnt, weil Erwerbseinkommen<br />

besteuert werden und Sozialleistungen<br />

nicht. Um solches zu verhindern,<br />

können Massnahmen sowohl auf<br />

Seiten der Sozial- als auch der Steuerpolitik<br />

ergriffen werden. Bei den Sozialleistungen<br />

etwa können Freibeträge auf Erwerbseinkommen,<br />

wie sie die Sozialhilfe kennt, die<br />

Steuerlast von Working-Poor-Haushalten<br />

kompensieren und dafür sorgen, dass sich<br />

Erwerbsarbeit in jedem Fall finanziell<br />

lohnt. Auf Seite der Steuerpolitik kann die<br />

Steuerbefreiung des Existenzminimums,<br />

wie sie bei den Bundessteuern und in einigen<br />

Kantonen bereits umgesetzt ist, dafür<br />

sorgen, dass die Steuerbelastung niemanden<br />

in die Armut treibt.<br />

Ein radikalerer Ansatz zur Lösung dieser<br />

Problematik sieht die Besteuerung von<br />

Sozialhilfeleistungen bei gleichzeitiger<br />

Steuerbefreiung des Existenzminimums<br />

vor. Der Bundesrat wird im Frühling einen<br />

Bericht zu einer entsprechenden parlamentarischen<br />

Vorlage veröffentlichen.<br />

Aktuelle<br />

Steuervorlagen aus<br />

armutspolitischer<br />

Perspektive<br />

«Millionen-Erbschaften besteuern<br />

für unsere AHV» (SP)<br />

Die Initiative sieht die Schaffung einer<br />

Erbschafts- und Schenkungssteuer vor. Die<br />

Einnahmen kämen zu zwei Dritteln der AHV<br />

und zu einem Drittel den Kantonen zugute.<br />

Eine solide, langfristig finanzierte AHV ist für<br />

die Bekämpfung von Armut zentral. Ob diese<br />

mit der Erbschaftssteuer erreicht werden<br />

kann, bleibt allerdings fraglich.<br />

«Für Ehe und Familie –<br />

gegen die Heiratsstrafe» (CVP)<br />

Die Initiative möchte die Nachteile verheirateter<br />

Paare gegenüber Konkubinatspaaren<br />

bei den Steuern und Sozialversicherungen<br />

ausmerzen. Die Auswirkungen sind schwierig<br />

einzuschätzen. Es ist nicht klar, ob es bei<br />

einzelnen Sozialleistungen zu Veränderungen<br />

bei der Behandlung von Ehe- respektive Konkubinatspaaren<br />

kommen wird.<br />

«Familien stärken! Steuerfreie Kinderund<br />

Ausbildungszulagen» (CVP)<br />

Angestrebt wird eine steuerliche Entlastung<br />

aller Familien. Faktisch ist die steuerliche Entlastung<br />

umso höher, je höher das Einkommen<br />

ist. Die Wirkung auf Armutsbetroffene und<br />

Haushalte im Niedriglohnbereich ist sehr<br />

gering bis nichtig, gleichzeitig kommt es zu<br />

erheblichen Steuerausfällen.<br />

Die SKOS hat den Vorschlag analysiert.<br />

Es hat sich gezeigt, dass die Besteuerung<br />

von Sozialhilfeleistungen mehr Probleme<br />

schafft, als sie löst. Unter anderem aus<br />

folgenden Gründen: Der Staat entrichtet<br />

Sozialhilfeleistungen an Privathaushalte.<br />

Für die Festlegung der Höhe dieser Leistungen<br />

wird der effektive Bedarf des Haushalts<br />

berechnet. Bei einer Besteuerung<br />

der Sozialhilfeleistungen würde der Staat<br />

einen Teil dieser Leistungen wieder in<br />

Form von Steuern zurückfordern. Damit<br />

stellt er seine eigene Bedarfsrechnung in<br />

Frage. Der Haushalt hat anschliessend auf<br />

dem Vollstreckungsweg die Möglichkeit,<br />

einen Steuererlass zu beantragen. Dabei<br />

wird wiederum eine Bedarfsrechnung erstellt,<br />

und falls die Steuerforderung in das<br />

Existenzminimum eingreift, werden die<br />

Steuern erlassen.<br />

Aufwändiges Nullsummenspiel<br />

verhindern<br />

Das ergibt ein Nullsummenspiel für den<br />

Staat, das mit grossem administrativem<br />

Aufwand verbunden ist und das die Legitimation<br />

des Systems gefährdet. Werden die<br />

Steuern nicht erlassen und ein Teil der Sozialhilfeleistungen<br />

muss in Form von Steuern<br />

zurückbezahlt werden, führt das zudem für<br />

einige Haushalte zu einer Unterwanderung<br />

des Existenzminimums. Um das Existenzminimum<br />

weiterhin zu garantieren, müssten<br />

höhere Sozialhilfeleistungen entrichtet<br />

werden. Das wiederum führt zu unerwünschten<br />

Finanztransfers, da die Leistungen<br />

der Sozialhilfe in verschiedenen Kantonen<br />

von der Gemeinde finanziert werden.<br />

Die Sozialhilfebeziehenden geben einen Teil<br />

der Leistungen, die sie von ihrer Gemeinde<br />

erhalten, in Form von Steuern an den Kanton<br />

weiter. Die Besteuerung von Leistungen<br />

der Sozialhilfe ist also wenig sinnvoll und<br />

verletzt die Steuergerechtigkeit.<br />

Fazit: Damit die Sozialhilfe ihre Ziele<br />

erreichen kann, ist es wichtig, dass das<br />

Steuersystem und das Sozialleistungssystem<br />

Hand in Hand gehen und dass die beiden<br />

Systeme die beabsichtigten Wirkungen des<br />

anderen nicht torpedieren. Damit dies gelingt,<br />

muss das soziale Existenzminimum<br />

von den Steuern ausgenommen sein. Wer<br />

am Existenzminimum lebt, soll keine Steuern<br />

zahlen, unabhängig davon, ob das verfügbare<br />

Einkommen aus Erwerbstätigkeit<br />

oder aus Sozialhilfeleistungen stammt. •<br />

Franziska Ehrler,<br />

Leiterin Fachbereich Grundlagen, SKOS<br />

www.skos.ch/grundlagen-und-positionen<br />

position skos 1/14 ZeSo<br />

9


Unregelmässige Einkommen: Wann<br />

ist die Soziahilfeablösung möglich?<br />

Das Einkommen einer Sozialhilfebezügerin unterliegt wegen unregelmässiger Arbeitseinsätze<br />

Schwankungen. Massgebend für den Zeitpunkt der Ablösung ist die Bedürftigkeit. Um diese besser<br />

abschätzen zu können, kann das Einkommen über mehrere Monate beobachtet und beurteilt werden.<br />

Frage<br />

Maria C. arbeitet neu im Stundenlohn als<br />

Verkäuferin. Sie wird unregelmässig beschäftigt.<br />

In gewissen Monaten reicht ihr<br />

Einkommen nicht aus, um den Bedarf zu<br />

decken, während in anderen Monaten der<br />

Lohn über dem errechneten Existenzminimum<br />

liegt. Ihre Sozialarbeiterin stellt sich<br />

die Frage, ob dieser Einkommensüberschuss<br />

Frau C. jeweils zur freien Verfügung<br />

stehen sollte, wenn absehbar ist, dass ihr<br />

Einkommen im nachfolgenden Monat den<br />

Bedarf nicht decken wird und sie in der<br />

Folge erneut ergänzend mit Sozialhilfe<br />

unterstützt werden muss.<br />

PRAXIS<br />

In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />

der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />

und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />

Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />

Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />

(einloggen) SKOS-Line.<br />

Grundlagen<br />

Die Ablösung von der wirtschaftlichen Hilfe<br />

ist zu dem Zeitpunkt möglich, ab dem<br />

der Bedarf durch ein Einkommen gedeckt<br />

wird. Bei unregelmässigen Einkommen ist<br />

dieser Zeitpunkt aber nicht immer eindeutig<br />

feststellbar. Auch die gesetzlichen Grunlagen<br />

geben auf diese Frage keine Antwort.<br />

Daher besteht eine unterschiedliche Praxis,<br />

zu welchem Zeitpunkt ein Fall verwaltungstechnisch<br />

abgeschlossen wird und somit<br />

bei einer allfälligen Neuanmeldung<br />

das teils umfangreiche Abklärungsprozedere<br />

zu Beginn einer sozialhilferechtlichen<br />

Unterstützung wiederholt werden muss.<br />

Bei der Beurteilung können unterschiedliche<br />

Berechnungszeiträume für die sozialhilferechtliche<br />

Notlage gewählt werden.<br />

Ausschlaggebend muss jedoch immer die<br />

aktuelle Bedürftigkeit sein. Dabei sind die<br />

Prinzipien der Subsidiarität und der<br />

Gleichbehandlung, aber auch die Verhältnismässigkeit<br />

der getroffenen Lösung zu<br />

beachten.<br />

Grundsätzlich ist bei unregelmässigen<br />

Einkünften der Sozialhilfeanspruch jeden<br />

Monat neu zu berechnen. Dies bedeutet jedoch<br />

nicht, dass der Abrechnungszeitraum<br />

ebenfalls monatlich gewählt werden muss.<br />

Eine dreimonatige oder in begründeten<br />

Fällen sogar eine halbjährliche oder jährliche<br />

Abrechnung kann je nach Situation<br />

geeignet und erforderlich sein, um den<br />

grundsätzlichen Anspruch zu prüfen. So<br />

stellte das Bundesgericht kürzlich für einen<br />

Fall aus dem Kanton Zürich zusammenfassend<br />

fest (8C_325/2012, 24. August<br />

2012, Abschnitte 4.3 bis 4.5): Die Frage<br />

der Anrechenbarkeit von Einkünften stellt<br />

sich im sozialhilferechtlichen Sinne so lange,<br />

als sich die bedürftige Person in einer<br />

Notlage befindet. Eine besondere Problematik<br />

ergibt sich bei der Anrechnung von<br />

schwankendem Einkommen. Entscheidend<br />

ist, für welchen Zeitraum die Bedürftigkeit<br />

beurteilt wird. Eine monatliche<br />

Prüfung kann je nachdem zu anderen Ergebnissen<br />

führen als die Berücksichtigung<br />

einer Gesamtperiode. «Es ist nicht bundesrechtswidrig<br />

und bedeutet insbesondere<br />

keine willkürliche Auslegung und Anwendung<br />

(Art. 9 BV) der Bestimmungen des<br />

zürcherischen Sozialhilferechts, wenn die<br />

Überschussabrechnung nicht monatlich<br />

erfolgt.» Diese Einschätzung dürfte auch<br />

auf die Rechtslage in den meisten anderen<br />

Kantonen zutreffen.<br />

Diese Betrachtungsweise lässt sich<br />

insbesondere vor dem Hintergrund der<br />

Gleichbehandlung mit Personen rechtfertigen,<br />

die ebenfalls nahe dem sozialhilferechtlichen<br />

Existenzminimum leben und<br />

entsprechende Rücklagen bilden müssen.<br />

Es kann davon ausgegangen werden, dass<br />

von der Sozialhilfe unterstützte Personen<br />

Lohnüberschüsse in den Folgemonaten für<br />

Bedarfsdefizite nutzen und somit selber in<br />

der Lage sind, eine Bedürftigkeit abzuwenden<br />

oder zumindest zu mindern.<br />

Sofern im gewählten Betrachtungszeitraum<br />

ein durchschnittlicher Überschuss<br />

ermittelt wird, kann davon ausgegangen<br />

werden, dass keine sozialhilferechtliche<br />

Bedürftigkeit mehr besteht und die bisher<br />

unterstützte Person von der Sozialhilfe<br />

abgelöst werden kann. Andernfalls ist die<br />

Person weiter zu unterstützen, und ein<br />

allfälliger Überschuss ist im Folgemonat<br />

anzurechnen.<br />

Antwort<br />

Maria C. hat keinen Rechtsanspruch darauf,<br />

dass ihr der Lohnüberschuss eines einzelnen<br />

Monats zur freien Verfügung steht<br />

und im Folgemonat nicht angerechnet<br />

wird. Die Einschätzung, ob Maria C. im<br />

Durchschnitt über ausreichend Einkommen<br />

verfügt, um den Lebensunterhalt selbständig<br />

zu bestreiten, dürfte in diesem Fall<br />

nach drei Monaten möglich sein. Die Abrechnung<br />

kann demzufolge auch erst nach<br />

drei Monaten erfolgen. Sofern das durchschnittliche<br />

Einkommen nur knapp über<br />

dem Bedarf liegt, insbesondere wenn im<br />

nächsten Monat erneut ein Manko entsteht,<br />

ist eine Verlängerung des Betrachtungszeitraums<br />

um weitere drei Monate zu prüfen. •<br />

Markus Morger<br />

Daniela Moro<br />

Kommission Richtlinien<br />

und Praxishilfen der SKOS<br />

10 ZeSo 1/14 praxis


Frühe Förderung zahlt sich aus<br />

Die Schweiz ist noch weit davon entfernt, das Potenzial der frühen Förderung zur Bekämpfung und<br />

Prävention von Armut optimal zu nutzen. Dies zeigt das Armutsmonitoring von Caritas. Die Bemühungen,<br />

die frühe Förderung armutspolitisch wirksam zu gestalten, variieren von Kanton zu Kanton.<br />

Die Förderketten müssen gut aufeinander<br />

abgestimmt sein.<br />

Bild: zvg<br />

Die Anschubfinanzierung des Bundes<br />

schuf schweizweit in den letzten zehn Jahren<br />

mehr als 20 000 Betreuungsplätze in<br />

Kindertagesstätten. Niederschwellige Angebote<br />

wie das Programm «schritt:weise»<br />

wurden ausgebaut und das «Netzwerk Kinderbetreuung»<br />

lancierte 2012 gemeinsam<br />

mit der Unesco-Kommission einen Orientierungsrahmen,<br />

der den Bildungsaspekt<br />

im Bereich der frühen Förderung stärkt.<br />

Die Beispiele zeigen nicht nur die Bewegung,<br />

sondern auch die Breite der Massnahmen<br />

im Bereich der frühen Förderung.<br />

Mit dem Begriff «Frühe Förderung» werden<br />

alle Angebote sowohl inner- als auch<br />

ausserhalb der Familie umschrieben, die<br />

sich an Kinder bis zum Kindergarteneintritt<br />

richten und die eine <strong>ganz</strong>heitliche Entwicklung<br />

des Vorschulkindes ermöglichen.<br />

Die zahlreichen neu lancierten Projekte<br />

setzen Akzente bei der Förderung der Vereinbarkeit<br />

von Familie und Erwerbsarbeit,<br />

der Stärkung des Bildungsaspekts und bei<br />

der Integration von Kindern mit Migrationshintergrund.<br />

Aus armutspolitsicher Optik ist die<br />

frühzeitige Stimulierung von Kindern<br />

dann erfolgreich, wenn es ihr gelingt, die<br />

Startchancen der Kinder zu verbessern.<br />

Dazu müssen die Angebote für armutsbetroffene<br />

Familien erreichbar und bezahlbar<br />

sein. Die Eltern müssen einbezogen<br />

werden, und die pädagogische Qualität<br />

der Einrichtungen und deren Angebote<br />

müssen gewährleistet sein. Das heisst, der<br />

Bildungsaspekt muss eine zentrale Rolle<br />

spielen. Weiter müssen die Schnittstellen<br />

zwischen dem Frühbereich und den<br />

Regelstrukturen beachtet und die Zuständigkeiten<br />

geklärt werden. Die relevanten<br />

Akteure müssen gut vernetzt sein. Dies<br />

alles ist nur mit einer Gesamtsicht möglich.<br />

Sowohl die Bildungs- wie auch die Armutspolitik<br />

liegen in der Schweiz in der<br />

Kompetenz der Kantone. Caritas analysierte<br />

im Armutsmonitoring 2013 deshalb<br />

die kantonalen Strategien zur frühen Förderung<br />

und wollte wissen, inwiefern diese<br />

die Armutsbekämpfung beachten.<br />

Heterogene föderale Ansätze<br />

Die Analyse zeigt, dass die Bemühungen,<br />

die frühe Förderung armutspolitisch wirksam<br />

zu gestalten, erst jüngst begonnen<br />

haben und dass sie stark variieren. Mit<br />

Schaffhausen, Zürich, Bern und Zug verfügen<br />

derzeit vier Kantone über Strategien<br />

zur frühen Förderung mit einem expliziten<br />

Bezug zur Armutsbekämpfung und -prävention.<br />

Während Zürich, Bern und Zug verbindliche<br />

Strategien vorlegen, handelt es<br />

sich beim Konzept von Schaffhausen um<br />

nichtbindende Leitlinien. Im Gegensatz zu<br />

den anderen Kantonen bleibt die Zuger<br />

Strategie auf drei bis fünf Jahre beschränkt.<br />

In unterschiedlichen Stadien thematisieren<br />

Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Luzern<br />

und Freiburg Strategien zur frühen Förderung.<br />

Basel-Stadt verfügt über ein Konzept<br />

und eine Koordinationsstelle, hat jedoch<br />

keine publizierte Strategie. Luzern erarbeitet<br />

derzeit eine solche. In Basel-Landschaft<br />

und Freiburg sind politische Vorstösse hängig,<br />

die eine kantonale Strategie verlangen.<br />

Weitere Kantone integrieren die frühe Förderung<br />

in andere Strategien und verorten<br />

sie etwa in der Familien- und Integrationspolitik<br />

oder in der Politik zur Förderung<br />

der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.<br />

Dadurch werden zwar einige spezifische Aspekte<br />

gefördert, andere aber, wie die pädagogische<br />

Qualität der Angebote oder die<br />

Beachtung der Schnittstelle zwischen dem<br />

Frühbereich und dem Eintritt in den Kindergarten,<br />

stehen nicht im Blickfeld. In Glarus,<br />

St. Gallen, Uri und Appenzell-Innerrhoden<br />

sind kantonale Strategien kein Thema.<br />

Die Zusammenarbeit verbessern<br />

Das Armutsmonitoring von Caritas verdeutlicht:<br />

Die Schweiz ist noch weit davon<br />

entfernt, das Potenzial der frühen Förderung<br />

zur Bekämpfung und Prävention von<br />

Armut optimal zu nutzen. Nötig wäre ein<br />

Paradigmenwechsel, der den konzeptionellen<br />

Fokus von der Betreuung stärker hin<br />

zur Bildung verschiebt. Dies würde aber eine<br />

Gesamtsicht bedingen, die es erlaubt,<br />

dass die beteiligten Akteure eng zusammenarbeiten<br />

und die Förderketten ab der<br />

Geburt bis in den Kindergarten besser aufeinander<br />

abzustimmen. Dazu braucht es<br />

kantonale Strategien mit verbindlichen Zuständigkeiten,<br />

Zielen und Massnahmen sowie<br />

eine systematische Wirkungsmessung.<br />

Frühe Förderung zahlt sich aus. Zuallererst<br />

für die Kinder, deren Chancen für das<br />

spätere Schul- und Berufsleben verbessert<br />

werden. Es profitiert aber auch die Volkswirtschaft.<br />

Studien haben berechnet, dass<br />

jeder Franken, der in der frühen Förderung<br />

eingesetzt wird, einen volkswirtschaftlichen<br />

Nutzen von mindestens vier Franken erzielt.<br />

Dieser Nutzen entsteht durch eine<br />

höhere Erwerbsbeteiligung der Mütter,<br />

einen geringeren Bezug von Sozialleistungen<br />

und den Auswirkungen einer gelungenen<br />

Integration der Kinder. •<br />

Bettina Fredrich<br />

Leiterin Fachstelle Sozialpolitik<br />

Caritas Schweiz<br />

ARMUTSBEKÄMPFUNG 1/14 ZeSo<br />

11


«Das Eröffnen von Perspektiven<br />

ist das A und O jeder Hilfe»<br />

Für die SKOS geht eine Ära zu Ende: Nach 15 Jahren Präsidentschaft tritt Walter Schmid im Mai von<br />

seinem Amt zurück. Die SKOS nehme in einem sehr schwierigen Politikfeld eine Brückenbauerfunktion<br />

ein, sagt Schmid, und blickt auf kommende Herausforderungen für den Verband und die Sozialhilfe.<br />

Als Sie im Jahr 1999 zum Präsidenten<br />

der SKOS gewählt wurden, beschäftigte<br />

sich der Verband mit einem<br />

«drastischen Zuwachs» der Fallzahlen<br />

bei der Sozialhilfe. Die SKOS forderte<br />

in Anbetracht neuer sozialer Risiken<br />

als Folge von Liberalisierung und Deregulierung<br />

Massnahmen gegen den<br />

brüchig gewordenen Sozialversicherungsschutz.<br />

Wo stehen wir in dieser<br />

Hinsicht heute, 15 Jahre später?<br />

Walter Schmid: Damals ging eine lange<br />

Rezessionsphase in der Schweiz zu Ende.<br />

Während meiner Amtszeit als Chef des<br />

Fürsorgeamts der Stadt Zürich beispielsweise<br />

hatten sich die Fallzahlen verdoppelt<br />

und die Kosten verdreifacht. Wir forderten<br />

einen Umbau der sozialen Sicherungssysteme.<br />

Dazu ist es allerdings nicht gekommen.<br />

Dafür zu verschiedenen Teilrevisionen.<br />

Dank guter Konjunktur flachte das<br />

Wachstum der Fallzahlen in der Sozialhilfe<br />

später wieder ab.<br />

Was entgegnen Sie den Kritikern, die<br />

sagen, die heutige Sozialhilfe sei zu<br />

attraktiv und zu grosszügig?<br />

Die Leistungen der Sozialhilfe haben<br />

sich seit 1999 nicht wesentlich verändert,<br />

und der Grundbedarf wurde nur teuerungsbereinigt<br />

angehoben. Der Grundbedarf in<br />

der Sozialhilfe ist wesentlich tiefer als bei<br />

den Ergänzungsleistungen und auch tiefer<br />

als beim Betreibungsrecht. Es stimmt<br />

also nicht, dass die Sozialhilfe grosszügiger<br />

geworden ist. Aber man kann sagen,<br />

dass mehr Menschen nicht mehr auf<br />

den Versicherungsschutz der Sozialwerke<br />

zählen können und dass es auch mehr<br />

Menschen gibt, die die Voraussetzungen<br />

für einen Sozialversicherungsbezug nicht<br />

erfüllen und nie erfüllen werden. Aus<br />

diesem Grund sind die Zahl der Sozialhilfebeziehenden<br />

und die Kosten weiter<br />

angestiegen.<br />

Die Sozialhilfe kommt gegenüber den<br />

Sozialversicherungen vermehrt komplementär<br />

zum Einsatz. Wie beurteilen<br />

Sie diesen schleichenden Paradigmawandel,<br />

der den subsidiären<br />

Charakter der Sozialhilfe zunehmend<br />

infrage stellt?<br />

Natürlich gilt in der Sozialhilfe weiterhin<br />

das Subsidiaritätsprinzip. Sie kommt<br />

also nur zum Zuge, wenn keine anderen<br />

Mittel zur Verfügung stehen. Wenn man<br />

jedoch bedenkt, welche Arbeitsplätze in<br />

den vergangenen Jahren neu geschaffen<br />

wurden und welche verschwunden sind,<br />

dann erkennt man gewaltige Umwälzungen.<br />

Die Sozialhilfe hat wesentlich<br />

mitgeholfen, die Nebenwirkungen dieses<br />

Strukturwandels der Wirtschaft zu bewältigen<br />

und den Menschen ein Minimum an<br />

Sicherheit zu geben. Zur komplementären<br />

Seite der Sozialhilfe: Für mich bedeutet<br />

das eigentlich nur, dass die Sozialhilfe ein<br />

wichtiger und etablierter Bestandteil des<br />

Ganzen geworden ist.<br />

In Ihre «Ära» fällt die Festschreibung<br />

der aktivierenden Sozialhilfe in den<br />

SKOS-Richtlinien. Was hat man damit<br />

bewirken können?<br />

Die Sozialhilfeempfängerinnen und<br />

-empfänger sollen dabei unterstützt werden,<br />

wieder in die Erwerbstätigkeit zurückzufinden<br />

und auf eigenen Füssen stehen zu<br />

können. Das ist ein wichtiges Prinzip und<br />

ein generelles Paradigma in der Schweizer<br />

Sozialpolitik. Die aktivierende Sozialpolitik<br />

hat Möglichkeiten geschaffen, dass<br />

Leute wieder arbeiten konnten, die dies<br />

sonst nicht mehr getan hätten. Sie eröffnet<br />

für viele Menschen Perspektiven und<br />

erhöht die Akzeptanz der Sozialhilfe in der<br />

Bevölkerung.<br />

Wo sehen Sie die Grenzen des Gegenleistungsprinzips?<br />

Es hat eine gewisse Verabsolutierung<br />

dieses Prinzips stattgefunden, die mir<br />

missfällt. Man hat aus den Augen verloren,<br />

dass es auch Menschen gibt, die trotz<br />

Aktivierung nicht mehr zurück in einen<br />

Job finden, und die dennoch eine Existenzberechtigung<br />

haben. Auch für sie trägt die<br />

Gesellschaft eine Verantwortung. Was mir<br />

auch nicht gefällt ist, dass die Armut individualisiert<br />

wird. Man schiebt alle sozialen<br />

Probleme dem Individuum zu, und auch<br />

die Lösungen werden nur bei ihm gesucht.<br />

Dadurch entsteht schnell einmal der Eindruck,<br />

es läge nur am Individuum, seine<br />

Situation zu verbessern. Gesellschaftliche<br />

Entwicklungen wie der Strukturwandel<br />

oder der Einfluss der Bildungschancen<br />

werden ausgeblendet.<br />

Welchen weiteren Herausforderungen<br />

muss sich die SKOS vermehrt stellen?<br />

Das heutige Instrumentarium kann<br />

schlecht unterscheiden zwischen kurzfristiger,<br />

subsidiärer Unterstützung für<br />

Personen, die es schaffen, aus eigenem<br />

Antrieb wieder aus der Sozialhilfe herauszukommen,<br />

und Personen, die auf Dauer<br />

auf Sozialhilfe angewiesen sind. Auch das<br />

gibt es, etwa wenn die Invalidenversiche-<br />

«Die Sozialhilfe<br />

hat wesentlich<br />

mitgeholfen, die<br />

Nebenwirkungen<br />

des Strukturwandels<br />

zu<br />

bewältigen.»<br />

12 ZeSo 1/14 interview


ung heute gewisse Krankheitsbilder nicht<br />

mehr als für eine Rente relevant betrachtet<br />

und arbeitsunfähige Menschen keinen Zugang<br />

mehr zur Sozialversicherung haben.<br />

Diese Entwicklungen bedingen differenzierte<br />

Antworten.<br />

Eine andere grosse Herausforderung<br />

ist die öffentliche Wahrnehmung der Sozialhilfe<br />

und der Armut. Sie ist manchmal<br />

ziemlich weit von der Realität entfernt. So<br />

werden viele Probleme auf die Sozialhilfe<br />

projiziert, die gar nichts mit ihr zu tun<br />

haben, etwa bei Jugendlichen und ihren<br />

Bildungschancen: Bis die Sozialhilfe zum<br />

Zug kommt, ist schon sehr viel schief gelaufen.<br />

Gleichwohl macht die Öffentlichkeit<br />

solche Probleme an der Sozialhilfe<br />

fest und erwartet von uns Lösungen, für<br />

die wir die Instrumente nicht haben. Die<br />

Sozialhilfe wird oft mit dem Sozialstaat<br />

gleichgesetzt, obwohl bekannt ist, dass die<br />

Sozialhilfeausgaben nur rund zwei Prozent<br />

der gesamten Sozialausgaben und Sozialtransfers<br />

ausmachen. Solche Verzerrungen<br />

in der Wahrnehmung sind echte Herausforderungen.<br />

Daraus resultiert auch das Imageproblem,<br />

das die Sozialhilfe und mit ihr<br />

die SKOS in der Öffentlichkeit haben.<br />

Wie kann die SKOS dem begegnen?<br />

Solange die SKOS sich mit Sozialhilfe<br />

befasst, wird sie immer wieder mit Imageproblemen<br />

konfrontiert sein. Die Sozialhilfe<br />

war noch nie ein geliebtes Kind der<br />

Gesellschaft. Das war auch schon so, als<br />

man das Bettlervolk am Abend noch aus<br />

den Städten hinaus trieb, um die Leute<br />

nicht mehr sehen zu müssen. Wir haben<br />

es mit Menschen zu tun, die relativ wenig<br />

geben können und die oft als Belastung<br />

empfunden werden. Ich glaube aber, dass<br />

wir als Fachverband trotzdem viel Anerkennung<br />

geniessen. Wir haben in einem<br />

sehr schwierigen Politikfeld eine Brückenbauerfunktion<br />

und wir konnten in schwierigen<br />

Fragen immer wieder einen Konsens<br />

herstellen. Der Verband leistet insgesamt<br />

gute Arbeit. Ich habe das gerade jetzt bei<br />

der Ankündigung meines Rücktritts erfahren,<br />

als verschiedenste Kreise ihre Anerkennung<br />

unserer Arbeit zum Ausdruck<br />

gebracht haben.<br />

<br />

Bilder: Béatrice Devènes<br />

interview 1/14 ZeSo<br />

13


Wie haben Sie die Position der SKOS<br />

vis-à-vis von Bund, Kantonen und<br />

Gemeinden erlebt?<br />

Die Rolle der SKOS ist einzigartig, auch<br />

im internationalen Vergleich. Alle Akteure<br />

sind im Verband versammelt. Dadurch haben<br />

wir die wichtigsten Stimmen immer<br />

einfangen und in die Lösungsentwicklung<br />

einbinden können. Das ist ein grosses<br />

Privileg. Wir sind in unserer Entscheidfindung<br />

manchmal etwas schwerfällig,<br />

dafür sind unsere Entscheide solide abgestützt.<br />

Die Kehrseite ist, dass sich der Bund<br />

nicht besonders um das Thema Sozialhilfe<br />

kümmert – sie gehört nicht in seinen Zuständigkeitsbereich<br />

– und dass auch die<br />

Kantone dem Thema selten hohe Priorität<br />

einräumen.<br />

Fühlten Sie sich von den Kantonen in<br />

der Öffentlichkeit genügend unterstützt,<br />

als die Sozialhilfe im vergangenen<br />

Jahr politisch heftig angegriffen<br />

wurde?<br />

Im Grossen und Ganzen haben uns die<br />

Sozialdirektoren in der Sache sehr unterstützt.<br />

Sie haben aber verständlicherweise<br />

auch stark Rücksicht auf ihre kantonsinternen<br />

politischen Verhältnisse nehmen müssen.<br />

Aus Sicht der SKOS hätte man sich<br />

gelegentlich noch klarere oder vernehmbarere<br />

Aussagen zum Thema Sozialhilfe<br />

gewünscht. Das gilt übrigens auch für den<br />

Bund.<br />

Können Sie das noch weiter ausführen?<br />

Gerade etwa während der Debatte<br />

über die Renitenten vom vergangenen<br />

Frühjahr: Just zu jenem Zeitpunkt haben<br />

Behörden und Verbände sich mit<br />

grossen Gesten bei den Opfern der<br />

administrativen Verwahrung entschuldigt.<br />

Überspitzt gesagt waren die administrativ<br />

Versorgten die Renitenten von<br />

damals. Sie waren teilweise auch keine<br />

angenehmen Zeitgenossen. Man hat<br />

sie verwahrt und hat dabei rechtsstaatliche<br />

Prinzipien verletzt. Deshalb reicht<br />

es aus heutiger Sicht nicht, wenn man<br />

sich vierzig Jahre später entschuldigt<br />

für das, was man damals falsch gemacht<br />

hat, und nicht darüber nachdenkt, dass<br />

man auch in der Gegenwart etwas falsch<br />

machen könnte. Ein Wort zum Umgang<br />

mit Armutsbetroffenen und zur Bedeutung<br />

von rechtstaatlichen Prinzipien auch<br />

heute wäre da angebracht gewesen.<br />

14 ZeSo 1/14 interview<br />

Walter Schmid<br />

Walter Schmid (60) studierte Rechtswissenschaft<br />

in Lausanne, Zürich und Stanford.<br />

Von 1982 bis 1991 war er Zentralsekretär<br />

der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, danach<br />

Leiter des Amts für Jugend- und Sozialhilfe<br />

der Stadt Zürich. Von 2000 bis 2003<br />

arbeitete er als Projektleiter im Auftrag<br />

des Bundesrats für die Solidaritätsstiftung<br />

und die Verwendung von Goldreserven der<br />

Nationalbank. Seit 2003 ist Walter Schmid<br />

Direktor des Departements Soziale Arbeit<br />

an der Hochschule Luzern. Walter Schmid<br />

tritt an der Mitgliederversammlung im Mai<br />

nach 15 Jahren als Präsident der SKOS<br />

zurück.<br />

«Es genügt nicht,<br />

wenn man sich<br />

40 Jahre später<br />

entschuldigt für<br />

das, was man<br />

damals falsch<br />

gemacht hat.»<br />

Ein Ziel der SKOS ist die Harmonisierung<br />

der Sozialhilfe. Nun sind<br />

Tendenzen zu beobachten, die dem<br />

Erreichten entgegenlaufen. Wie gewonnen,<br />

so zerronnen?<br />

Die Harmonisierung ist relativ weit<br />

fortgeschritten, und es gibt immer wieder<br />

Gegenbewegungen. Das wird solange so<br />

bleiben, wie das System Sozialhilfe vom<br />

föderativen Staat gelenkt wird. Dort, wo es<br />

Abweichungen gibt, sind diese entweder<br />

im Rahmen der Bandbreiten, die die SKOS<br />

empfiehlt, oder sie bewirken keine allzu<br />

grossen Einschränkungen. Wenn etwa der<br />

Kanton Waadt die SKOS-Richtlinien nicht<br />

integral übernimmt, dafür bei den Jugendlichen<br />

eine «Stipendien-statt-Sozialhilfe-<br />

Strategie» verfolgt, dann ist das ein gutes<br />

kantonales Experiment. Der Föderalismus<br />

birgt gerade auch dann Chancen, wenn es<br />

auf nationaler Ebene zu politischen Blockaden<br />

kommt. Wir sehen das zurzeit bei den<br />

Ergänzungsleistungen für einkommensschwache<br />

Familien. Das sind Beispiele für<br />

gute und innovative Entwicklungen.


«Die Bekämpfung<br />

der Armut ist eine<br />

komplexe Sache,<br />

zu der es keine<br />

einfachen Rezepte<br />

gibt.»<br />

Was läuft, allgemein betrachtet, im<br />

System der sozialen Sicherheit der<br />

Schweiz gut?<br />

Wir haben ein zwar kompliziertes aber<br />

gut ausgebautes Netz von Sozialversicherungen,<br />

und im Hintergrund wirkt auch<br />

die Sozialhilfe als letztes verlässliches Netz<br />

der sozialen Sicherheit stabilisierend in der<br />

Sozialpolitik. Schwachpunkte sind gewisse<br />

Doppelspurigkeiten bei den Sozialwerken<br />

oder die immer noch sehr ungenügende interdisziplinäre<br />

Zusammenarbeit. Man sollte<br />

auch hinschauen, wo Fehlallokationen stattfinden,<br />

wo der Sozialstaat Umverteilungen<br />

vornimmt, von denen nicht unbedingt jene<br />

profitieren, die Leistungen nötig haben.<br />

Welchen konkreten Nutzen steuert die<br />

Sozialhilfe dem System bei?<br />

Es ist entscheidend für eine Gesellschaft,<br />

dass die letzten Existenzrisiken aufgefangen<br />

werden. Dass die Leute wissen,<br />

dass sie nicht ins Bodenlose fallen. Das<br />

gibt ihnen eine gewisse Autonomie und<br />

eine gewisse Risikofreude. Das ist nicht<br />

nur unter dem Aspekt des Strukturwandels,<br />

sondern <strong>ganz</strong> generell für den Zusammenhalt<br />

der Gesellschaft wichtig.<br />

Dank der Sozialhilfe haben wir in der<br />

Schweiz keine grösseren Bevölkerungsgruppen,<br />

die von der Gesellschaft ausgegrenzt<br />

leben. Das Eröffnen von Perspektiven<br />

für die Menschen ist das A und O<br />

jeder Hilfe.<br />

Wie beurteilen Sie die Armutspolitik<br />

des Bundes und der Kantone?<br />

Armut ist ein Thema, das alle staatlichen<br />

Ebenen angehen muss. Die Bekämpfung<br />

von Armut ist eine komplexe<br />

Sache, zu der es keine einfachen Rezepte<br />

gibt. Armut lässt sich im übrigen auch<br />

nie vollständig beseitigen. Es ist aber<br />

ein grosser Unterschied, ob man sich in<br />

einem Land mit der Armut arrangiert<br />

und nichts dagegen unternimmt oder ob<br />

man sie wahrnimmt und versucht, die<br />

Menschen zu unterstützen. Dabei muss<br />

auch dem Bund eine Rolle zukommen.<br />

Er hat – zwar erst in homöopathischen<br />

Dosen – damit begonnen, sich mit dem<br />

Thema zu befassen und Projekte zur Armutsbekämpfung<br />

aufzugleisen. Das ist<br />

ein erster wichtiger Schritt. Sonst überlässt<br />

man auf nationaler Ebene das Feld einseitig<br />

den Protagonisten der Empörungspolitik.<br />

Hatten Sie persönliche Ziele, als Sie<br />

vor 15 Jahren die Führung der SKOS<br />

übernommen haben, und sind Sie<br />

zufrieden mit dem, was Sie erreicht<br />

haben?<br />

Ich hatte die Absicht, den Verband gut<br />

zu führen und einen Beitrag an die Weiterentwicklung<br />

der Sozialhilfe zu leisten. Die<br />

Sozialhilfe hat in den vergangen Jahren gut<br />

funktioniert und sich weiterentwickelt. Die<br />

SKOS hat dazu einen wichtigen Beitrag<br />

geleistet. Insofern habe ich meine Ziele<br />

erreicht. Der grösste Teil der Verbandsarbeit<br />

wird allerdings nicht vom Präsidenten<br />

geleistet. Deshalb möchte ich an dieser<br />

Stelle auch den vielen Leuten, die uns bei<br />

unserer Arbeit unterstützt haben, meinen<br />

Dank aussprechen.<br />

Welche Erfahrung wird Ihnen nachhaltig<br />

in Erinnerung bleiben?<br />

Die Verabschiedung der Richtlinien<br />

von 2005 in der Helferei des Grossmünsters<br />

in Zürich, als wir während Stunden<br />

um die letzten Formulierungen des damals<br />

neuen Richtlinienwerks gerungen<br />

hatten und es uns schliesslich gelang, bis<br />

auf <strong>ganz</strong> wenige Enthaltungen sämtliche<br />

Mitglieder des Vorstands zur Zustimmung<br />

zu bewegen. <br />

•<br />

Das Gespräch führte<br />

Michael Fritschi<br />

interview 1/14 ZeSo<br />

15


Bild: Christian Flierl / Pixsil<br />

16 ZeSo 1/14 SCHWERPUNKT


Armut und Unterversorgung schaden<br />

der Gesundheit<br />

Menschen, die unter Mangel leiden, sind einem erhöhten Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Wer wenig<br />

Geld hat, spart bei den Gesundheitsleistungen. Da die Ärmsten der Bevölkerung auch am häufigsten<br />

krank sind, entsteht eine doppelte Ungleicheit: Die, die eigentlich mehr zum Arzt gehen sollten, sind<br />

gleichzeitig jene, die am ehesten auf einen Arztbesuch verzichten.<br />

Ein geringer Sozialstatus ist für den Menschen das grösste<br />

Gesundheitsrisiko. Das war vor 500 Jahren so, und das ist leider<br />

auch heute noch so, sogar wieder mit zunehmender Tendenz. Die<br />

Situa-tion von damals ist belegt durch statistische Zahlen des<br />

Hospice Général in Genf. Dort wurden ab dem 17. Jahrhundert<br />

Kinder nach der Geburt registriert und dabei in drei Gruppen eingeteilt,<br />

abhängig davon, ob sie in reiche, arme oder in Familien<br />

zwischen diesen Polen hineingeboren wurden. Vergleicht man die<br />

Mortalitätsquotionten dieser «Versuchsgruppen», so zeigt sich anhand<br />

der Sterblichkeit in der Kindheit und im Alter, dass die arme<br />

Bevölkerung im Durchschnitt viel häufiger gestorben ist respektive<br />

weniger alt wurde. Im Weiteren lässt sich zeigen, dass sich die<br />

Gesundheitschancen der Menschen im Verlauf der Jahrhunderte<br />

deutlich verbessert haben und dass die Armen davon am meisten<br />

profitiert haben. Die Entwicklung, wonach die Gesundheitsrisiken<br />

aufgrund von sozialen Ungleichheiten geringer wurden, dauerte<br />

bis Mitte 20. Jahrhundert. Seit 1950 wird eine Trendwende beobachtet.<br />

Die Schere der Ungleichheiten zwischen arm und reich<br />

und damit der Gesundheitschancen geht seither wieder auseinander.<br />

Je reicher man ist, desto weniger besteht ein Risiko, an einem<br />

Herzschlag zu sterben oder an Diabetes zu leiden. Je nach Krankheit<br />

trägt die Gruppe der Armen in der Bevölkerung ein zwei-, vieroder<br />

sogar ein zehnfaches Risiko, zu erkranken. Wohlhabende<br />

Menschen scheinen sehr viel mehr von den diversen sozialen, medizinischen<br />

und kulturellen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts<br />

zu profitieren als materiell schlechtgestellte Menschen.<br />

15 Prozent verzichten<br />

Eine repräsentative Studie zum Gesundheitsverhalten der Genfer<br />

Bevölkerung zeigt, dass 15 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2009<br />

aus ökonomischen Gründen während der letzten zwölf Monate auf<br />

Der « Zahnstatus»<br />

eines Menschen lässt<br />

auf seinen Sozialstatus<br />

schliessen.<br />

Gesundheitsleistungen verzichtet haben. Drei Viertel dieser<br />

Gruppe haben beispielsweise auf Zahnarztleistungen verzichtet.<br />

Das erstaunt noch nicht sonderlich, wenn man bedenkt, dass in<br />

der Schweiz Zahnarztleistungen nicht durch die obligatorische<br />

Krankenversicherung abgedeckt werden. Die eigentliche Überraschung<br />

war, dass 35 Prozent dieser Gruppe auf medizinische<br />

Konsultationen verzichten, und dass 5 Prozent sogar auf einen<br />

chirurgischen Eingriff verzichtet haben – dies trotz obligatorischer<br />

Krankenversicherung.<br />

Wenn man die Verzichte auf Gesundheitsleistungen unter dem<br />

Aspekt des Einkommens betrachtet, so sind darunter 4 Prozent<br />

Personen, die mehr als 13 000 Franken pro Monat verdienen.<br />

Bei den Ärmsten, jenen, die weniger als 3000 Franken verdienen,<br />

sind es 30 Prozent. Da die Ärmsten der Bevölkerung auch<br />

am häufigsten krank sind, entsteht eine doppelte Ungleichheit:<br />

Die, die eigentlich mehr zum Arzt gehen sollten, sind gleichzeitig<br />

jene, die am ehesten darauf verzichten. Eine Ursache für diesen<br />

Missstand ist das Schweizer Krankenversicherungssystem. Seit<br />

der Einführung der obligatorischen Krankenversicherung im<br />

Jahr 1996 haben sich die Prämien mehr als verdoppelt, und das<br />

geltende Franchisensystem verleitet sozial Schwächere dazu, eine<br />

hohe Franchise zu wählen. Wenn dann etwas passiert, steht ihnen<br />

das nötige Geld für die Behandlung nicht zur Verfügung. Verallgemeinernd<br />

gesagt lässt sich vom «Zahnstatus» eines Menschen auf<br />

seinen Sozialstatus schliessen.<br />

Die Rolle der sozio-ökonomischen Stellung<br />

Die wachsende soziale Ungleichheit und mit ihr die ungleiche<br />

Ressourcenverteilung führen also dazu, dass armutsbetroffene<br />

Menschen von der Gesellschaft als selbstverständlich angesehene<br />

Gesundheitsziele vermehrt nicht mehr erreichen und dass sie die<br />

ihnen zustehenden medizinische Leistungen nicht erhalten. Um<br />

die diversen Gesundheitsrisiken besser abschätzen zu können, beobachtet<br />

die Wissenschaft so genannte soziale Determinanten. Sie<br />

haben den weitaus grössten Einfluss auf unsere Gesundheit: Die<br />

Forschung geht davon aus, dass die sozio-ökonomische Situation<br />

und mit ihr verbundene Verhaltensweisen unsere Gesundheit<br />

zu 40 bis 50 Prozent bestimmen. Weiteren Einfluss üben die<br />

Umwelt sowie die Wohnsituation aus (20 Prozent). Die genetische<br />

Veranlagung ist zu 20 bis 30 Prozent bestimmend. Der Einfluss<br />

des Gesundheitssystems, in dem wir uns bewegen, auf die Gesundheit<br />

beträgt hingegen lediglich 10 bis 15 Prozentpunkte.<br />

Die zehn wichtigsten sozialen Determinanten sind, gemäss<br />

WHO, der Sozialgradient (die Stellung in der Gesellschaft), Stress,<br />

die frühe Kindheit, soziale Isolierung, die Situation am Arbeits-<br />

18 ZeSo 1/14 SCHWERPUNKT


Gesundheit<br />

15 Prozent der Genfer Bevölkerung verzichtet gemäss einer Studie aus ökonomischen Gründen auf Gesundheitsleistungen. Bilder: Keystone<br />

platz, Arbeitslosigkeit, soziale Unterstützung, (Sucht-)Abhängigkeiten,<br />

die Ernährung und die Transportsituation (Bewegung,<br />

Distanzen, Kosten). Am Sozialgradient beispielsweise lässt sich<br />

zeigen, dass Personen mit universitärer Ausbildung eine fünf bis<br />

sieben Jahre höhere Lebenserwartung haben als Personen, die<br />

nur die Grundstufe absolviert haben oder über keine Ausbildung<br />

verfügen. Es gilt: je höher die sozio-ökonomische Stellung, desto<br />

höher die Lebenserwartung.<br />

Eine besonders wichtige Determinante ist auch die frühe Kindheit.<br />

In dieser Phase wird unsere gesundheitliche Entwicklung fürs<br />

<strong>ganz</strong>e weitere Leben vorbestimmt. Das Risiko von Diabetes bei<br />

Männern beispielsweise hängt erwiesenermassen mit dem Geburtsgewicht<br />

zusammen. Je geringer das Geburtsgewicht, desto höher<br />

das Diabetesrisiko (mit 64 Jahren bis zu siebenfach erhöhtes Risiko).<br />

Wenn man untersucht, welche Frauen Kinder zur Welt bringen,<br />

die ein geringes Geburtsgewicht haben, dann sind das häufig<br />

Frauen, die rauchen oder die unter mehr Stress stehen als andere,<br />

beispielsweise weil sie ihr Kind ohne Partner aufziehen. Monoparentale<br />

Kinder sind zudem tendenziell auch einer schlechteren<br />

und unregelmässigeren Ernährung ausgesetzt. Später gesellen sich<br />

die Ausbildungschancen als weiterer gesundheitsbestimmender<br />

Faktor hinzu. Über die Ausbildung lernt man beispielsweise, was<br />

dem Körper gut tut und was nicht. Ein Blick auf des Rauchverhalten<br />

von 25-jährigen Amerikanern zeigt: Von den Jugendlichen, die<br />

nur eine Basisausbildung machen, rauchen rund 30 Prozent, bei<br />

den Studentinnen und Studenten sind es 10 Prozent.<br />

Es ist allerdings nicht immer so, dass eine einzelne, spezifische<br />

soziale Determinante stärker auf unsere Gesundheit wirkt als andere.<br />

Vielmehr greifen Determinanten ineinander über. Das Bild<br />

ist immer als Ganzes zu betrachten. Bei der Determinante Arbeit<br />

– um ein weiteres Beispiel zu nennen – geht es um die Autonomie,<br />

die Arbeitsprozesse selbst zu bestimmen. Ein Manager, der zwar<br />

oft unter grossem Stress steht, kann seinen Arbeitsplan selber einteilen.<br />

Wenn er sich vom Stress erholen muss, geht er Golf spielen<br />

oder joggen. Seine Sekretärin hingegen muss die Arbeit erledigen,<br />

die er ihr vorgibt. Sie kann die Arbeit nicht einfach kurz mal liegen<br />

lassen. Es gilt: je tiefer in der sozialen Hierarchie, desto geringer<br />

die Autonomie, seine Arbeitsprozesse zu bestimmen. Und je weniger<br />

Autonomie, desto höher ist beispielsweise das Risiko für einen<br />

Herzinfarkt.<br />

Den Einfluss der Determinanten ernst nehmen<br />

In den aktuellsten verfügbaren Zahlen weist das Bundesamt für<br />

Statistik (BfS) für das Jahr 2011 rund 580 000 Personen aus, die<br />

von Einkommensarmut betroffen sind. 2012 waren ebenfalls<br />

gemäss BfS 15 Prozent der Bevölkerung oder jede siebte Person in<br />

der Schweiz armutsgefährdet. Schon aufgrund dieser Zahlen ist es<br />

angezeigt, den Einfluss der sozialen Determinanten ernst zu<br />

nehmen und gegen die zunehmende soziale Ungleichheit aktiv zu<br />

werden. Dass die Schweiz ein reiches Land ist, ist kein Grund,<br />

nicht genau hinzuschauen. Denn das Motto «je reicher, desto<br />

höher die Lebenserwartung» gilt primär für Entwicklungsländer<br />

SCHWERPUNKT 1/14 ZeSo<br />

<br />

19<br />


mit einem Pro-Kopf-Einkommen bis 5000 Dollar. Für industrialisierte<br />

Länder mit hohen Pro-Kopf-Einkommen hat man hingegen<br />

festgestellt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung bei extremen<br />

Unterschieden bei der Vermögensverteilung tiefer ist als in<br />

Ländern, wo diese Schere weniger weit geöffnet ist.<br />

Den diversen wissenschaftlichen Erkenntnissen kann ich eigene<br />

Beobachtungen aus rund zwanzig Jahren sozialmedizinischer<br />

Arbeit hinzufügen. Ich hatte viel mit vulnerablen Populationen,<br />

mit Obdachlosen, mit nicht versicherten «illegalen» Migranten<br />

und aktuell mit Gefängnisinsassen zu tun und bin zur Einsicht<br />

gekommen, dass man aufgrund des Gesundheitszustandes eines<br />

Menschen oft auch auf die Qualität des Gesundheitssystems in<br />

seinem Herkunftsland schliessen kann. Wenn eine Gesellschaft<br />

vulnerable Bevölkerungsgruppen wie Migranten oder Häftlinge<br />

schlecht behandelt oder von Sozialleistungen ausschliesst, besteht<br />

eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass diese Gesellschaft auch andere<br />

sozial schwache Gruppen schlecht behandelt oder misshandelt.<br />

In Ländern, die auch für Häftlinge eine gute Gesundheitsversorgung<br />

gewährleisten, kann man hingegen davon ausgehen, dass<br />

die gesamte Population sehr gut betreut wird.<br />

Konsequenzen für die Sozialarbeit<br />

In Analogie kann man wohl davon ausgehen, dass, wenn in einem<br />

Land die Sozialsysteme bei den Ärmsten greifen, sie generell gut<br />

greifen und dass dadurch die Ungleichheit bei der Vermögens-<br />

verteilung geringer ist. Ungleichheiten im System sind für alle<br />

schlecht. Sie bergen die Gefahr von sozialer Unruhe, senken die<br />

durchschnittliche Lebenserwartung und verursachen langfristig<br />

Mehrkosten, die auf den Staat und die Gesellschaft zurückfallen.<br />

Soziale Systeme sind dann gut, wenn die sozialen Auffangmechanismen<br />

auch bei vulnerablen Gruppen richtig umgesetzt<br />

werden.<br />

Wer die wichtigsten sozialen Determinanten kennt und beachtet,<br />

kann früher intervenieren und gezielter handeln, auch in der<br />

Sozialarbeit. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sollten deshalb<br />

die genannten zehn Determinanten «auf dem Radar» haben<br />

und ihren Klienten entsprechende Fragen stellen. Wenn mehrere<br />

Fragen alarmierende Antworten zur Folge haben, dann ist unter<br />

Umständen eine Kontaktaufnahme mit dem Arzt angebracht.<br />

Möglicherweise zeigt sich auch, dass dem Klient die Kompetenz<br />

fehlt, mit Ärzten zu sprechen oder eine Packungsbeilage zu lesen<br />

und zu verstehen («health illiteracy»). Solchen Klienten können<br />

Sozialarbeitende begleitend zur Seite stehen und ihnen helfen, sich<br />

im System zu orientieren. Eine parallele Handlungsebene besteht<br />

sinngemäss bei der Ernährung respektive bei Ernährungsfragen.<br />

Investieren, wo es sich lohnt<br />

Die Gesellschaft sollte erkennen, dass es sich lohnt, möglichst früh in<br />

Integrationsprojekte zu investieren. Was Integrationsmassnahmen<br />

langfristig bewirken können, zeigt das «Perry-Preschool-Project»,<br />

für das in einer amerikanischen Kleinstadt in der Nähe von Detroit<br />

rund 120 drei- bis vierjährige Kinder aus sehr prekären Verhältnissen<br />

in zwei Gruppen eingeteilt wurden: Die Hälfte der Kinder<br />

wurde während sechs Monaten von Erzieherinnen betreut und stimuliert,<br />

etwa indem ihnen bei den Hausaufgaben geholfen wurde<br />

oder indem man ihnen eine ausgewogene Ernährung reichte. Die<br />

andere Hälfte wurde nicht stimuliert und betreut. Die Kinder wurden<br />

dann 40 Jahre lang beobachtet.<br />

Es zeigten sich spektakuläre Unterschiede im Werdegang der<br />

Probanden: Die während eines halben Jahrs geförderten Kinder<br />

hatten im Vergleich zu den anderen Kindern wesentlich häufiger<br />

einen Schulabschluss gemacht, sie verdienten wesentlich häufiger<br />

mehr als 20 000 Dollar im Jahr, es kam in dieser Gruppe zu wesentlich<br />

weniger Verhaftungen durch die Polizei usw. Das Projekt<br />

kostete den Staat rund 18 000 Dollar, gut investiertes Geld. Man<br />

hat berechnet, dass jeder Dollar dem Staat eine Ausgabenersparnis<br />

von 16 Dollar generiert hat. Wenn ein Staat also bei den Ausgaben<br />

sparen will, wie er es auch bei uns in jüngster Zeit wieder vermehrt<br />

tun muss, sollte man bedenken, dass man durch eine gezielte<br />

Förderung von sozial Benachteilgten einen sehr viel grösseren<br />

Spareffekt erreicht, als wenn man neue Gefängnisse baut und bei<br />

Gesundheits- und Bildungsangeboten spart. <br />

•<br />

Hans Wolff<br />

Universitätsspital Genf, Leiter gefängnismedizinische Abteilung<br />

Mitglied der Antifolterkommission des Europarats<br />

protokolliert von Michael Fritschi<br />

Manche können Gesundheitsinformationen nicht selbständig verarbeiten.<br />

Literatur<br />

Hans Wolff, Jean-Michel Gaspoz, Idris Guessous, Health care<br />

renunciation for economic reasons, Swiss Medical Weekly, 2011.<br />

20 ZeSo 1/14 SCHWERPUNKT


Migrantenvereine als Plattform für die<br />

Anliegen der Gesundheitsförderung<br />

Das Präventionsprojekt «Von MigrantInnen für MigrantInnen» hilft unter Berücksichtigung und<br />

Nutzung des sozialen Kontexts mit, die Gesundheitskompetenz, die Eigenverantwortung und das<br />

Wissen über Präventionsangebote der Migrationsbevölkerung zu stärken.<br />

Gesundheit<br />

Migrantinnen bestücken eine Lebensmittelpyramide.<br />

Bild: zvg<br />

Gesundheitsförderungsmassnahmen für die Migrationsbevölkerung<br />

sind dann besonders erfolgreich, wenn sie die Netzwerke des<br />

Zielpublikums mitberücksichtigen und auf dessen sozialen Kontext<br />

abgestimmt sind. Auf der Basis dieser Hypothese fördert das Forum<br />

für die Integration der Migrantinnen und Migranten (FIMM) die<br />

Ausbildung von so genannten Multiplikatorinnen und Multiplikatoren<br />

für die Anliegen der Gesundheitsprävention. Unterstützt wird<br />

das FIMM vom Bundesamt für Gesundheit und von etablierten<br />

Organisationen der Gesundheitsförderung.<br />

In Kursen werden sozial engagierte Migrantinnen und Migranten<br />

über die Besonderheiten des schweizerischen Gesundheitswesens<br />

und zu allgemeinen Gesundheitsthemen wie Ernährung, Bewegung,<br />

Sucht oder Depression aufgeklärt. Sie lernen so die Angebote<br />

der Gesundheitsprävention kennen und erhalten Unterlagen sowie<br />

Adressen der zuständigen Organisationen und Institutionen. Weiter<br />

werden sie mit Inputs und Basisinformationen für die Organisation<br />

von Gesundheitsförderungsveranstaltungen geschult. Ziel der Kurse<br />

ist, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer später in ihren<br />

Vereinen selber Präventionsveranstaltungen organisieren. Die Ausbildung,<br />

die in den drei grossen Sprachregionen der Schweiz durchgeführt<br />

wird, dauert drei Tage und wird von Fachpersonen aus dem<br />

Gesundheitsbereich geleitet. Ein Teil dieser Fachpersonen verfügt<br />

selbst über Migrationshintergrund.<br />

Gut vernetzte Schlüsselpersonen<br />

Bei der Auswahl der Multiplikatoren wurde darauf geachtet, dass<br />

sie in ihren Vereinen als Schlüsselpersonen engagiert und akzeptiert<br />

sind, dass sie sich für Gesundheitsfragen interessieren, und<br />

dass sie sich in der Kurssprache ausdrücken können. Ihre Aufgabe<br />

wird es sein, die Durchführung der Veranstaltungen in ihren Vereinen<br />

zu organisieren und bei Landsleuten für den Besuch der Veranstaltung<br />

zu werben, wobei ihnen ihre gute Vernetzung im Verein<br />

dient. Zudem können sie sich auf das Wissen stützen, das sie sich<br />

über Projektmanagement und Kursvorbereitung angeeignet<br />

haben. Dadurch, dass die Multiplikatorinnen und Multiplikatoren<br />

für ihre Arbeit entschädigt werden, wird Verbindlichkeit erreicht.<br />

An der Veranstaltung selbst treten dann Fachpersonen der Gesundheitsförderung<br />

auf. Idealerweise sprechen die Fachpersonen<br />

die Sprache der Zielgruppe. So hat beispielsweise ein türkischsprachiger<br />

Psychiater in einem türkischen Verein zum Thema<br />

Depression referiert. Wo dies nicht möglich ist, werden die Fachpersonen<br />

von interkulturellen Dolmetscherinnen unterstützt.<br />

23 Personen haben die ersten Multiplikatorenkurse mit Erfolg<br />

abgeschlossen. Sie haben seither 24 Informationsveranstaltungen<br />

organisiert und durchgeführt. Sechs der Veranstaltungen fanden<br />

im Tessin, sechs in der Romandie und zwölf in der Deutschschweiz<br />

statt. Insgesamt nahmen 534 Personen an den Veranstaltungen<br />

teil, das sind im Durchschnitt 22 Personen pro Veranstaltung.<br />

Sechs der Veranstaltungen thematisierten Depressionen, sechs<br />

weitere drehten sich um «Ernährung und Bewegung», fünf um<br />

«Alkohol und Tabak», die anderen Veranstaltungen widmeten sich<br />

einem Mix rund ums Thema Gesundheit.<br />

Die Ausbildung der Multiplikatoren trägt dazu bei, die Gesundheitskompetenz,<br />

die Eigenverantwortung und das Wissen<br />

über Präventionsangebote unter der Migrationsbevölkerung zu<br />

stärken. Dabei erweist sich das soziale Umfeld der Vereine als wertvolle<br />

Ressource: In Zusammenarbeit mit den Migrantenvereinen<br />

kann das Zielpublikum in einem ihm vertrauten Umfeld und in<br />

seiner Muttersprache für die Gesundheitsförderung sensibilisiert<br />

werden. Mit dieser aufsuchenden und partizipativen Methode<br />

lassen sich insbesondere auch sozio-ökonomisch benachteiligte<br />

Personen ansprechen, die mit herkömmlichen Präventionsangeboten<br />

kaum erreicht werden.<br />

Die Verantwortlichen in den Vereinen machen ihrerseits die<br />

Erfahrung, dass ihre Mitglieder sich durchaus für Gesundheitsthemen<br />

interessieren und an solchen Veranstaltungen auch teilnehmen.<br />

Im Idealfall können Gesundheitsthemen ein Bestandteil<br />

der Vereinsaktivitäten werden. Und auch die beteiligten Gesundheitsbehörden<br />

können profitieren, indem sie die Koordinaten der<br />

Multiplikatoren erhalten und Personen oder deren Namen kennenlernen,<br />

die sie kontaktieren können, wenn sie beispielsweise Informationsunterlagen<br />

an eine Zielgruppe abgeben möchten. Mit dem<br />

Projekt werden wichtige Brücken zwischen den Migrantenorganisationen<br />

und Organisationen im Bereich Gesundheit gebaut. •<br />

Emine Sariaslan<br />

Projektleiterin, FIMM Schweiz<br />

SCHWERPUNKT 1/14 ZeSo<br />


Psychische Probleme und Armut sind<br />

eng miteinander verbunden<br />

Psychisch Kranke sind besonders häufig von Erwerbslosigkeit und Armut betroffen. Mit einem<br />

abgestimmten Vorgehen könnten Ärzte und Sozialarbeitende dazu beitragen, mehr Personen mit<br />

psychischen Problemen im Arbeitsmarkt zu halten.<br />

Menschen mit psychischen Problemen haben ein signifikant erhöhtes<br />

Armutsrisiko gegenüber psychisch gesunden Menschen. In der<br />

Schweiz zeigt sich das beispielsweise darin, dass unter den Personen,<br />

deren Haushalteinkommen nicht mehr als 60 Prozent des<br />

Medianeinkommens der Bevölkerung entspricht, der Anteil der Personen<br />

mit psychischen Problemen etwa ein Drittel höher ist als jener<br />

der psychisch Beschwerdefreien. In den meisten anderen Industriestaaten<br />

liegen die Quoten zwischen psychisch kranken und gesunden<br />

armutsgefährdeten Personen noch deutlicher auseinander.<br />

Betrachtet man nur Personen mit schwereren psychischen<br />

Störungen, zum Beispiel psychisch Kranke mit einer IV-Rente,<br />

dann ist das Armutsrisiko nochmals signifikant höher – auch<br />

im Vergleich zu IV-Berenteten mit körperlichen Krankheiten,<br />

Geburtsgebrechen oder unfallbedingten Gebrechen. Fast jeder<br />

zweite psychisch behinderte IV-Rentner lebt in Armut oder ist<br />

armutsgefährdet. Bei Geburtsgebrechen, körperlich Behinderten<br />

und unfallbedingten Behinderungen betragen die entsprechenden<br />

Werte 25, 33 respektive 20 Prozent.<br />

Negative Wechselwirkungen<br />

Armut wiederum ist ein wesentlicher Risikofaktor für die Ausprägung<br />

einer psychischen Krankheit. Armut ist ein starker psychischer<br />

Stressor, der die Bewältigung des täglichen Lebens konkret<br />

erschwert. Wie stark die Belastung durch Armut sein kann, lässt<br />

sich erahnen, wenn man bedenkt, dass die Angst vor Arbeitsplatzverlust<br />

zu den grössten psychischen Stressoren gehört, die es gibt.<br />

Armut und von ihr ausgelöster Stress wirkt sich aber auch indirekt<br />

auf die psychische Befindlichkeit aus. Man fühlt sich inkompetent,<br />

an den Rand der Gesellschaft gedrängt, ausgeschlossen, und man<br />

ist abhängig von den Systemen der sozialen Sicherung. Dass die<br />

Betroffenen Sozialversicherungsleistungen erhalten, ist selbstverständlich<br />

eine wichtige Unterstützung. Auf der anderen Seite bedeutet<br />

es auch einen engen Kontakt zu den Behörden mit all den<br />

jeweiligen Vorschriften, Regeln und Pflichten, die subjektiv als bevormundend,<br />

erniedrigend oder stigmatisierend (als faul, undiszipliniert<br />

oder unwillig) erlebt werden können.<br />

Dies ist gerade bei Personen mit einer psychischen Störung<br />

nicht selten der Fall, weil ihre konkreten Behinderungen für Aussenstehende<br />

nur schwer einzuschätzen sind. Kommt hinzu, dass<br />

die häufigen Versagensängste psychisch Kranker oft mit fehlender<br />

Veränderungsmotivation verwechselt werden und die teils krankheitsbedingte<br />

«Uneinsichtigkeit» in das eigene problematische<br />

Verhalten als Verletzung der Mitwirkungspflicht interpretiert<br />

wird. Viele psychisch Kranke sehen sich deshalb latent oder offen<br />

mit dem Verdacht konfrontiert, zu Unrecht Sozialversicherungsleistungen<br />

zu beziehen.<br />

In der Schweiz entsteht die Verbindung zwischen Armut und<br />

psychischer Krankheit häufig über die Erwerbslosigkeit. Schweizerinnen<br />

und Schweizer mit psychischen Problemen haben eine<br />

geringere Erwerbsquote und eine höhere Arbeitslosenquote als<br />

die beschwerdefreie Population. Betrachtet man die Bezügerinnen<br />

und Bezüger von Sozialversicherungsleistungen, so leiden<br />

zwischen 30 bis 45 Prozent der Arbeitslosen, der Sozialhilfeempfänger<br />

und der IV-Berenteten unter einer psychischen Störung,<br />

während die Rate in der Gesamtbevölkerung rund 20 Prozent<br />

beträgt.<br />

Die Gründe für den engen Zusammenhang zwischen psychischer<br />

Krankheit und Erwerbslosigkeit liegen in besonderen Merkmalen<br />

dieser Krankheiten, der Personen und der Reaktionen des<br />

Umfelds. Besonders der frühe Beginn psychischer Störungen ist<br />

bedeutsam. Anders als die meisten körperlichen Erkrankungen<br />

beginnt die Hälfte aller psychischen Erkrankungen vor dem<br />

14. Lebensjahr und drei Viertel davon vor dem 24. Lebensjahr.<br />

Dieses frühe Erkrankungsalter hat negative Konsequenzen auf<br />

die Ausbildung (Schulprobleme, Ausbildungsabbrüche) und auf<br />

den Berufseinstieg (prekäre Jobs, häufige Stellenwechsel), und<br />

das frühe Erkrankungsalter prägt das Erleben der Betroffenen<br />

(Versagensängste und in der Folge starkes Vermeidungsverhalten).<br />

Neben dem frühen Störungsbeginn ist wesentlich, dass psychische<br />

Krankheiten oft wiederkehrend oder chronisch verlaufen und sich<br />

durch psychiatrische Behandlung zwar stabilisieren, aber meist<br />

nicht heilen lassen.<br />

Persönlichkeitsmerkmale mit Konfliktpotenzial<br />

Dies schlägt sich im Einkommen nieder: Personen, die aus psychischen<br />

Gründen eine IV-Rente beziehen, haben auch in der Zeit, als<br />

sie noch erwerbstätig waren, oft ein stark unterdurchschnittliches<br />

Einkommen erzielt, bedingt durch schlechte Jobs, wiederholte<br />

Arbeitslosigkeit und Sozialhilfeabhängigkeit. Armut und Erwerbslosigkeit<br />

haben fast immer eine lange Geschichte. Bei den personbezogenen<br />

Merkmalen ist wesentlich, dass schwer psychisch Kranke<br />

oft eine «schwierige» Persönlichkeit haben und in ihrem Erleben<br />

und Verhalten nur schwer zu beeinflussen sind. Sie verhalten sich<br />

uneinsichtig, stur und anklagend, fühlen sich schlecht behandelt<br />

oder sehen sich als Opfer. Diese häufigen Persönlichkeitsmerkmale<br />

sind auf dem biografischen Hintergrund der Betroffenen zu<br />

verstehen, und führen oft zu Konflikten am Arbeitsplatz oder in<br />

der Beziehung zu Behörden.<br />

Schliesslich tragen auch umfeldbezogene Charakteristiken zur<br />

besonderen Problematik psychisch Kranker bei, so etwa Vorurteile,<br />

ungenügendes professionelles Know-how involvierter Instanzen<br />

und die meist fehlende Vernetzung unter den behandelnden Ärzten.<br />

22 ZeSo 1/14 SCHWERPUNKT


Gesundheit<br />

Psychisch bedingte Arbeitsprobleme lassen sich oft nur mit einem integrierten Vorgehen lösen. <br />

Bild: Keystone<br />

Aber auch behandelnde Ärzte sind oft wenig hilfreich, weil sie den<br />

Kontakt mit den Arbeitgebenden und den Behörden zu selten suchen<br />

oder ihn mit Verweis auf das Arztgeheimnis gar verhindern.<br />

Das Krankschreibeverhalten der Ärzte – man will den Patienten<br />

«schützen» – ist nicht selten eine Barriere für den Arbeitsplatzerhalt<br />

oder für eine Wiedereingliederung. Zudem tragen die Sozialversicherungen<br />

der Häufigkeit von psychischen Störungen bei<br />

ihrer Klientel kaum Rechnung. Sei es, weil psychische Krankheit<br />

mehr oder weniger negiert wird wie bei der Arbeitslosenversicherung<br />

oder weil die entsprechenden Kompetenzen und Ressourcen<br />

nicht vorhanden sind. Die meist negativen Reaktionen des Umfelds<br />

verstärken zudem die Hemmung der Betroffenen, sich mit<br />

ihren psychischen Problemen beispielsweise am Arbeitsplatz zu<br />

outen. Dies wiederum verhindert oft eine adäquate Reaktion des<br />

Umfelds. So lässt sich erahnen, wie komplex der Zusammenhang<br />

zwischen psychischen Problemen und Erwerbslosigkeit ist.<br />

Gemeinsam ein Setting erarbeiten<br />

Psychische Probleme spielen in der sozialen Arbeit sehr häufig eine<br />

wesentliche Rolle. Diese sollten von den Sozialarbeiterinnen und<br />

Sozialarbeitern aufgegriffen werden, und wenn psychische Probleme<br />

oder eine schwierige Persönlichkeit den Unterstützungsprozess<br />

entscheidend hemmen, sollten die Klienten respektive Klientinnen<br />

nach Möglichkeit einer ärztlichen oder psychiatrischen Behandlung<br />

zugewiesen werden. Generell sollte der Kontakt mit den<br />

behandelnden Ärzten gesucht werden. Dies ist gerade bei Klienten,<br />

die immer wieder Arbeitsstellen wegen Konflikten am Arbeitsplatz<br />

verlieren, besonders wichtig. Denn psychisch bedingte<br />

Arbeitsprobleme sind oft so komplex und dynamisch, dass man sie<br />

nur gemeinsam lösen kann. Das bedeutet allerdings, dass Sozialarbeitende,<br />

behandelnde Ärtinnen und Ärzte und die Klientel sich<br />

darüber einig werden müssen, wo das Problem zu verorten ist<br />

(Problemanalyse), wie dagegen vorgegangen werden soll (Eingliederungsplanung)<br />

und welche «Spielregeln» dabei gelten sollen<br />

(Setting).<br />

Psychische Krankheit, Erwerbslosigkeit und Armut sind nicht zuletzt<br />

deshalb eng miteinander verbunden, weil das Sozial- und das<br />

Gesundheitswesen so fragmentiert sind: Ärzte gehen Arbeitsprobleme<br />

in der Behandlung nicht konkret an und Sozialarbeitende kümmern<br />

sich zu wenig um die psychische Problematik. Mit einem integrierteren<br />

Vorgehen könnten mehr Personen mit psychischen Problemen im<br />

Arbeitsmarkt gehalten werden. Angesichts der steigenden Belastung<br />

der Sozialversicherungen durch die Ausgliederung psychisch Kranker<br />

sollte dies dringend an die Hand genommen werden. <br />

•<br />

Niklas Baer<br />

Leiter Fachstelle für Psychiatrische Rehabilitation<br />

Psychiatrie Baselland<br />

SCHWERPUNKT 1/14 ZeSo<br />


Informationslücken an der Schnittstelle<br />

von medizinischer und sozialer Tätigkeit<br />

Dass Armut die Krankheitsanfälligkeit erhöht, beobachten Sozialarbeiter genauso wie Ärztinnen und<br />

Therapeuten. Die Bearbeitung der Gesundheitsprobleme von Armutsbetroffenen erfordert eine<br />

eigene Agenda mit einer langfristigen und vernetzten Perspektive.<br />

Eingeschränkte finanzielle Verhältnisse, eine fehlende oder unbefriedigende<br />

berufliche Tätigkeit und weitere soziale Belastungen<br />

hinterlassen gesundheitliche Spuren. Die wirtschaftliche Notlage,<br />

gepaart mit gesundheitlichen Problemen, führt dazu, dass die Fachkräfte<br />

bei ihren Aktivierungs- und Integrationsbemühungen vor äusserst<br />

anspruchsvollen Herausforderungen stehen: Wenn physische<br />

oder psychische Probleme im Wege stehen, beeinträchtigt dies die<br />

Chancen auf eine berufliche Wiedereingliederung. Zudem ist es oft<br />

schwierig, die Bereitschaft der Klienten zur Kooperation abzuschätzen.<br />

Beispielsweise, ob jemand die gemeinsam erarbeiteten Ziele<br />

und Massnahmen nicht verfolgen kann oder nicht verfolgen will.<br />

Obwohl in der Praxis viele Erfahrungen mit Krankheiten von<br />

Armutsbetroffenen gemacht werden, liegt wenig wissenschaftliches<br />

Wissen darüber vor. Gut untersucht und belegt ist der Zusammenhang<br />

zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit<br />

im Allgemeinen. Weder das hohe Wohlstandsniveau noch die<br />

gute Sozial- und Gesundheitsversorgung in der Schweiz können<br />

verhindern, dass Einkommen, Bildung und beruflicher Status<br />

auch in der Schweiz in einem positiven Zusammenhang mit Gesundheit<br />

stehen. Dies zeigt der Gesundheitsbericht des Kantons<br />

Bern aus dem Jahr 2010 in eindrücklicher Weise.<br />

Über die Gesundheit von Armutsbetroffenen im Einzelnen ist<br />

jedoch wenig systematisches Wissen vorhanden, ein repräsentatives<br />

und flächendeckendes Bild über die gesundheitliche Situation<br />

von Armutsbetroffenen in der Schweiz fehlt bisher. In den existierenden<br />

Studien und Statistiken zur Armut tritt die Gesundheit,<br />

wenn überhaupt, nur als Teilaspekt auf. Bekannt ist beispielsweise,<br />

dass in der Stadt Bern die Gesundheitskosten von Sozialhilfebeziehenden<br />

deutlich höher sind als die durchschnittlichen Gesundheitskosten<br />

der übrigen Bevölkerung. Welche Krankheitsbilder<br />

in der Sozialhilfe typisch sind, wie sich diese entwickeln oder wie<br />

sich Armutsbetroffene mit ihrer Gesundheit auseinandersetzen,<br />

darüber ist hingegen wenig bekannt. Die Entwicklung von Massnahmen<br />

zur Gesundheitsförderung ist jedoch auf solches Wissen<br />

angewiesen.<br />

Die Stadt Bern hat deshalb eine Befragung von Langzeitarbeitslosen<br />

in Auftrag gegeben. Sie zeigt, dass sich Langzeitarbeitslose ihrer<br />

gesundheitlichen Probleme durchaus bewusst sind und dass sie sich<br />

Die Stärkung der Gesundheit von langzeitarbeitslosen Menschen – hier am Einsatzplatz – ist ein Pionierfeld. <br />

Bild: Marco Finsterwald<br />

24 ZeSo 1/14 SCHWERPUNKT


Gesundheit<br />

markant weniger gesund fühlen als der Durchschnitt der Bevölkerung.<br />

Die Arbeitslosen berichten über vielfältige physische und<br />

insbesondere auch über psychische Probleme wie den Verlust der<br />

Lebensfreude und der Motivation, ein beeinträchtigtes Selbstwertgefühl<br />

oder über Zukunfts- und Existenzängste. Namentlich die<br />

Überzeugung, die Kontrolle über das eigene Leben zu haben, ist<br />

bei den Langzeitarbeitslosen deutlich geringer ausgeprägt als im<br />

Durchschnitt der Schweizer Bevölkerung.<br />

Im Vergleich zeigen sich dramatische Unterschiede: Gegen<br />

60 Prozent der befragten 84 Langzeitarbeitslosen glauben nicht<br />

daran, das eigene Leben selber bestimmen zu können, während<br />

dieser Wert im Schweizer Durchschnitt bei ungefähr 20 Prozent<br />

liegt. Der Einfluss, den die Kontrollüberzeugung auf die verschiedenen<br />

Gesundheits- und Lebensbereiche ausübt, darf also nicht<br />

unterschätzt werden. Denn je höher die Kontrollüberzeugung ausgeprägt<br />

ist, desto positiver werden die Gesundheit sowie die sozialen<br />

und materiellen Lebensbedingungen eingeschätzt.<br />

Dass der Verlust des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten verheerende<br />

Auswirkungen zur Folge haben kann, zeigt sich auch im<br />

Beispiel rechts. Weil diese Klientin die Überzeugung verloren hat,<br />

im Berufsleben bestehen zu können, getraut sie sich nicht mehr,<br />

sich für eine Arbeitsstelle zu bewerben. Sie ist nicht mehr fähig,<br />

sich für ihre Eingliederung zu engagieren. Weil sie das selbst erkennt,<br />

stellen sich weitere psychische Krankheitszustände ein, die<br />

die eigenen Ressourcen zusätzlich minimieren.<br />

Armut macht krank<br />

Die Praxis weiss es und die Wissenschaft belegt es: Armut macht<br />

krank. Die soziale Einschränkung führt zu zusätzlichen gesundheitlichen<br />

Belastungen. Der Armut zu entkommen, wird doppelt<br />

schwierig, wenn die persönlichen Ressourcen durch Krankheit<br />

weiter eingeschränkt werden. Die Handlungsspielräume reduzieren<br />

sich weiter, ein Verharren in Krankheit und Armut wird wahrscheinlich.<br />

Angesichts der Komplexität der Problematik greifen<br />

einfache Behandlungsrezepte hier nicht. Die Bearbeitung der Gesundheitsprobleme<br />

von Armutsbetroffenen erfordert eine eigene<br />

Agenda mit einer langfristigen und vernetzten Perspektive. Eine<br />

erste nationale Tagung zum Thema Gesundheit und Armut am<br />

9. Mai <strong>2014</strong> in Bern schafft einen Rahmen, um den Austausch<br />

zwischen Praxis, Wissenschaft und Politik zu intensivieren (siehe<br />

dazu den Veranstaltungshinweis S. 35). <br />

•<br />

Martin Wild-Näf<br />

Berner Fachhochschule<br />

Fachbereich Soziale Arbeit<br />

Depressionen behindern<br />

die Arbeitssuche<br />

Frau Rüti ist eine 42-jährige Schweizerin. Früh Mutter geworden,<br />

hat sie die Primar- und Realschule abgeschlossen, aber<br />

keine Berufsausbildung absolviert. Nach der Scheidung von<br />

ihrem Ehemann und einer ersten Phase der Erwerbslosigkeit<br />

hat sie während einiger Jahre als Angestellte eines Lebensmittelgeschäfts<br />

gearbeitet. Seit der Schliessung dieses<br />

Ladens ist sie wieder erwerbslos, seit mehreren Jahren<br />

bezieht sie Sozialhilfe. Über ihr psychisches Wohlbefinden<br />

befragt, erzählt Frau Rüti, dass sie immer wieder depressive<br />

Phasen durchmache. Die Depressionen seien auch ein Grund<br />

dafür, dass sie sich gar nicht richtig zutraue, eine Arbeitsstelle<br />

zu finden. Im Gespräch über ihr subjektives Gesundheitsverständnis<br />

wird deutlich, dass sich dieses Verständnis<br />

vorwiegend auf die Fähigkeit zur Arbeit bezieht. «Ob jemand<br />

gesund ist, sieht man für mich daran, wie er die Abläufe im<br />

Arbeitsprozess meistert», sagt sie. «Ob er etwas durchhalten<br />

kann und ob er seine Aufgaben erledigen kann, ohne in eine<br />

Krise zu geraten.» Frau Rüti würde gerne wieder einmal paar<br />

Jahre lang «einfach gesund sein, damit ich arbeiten und das<br />

durchhalten kann.»<br />

Quelle: Lätsch, Pfiffner und Wild-Näf, 2012.<br />

Literatur<br />

Die Gesundheitschancen sind ungleich verteilt, Vierter Gesundheitsbericht<br />

des Kantons Bern, GEF, 2010.<br />

D. Lätsch, R. Pfiffner, M. Wild-Näf, Die Gesundheit sozialhilfebeziehender<br />

Erwerbsloser in der Stadt Bern, BFH, 2012.<br />

D. Haller, B. Erzinger, S. Steger, D. Lätsch, Gesundheitliche Aspekte in<br />

der Sozialhilfe, BFH, 2013.<br />

F. Wolffers, J. Fassbind, Strategien und Massnahmen zur beruflichen<br />

und sozialen Integration, Bern, 2010.<br />

F. Wolffers, Hohe Gesundheitskosten als Herausforderungen für die<br />

Sozialhilfe, Soziale Sicherheit CHSS, 3/2012.<br />

SCHWERPUNKT 1/14 ZeSo<br />


Freiwillige leisten Unterstützung bei der<br />

Bewältigung des Alltags<br />

In Zürich hilft das «Projekt Salute» Menschen, die unter sozio-ökonomisch begründeten gesundheitlichen<br />

Problemen leiden und die von primären Hilfsinstanzen wie Sozialdiensten oder<br />

ambulanten psychiatrischen Angeboten nicht erreicht werden.<br />

Soziale Faktoren wie Einsamkeit, materielle Not oder ein niedriger<br />

gesellschaftliche Status können krank machen und bei kranken<br />

Menschen die Genesung negativ beeinflussen. Doch nicht alle<br />

Menschen, die unter gesundheitlichen Problemen leiden, die mit<br />

sozialen Faktoren im Zusammenhang stehen, werden von den<br />

Unterstützungsangeboten spezialisierter Hilfsinstanzen, wie sie<br />

beispielsweise die Sozialhilfe oder ein ambulanter psychiatrischer<br />

Dienst darstellen, erreicht. Diverse Gründe können dafür die Ursache<br />

sein: Unwissen über die Hilfsangebote, Schamgefühle und oft<br />

eine Situation «irgendwo zwischen Medizin und Sozialarbeit», die<br />

verhindert, dass die betroffenen Personen Unterstützung erhalten.<br />

Um diese Menschen kümmert sich in der Stadt Zürich das Projekt<br />

Salute, das vom städtischen Gesundheitsdepartement finanziell<br />

unterstützt und vom Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) Kanton<br />

Zürich koordiniert wird.<br />

Auslöser für das Projekt war eine Intitiative, die ein Angebot<br />

zur Entlastung von Ärztinnen und Ärzten schaffen sollte, die mit<br />

gesundheitsbelastenden sozialen Problemen ihrer Patientinnen<br />

und Patienten konfrontiert sind. Mittlerweile können alle Akteure<br />

im Gesundheitswesen der Stadt ihre Patienten bei Salute anmelden.<br />

Dort werden diese von Freiwilligen bei der Bewältigung ihres<br />

Alltags unterstützt. Die Freiwilligen liest Salute sorgfältig aus: Sie<br />

müssen sich durch eine hohe Sozialkompetenz auszeichnen und<br />

ein mehrstufiges Rekrutierungsverfahren durchlaufen.<br />

Die Rolle der freiwilligen Helfer<br />

Die freiwilligen Helferinnen und Helfer kommen aus verschiedenen<br />

Berufsgruppen. Gemein ist ihnen eine Affinität zum Gesundheits-<br />

oder Sozialwesen, die sich oft im beruflichen Hintergrund<br />

spiegelt. Einige sind berufstätig und arbeiten nebenher ein paar<br />

Beim Hausbesuch kann die freiwillige Mitarbeiterin konkrete Hilfe zur Bewätligung des Alltags leisten.<br />

Bild: Roland Blattner<br />

26 ZeSo 1/14 SCHWERPUNKT


Gesundheit<br />

Stunden pro Woche für Salute, andere sind pensioniert. Ilona Caratsch<br />

beispielsweise, die sich als freiwillige Mitarbeiterin engagiert,<br />

ist Familienfrau und hat als Psychologin und Erziehungsberaterin<br />

gearbeitet. Ihre Motivation für die Freiwilligenarbeit geht<br />

zurück auf eigene Erfahrungen: «Mein Vater kam 1956 aus Ungarn<br />

als Flüchtling in die Schweiz. Seine positiven Erfahrungen im<br />

Flüchtlingslager des Schweizerischen Roten Kreuzes haben mich<br />

veranlasst, mich in Form einer Freiwilligenarbeit zu revanchieren».<br />

Sie erlebe eine gewisse Befriedigung, wenn sie andere Menschen<br />

unterstützen kann.<br />

Sigrid Peters, eine andere Freiwillige, die heute nicht mehr berufstätig<br />

ist, hat viele Jahre als Sachbearbeiterin bei verschiedenen<br />

Konzernen gearbeitet. Sie erlebt ihre Einsätze bei Salute als «endlich<br />

einmal eine spannende und abwechslungsreiche Tätigkeit.»<br />

Oft würden im Lauf eines Einsatzes noch gewichtigere Probleme<br />

auftauchen. Solche, die bei der Anmeldung nicht erwähnt wurden,<br />

erzählt sie. Im Unterschied zu anderen Beratungsdiensten machen<br />

die Freiwilligen von Salute Hausbesuche. So können sie sich<br />

bei einfachen Problemlagen auch einmal die Zeit nehmen, <strong>ganz</strong><br />

konkret Hilfe zu leisten. Mit dem Angebot erreicht Salute Menschen,<br />

die durch andere Hilfsangebote nicht erfasst wurden: Zwei<br />

von drei Klientinnen oder Klienten hatten vor oder während der<br />

Betreuung durch Salute keinen Kontakt mit einem professionellen<br />

Sozialdienst.<br />

Verdeckte Armutsproblematik<br />

Die häufigsten Gründe für die Zuweisungen an Salute sind Armut,<br />

finanzielle Probleme, Wohnungsprobleme respektive fehlende<br />

Nachbarschaftshilfe. Von den 110 Anfragen im Jahr 2013 wurden<br />

75 Fälle bearbeitet. Bei 50 Fällen kamen freiwillige Helfer<br />

zum Einsatz, 25 Fälle konnte der Koordinator direkt bearbeiten.<br />

Die übrigen Anfragen wurden entweder durch den Koordinator<br />

triagiert oder mussten zurückgewiesen werden, da sie nicht den<br />

Kriterien des Angebots entsprachen. Die Fälle weisen auf eine<br />

eigentliche Lücke im Versorgungsnetz hin. Zudem steckt hinter<br />

den Zahlen auch eine verdeckte Armutsproblematik: Drei von fünf<br />

Personen, die Hilfsangebote von Salute in Anspruch nehmen,<br />

Das Angebot von Salute<br />

Leistungen<br />

- Telefonische Beratung und Hilfestellung bei der Suche nach<br />

geeigneten Angeboten für die zuweisenden Ärzte und Fachpersonen.<br />

- Begleitung der Klienten und Klientinnen zu einer für sie<br />

geeigneten Fachstelle<br />

- Hausbesuche zur konkreten Problemlösung vor Ort<br />

Häufig nachgefragte Hilfestellungen<br />

- Unterstützung bei der Geltendmachung von Leistungen, der<br />

Bewältigung von administrativen Aufgaben und im Umgang<br />

mit Amtsstellen<br />

- Vermittlung von Fachstellen und sozialen Kontakten<br />

- Begleitung zu Terminen<br />

www.srk-zuerich.ch/salute<br />

haben ein Netto-Haushaltseinkommen von 3000 Franken oder weniger.<br />

Die Mehrheit der Unterstützten lebt allein und pflegt wenig bis<br />

keine sozialen Kontakte. Ein Drittel sagt von sich, keine Verwandten<br />

zu haben, mit denen sie sich verbunden fühlen, und viele haben keine<br />

nahestehenden Freunde. Die meisten sind nicht erwerbstätig und beziehen<br />

eine Rente, wie ein Evaluationsbericht zum Projekt gezeigt hat.<br />

Das Durchschnittsalter der unterstützten Personen beträgt 55 Jahre.<br />

Neben somatischen Leiden sind es häufig psychische Beschwerden<br />

und Abhängigkeitsproblematiken, die zur Notlage beitragen. •<br />

Christian Rupp<br />

Bereichsleiter Überbrückung<br />

Schweizerisches Rotes Kreuz Kanton Zürich<br />

Fallbeispiel: Fortschreitende Vereinsamung<br />

Frau R., eine gelernte Verkäuferin, ist aufgrund einer Erkrankung<br />

der Atemwege seit ihrem 45. Lebensjahr auf ein Atemgerät angewiesen,<br />

das sie immer bei sich hat. Das Atemgerät schränkt ihre<br />

Mobilität stark ein, sodass sie kaum mehr unter die Leute geht.<br />

Ihren einzigen Sohn, der in der Westschweiz lebt, sieht die heute<br />

55-Jährige selten, von ihrem Mann lebt sie geschieden. Frau R.<br />

gab an, dass sie nur zu einer Person neben ihrem Sohn regelmässigen<br />

Kontakt habe. Mit dieser Person könne sie manchmal auch<br />

Persönliches besprechen. Frau R. empfindet oft negative Gefühle<br />

wie tiefe Traurigkeit, Verzweiflung, Angst und hat Depressionen.<br />

Ihre Lebensqualität beurteilt sie insgesamt als schlecht. Sie kann<br />

zwar einigermassen für sich selbst sorgen, hat aber grosse Schwierigkeiten,<br />

am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Schon einfache<br />

Aktivitäten, wie die Fahrt mit dem Bus zur nächsten Migros,<br />

sind wegen des Atemgeräts für Frau R. eine grosse Herausforderung.<br />

Trotz allem versucht sie aber immer wieder auch das Positive<br />

zu sehen und sich ihrem Schicksal zu stellen.<br />

Eine Spitex-Pflegerin hatte die fortschreitende Vereinsamung<br />

von Frau R. bemerkt und sie – mit ihrem Einverständnis – bei<br />

Salute angemeldet. Salute solle helfen abzuklären, wie die Frau ihr<br />

Defizit an sozialen Kontakten aufgefangen werden könnte. Nach<br />

einem telefonischen Gespräch trafen sich Frau R., eine freiwillige<br />

Mitarbeiterin sowie der Projekt-Koordinator von Salute bei ihr zuhause.<br />

Salute verhalf Frau R. zu regelmässigen Besuchen durch die<br />

Nachbarschaftshilfe. Diese organisiert unter Einbezug von Freiwilligen<br />

aus der Nachbarschaft konkrete Hilfestellungen für Einkäufe<br />

oder Besuche. Weiter hat die Salute-Mitarbeiterin Frau R. für<br />

einen Französischkurs angemeldet, dessen Besuch sie sich schon<br />

lange gewünscht hat. Zum Sprachkurs wird sie jeweils von einer<br />

Person der Nachbarschaftshilfe begleitet. <br />

•<br />


Professionelle Sozialarbeit bedingt<br />

flexible Vorgehensweisen<br />

Damit sich die sozialarbeiterische Tätigkeit innerhalb der Sozialhilfe entfalten kann, müssen die<br />

gesetzlichen Spielräume genutzt werden. Gedanken zu den Kernaufgaben der Sozialhilfe, die sich<br />

insbesondere an zukünftige Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter richten.<br />

Der Auftrag der Sozialhilfe wird in den<br />

kantonalen Sozialhilfegesetzen und den<br />

dazugehörigen Ausführungsbestimmungen<br />

umschrieben. Dabei wird zwischen wirtschaftlicher<br />

und persönlicher Hilfe unterschieden.<br />

Die wirtschaftliche Hilfe dient<br />

der Existenzsicherung, während durch die<br />

persönliche Hilfe die berufliche und soziale<br />

Integration gefördert werden sollen. Die<br />

Ausrichtung der wirtschaftlichen Hilfe<br />

orientiert sich an den SKOS-Richtlinien,<br />

während es bei der Ausgestaltung der persönlichen<br />

Hilfe grosse Unterschiede gibt.<br />

Aufgrund der Mitwirkungspflichten der<br />

Klientinnen und Klienten kann das Handlungsfeld<br />

der Sozialhilfe als Pflichtkontext<br />

bezeichnet werden, in dem nicht alles mit<br />

den Klienten aushandelbar ist und auch<br />

finanzielle Sanktionen verhängt werden<br />

können.<br />

Bestehen bei den Klientinnen und Klienten<br />

mehr als vorübergehende finanzielle<br />

Schwierigkeiten, müssen auch die Ursachen<br />

und Folgen der Armutssituation wie<br />

psycho-soziale oder gesundheitliche Probleme<br />

berücksichtigt werden. Das bedingt<br />

ein fallspezifisches Vorgehen. Allerdings<br />

steht in der Praxis nicht immer genügend<br />

Zeit für Beratungen und nachhaltige Interventionen<br />

zur Verfügung, sodass sich die<br />

Sozialhilfe auf die Ausrichtung finanzieller<br />

Leistungen beschränken kann. In polyvalenten<br />

Sozialdiensten besteht zudem<br />

eine Tendenz, dass Fälle des Kindes- und<br />

Erwachsenenschutzes aufgrund ihrer Dringlichkeit<br />

prioritär bearbeitet werden.<br />

Sozialhilfe ist auf die Sozialarbeit<br />

angewiesen<br />

Weil die Sozialhilfe die berufliche und soziale<br />

Integration der Klienten fördern soll,<br />

ist sie auf die soziale Arbeit angewiesen.<br />

Bei vielen Klientinnen und Klienten liegen<br />

nicht nur finanzielle Probleme vor, sodass<br />

Beratung oder Case Management geleistet<br />

Spielraum schaffen und nutzen<br />

Damit die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter<br />

in der Sozialhilfe qualitativ hochstehende<br />

Leistungen erbringen können,<br />

sind sie auf förderliche organisatorische<br />

Rahmenbedingungen angewiesen. Die Organisation<br />

muss sicherstellen, dass der<br />

Spielraum für ein professionelles Handeln<br />

nicht aufgrund administrativer und betriebswirtschaftlicher<br />

Vorgaben zu stark eingeschränkt<br />

wird. Es muss möglich sein, gemeinsam<br />

mit den Klienten fallspezifische<br />

Lösungen zu entwickeln. Weiter ist eine<br />

Organisationskultur nötig, die Reflexionsarbeit<br />

fördert und die der sozialarbeiterischen<br />

Rationalität grosses Gewicht beimisst. So<br />

können beispielsweise fachliche Konzepte<br />

für die Zusammenarbeit mit verschiedenen<br />

Klientengruppen wie jungen Erwachsenen,<br />

Working Poor oder mit ausgesteuerten älteren<br />

Sozialhilfebeziehenden entwickelt werden<br />

und auch entsprechende Wissensbestände<br />

in der Organisation aufgebaut und<br />

weiterentwickelt werden.<br />

Eine besondere Herausforderung der<br />

sozialen Arbeit in der Sozialhilfe besteht<br />

darin, dass bei der Fallbearbeitung Verwerden<br />

müssen. Zudem sind bei Entscheiden<br />

über finanzielle Leistungen komplexe<br />

Abklärungen erforderlich und aufgrund<br />

der Mitwirkungspflicht häufig fachliche<br />

Einschätzungen nötig, beispielsweise in<br />

Bezug auf die Arbeitsfähigkeit oder die Zumutbarkeit<br />

der Teilnahme an Integrationsprogrammen.<br />

Das Potenzial sozialarbeiterischer Professionalität<br />

in der Sozialhilfe liegt darin,<br />

dass komplexe Problemsituationen erkannt<br />

und fallspezifisch bearbeitet werden.<br />

Dies bedingt sorgfältige Abklärungen<br />

und eine partizipative Beziehungsgestaltung<br />

zum Klienten. Die Beratungs- und<br />

Vernetzungsarbeit sowie eine flexible Vorgehensweise<br />

sollen dem Einzelfall gerecht<br />

werden. Sorgfältige Abklärungen sind also<br />

eine Voraussetzung dafür, dass realistische<br />

Ziele formuliert und ein Vorgehen geplant<br />

werden können, bei dem die Klienten weder<br />

unter- noch überfordert werden.<br />

Die partizipative Beziehungsgestaltung<br />

beinhaltet, dass den Klientinnen und<br />

Klienten bewusst Mitbestimmungsmöglichkeiten<br />

eingeräumt werden, was sich<br />

positiv auf ihre Kooperationsbereitschaft<br />

und damit auf den Erfolg der Interventionen<br />

auswirkt. Im Rahmen der Beratung<br />

Die Rücksichtnahme<br />

auf die<br />

Besonderheiten<br />

des Einzelfalls erhöht<br />

die Chance<br />

auf langfristigen<br />

Erfolg.<br />

können die Klienten mit ihrer Problematik<br />

konfrontiert werden und es können<br />

Veränderungsprozesse angeregt werden,<br />

indem ihnen beispielsweise Vorschläge für<br />

das weitere Vorgehen unterbreitet werden.<br />

Bei der Vernetzung ist sicherzustellen, dass<br />

involvierte Angebote die Probleme, Ressourcen<br />

und Bedürfnisse der Klienten angemessen<br />

berücksichtigen. Damit lassen<br />

sich unnötige Abbrüche oder Leerläufe<br />

vermeiden. Ein flexibles Vorgehen, das auf<br />

die Besonderheiten des Einzelfalls Rücksicht<br />

nimmt, ist zwar aufwändiger als eine<br />

routinisierte Vorgehensweise, dafür ist das<br />

Unterstützungspotenzial grösser, und das<br />

erhöht die Wahrscheinlichkeit langfristiger<br />

Erfolge.<br />

28 ZeSo 1/14 SOZIALARBEIT IN DER SOZIALHILFE


In der Praxis steht nicht immer genügend Zeit für nachhaltige Beratungen zur Verfügung. Bild: Pixil<br />

waltungsvorgaben und fachliche Standards<br />

berücksichtigt werden müssen: Einerseits<br />

sollen Probleme der Klientinnen<br />

und Klienten normkonform angegangen<br />

werden, andererseits soll angemessen auf<br />

die Klienten und deren Lebenssituation<br />

eingegangen werden. Dies bedingt, dass<br />

gesetzliche Spielräume genutzt werden<br />

und fallspezifische Problemlösungen die<br />

dominante Vorgehensweise sind.<br />

Gelingt dies, kann von einer professionalisierten<br />

Sozialhilfe gesprochen werden,<br />

bei der Fachlichkeit und administrative<br />

Vorgaben nicht im Widerspruch<br />

zueinander stehen müssen. Voraussetzungen<br />

dafür sind neben fachlich kompetenten<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern<br />

und einer Organisationskultur, die<br />

der sozialarbeiterischen Rationalität ein<br />

hohes Gewicht beimisst, auch eine angemessene<br />

Ressourcenausstattung der Sozialdienste.<br />

<br />

•<br />

Rahel Müller de Menezes, Dozentin<br />

Simon Steger, wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />

Berner Fachhochschule, Soziale Arbeit<br />

Empfehlungen für die<br />

Ausgestaltung der<br />

persönlichen Hilfe<br />

1. Schaffen Sie gegenüber den Klientinnen<br />

und Klienten Transparenz über die Rahmenbedingungen<br />

der Unterstützung. Erklären<br />

Sie ihnen die Möglichkeiten und Grenzen<br />

der Unterstützung durch den Sozialdienst<br />

(Mitwirkungspflichten, Unterstützungsrichtlinien).<br />

Damit lassen sich Kooperationsund<br />

Widerstandsprobleme reduzieren.<br />

2. Gestalten Sie die persönliche Hilfe konsequent<br />

als Hilfe zur Selbsthilfe und suchen<br />

Sie flexible Lösungen im Einzelfall. Nutzen<br />

Sie konsequent die Ressourcen des Gegenübers<br />

und seines Umfelds. Damit werden<br />

die Autonomie und die Kompetenzen der<br />

unterstützten Person oder Familie gestärkt.<br />

3. Legen Sie als Organisation fest, welche<br />

Leistungen im Rahmen der persönlichen<br />

Hilfe erbracht werden und differenzieren<br />

Sie die persönliche Hilfe für unterschiedliche<br />

Klientengruppen (junge Erwachsene,<br />

psychisch Kranke, ältere Sozialhilfebeziehende).<br />

4. Koordinieren Sie Ihre Hilfeprozesse mit den<br />

beteiligten Institutionen im Versorgungssystem<br />

(Integrationsprogramme,<br />

Hausärzte etc.).<br />

5. Strukturieren Sie den Hilfeprozess in<br />

mindestens drei Phasen des methodischen<br />

Handelns: Analyse, Intervention und Evaluation.<br />

Dies ermöglicht ein strukturiertes und<br />

reflektiertes Vorgehen. Diese Phasen lassen<br />

sich organisatorisch verankern (beispielsweise<br />

durch kollegiale Besprechungen von<br />

Intake-Fällen).<br />

Literatur<br />

Rahel Müller de Menezes, Soziale Arbeit in<br />

der Sozialhilfe – eine qualitative Analyse<br />

von Fallbearbeitungen, Springer, Wiesbaden,<br />

2012.<br />

SOZIALARBEIT IN DER SOZIALHILFE 1/14 ZeSo<br />

29


Wenn in der Rekrutenschule<br />

das Geld ausgeht<br />

Vor dem Militärdienst die Stelle verloren, während der Rekrutenschule die Miete nicht mehr bezahlen<br />

können oder im Wiederholungskurs verunfallt: Bei solchen Problemen können sich die Betroffenen an<br />

den Sozialdienst der Armee wenden.<br />

Der Empfangsschalter könnte auch einem<br />

anderen Zweck dienen. Ein Mann nimmt<br />

Anmeldungen entgegen und kontrolliert<br />

die Angaben zur Person. Er hält telefonisch<br />

Rücksprache und öffnet schliesslich<br />

per Knopfdruck die gläserne Eingangstür.<br />

Victor Läng, Stellvertreter Chef Bereich<br />

Sozialdienst der Armee, begrüsst uns im<br />

Verwaltungsgebäude an der Rodtmattstrasse<br />

110 in Bern. Hier befindet sich das<br />

«Personalbüro der Armee», zu dem auch<br />

der Sozialdienst der Armee (SDA) gehört.<br />

Immer wieder wird Victor Läng während<br />

des Besuches militärische Abkürzungen<br />

verwenden. Oft spricht er von den<br />

AdA und bezeichnet so die Angehörigen<br />

der Armee. Er erzählt von Lusia und ergänzt,<br />

dass damit das Projekt «Lesen und<br />

Schreiben in der Armee» gemeint ist. «In<br />

den elf Jahren, in denen ich hier arbeite,<br />

habe ich wohl so einige Abkürzungen<br />

übernommen», sagt Läng schmunzelnd.<br />

Das ist aber auch schon das Einzige, das<br />

dem bald 60-jährigen Sozialberater, der<br />

vorher als betrieblicher Sozialarbeiter in<br />

der Privatwirtschaft und in einem öffentlichen<br />

Sozialdienst tätig war, einen militärischen<br />

Anstrich verleiht.<br />

Milizsozialberater<br />

Auch die Büros der sieben Mitarbeitenden<br />

des SDA weisen kaum auf den militärischen<br />

Arbeitskontext hin. Hier gehen jährlich<br />

rund 5000 Anrufe mit Beratungsanfragen<br />

ein. Und hier werden die Einsätze<br />

der 26 Milizsozialberater koordiniert, die<br />

im Rahmen ihres Militärdienstes Beratungen<br />

in den Rekrutenschulen (RS) der <strong>ganz</strong>en<br />

Schweiz durchführen. Sie beraten die<br />

Rekruten bei finanziellen Angelegenheiten<br />

und helfen beim Erstellen eines Budgets<br />

für die Dienstzeit. Oder sie informieren<br />

über arbeitsrechtliche Fragen wie beispielsweise<br />

den Kündigungsschutz, unterstützen<br />

die Rekruten bei psychosozialen<br />

Problemen oder vermitteln sie an geeignete<br />

Stellen weiter, zum Beispiel an den<br />

Psychologisch-Pädagogischen Dienst der<br />

Armee. Mehrheitlich arbeiten die Milizsozialberater<br />

auch im Zivilleben im Sozialbereich,<br />

andere sind Lehrer oder Juristen.<br />

«Die verschiedenen Hintergründe bereichern<br />

die Beratungsarbeit sehr», sagt Victor<br />

Läng.<br />

Wenn sich die Gelegenheit vor Ort in<br />

der RS nicht ergibt, können die Angehörigen<br />

der Armee auch beim Armeesozialdienst<br />

in Bern in die Beratung kommen.<br />

Neben Läng arbeiten hier zwei weitere<br />

Sozialberater und eine Sozialberaterin.<br />

Der Sozialdienst richtet bei finanziellen<br />

Engpässen auch Zuschüsse aus, zum Beispiel,<br />

wenn Rekruten bereits eine eigene<br />

Wohnung haben und die Erwerbsausfallentschädigung<br />

(EO) nicht ausreicht, um<br />

Victor Läng, stellvertrender Chef Bereich SDA<br />

die Miete zu bezahlen. «Mietzuschüsse<br />

werden am meisten nachgefragt und sind<br />

in den letzten Jahren eine der Hauptausgabenpositionen»,<br />

sagt Läng.<br />

Budget erstellt und Deutschkurs<br />

vermittelt<br />

Dieses Anliegen hatte auch ein 23-jähriger<br />

Rekrut, von dem Läng erzählt. Kürzlich sei<br />

ihm dieser hier an seinem runden Beratungstisch<br />

gegenüber gesessen. Der Automobilfachmann<br />

hatte kurz vor RS-Beginn<br />

seine Stelle verloren. Er bekam in der<br />

Rekrutenschule das EO-Minimum von<br />

1700 Franken im Monat, musste aber unter<br />

anderem die Wohnung weiterbezahlen,<br />

die er mit seiner Ehefrau bewohnte. Der<br />

Mann hatte mit einer höheren Entschädigung<br />

gerechnet, da seine Frau im fünften<br />

Monat schwanger war. Er war nicht darüber<br />

informiert, dass er diese erst ab Geburt<br />

des Kindes geltend machen konnte. Da seine<br />

Frau kaum Deutsch sprach und keiner<br />

Erwerbsarbeit nachgehen konnte, war das<br />

Paar in eine finanzielle Notlage geraten.<br />

«Zuerst klärte ich für den AdA ab, ob die<br />

Kündigung rechtens war», beschreibt Läng<br />

den Ablauf der Beratung. Dann habe er<br />

den Mann über die Erwerbsersatzordnung<br />

informiert und mit ihm ein Budget erstellt.<br />

Und schliesslich habe dem Paar bis zur Geburt<br />

des Kindes mit einem Unterstützungsbetrag<br />

über die Runde geholfen<br />

werden können. Die Beratung des SDA<br />

kann aber auch weitere Aspekte enthalten.<br />

«In diesem Fall haben wir der Ehefrau des<br />

AdA einen Deutschkurs vermittelt», erzählt<br />

Läng.<br />

Er stellt immer wieder fest, dass viele<br />

junge Leute schlecht über ihre Ansprüche<br />

und Pflichten während der Dienstzeit Bescheid<br />

wissen und sich teilweise zu wenig<br />

mit ihrer finanziellen Situation auseinandersetzen.<br />

«Wenn man von einem Budget<br />

spricht, ist das für viele ein Fremdwort.»<br />

30 ZeSo 1/14 reportage


«Wenn man von<br />

einem Budget spricht,<br />

ist das für viele ein<br />

Fremdwort.»<br />

Im Büro in Bern gehen jährlich rund 5000 Anrufe mit Beratungsanfragen ein. Bilder: Béatrice Devènes<br />

Andererseits seien die EO-Regelungen für<br />

viele komplex, räumt Läng ein. Deswegen<br />

versucht der SDA bereits am Orientierungstag<br />

beziehungsweise anlässlich der<br />

Rekrutierung anzusetzen: Die künftigen<br />

Rekruten werden mit Filmen und Broschüren<br />

ermuntert, sich rechtzeitig mit<br />

ihrer finanziellen Situation während der<br />

RS auseinanderzusetzen.<br />

2013 haben knapp 8 Prozent der eingerückten<br />

Rekruten, nämlich rund 1600,<br />

eine Beratung des SDA in Anspruch genommen.<br />

Ein Drittel davon erhielt eine<br />

finanzielle Hilfe. Dabei dienen auch die<br />

SKOS-Richtlinien als Referenzrahmen.<br />

Die Beiträge für Rekruten machen über<br />

60 Prozent der Gesamtausgaben des SDA<br />

von 1,57 Millionen Franken aus. Das Geld<br />

stammt aus privaten Stiftungen. Lediglich<br />

die sieben Stellen der SDA-Mitarbeitenden<br />

sind durch den Bund finanziert. Neben den<br />

Rekruten können auch WK-Absolventen,<br />

Angehörige des Rotkreuzdienstes und des<br />

Zivilschutzes, Personen, die Friedenförderungsdienst<br />

leisten sowie Militärpatienten<br />

und Hinterbliebene von verstorbenen Militärpatienten<br />

die Angebote des SDA in Anspruch<br />

nehmen. Insgesamt bearbeitete der<br />

SDA 2013 rund 2000 Dossiers.<br />

Unfall im Wiederholungskurs<br />

Victor Läng erzählt die Geschichte eines<br />

Militärpatienten, die ihn sichtlich betroffen<br />

macht. 1986 verunfallte ein heute<br />

53-jähriger Panzergrenadier in seinem<br />

letzten Wiederholungskurs. Wegen der erlittenen<br />

schweren Knieverletzung konnte<br />

er danach nicht mehr in seinem Beruf als<br />

Zimmermann arbeiten. Das kaputte linke<br />

Bein führte zu einer Fehlbelastung des<br />

rechten Beins und über die Jahre dazu,<br />

dass der Mann auch dieses Bein nicht<br />

mehr richtig benutzen konnte. Eine lange<br />

Leidensgeschichte begann, die durch versicherungsrechtliche<br />

Aspekte zusätzlich belastet<br />

wird. Auch nach über 25 Jahren ist<br />

noch nicht abschliessend geklärt, welche<br />

Leistungen die SUVA-Militärversicherung<br />

und welche die Invalidenversicherung zu<br />

übernehmen hat. Der Mann habe sich<br />

schliesslich beim SDA gemeldet, der ihn in<br />

dieser «Zeit des Übergangs» rechtlich<br />

berät, und ihn psychosozial und teilweise<br />

auch finanziell unterstützt.<br />

Es ist aber selten, dass Personen über<br />

einen solch langen Zeithorizont unterstützt<br />

werden. Die Beratung ist normalerweise<br />

auf die Dienstzeit beschränkt. Am Ende der<br />

RS oder des WK erlischt der Anspruch. Die<br />

Klienten müssen sich dann bei Bedarf an<br />

den öffentlichen Sozialdienst wenden. Im<br />

Unterschied zu diesem hat der SDA keine<br />

ausdrückliche gesetzliche Verpflichtung,<br />

Leistungen zu erbringen. «Dadurch sind<br />

wir vielleicht auch etwas freier und können<br />

pragmatischer arbeiten», sagt Läng. «Wir<br />

entscheiden situativ, bedarfsgerecht, auch<br />

im Rahmen unserer SDA-Grundlagen.»<br />

Das Ziel sei in erster Linie, die AdA in<br />

schwierigen Lebenslagen soweit zu entlasten,<br />

dass sie freier von finanziellem und<br />

persönlichem Stress und damit sicherer<br />

ihren Militärdienst absolvieren können, betont<br />

Läng und fügt an: «Ich sage immer, vor<br />

dem Verdienen kommt das Dienen.» •<br />

Regine Gerber<br />

reportage 1/14 ZeSo<br />

31


Mit provisorischen Mietverträgen<br />

Wohnraum für Benachteiligte finden<br />

Die Waadtländer Stiftung Apollo hilft Menschen in schwierigen Situationen, eine Wohnung zu finden.<br />

Sie schliesst den Mietvertrag auf ihren eigenen Namen ab, und wenn sich die Lage für die unterstütze<br />

Person verbessert hat, wird der Vertrag auf diese überschrieben.<br />

PLATTFORM<br />

Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />

diese Seite als Plattform an. In dieser Ausgabe<br />

der Stiftung Apollo in Vevey.<br />

Sozial schwächere Menschen bekunden oft Mühe, eine geeignete Wohnung für sich zu finden.<br />

Notunterkunftslösungen gibt es in vielen<br />

Gemeinden, doch diese sind primär für<br />

sozial stark ausgegrenzte Personen bestimmt:<br />

Für Menschen in weniger akuten<br />

Notlagen sind sie weniger geeignet. Zudem<br />

operieren Notunterkünfte oft an der<br />

Grenze ihrer Kapazitäten. Menschen in<br />

Notlagen sind eine verletzliche Bevölkerungsgruppe,<br />

die gerade aufgrund ihrer<br />

Umstände auf eine stabile Wohnsituation<br />

angewiesen ist. Für sie setzt sich die Stiftung<br />

Apollo ein: Im zunehmend wettbewerbsorientierten<br />

Immobilienmarkt, der<br />

viele «aussen vor» lässt, kann die Stiftung<br />

mit der Unterzeichnung von Mietverträgen<br />

auf ihren Namen und der Unterstützung<br />

und Betreuung von Wohnungssuchenden<br />

gute Lösungen herbeiführen.<br />

Die Gründung der Stiftung geht auf eine<br />

Studie zurück, welche die drei Waadtländer<br />

Riviera-Gemeinden Vevey, Montreux und<br />

La Tour-de-Peilz im Jahr 2008 durchführen<br />

liessen. Mit ihr sollten der Wohnungsmangel<br />

und die Probleme, mit denen<br />

Menschen in finanziellen oder sozialen<br />

Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche<br />

konfrontiert sind, untersucht werden. Die<br />

Behörden, die Gemeindeverwaltungen<br />

und die sozialen und medizinischen Strukturen<br />

hatten alle das Gleiche festgestellt:<br />

Wenn Wohnungsmangel herrscht, sind<br />

die sozial schwächeren Menschen auf<br />

dem Immobilienmarkt besonders hilflos.<br />

Aufgrund dieses Befunds begannen die<br />

Auftraggeberinnen der Studie, über die<br />

Gründung einer gemeinnützigen Stiftung<br />

zu diskutieren. Mit dem Ziel, mit einem innovativen<br />

Ansatz Lösungen für Menschen<br />

mit geringen Aussichten auf eine Wohnung<br />

anzubieten. Nachdem im November<br />

2010 die Stadt Vevey und das Sozialamt<br />

des Kantons Waadt beschlossen hatten,<br />

die Stiftung Apollo zu unterstützen, konnte<br />

diese am 1. Februar 2011 ihre Tätigkeit<br />

aufnehmen. Ein Jahr später trat die<br />

Gemeinde La Tour-de-Peilz der Stiftung<br />

bei, damit auch sie ihren benachteiligten<br />

Einwohnerinnen und Einwohnern eine<br />

Betreuung für die Wohnungssuche anbieten<br />

konnte.<br />

Angebot und Zielgruppen<br />

Das Angebot von Apollo richtet sich an Personen,<br />

die keine Unterkunft haben, in einer<br />

ungeeigneten Wohnung leben oder von ei-<br />

ner Zwangsräumung bedroht sind und<br />

Schwierigkeiten haben, eine Wohnung zu<br />

finden. Der Zugang zum Angebot ist unabhängig<br />

von der Familienzusammensetzung<br />

und von den Einkommensverhältnissen.<br />

Bedingung ist allerdings, dass die Begünstigten<br />

in der Lage sind, selbständig ihren<br />

Haushalt zu führen, und dass sie sich verpflichten,<br />

sich beraten zu lassen. Eine weitergehende<br />

Betreuung ist freiwillig.<br />

Der offene Zugang zu den Leistungen ist<br />

die grösste Stärke der Stiftung und gleichzeitig<br />

ihr Markenzeichen. In so genannten<br />

«Comptoirs du logement», Workshops<br />

für die Wohnungssuche, wird den Klientinnen<br />

und Klienten unter anderem<br />

gezeigt, wie sie Zugang finden zu den verschiedenen<br />

Wohnungsangeboten im In-<br />

32 ZeSo 1/14 plattform


Bild: Keystone<br />

ternet. Sie werden unterstützt beim Ausfüllen<br />

der Mietgesuchsformulare und beim<br />

Verfassen von Bewerbungsschreiben. Ziel<br />

dieser Begleitung ist die Vermittlung von<br />

Kompetenzen, die die Fähigkeit zur Wohnungssuche<br />

stärken.<br />

Wenn es die soziale Situation erfordert<br />

und wenn parallel erfolgte Bemühungen<br />

um einen Mietvertrag auf den eigenen<br />

Namen erfolglos waren, bietet die Stiftung<br />

der betroffenen Person an, eine Wohnung<br />

auf den Namen von Apollo zu suchen. Die<br />

unterstützte Person unterzeichnet dann einen<br />

Vertrag mit der Stiftung, in dem geregelt<br />

wird, unter welchen Bedingungen die<br />

Stiftung ihr diese Wohnung für ein oder<br />

zwei Jahre zur Verfügung stellt. Die Frist<br />

kann auch verlängert werden.<br />

Apollo überwacht in der Folge die Überweisung<br />

des Mietzinses und stellt eine<br />

soziale Betreuung der Mieterinnen und<br />

Mieter sicher. Im Gegenzug verpflichten<br />

sich diese, alles zur Überwindung der Probleme,<br />

die sie an der eigenständigen Unterzeichnung<br />

eines Mietvertrags hindern,<br />

zu unternehmen. Solche Probleme sind<br />

oft Verschuldung, schlechte Einteilung des<br />

Geldes oder das Verhalten. Die Leistungen<br />

von Apollo sind kostenlos. Die Begleitung<br />

geht zu Ende, wenn sich die Mietverhältnisse<br />

der unterstützten Person stabilisiert<br />

haben und sie einen Mietvertrag auf ihren<br />

eigenen Namen unterschreiben konnte.<br />

Alle wichtigen Akteure involvieren<br />

Da die Wohnungsversorgung auch unter<br />

Fachleuten als ein echtes Problem gilt,<br />

stösst das innovative Konzept von Apollo<br />

bei Fachstellen, Politikern und Medien auf<br />

ein reges Interesse. Dies wiederum führte<br />

zur Idee, einen jährlichen Tag der Reflexion<br />

und des Austauschs und damit eine<br />

Plattform für Begegnungen zwischen den<br />

wichtigsten Akteuren im Wohnbereich zu<br />

schaffen.<br />

Am 21. November 2013 nahmen an<br />

den nun bereits «3. Assises du logement»<br />

in Montreux rund 130 Personen aus dem<br />

Sozial- und Gesundheitsbereich, aus öffentlichen<br />

Verwaltungen, aus der Politik<br />

und aus Immobilienkreisen teil. Unter<br />

dem Tagungsmotto «Die Wohnungsfrage<br />

anders denken» standen am Vormittag,<br />

der für die Berufsleute reserviert war, drei<br />

thematische Workshops auf dem Programm.<br />

Im zweiten Teil der Veranstaltung<br />

am Nachmittag wurden in Referaten die<br />

Problematik der Wohnversorgung thematisiert<br />

und Lösungen diskutiert. Die<br />

«4. Assises du logement» sind bereits in<br />

Vorbereitung. Sie finden am 27. November<br />

<strong>2014</strong> wiederum im Music and Convention<br />

Center von Montreux statt.<br />

Die Stiftung Apollo<br />

Das Team von Apollo besteht aus der Leiterin,<br />

zwei Sozialarbeitenden und einer administrativen<br />

Assistentin, die sich zusammen<br />

310 Stellenprozente teilen. Apollo empfängt<br />

rund 400 Personen oder Familien pro Jahr,<br />

die wöchentlich durchgeführten «Comptoirs<br />

du logement» werden von durchschnittlich<br />

30 Personen besucht. In den vergangenen<br />

drei Jahren haben rund hundert Personen<br />

durch die Unterstützung der Stiftung einen<br />

Mietvertrag auf ihren Namen erhalten. Aktuell<br />

werden 46 Wohnungen über auf den Namen<br />

der Stiftung gemietet. Die Mitverträge, die<br />

auf den Namen von Apollo lauten, wurden mit<br />

15 verschiedenen Immobilienverwaltungen<br />

abgeschlossen.<br />

www.fondation–apollo.ch<br />

Leider stehen nur wenige Instrumente<br />

zur Verfügung, um das in der Verfassung<br />

verankerte Recht auf Wohnen auf Gesetzesebene<br />

durchzusetzen. Die Stiftung<br />

Apollo engagiert sich mit ihren Angeboten<br />

für dieses Recht. Aktuell wird gemeinsam<br />

mit der Gemeinde Montreux ein Projekt<br />

für Gemeinschaftswohnungen abgeklärt.<br />

Angesichts der bisherigen Erfolge, der zunehmenden<br />

Anzahl Menschen, die sich an<br />

Apollo wenden, sowie der Nachfrage von<br />

Partnerorganisationen erwägt die Stiftung,<br />

ihr Angebot auszubauen und ihre Tätigkeit<br />

auf weitere Regionen des Kantons auszudehnen.<br />

<br />

•<br />

Rachèle Féret<br />

Leiterin der Stiftung Apollo<br />

plattform 1/14 ZeSo<br />

33


Lesetipps<br />

Zur sozialen Lage der<br />

Schweiz<br />

Sozialarbeit und<br />

Politik<br />

Bestandesaufnahme<br />

zum Thema Arbeit<br />

Datenschutz in der<br />

Sozialarbeit<br />

Das Caritas-Jahrbuch nimmt die<br />

soziale und wirtschaftliche Entwicklung<br />

in der Schweiz unter die Lupe.<br />

Im ersten Teil des Sozialalmanachs<br />

<strong>2014</strong> zeigt Bettina Friedrich auf,<br />

dass besonders untere Einkommensschichten<br />

und Menschen, die<br />

über 50 Jahre alt sind, kaum vom<br />

Wirtschaftswachstum profitieren. Im<br />

Gegenteil: Die Kostensteigerungen,<br />

besonders bei den Mieten, übersteigen<br />

die Lohnanstiege der unteren<br />

Einkommensklassen. Der Schwerpunktteil<br />

«Unter einem Dach»<br />

widmet sich deswegen der schweizerischen<br />

Raum- und Wohnpolitik.<br />

Die Beiträge verschiedener Autoren<br />

beleuchten die Mechanismen des<br />

Immobilienmarkts und analysieren,<br />

inwiefern sie die soziale Gerechtigkeit<br />

untergraben. Ergänzt wird der<br />

Band mit Reportagen aus dem Alltag<br />

von Menschen, die auf Wohnungssuche<br />

sind.<br />

Ein Blick auf die Geschichte der<br />

Sozialarbeit im 20. und 21. Jahrhundert<br />

zeigt, dass ihr Verhältnis zur<br />

Sozialpolitik jeweils unterschiedlich<br />

akzentuiert wurde und Pendelbewegungen<br />

zwischen expliziter<br />

Politisierung und Entpolitisierung<br />

bestehen. Gegenwärtig scheint die<br />

Sozialarbeit auf eine Repolitisierung<br />

zuzusteuern. Zunehmende soziale<br />

Ungleichheit sowie vielfältige<br />

Deprofessionalisierungs- und<br />

Abbautendenzen in der Sozialarbeit<br />

geben hierfür hinreichend Anlass.<br />

Das Buch greift diese Themen<br />

auf, indem es das Spannungsfeld<br />

zwischen Sozialarbeit, Sozialpolitik<br />

und gesellschaftlichen Problemlagen<br />

aus verschiedenen Blickwinkeln<br />

reflektiert und in Beziehung zu<br />

aktuellen Theorien und Konzepten<br />

der Sozialarbeit setzt.<br />

In den letzten Jahren wurde immer<br />

wieder das «Ende der Arbeitsgesellschaft»<br />

vorausgesagt. Dabei ist<br />

und bleibt Arbeit in den allermeisten<br />

Biografien eine zentrale Grösse: Die<br />

Mehrheit der Menschen finanziert<br />

ihren Lebensunterhalt mit Lohnoder<br />

abhängiger Auftragsarbeit. Und<br />

auch unbezahlte Arbeit wird immer<br />

unabdingbar bleiben, zum Beispiel<br />

Sorge- und Versorgungsarbeit. Das<br />

Buch des sozialkritischen Schweizer<br />

Think Tanks «Denknetz» beleuchtet<br />

aus verschiedenen Blickwinkeln,<br />

unter welchen Bedingungen heute<br />

bezahlte und nicht bezahlte Arbeit<br />

erbracht wird. Es wird aufgezeigt,<br />

wo und wie die Menschen in ihrer<br />

Arbeit «verknechtet» werden, weil<br />

der Profit und nicht der Mensch im<br />

Vordergrund steht. Im letzten Kapitel<br />

präsentiert das Buch Visionen und<br />

Forderungen zu «guter Arbeit».<br />

Sozialarbeitende benötigen in der<br />

Praxis eine Fülle an Informationen<br />

und Daten über ihre Klientinnen und<br />

Klienten und sind auf den Datenaustausch<br />

mit Behörden und Fachstellen<br />

angewiesen. Der Leitfaden, der im<br />

Auftrag des Berufsverbands Avenir<br />

Soical entstanden ist, erläutert dazu<br />

datenschutzrechtliche Grundlagen<br />

auf kantonaler und bundesrechtlicher<br />

Ebene. Weiter werden für den<br />

Praxisalltag relevante Aspekte zur<br />

Datenerhebung und -bearbeitung,<br />

Aktenverwaltung und Datenbekanntgabe<br />

ausgeführt. Die verschiedenen<br />

Praxisbeispiele sollen für eine<br />

korrekte datenschutzrechtliche<br />

Handhabung sensibilisieren. Zudem<br />

werden konkrete Empfehlungen<br />

abgegeben, wie Sozialarbeitende mit<br />

schützenswerten Personendaten<br />

umgehen können.<br />

Caritas (Hrsg.), Sozialalmanach <strong>2014</strong>,<br />

Schwerpunkt: Unter einem Dach,<br />

Caritas-Verlag, 2013, 240 Seiten, CHF 34.–<br />

ISBN: 978-3-85592-131-7<br />

Birgit Bütow, Karl August Chassé, Werner<br />

Lindner, (Hrsg.), Das Politische im<br />

Sozialen, Historische Linien und aktuelle<br />

Herausforderungen der Sozialen Arbeit,<br />

Verlag Barbara Budrich, 2013, 240 Seiten,<br />

CHF 28.–<br />

ISBN: 978-3-84740-030-1<br />

Ruth Gurny, Ueli Tecklenburg (Hrsg.),<br />

Arbeit ohne Knechtschaft, Bestandesaufnahmen<br />

und Forderungen rund ums<br />

Thema Arbeit, Edition 8, 370 Seiten,<br />

CHF 29.–<br />

ISBN: 978-3-85990-189-6<br />

Peter Mösch Payot, Kurt Pärli, Datenschutz<br />

in der Sozialen Arbeit. Eine<br />

Praxishilfe zum Umgang mit sensiblen<br />

Personendaten, Avenir Social (Hrsg.),<br />

35 Seiten, CHF 14.–<br />

Bezug über www.avenirsocial.ch<br />

34 ZeSo 1/14 service


RATGEber zum neuen<br />

Sorgerecht<br />

In der Schweiz wird ab 1. Juli <strong>2014</strong><br />

das gemeinsame Sorgerecht für<br />

alle Eltern – ob ledig, verheiratet,<br />

getrennt oder geschieden – zum<br />

Regelfall. Dieses Buch informiert<br />

sowohl Fachleute als auch Eltern über<br />

das neue Gesetz und seine Konsequenzen.<br />

Expertinnen und Experten<br />

verweisen auf Aspekte, die ihnen<br />

wichtig erscheinen: Wie kann die<br />

gemeinsame elterliche Sorge – insbesondere<br />

nach einer Trennung oder<br />

Scheidung – funktionieren? Welche<br />

Voraussetzungen braucht es dazu auf<br />

Seiten der Eltern, der Behörden und<br />

der Gesellschaft? Und welche Voraussetzungen<br />

sind nötig, damit<br />

Kinder eine Trennung unbeschadet<br />

überstehen? Ergänzend berichten<br />

Elternpaare, wie es ihnen trotz ihrer<br />

Trennung gelingt, einvernehmlich für<br />

die gemeinsamen Kinder zu sorgen.<br />

Im Anhang finden sich Hinweise auf<br />

konkrete Interventionsprojekte sowie<br />

nützliche Adressen und Links.<br />

Margret Bürgisser, Gemeinsam Eltern<br />

bleiben – trotz Trennung oder Scheidung.<br />

Mit Informationen zum neuen Sorgerecht,<br />

Hep-Verlag, <strong>2014</strong>, 290 Seiten, CHF 39.–<br />

ISBN: 978-3-0355-0077-6<br />

Lebenslange<br />

Bildung<br />

Das Buch der Schweizer Bildungsexpertin<br />

Margrit Stamm versammelt<br />

eine Auswahl ihrer wichtigsten<br />

Veröffentlichungen zu Themenbereichen<br />

wie frühkindliche Bildung,<br />

Schuleintritt und Schulschwänzen<br />

sowie zu Fragen der Berufsbildung,<br />

späten Potenzialen oder zur Bedeutung<br />

der Familie für den Schul- und<br />

Lebenserfolg. Basierend auf dem<br />

Gedanken, dass Entwicklung von<br />

der Geburt bis zum Tod stattfindet,<br />

wird die Bildungsforschung zudem<br />

anhand entwicklungspsychologisch<br />

relevanter Stationen in einer Lebensspannenperspektive<br />

verortet. Die<br />

Autorin hat die Textsammlung mit<br />

einführenden Texten zu allen Kapiteln<br />

erweitert. Das Buch richtet sich<br />

an Lehrerinnen und Lehrer, Eltern<br />

sowie an ein breites, interessiertes<br />

Publikum.<br />

Margrit Stamm, Entwicklung ohne Ende.<br />

Wie sie Bildungswege und Lernstufen<br />

beeinflusst, Rüegger-Verlag, 300 Seiten,<br />

CHF 35.–<br />

ISBN: 978-3-7253-1009-8<br />

veranstaltungen<br />

Tagung zu Gesundheit und Armut<br />

Gesundheit und Armut stehen in vielfältigen Zusammenhängen:<br />

Finanziell benachteiligte Menschen haben ein höheres Risiko<br />

zu erkranken. Erwerbslosigkeit kann zu Gesundheitsproblemen<br />

führen, Gesundheitsprobleme können aber auch Erwerbslosigkeit<br />

verursachen. An der Schnittstelle von Gesundheit und<br />

Armut stellen sich somit zahlreiche Herausforderungen für die<br />

Gesellschaft und die Politik, die an der Tagung aus unterschiedlichen<br />

Blickwinkeln untersucht werden. Die Veranstaltung der<br />

Berner Fachhochschule wird in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt<br />

für Gesundheit, der Stadt Bern, dem Schweizerischen<br />

Roten Kreuz, der Caritas und der SKOS durchgeführt.<br />

Tagung «Gesundheit & Armut – ungleich gesund»<br />

Freitag, 9. Mai <strong>2014</strong>, Sorell Hotel Ador Bern<br />

www.soziale-arbeit.bfh.ch<br />

Neuerungen im Kindesschutz<br />

Die Tagung der Hochschule Luzern nimmt die aktuelle Diskussion<br />

rund um die Schnittstellen zwischen Kindes- und Erwachsenenschutz<br />

sowie Sozialhilfe auf. Die neuen Bestimmungen<br />

zum gemeinsamen Sorgerecht und zum Unterhaltsrecht werden<br />

vorgestellt, Herausforderungen und Chancen benannt und die<br />

Auswirkungen auf die Sozialhilfe und die Organe des Kindesund<br />

Erwachsenenschutzes diskutiert. Abgeschlossen wird die<br />

Tagung mit einem Blick in die Zukunft: Welches sind die Perspektiven<br />

und Prognosen im Kindesschutz?<br />

Luzerner Tagung zum Kindes- und Erwachsenenschutzrecht:<br />

Schnittstellen zur Sozialhilfe und Neuerungen im Kindesschutz<br />

Mittwoch, 14. Mai <strong>2014</strong>, Hochschule Luzern<br />

www.hslu.ch/fachtagung-kes<br />

Herausforderung Hochaltrigkeit<br />

Der öffentliche Diskurs zum hohen Alter wird von Krisenszenarien<br />

zur Finanzierung der Altersvorsoge und der Pflegekosten<br />

geprägt. Das erstaunt nicht: Demographische Schätzungen<br />

gehen davon aus, dass sich der Anteil von Menschen über 80<br />

in der Schweiz bis 2060 verdreifachen und auf mehr als eine<br />

Million Menschen anwachsen wird. Es stellt sich die Frage, wie<br />

die Gesellschaft die vorhandenen Ressourcen verteilt, damit<br />

Menschen aller Altersstufen ein gutes Auskommen haben. An<br />

der nationalen Fachtagung von Pro Senectute werden diese<br />

und weitere Fragestellungen rund um das Thema Hochaltrigkeit<br />

thematisiert und Lösungsansätze diskutiert.<br />

Nationale Fachtagung: «Über 80 – unterschätzt?»<br />

Donnerstag, 15. Mai <strong>2014</strong>, Kongresshaus Biel<br />

www.pro-senectute.ch/nf<strong>2014</strong><br />

service 1/14 ZeSo<br />

35


Schwester Agnes, Lehrerin in Tansania: «Solange ich gesund bin, werde ich mein Wissen weitergeben.» <br />

Bild: Ursula Markus<br />

Die Missionarin<br />

Schwester Agnes Schneider unterrichtet auch mit 74 Jahren noch an der St. Martins Girls Secondary<br />

School in ihrem Geburtsland Tansania. Sie hat eine Mission: Junge Frauen durch Bildung vor Aids und<br />

Drogen bewahren.<br />

Sie ist auf Heimaturlaub in ihrem Stammkloster<br />

Baldegg im luzernischen Seetal.<br />

Eine Operation des grauen Stars war nötig<br />

geworden. «Alles gut gegangen, nur noch<br />

ein kleines Fremdkörpergefühl im Auge»,<br />

sagt sie. Sister Agnes ist zierlich. Und zäh.<br />

Ihre Schule liegt in Mbingu, 550 Kilometer<br />

von Dar es Salaam entfernt – eine Tagesreise<br />

im Bus, auf schlechten Strassen.<br />

Rund dreihundert junge Frauen zwischen<br />

14 und 18 Jahren besuchen in St. Martins<br />

die vierjährige Secondary School, Schlüssel<br />

zu allen weiterführenden Schulen und Ausbildungen.<br />

Sie hat Foto-CDs mitgebracht: Strahlende<br />

junge Frauen an winzigen Pulten sitzend,<br />

auf einfachen Schlafmatten liegend<br />

oder ihren Schul-Lunch geniessend. Nahrung<br />

und sauberes Wasser sind kostbar.<br />

Die Eltern der Schülerinnen, Kleinbauern,<br />

seien «very very very poor», sagt Schwester<br />

Agnes. Sie unterrichtet Englisch, beaufsichtigt<br />

die Schülerinnen aber auch beim<br />

Putzen oder Abfallauflesen. Sie sollen<br />

«Cleanliness» lernen, doch es geht ihr um<br />

mehr. Da die Eltern kaum Schulgeld zahlen<br />

können, sucht Schwester Agnes Spendengelder,<br />

damit die Mädchen möglichst<br />

lange an ihrer Schule bleiben können.<br />

Und sich nicht mit Aids infizieren, keine<br />

Drogen nehmen oder in die Prostitution<br />

geraten. «Schule», sagt die Pädagogin mit<br />

blitzenden Augen, «stärkt das Selbstbewusstsein.<br />

Früher zählten Mädchen hier<br />

nichts.»<br />

Auch sie selber hat eine bewegte Biographie.<br />

1939 kommt sie als Tochter eines<br />

deutschen Vaters und einer tansanischen<br />

Mutter im damaligen Tanganjika zur Welt.<br />

Der Vater muss zurück nach Deutschland,<br />

die Mutter kann ihr Kind nicht stillen, es<br />

wächst in einem Kinderheim der Baldegger<br />

Schwestern auf. Viel später erst wird<br />

die junge Frau ihre Eltern wiederfinden.<br />

Rückkehr nach Tansania<br />

Inzwischen waren die Schweizer Nonnen<br />

für das Mädchen zu Heldinnen geworden.<br />

«Sie halfen anderen. Das war mein Weg.<br />

Kein anderer!», sagt die Vierundsiebzigjährige<br />

mit unerwarteter Heftigkeit. Die junge<br />

Frau lässt sich zur Lehrerin ausbilden. Mit<br />

vierundzwanzig kann sie nach Baldegg<br />

reisen, um Ordensschwester zu werden.<br />

Endlich! Es ist minus 24 Grad kalt. Ihren<br />

Wunsch, sofort als Missionarin nach Tansania<br />

zurückzukehren, muss sie auf Eis legen.<br />

Sie leidet an einer Knochenmarkstörung<br />

und muss operiert werden. Afrika,<br />

sagen die Ärzte, ist noch nicht für dich.<br />

Volle 32 Jahre unterrichtet Schwester<br />

Agnes im Lehrerinnenseminar Baldegg.<br />

«Dann, 2004, mit fünfdundsechzig, durfte<br />

ich endlich nach Tansania zurück», sagt<br />

sie. Und lächelt. Dass jemand aus der «sehr<br />

reichen, sehr friedlichen Schweiz» nach<br />

Afrika zurückkommt, ist für ihre Schülerinnen<br />

schwer verständlich. «Die Mädchen<br />

glauben, alle Weissen seien steinreich. Wie<br />

sonst könnten sie in Tansania den <strong>ganz</strong>en<br />

Tag am Strand liegen?» Schwester Agnes<br />

antwortet ihnen, die Weissen hätten für<br />

ihre Ferien gespart, und überhaupt arbeite<br />

man in Europa hart und trage Sorge zur<br />

Umwelt. Diese Arbeitshaltung sei es wert,<br />

kopiert zu werden. Einige ihrer früheren<br />

Schülerinnen, erzählt sie mit Stolz, studierten<br />

inzwischen Medizin oder Sozialarbeit.<br />

Was entgegnet sie Schweizern, die sagen,<br />

Afrikaner seien faul und kämen nur<br />

hierher, um vom Sozialstaat zu profitieren?<br />

«Das», antwortet sie lächelnd, «ist<br />

euer Vorurteil. Ich begegne nur sehr selten<br />

faulen schwarzen Leuten, schon gar nicht<br />

Frauen.» In ein paar Tagen fliegt Schwester<br />

Agnes zurück nach Tansania. Was möchte<br />

sie in ihrem Leben noch erreichen, persönlich?<br />

«Für mich?», fragt sie mit grossen<br />

Augen zurück. Und fügt bei, sie sei Ordensfrau,<br />

habe das zu tun, was Gott von ihr<br />

verlange. «Solange ich gesund bin, werde<br />

ich mein Wissen weitergeben. Ich habe<br />

eine Mission dort.» Es klingt tatsächlich<br />

wie ein Gelöbnis.<br />

•<br />

Paula Lanfranconi<br />

36 ZeSo 1/14 porträt


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Neu erungen im Kindesschutz (14. Mai <strong>2014</strong>)<br />

Weitere Informationen unter www.hslu.ch/weiterbildung-sozialearbeit<br />

Immer aktuell informiert: www.hslu.ch/newsletter-sozialearbeit<br />

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Der MAS besteht aus drei Zertifikatslehrgängen<br />

(CAS), die auch einzeln besucht werden können:<br />

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• CAS Sozialmanagement, Oktober <strong>2014</strong><br />

• CAS Führung im Kontext des psychosozialen<br />

Bereichs, April 2015<br />

MAS in Social Informatics<br />

Der MAS besteht aus drei Zertifikatslehrgängen<br />

(CAS), die auch einzeln oder in Modulen als Seminare<br />

besucht werden können:<br />

• CAS Medienpädagogik, 22. April <strong>2014</strong><br />

• CAS Online Services, 9. Mai <strong>2014</strong><br />

• CAS Informatik-Projektleitung, auf Anfrage<br />

CERTIFICATE OF ADVANCED STUDIES (CAS)<br />

• CAS Schulsozialarbeit, 2. Mai <strong>2014</strong><br />

• CAS Supported Employment, 14. August <strong>2014</strong><br />

• CAS Leiten von Teams, 21. August <strong>2014</strong><br />

• CAS Beratungs-Training, 3. September <strong>2014</strong><br />

• CAS Sozialpädagogische Familienbegleitung,<br />

September <strong>2014</strong><br />

• CAS Coaching, 30. Oktober <strong>2014</strong><br />

SEMINARE<br />

• Fachseminar Praxisausbildung,<br />

17. September <strong>2014</strong><br />

• Querdenken, Herbst <strong>2014</strong><br />

• Elternaktivierung, Herbst/Winter <strong>2014</strong><br />

• Erwachsenenschutzrecht, auf Anfrage<br />

• Trainingswerkstatt Konfliktvermittlung,<br />

auf Anfrage<br />

Details zu diesen und weiteren Angeboten unter www.fhsg.ch/weiterbildung<br />

FHS St.Gallen, Weiterbildungszentrum WBZ-FHS, Rosenbergstrasse 59, 9000 St.Gallen<br />

+41 71 226 12 50, weiterbildung@fhsg.ch<br />

FHO Fachhochschule Ostschweiz www.fhsg.ch

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