ZESO_1-2014_ganz
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SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
<strong>ZESO</strong><br />
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE<br />
01/14<br />
GESUNDHEIT DIE GESUNDHEITSCHANCEN SIND AUCH IN DER SCHWEIZ UNGLEICH<br />
VERTEILT 15 JAHRE SKOS-PRÄSIDENT ABSCHIEDSGESPRÄCH MIT WALTER SCHMID<br />
WOHNUNGSSUCHE DIE STIFTUNG APOLLO HILFT MENSCHEN IN SCHWIERIGEN SITUATIONEN
SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
SKOS-Mitgliederversammlung<br />
Soziale Gerechtigkeit<br />
22. Mai <strong>2014</strong> im Verkehrshaus Luzern<br />
Soziale Gerechtigkeit ist als gesellschaftlicher Anspruch unbestritten. Wie die Güterverteilung aussehen<br />
und soziale Gerechtigkeit erreicht werden sollen, muss ausgehandelt werden. Verschiedene Kräfte und<br />
Interessen wirken auf diesen Prozess ein. Sozialhilfe trägt wesentlich zum sozialen Ausgleich bei.<br />
Die Mitgliederversammlung der SKOS setzt sich mit wirtschaftsethischen, politischen und medialen<br />
Aspekten der sozialen Gerechtigkeit auseinander und diskutiert, wie soziale Gerechtigkeit in der heutigen<br />
Zeit erreicht werden kann. Gastreferenten sind Roger de Weck, Florian Wettstein und Andreas Gross.<br />
Programm und Anmeldung: www.skos.ch Veranstaltungen<br />
SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
Rechtsberatung für SKOS-Mitglieder<br />
Die Soziale Arbeit ist stark auf juristisches Wissen angewiesen. Viele Fragen können nur von Expertinnen<br />
und Experten beantwortet werden. Die SKOS ermöglicht ihren Mitgliedern einen privilegierten Zugang zum<br />
Beratungszentrum der Zeitschrift «Beobachter». Dieses gibt kompetent und umfassend Auskunft zu<br />
Rechtsfragen, die sich in der Praxis der Sozialen Arbeit stellen.<br />
SKOS-Mitgliedern stehen folgende Dienstleistungen des «Beobachters» zur Verfügung:<br />
- Rechtsberatung per E-Mail und Telefon (Montag bis Freitag)<br />
- Dossierstudium<br />
- Zugriff auf die Beratungsplattform HelpOnline.ch rund um die Uhr<br />
- Abonnement der Zeitschriften «Beobachter» und «Beobachter Natur»<br />
Ab 660 Franken pro Jahr, je nach Anzahl Mitarbeitende und gewünschter Beratungsleistung<br />
Jetzt bestellen: www.skos.ch Sozialhilfe und Praxis Dienstleistungen
Michael Fritschi<br />
Verantwortlicher Redaktor<br />
«Gesundheit!»<br />
«Gesundheit!» wünschen wir dem Gegenüber, das eben<br />
unüberhörbar geniest hat. Aber weshalb tun wir das<br />
eigentlich? Es wurde doch ziemlich sicher nur von einem<br />
herumfliegenden Staubkorn oder von einem verirrten<br />
Sonnenstrahl kurz an der Nase gekitzelt? Ein unmittelbares<br />
Risiko, dass die Person erkrankt, besteht jedenfalls<br />
kaum. Dieses Risiko betrifft viel eher Menschen, die in<br />
prekären Verhältnissen leben müssen und deren Gesundheitschancen<br />
durch Mangelversorgung beeinträchtigt<br />
werden.<br />
Der Schwerpunkt dieser Zeso-Nummer beschreibt, wie<br />
Armut das Risiko erhöht, krank zu werden, und weshalb<br />
kranke Menschen einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt<br />
sind: Wer wenig Geld hat, spart bei den Gesundheitsleistungen.<br />
Wer ein Bildungsmanko hat, läuft Gefahr, dass<br />
sie oder er Gesundheitsinformationen nicht zum eigenen<br />
Vorteil zu deuten und zu nutzen weiss. Dadurch werden<br />
Handlungsspielräume eingeschränkt, und die Wahrscheinlichkeit,<br />
in Armut und Krankheit – beispielsweise in<br />
schlechter psychischer Verfassung – zu verharren, wächst.<br />
Viel eher sollten wir diesen Menschen «gute Gesundheit!»<br />
zurufen. Denn eine gute Gesundheit ist eine entscheidende<br />
Lebensqualität und auch eine zentrale Voraussetzung für<br />
die Integration in den Arbeitsmarkt.<br />
Auf einer <strong>ganz</strong> anderen Ebene spielt sich in den kommenden<br />
Monaten der bereits angekündigte Wechsel an der<br />
Verbandsspitze der SKOS ab. Im <strong>ZESO</strong>-Interview reflektiert<br />
Walter Schmid, der im Mai sein Amt als Präsident der SKOS<br />
niederlegt, die Chancen und Risiken unseres Verbands,<br />
der zweckgebunden in einem von der Gesellschaft nicht<br />
sonderlich geliebten Spannungsfeld tätig ist. Ich wünsche<br />
Ihnen eine anregende Lektüre.<br />
editorial 1/14 ZeSo<br />
1
SCHWERPUNKT16–27<br />
gESUNDHEIT<br />
Armut macht krank, und soziale Einschränkungen<br />
führen zu gesundheitlichen Belastungen. Ein geringer<br />
Sozialstatus wird so zum Gesundheitsrisiko.<br />
Das Problem wird akzentuiert, wenn Ärzte wenig<br />
Kenntnis über die Zusammenhänge der Armutsproblematik<br />
haben, und Sozialversicherungen der<br />
psychischen Verfassung ihrer Klientinnen und<br />
Klienten zu wenig Aufmerksamkeit schenken.<br />
Durch besser abgestimmte Hilfen könnten mehr<br />
Personen mit psychischen Problemen im Arbeitsmarkt<br />
gehalten werden.<br />
<strong>ZESO</strong> zeitschrift für sozialhilfe<br />
Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />
www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS,<br />
Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch,<br />
Tel. 031 326 19 19 Redaktion Michael Fritschi Redaktionelle<br />
begleitung Dorothee Guggisberg Autorinnen und Autoren<br />
in dieser Ausgabe Niklas Baer, Franziska Ehrler, Rachèle Féret,<br />
Bettina Fredrich, Regine Gerber, Paula Lanfranconi, Lucrezia Meier-<br />
Schatz, Markus Morger, Daniela Moro, Rahel Müller de Menezes,<br />
Christian Rupp, Emine Sariaslan, Margrit Schmid, Simon Steger,<br />
Martin Wild-Näf, Hans Wolff Titelbild Rudolf Steiner layout<br />
mbdesign Zürich, Marco Bernet Korrektorat Peter Brand<br />
Druck und Aboverwaltung Rub Media AG, Postfach, 3001 Bern,<br />
zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 preise Jahresabonnement<br />
Inland CHF 82.– (für SKOS-Mitglieder CHF 69.–),<br />
Abonnement ausland CHF 120.–, Einzelnummer CHF 25.–.<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN 1422-0636 / 111. Jahrgang<br />
Bild: Keystone<br />
Erscheinungsdatum: 10. März <strong>2014</strong><br />
Die nächste Ausgabe erscheint im Juni <strong>2014</strong>.<br />
2 ZeSo 1/14 inhalt
INHALT<br />
5 Nach wie vor hoher Handlungsbedarf<br />
in der Familienpolitik. Kommentar<br />
von Lucrezia Meier-Schatz<br />
6 13 Fragen an Margrit Schmid<br />
8 Die Besteuerung von Sozialhilfeleistungen<br />
schafft neue Probleme<br />
10 Praxis: Unregelmässige Einkommen<br />
– wann ist die Soziahilfeablösung<br />
möglich?<br />
11 Frühe Förderung zahlt sich aus<br />
12 «Das Eröffnen von Perspektiven<br />
ist das A und O jeder Hilfe»: Interview<br />
zum Rücktritt von Walter Schmid<br />
16 SCHWERPUNKT: gesundheit<br />
18 Armut und Unterversorgung schaden<br />
der Gesundheit<br />
21 Migrantenvereine als Plattform für die<br />
Anliegen der Gesundheitsförderung<br />
22 Psychische Krankheit und Armut<br />
sind eng miteinander verbunden<br />
24 Informationslücken an der Schnittstelle<br />
von medizinischer und sozialer<br />
Tätigkeit<br />
26 Freiwillige leisten Unterstützung bei<br />
der Bewältigung des Alltags<br />
Die verlegerin<br />
Der sozialhilfepromotor<br />
die milizsozialberater<br />
Margrit Schmid ist Verlagsleiterin des<br />
Schweizerischen Jugendschriftenwerks<br />
(SJW), das Kindern und Jugendlichen<br />
Literatur in allen vier Landessprachen<br />
bietet. Sie ist auch als Dokumentarfilmerin<br />
und Ausstellungsmacherin tätig.<br />
6<br />
Im Mai tritt SKOS-Präsident Walter Schmid<br />
nach 15 Jahren engagiertem Einsatz von<br />
seinem Amt zurück. Die SKOS nehme<br />
in einem sehr schwierigen Politikfeld<br />
eine Brückenbauerfunktion ein, sagt er<br />
im Interview, und blickt auf kommende<br />
Herausforderungen für den Verband und die<br />
Sozialhilfe.<br />
12<br />
Die Büros des Armeesozialdienstes<br />
lassen einen militärischen Kontext kaum<br />
erahnen. Hier werden die Einsätze der<br />
26 Milizsozialberater koordiniert, die im<br />
Rahmen ihres Militärdienstes Beratungen in<br />
den Rekrutenschulen durchführen.<br />
28 Professionelle Sozialarbeit bedingt<br />
flexible Vorgehensweisen<br />
30 Reportage: Wenn in der Rekrutenschule<br />
das Geld ausgeht<br />
32 Plattform: Die Stiftung Apollo hilft<br />
Benachteiligten bei der Wohnungssuche<br />
34 Lesetipps und Veranstaltungen<br />
36 Porträt: Schwester Agnes Schneider,<br />
Lehrerin in Tansania<br />
Die Missionarin<br />
30<br />
Schwester Agnes Schneider unterrichtet<br />
auch mit 74 Jahren noch an der St. Martins<br />
Girls Secondary School in Tansania. Sie hat<br />
eine Mission: Junge Frauen durch Bildung<br />
vor Aids und Drogen bewahren.<br />
36<br />
inhalt 1/14 ZeSo<br />
3
NACHRICHTEN<br />
Die Sozialhilfequote blieb<br />
2012 stabil<br />
Die Sozialhilfestatistik 2012 zeigt einen anhaltenden<br />
Trend: Im Jahr 2012 wurden in der<br />
Schweiz rund 250 000 Personen mit Sozialhilfeleistungen<br />
unterstützt, das sind 14 000<br />
mehr als im Vorjahr. Die Zunahme ist auf<br />
das allgemeine Bevölkerungswachtum in<br />
der Schweiz zurückzuführen. Sie weist aber<br />
auch darauf hin, dass die Fallzahlen in der<br />
Sozialhilfe abhängig von Revisionen in den<br />
vorgelagerten Leistungssystemen sind und<br />
dass sie unabhängig von der Konjunkturlage<br />
steigen. Nach wie vor stabil ist Sozialhilfequote<br />
mit 3,1 Prozent im Jahr 2012. In<br />
den Vorjahren hatte sie jeweils 3,0 Prozent<br />
betragen.<br />
Bestandesaufnahme zur<br />
IIZ in der Schweiz<br />
Das Bundesamt für Sozialversicherungen<br />
und das Staatssekretariat für Wirtschaft<br />
haben eine Studie zur interinstitutionellen<br />
Zusammenarbeit (IIZ) veröffentlicht. Sie<br />
soll dazu dienen, die Weiterentwicklung der<br />
IIZ auf gesamtschweizerischer Ebene zu<br />
steuern und den Austausch zwischen den<br />
Kantonen sowie die Verbreitung von Good<br />
Practices zu fördern. Aus der Studie resultieren<br />
die Empfehlungen, die Definition der<br />
IIZ auf nationaler Ebene zu vereinheitlichen<br />
und Expertenpools aufzubauen. Die bilaterale<br />
Zusammenarbeit soll gefördert und<br />
die regelmässigen Treffen zwischen den<br />
nationalen IIZ-Verantwortlichen und den<br />
kantonalen Partnern sollen weitergeführt<br />
werden. Zudem wird empfohlen, die Hürden<br />
bei der Anmeldung von IIZ-Fällen zu senken<br />
und den Informationsaustausch zu vereinfachen.<br />
Die Umsetzung verschiedener Empfehlungen<br />
ist bereits im Gang.<br />
Die SKOS hat eine neue<br />
Website<br />
Informativer, benutzerfreundlicher, moderner:<br />
Mit dieser Zielsetzung wurde im Lauf<br />
des letzten Jahres die neue SKOS-Website<br />
entwickelt und am 1. Januar in Betrieb<br />
genommen. Sie bietet mehr aktuelle Informationen<br />
sowie Themendossiers, die eine<br />
praktische Bündelung der Inhalte ermöglichen<br />
– derzeit zu den Themen «Arbeit»,<br />
«Bildung», «Familie» und «soziale Sicherheit».<br />
Spezifisches Fachwissen kann nun<br />
auch über eine Suchfunktion erschlossen<br />
werden, und auch der Webshop erscheint<br />
in neuer Aufmachung. Der Premium-Bereich<br />
für die SKOS-Mitglieder heisst neu «Mitgliederbereich».<br />
4 ZeSo 1/14 aktuell<br />
Viele IV-Rentnerinnen und -Rentner waren lange Zeit auf Sozialhilfe angewiesen. <br />
3 von 10 neuen IV-Rentenbeziehenden<br />
wurden von der Sozialhilfe unterstützt<br />
Eine Studie des Bundesamts für Sozialversicherungen<br />
stellt fest, dass rund ein Drittel<br />
aller neuen Bezügerinnen und Bezüger von<br />
IV-Renten in den fünf Jahren zuvor Sozialhilfe<br />
bezogen hat. Im Durchschnitt wurden<br />
diese Personen während zweieinhalb Jahren<br />
von der Sozialhilfe unterstützt. Diejenigen<br />
unter ihnen, die vor dem Sozialhilfebezug<br />
kein Anrecht auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung<br />
hatten, wurden<br />
durchschnittlich sogar während dreieinhalb<br />
Jahren unterstützt. Insgesamt haben<br />
mehr IV-Neurentner und -Neurentnerinnen<br />
Leistungen der Sozialhilfe bezogen als von<br />
der Arbeitslosenversicherung. Insbesondere<br />
Personen mit psychischen Krankheiten<br />
haben vor dem IV-Rentenbezug Sozialhilfe<br />
bezogen. Jeder siebte IV-Neurentenbeziehende<br />
wurde zudem vorher als Working<br />
Poor ergänzend mit Sozialhilfe unterstützt.<br />
Dass die Sozialhilfe eine wichtige Überbrückungsfunktion<br />
zur IV übernimmt, ist<br />
bekannt. Die festgestellte Anzahl der Fälle<br />
und die langen Unterstützungszeiträume<br />
werfen für die SKOS aber Fragen auf. Um<br />
die Schnittstelle zwischen Sozialhilfe und<br />
IV besser beurteilen zu können, sind zusätzliche<br />
Informationen zum Verlauf des<br />
Gesundheitszustands während des Sozialhilfebezugs<br />
und Erklärungen für die<br />
lange Unterstützungsdauer notwendig.<br />
Die Ergebnisse der Studie zeigen auch,<br />
dass eine gut funktionierende interinstitutionelle<br />
Zusammenarbeit und eine <strong>ganz</strong>heitliche<br />
Sicht auf das System der sozialen<br />
Sicherheit unabdingbar sind. •<br />
<br />
OECD-Bericht zum Thema «Psychische<br />
Gesundheit und Arbeit» in der Schweiz<br />
In der Schweiz wird zu wenig getan, um die<br />
Erwerbsbeteiligung von Menschen mit psychischen<br />
Beeinträchtigungen zu erhalten.<br />
Dies schreibt die Organisation für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit und Entwicklung<br />
(OECD) im Bericht «Psychische Gesundheit<br />
und Arbeit: Schweiz». Die OECD empfiehlt,<br />
das Krankheitsmonitoring und die Präventionsmassnahmen<br />
am Arbeitsplatz zu verstärken.<br />
Zudem müsse die Invalidenversicherung<br />
die Arbeitgeber stärker einbeziehen, damit<br />
die Frühintervention besser funktioniere.<br />
Weiter soll der Leistungsumfang der regionalen<br />
Arbeitsvermittlungszentren (RAV) erweitert<br />
werden, um eine Ausrichtung auf<br />
Klientinnen und Klienten mit psychischen<br />
Erkrankungen zu ermöglichen. Auch die<br />
Sozialhilfe müsse ihre Kapazitäten für den<br />
Umgang mit Personen mit psychischen<br />
Problemen stärken. Und es sei unerlässlich,<br />
dass das Gesundheitswesen zum gleichwertigen<br />
IIZ-Partner werde. Mehr zum Thema<br />
«Psychische Gesundheit und Arbeit» im<br />
Schwerpunkt (ab S. 16).<br />
•<br />
<br />
Bild: Keystone
KOMMENTAR<br />
Nach wie vor hoher Handlungsbedarf in der Familienpolitik<br />
Vor zwanzig Jahren rief die UNO das<br />
Internationale Jahr der Familie ins Leben.<br />
Erinnerungen an die Anstrengungen, die im<br />
Zuge der damaligen Formulierung von familienorientierten<br />
Grundsätzen unternommen<br />
wurden, werden wach. Die von Pro Familia<br />
Schweiz ins Leben gerufene Nationale<br />
Kommission für das Internationale Jahr<br />
der Familie hatte den Schwerpunkt auf die<br />
Anerkennung der Leistungen der Familien<br />
gelegt und forderte die Schaffung einer<br />
eidgenössischen Kommission für Familienfragen.<br />
Pro Familia ihrerseits war mit einer<br />
Wanderausstellung in allen Landesteilen<br />
präsent und legte die Schwerpunkte auf<br />
die Anerkennung der Vielfalt der Familienformen<br />
und auf die Förderung der Vereinbarkeit<br />
von Beruf und Familie.<br />
Zwanzig Jahre später sind wir einen kleinen,<br />
bescheidenen Schritt weiter. Zwischenzeitlich<br />
wurde 1995 die Eidgenössische<br />
Koordinationskommission für Familienfragen<br />
EKFF als beratendes Organ des Bundesrats<br />
eingesetzt. Der Bund publizierte,<br />
nach 1981, im Jahr 2004 endlich den<br />
2. Familienbericht. Die Familienpolitik ist<br />
mittlerweile nicht nur auf kantonaler, sondern<br />
auch auf Bundesebene Gegenstand<br />
der politischen Auseinandersetzungen. Und<br />
doch bleibt viel zu tun!<br />
Für die Begehung des 20. Jubiläums des<br />
Internationalen Jahres der Familie legen<br />
die Vereinten Nationen den Schwerpunkt<br />
auf die Förderung der Familienpolitik. Die<br />
europäischen Staaten ihrerseits wie auch<br />
Pro Familia Schweiz – die offizielle Schweiz<br />
verzichtet auf die Begehung dieses Jubiläums<br />
– bearbeiten weiterhin das Thema der<br />
Vereinbarkeit, denn es braucht noch viel<br />
mehr Anstrengungen, um die Schaffung<br />
eines Gleichgewichts zwischen Familie<br />
und Beruf zu erreichen. Die familienpolitischen<br />
Herausforderungen sind zahlreich:<br />
Entwicklung und Begleitung der Kinder,<br />
wandelnde Wahrnehmung der Rolle des<br />
Vaters, Forderung nach höherer Erwerbsquote<br />
der Frauen, wachsende Familienarmut<br />
und langsame Erosion eines Teils<br />
des Mittelstands und damit die wirtschaftliche<br />
Absicherung der Familie, Folgen der<br />
älter werdenden Gesellschaft und Verfügbarkeit<br />
der pflegenden Angehörigen.<br />
Die sozio-ökonomischen und soziodemographischen<br />
Veränderungen sind<br />
für Familien enorm herausfordernd und<br />
verlangen ein Mitdenken und Mitgestalten,<br />
sowohl von der Gesellschaft als auch von<br />
der Wirtschaft. Denn um ihre innerfamiliären<br />
und gesellschaftlichen Leistungen zu<br />
erbringen, brauchen Familien vor allem drei<br />
Dinge: Zeit, Geld und Infrastrukturen. Die<br />
Unterstützung ist nach wie vor lückenhaft<br />
und bleibt ungenügend. Es braucht bessere<br />
Rahmenbedingungen, die es Familien<br />
endlich ermöglichen, alles unter einen<br />
Hut zu kriegen. Es braucht Einsichten und<br />
Aussichten und schliesslich den Mut zur<br />
Veränderung, um sich dem Alltag der Familien<br />
anzunähern.<br />
Lucrezia Meier-Schatz<br />
Geschäftsführerin Pro Familia Schweiz<br />
aktuell 1/14 ZeSo<br />
5
13 Fragen an Margrit Schmid<br />
1<br />
2<br />
3<br />
Sind Sie eher arm oder eher reich?<br />
Arm und reich sein ist relativ, auch in Bezug auf<br />
Geld. Meine Urgrossmutter besass davon wenig, im<br />
Vergleich zu ihr bin ich eher reich. Sie besass aber<br />
einen grossen Bauerngarten, in dem sie Lauch,<br />
Kabis, Salat, Beeren, Kräuter und vieles mehr ernten<br />
und die schönsten Blumen pflücken konnte. Diesbezüglich<br />
bin ich im Vergleich zu meiner Urgrossmutter<br />
sehr arm. Und im Vergleich zu den 300 Schweizer<br />
Milliardären bin ich eine arme Kirchenmaus.<br />
Was empfinden Sie als besonders ungerecht?<br />
Bevorzugung oder Diskriminierung aufgrund<br />
der sozialen Herkunft und Stellung, der Hautfarbe,<br />
der Religion, des Alters, einer Behinderung oder des<br />
Geschlechts. Besonders ungerecht ist auch, wenn<br />
der Zugang zu Wissen verhindert wird, wenn Kinder<br />
unterschätzt, unterfordert und überbehütet werden.<br />
Glauben Sie an die Chancengleichheit?<br />
Ich unterstütze Chancengleichheit, die es allerdings<br />
– ähnlich wie Freiheit – nie zu hundert Prozent<br />
geben wird. Sie kann höchstens angestrebt<br />
und immer wieder neu erprobt werden. Es gibt<br />
Menschen, die glauben, ihr Schicksal liege in den<br />
Händen Gottes und alles sei bereits bei der Geburt<br />
festgelegt. Dies war in Europa teilweise bis ins<br />
20. Jahrhundert zu beobachten. Heute lernen wir,<br />
dass mit Wille und Eigenleistung oder gar mit Gewalt<br />
versucht werden kann, Chancengleichheit und<br />
Gerechtigkeit zu erreichen und durchzusetzen. Wir<br />
Menschen haben die Fähigkeit, Chancenungleichheit<br />
und damit auch Ungerechtigkeit zu erkennen.<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
Was bewirken Sie mit Ihrer Arbeit?<br />
Das müssten die Leute beantworten, die meiner<br />
Arbeit und der meiner Mitarbeiterinnen begegnen.<br />
Schön wäre, wenn unsere Arbeit beim SJW bei einer<br />
jugendlichen Leserschaft Bewusstsein schafft<br />
für den kulturellen Reichtum wie beispielsweise die<br />
Sprachenvielfalt in der Schweiz oder für die Schweizer<br />
Geschichte. Aber auch dafür, dass Lesen Spass<br />
machen kann, bereichert, Wissen vermittelt, neue<br />
Welten öffnet. Und dass die Verbindung von Tradition<br />
und Moderne, wie sie in unserem Verlag oft wahrzunehmen<br />
ist, kein Widerspruch ist, sondern belebt,<br />
anregt und interessante Spannungen auslösen<br />
kann.<br />
Für welches Ereignis oder für welche Begegnung würden<br />
Sie ans andere Ende der Welt reisen?<br />
Ich sehe mir sehr gerne den Mond an, auch einen<br />
Himmel voller Sterne, oder Wolken, die vom Wind<br />
zerzaust dahinsausen. Solche Ereignisse sind einzigartig<br />
und lassen sich an allen Enden der Welt beobachten,<br />
nie und nirgends ein zweites Mal. Da wir<br />
auf einer Kugel leben, gibt es kein «anderes Ende»<br />
auf dieser Welt, ich kann das gut von hier aus machen.<br />
Wenn Sie in der Schweiz drei Dinge verändern könnten,<br />
welche wären das?<br />
Folgendes würde ich einrichten: Astronomie,<br />
Physik und Chemie, Geschichte und Philosophie ab<br />
Kindergartenstufe – unter genau diesen Namen,<br />
nicht unter «Mensch und Umwelt». Folgendes wünsche<br />
ich: Wer Gelegenheit hat, acht bis zehn Jahre<br />
oder mehr die Schule zu besuchen, sollte diese mit<br />
einem differenzierten Wissen über die Geschichte<br />
der Schweiz, Europas und der weiten Welt verlassen<br />
und wissen, wie man das Leben in unserem Land<br />
mitgestalten kann.<br />
Können Sie gut verlieren, und woran merkt man das?<br />
Ich verliere täglich vieles und bin täglich auf der<br />
Suche nach Verlorenem. Ohne Verlorenes wieder gefunden<br />
zu haben, gehe ich ungern weiter. Ich bin somit<br />
eine schlechte Verliererin. In einem von Regeln<br />
bestimmten Spiel, in dem eine Person gewinnt, eine<br />
verliert, kann ich gut zu den Verlierern zählen, nicht<br />
aber ohne alles versucht zu haben, um Gewinnerin<br />
zu sein. Beim Verlieren eines geliebten Menschen,<br />
durch Tod oder auch durch eine Neuorientierung<br />
dieses Menschen, wage ich über meine Fähigkeit,<br />
eine gute oder schlechte Verliererin zu sein, nichts<br />
zu sagen.<br />
6 ZeSo 1/14 13 fragen an
Margrit Schmid<br />
Bild: Ursula Markus<br />
Margrit Schmid ist seit acht Jahren Verlagsleiterin des Schweizerischen<br />
Jugendschriftenwerks (SJW), das Kindern und Jugendlichen Literatur in<br />
allen vier Landessprachen bietet. Sie hat visuelle Kommunikation an der<br />
Hochschule für bildende Künste in Berlin sowie Ethnologie und Volkskunde<br />
an der Universität Zürich studiert. Margrit Schmid ist auch als Dokumentarfilmerin<br />
und Ausstellungsmacherin tätig und lebt in Zürich.<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
Bügeln Sie Ihre Blusen selbst?<br />
Ich habe nur drei davon und ich freue mich, wenn<br />
mir das Bügeln gelungen ist.<br />
Was bedeutet Ihnen Solidarität?<br />
Während meiner Studienzeit in Berlin konnte<br />
ich zahlreiche Solidaritätsaktionen der Studenten<br />
mit der Arbeiterklasse beobachten. Als Arbeiterkind<br />
staunte ich darüber sehr, insbesondere da mir<br />
das Leben vieler Studierenden im Vergleich zu dem<br />
der Arbeiter luxuriös vorkam. Solidarisch sein mit<br />
Gleichgesinnten heisst für mich zu überdenken, mit<br />
wem, gegen wen, für und gegen was ich mich solidarisieren<br />
will. Im Kleinen bedeutet mir solidarisches<br />
Handeln, rücksichtsvoll und hilfsbereit gegenüber<br />
Mitmenschen zu sein, auch dort, wo es zunächst<br />
wenig sinnvoll erscheint. Die Pflege der Solidarität<br />
ist auch Aufgabe des Staates. Wo private Solidarität<br />
Benachteiligte oder Bedürftige nicht erreicht, soll<br />
sie gesetzlich geregelt werden.<br />
Haben Sie eine persönliche Vision?<br />
Ja. Sie ist allerdings in ständiger Bewegung und<br />
stellt sich immer wieder neu dar: Visionen neuer Projekte,<br />
Visionen vom Himmel, der Hölle, vom Jenseits,<br />
von der Zukunft. Visionen halten mich am Leben und<br />
treiben mich vorwärts bei allem, was ich tue.<br />
Welcher Begriff ist für Sie ein Reizwort?<br />
Wenn gemeint ist, was mein Interesse reizt,<br />
dann: Berge, Regen, die Nacht, die Genesis, Vögel,<br />
der Waldrap, C. Gesner, J.J. Scheuchzer, H. Blumenberg<br />
und andere. Negative Reizwörter interessieren<br />
mich weniger.<br />
Gibt es Dinge, die Ihnen den Schlaf rauben?<br />
Ja. Ideen, Projekte, Bilder, Worte rauben mir den<br />
Schlaf. Alles, was ich anpacken, umsetzen, realisieren<br />
möchte, wird zuerst in der Nacht, sozusagen im<br />
Schutz der Dunkelheit, durchgedacht, durchgespielt<br />
oder verworfen, so dass ich mich oft zum Einschlafen<br />
zwingen muss.<br />
Mit wem möchten Sie gerne per Du sein?<br />
«Sie» zu sagen ist mir nicht unangenehm. Ich<br />
nehme aber gerne das Angebot an, wenn mir jemand<br />
das «Du» anbietet.<br />
13 fragen an 1/14 ZeSo<br />
7
Die Besteuerung von Sozialhilfeleistungen<br />
schafft neue Probleme<br />
Bei einem guten Steueraufkommen kann der Staat mehr Leistungen anbieten, was insbesondere<br />
einkommensschwachen Haushalten zugute kommt. Doch Steuern sind nicht gleich Steuern. Sie<br />
können auch Armut begünstigen. Und die Besteuerung von Sozialhilfeleistungen würde mehr<br />
Probleme schaffen, als sie löst.<br />
Steuern lassen sich grob in zwei Kategorien<br />
einteilen: in Steuern auf Einkommen und<br />
Vermögen sowie in Verbrauchssteuern. Bei<br />
den Verbrauchssteuern fällt die Mehrwertsteuer<br />
für einkommensschwache Haushalte<br />
am stärksten ins Gewicht. Einkommensschwache<br />
Haushalte geben insgesamt zwar<br />
einen kleineren Betrag, anteilmässig aber<br />
einen grösseren Teil ihres Einkommens für<br />
den unmittelbaren Konsum aus als Haushalte<br />
mit hohen Einkommen. Einkommensschwache<br />
Haushalte sind deshalb von<br />
Erhöhungen der Mehrwertsteuer stärker<br />
betroffen. Sie können ihren bereits bescheidenen<br />
Konsum nicht weiter reduzieren. In<br />
der anderen Kategorie sind für einkommensschwache<br />
Haushalte vor allem die<br />
Einkommenssteuern von Bedeutung. Für<br />
einkommensschwache Haushalte ist es wesentlich,<br />
wie Einkommen besteuert und<br />
welche Abzüge getätigt werden können<br />
und wie das Steuer- und das Sozialtransfersystem<br />
aufeinander abgestimmt sind.<br />
Zwischen Sozial- und Fiskalpolitik<br />
Das Einkommen eines Haushalts umfasst<br />
nicht nur den Lohn, sondern alle finanziellen<br />
Einkünfte des Haushalts. Dazu gehören<br />
auch Sozialversicherungs- und Bedarfsleistungen.<br />
Diese werden unterschiedlich<br />
besteuert. Die Renten der AHV und der IV<br />
sowie Leistungen der Arbeitslosenversicherung<br />
werden beispielsweise vollständig<br />
besteuert, und auch bevorschusste Alimente<br />
und Kinderzulagen werden wie Lohneinkommen<br />
besteuert. Andere Renten und<br />
Pensionen hingegen werden mit einem tieferen<br />
Steuersatz besteuert, beispielsweise<br />
Renten aus der beruflichen Vorsorge und<br />
Leibrenten. Von den Steuern ausgenommen<br />
sind Stipendien, Ergänzungsleistungen<br />
zur AHV oder IV und Leistungen der<br />
Sozialhilfe. Wie viele Steuern ein Haushalt<br />
bezahlen muss, hängt also nicht unwesentlich<br />
davon ab, wie sich sein Einkommen<br />
zusammensetzt.<br />
Neben dem Einkommen spielen bei der<br />
Berechnung der Steuern auch die Abzüge<br />
eine Rolle. Mit diesen werden teilweise explizit<br />
sozialpolitische Ziele verfolgt. So wird<br />
beispielsweise der verminderten finanziellen<br />
Leistungsfähigkeit eines Haushalts<br />
mit Kindern gegenüber einem Haushalt<br />
ohne Kinder Rechnung getragen, indem<br />
ein Kinderabzug getätigt werden kann<br />
und Kosten für die familienergänzende<br />
Kinderbetreuung in Abzug gebracht wer-<br />
Ohne sorgfältige Abstimmung zwischen dem Steuer- und dem Sozialsystem können Ineffizienz und Ungerechtigkeit entstehen.<br />
Bild: Keystone<br />
8 ZeSo 1/14 position skos
den können. Solche Abzüge können Haushalte<br />
steuerlich entlasten und damit im<br />
besten Fall Armut verhindern. Allerdings<br />
schmälert eine allgemeine Erhöhung der<br />
Abzüge das Steueraufkommen, und aufgrund<br />
der progressiven Ausgestaltung des<br />
Steuersystems fällt die Steuereinsparung<br />
für tiefe Einkommen geringer aus als für<br />
hohe Einkommen. Ein weiterer Faktor ist<br />
der Steuersatz, mit dem tiefe Einkommen<br />
besteuert werden. Die Zusammenhänge<br />
zwischen dem Steuer- und dem Sozialsystem<br />
sind also vielfältig, und es braucht eine<br />
sorgfältige Abstimmung zwischen den beiden<br />
Systemen, damit beide effizient und<br />
gerecht funktionieren können.<br />
Working-Poor-Haushalte sind<br />
besonders betroffen<br />
Dies ist vor allem in Bezug auf Working-<br />
Poor-Haushalte eine Herausforderung. Für<br />
sie kann die Steuerbelastung der Tropfen<br />
sein, der das Fass zum Überlaufen bringt<br />
und die Armutsproblematik akzentuiert.<br />
Zudem kann eine mangelhafte Abstimmung<br />
der Systeme dazu führen, dass sich<br />
Working-Poor-Haushalte in einer Situation<br />
wiederfinden, in der sich Erwerbsarbeit<br />
finanziell nicht mehr lohnt, weil Erwerbseinkommen<br />
besteuert werden und Sozialleistungen<br />
nicht. Um solches zu verhindern,<br />
können Massnahmen sowohl auf<br />
Seiten der Sozial- als auch der Steuerpolitik<br />
ergriffen werden. Bei den Sozialleistungen<br />
etwa können Freibeträge auf Erwerbseinkommen,<br />
wie sie die Sozialhilfe kennt, die<br />
Steuerlast von Working-Poor-Haushalten<br />
kompensieren und dafür sorgen, dass sich<br />
Erwerbsarbeit in jedem Fall finanziell<br />
lohnt. Auf Seite der Steuerpolitik kann die<br />
Steuerbefreiung des Existenzminimums,<br />
wie sie bei den Bundessteuern und in einigen<br />
Kantonen bereits umgesetzt ist, dafür<br />
sorgen, dass die Steuerbelastung niemanden<br />
in die Armut treibt.<br />
Ein radikalerer Ansatz zur Lösung dieser<br />
Problematik sieht die Besteuerung von<br />
Sozialhilfeleistungen bei gleichzeitiger<br />
Steuerbefreiung des Existenzminimums<br />
vor. Der Bundesrat wird im Frühling einen<br />
Bericht zu einer entsprechenden parlamentarischen<br />
Vorlage veröffentlichen.<br />
Aktuelle<br />
Steuervorlagen aus<br />
armutspolitischer<br />
Perspektive<br />
«Millionen-Erbschaften besteuern<br />
für unsere AHV» (SP)<br />
Die Initiative sieht die Schaffung einer<br />
Erbschafts- und Schenkungssteuer vor. Die<br />
Einnahmen kämen zu zwei Dritteln der AHV<br />
und zu einem Drittel den Kantonen zugute.<br />
Eine solide, langfristig finanzierte AHV ist für<br />
die Bekämpfung von Armut zentral. Ob diese<br />
mit der Erbschaftssteuer erreicht werden<br />
kann, bleibt allerdings fraglich.<br />
«Für Ehe und Familie –<br />
gegen die Heiratsstrafe» (CVP)<br />
Die Initiative möchte die Nachteile verheirateter<br />
Paare gegenüber Konkubinatspaaren<br />
bei den Steuern und Sozialversicherungen<br />
ausmerzen. Die Auswirkungen sind schwierig<br />
einzuschätzen. Es ist nicht klar, ob es bei<br />
einzelnen Sozialleistungen zu Veränderungen<br />
bei der Behandlung von Ehe- respektive Konkubinatspaaren<br />
kommen wird.<br />
«Familien stärken! Steuerfreie Kinderund<br />
Ausbildungszulagen» (CVP)<br />
Angestrebt wird eine steuerliche Entlastung<br />
aller Familien. Faktisch ist die steuerliche Entlastung<br />
umso höher, je höher das Einkommen<br />
ist. Die Wirkung auf Armutsbetroffene und<br />
Haushalte im Niedriglohnbereich ist sehr<br />
gering bis nichtig, gleichzeitig kommt es zu<br />
erheblichen Steuerausfällen.<br />
Die SKOS hat den Vorschlag analysiert.<br />
Es hat sich gezeigt, dass die Besteuerung<br />
von Sozialhilfeleistungen mehr Probleme<br />
schafft, als sie löst. Unter anderem aus<br />
folgenden Gründen: Der Staat entrichtet<br />
Sozialhilfeleistungen an Privathaushalte.<br />
Für die Festlegung der Höhe dieser Leistungen<br />
wird der effektive Bedarf des Haushalts<br />
berechnet. Bei einer Besteuerung<br />
der Sozialhilfeleistungen würde der Staat<br />
einen Teil dieser Leistungen wieder in<br />
Form von Steuern zurückfordern. Damit<br />
stellt er seine eigene Bedarfsrechnung in<br />
Frage. Der Haushalt hat anschliessend auf<br />
dem Vollstreckungsweg die Möglichkeit,<br />
einen Steuererlass zu beantragen. Dabei<br />
wird wiederum eine Bedarfsrechnung erstellt,<br />
und falls die Steuerforderung in das<br />
Existenzminimum eingreift, werden die<br />
Steuern erlassen.<br />
Aufwändiges Nullsummenspiel<br />
verhindern<br />
Das ergibt ein Nullsummenspiel für den<br />
Staat, das mit grossem administrativem<br />
Aufwand verbunden ist und das die Legitimation<br />
des Systems gefährdet. Werden die<br />
Steuern nicht erlassen und ein Teil der Sozialhilfeleistungen<br />
muss in Form von Steuern<br />
zurückbezahlt werden, führt das zudem für<br />
einige Haushalte zu einer Unterwanderung<br />
des Existenzminimums. Um das Existenzminimum<br />
weiterhin zu garantieren, müssten<br />
höhere Sozialhilfeleistungen entrichtet<br />
werden. Das wiederum führt zu unerwünschten<br />
Finanztransfers, da die Leistungen<br />
der Sozialhilfe in verschiedenen Kantonen<br />
von der Gemeinde finanziert werden.<br />
Die Sozialhilfebeziehenden geben einen Teil<br />
der Leistungen, die sie von ihrer Gemeinde<br />
erhalten, in Form von Steuern an den Kanton<br />
weiter. Die Besteuerung von Leistungen<br />
der Sozialhilfe ist also wenig sinnvoll und<br />
verletzt die Steuergerechtigkeit.<br />
Fazit: Damit die Sozialhilfe ihre Ziele<br />
erreichen kann, ist es wichtig, dass das<br />
Steuersystem und das Sozialleistungssystem<br />
Hand in Hand gehen und dass die beiden<br />
Systeme die beabsichtigten Wirkungen des<br />
anderen nicht torpedieren. Damit dies gelingt,<br />
muss das soziale Existenzminimum<br />
von den Steuern ausgenommen sein. Wer<br />
am Existenzminimum lebt, soll keine Steuern<br />
zahlen, unabhängig davon, ob das verfügbare<br />
Einkommen aus Erwerbstätigkeit<br />
oder aus Sozialhilfeleistungen stammt. •<br />
Franziska Ehrler,<br />
Leiterin Fachbereich Grundlagen, SKOS<br />
www.skos.ch/grundlagen-und-positionen<br />
position skos 1/14 ZeSo<br />
9
Unregelmässige Einkommen: Wann<br />
ist die Soziahilfeablösung möglich?<br />
Das Einkommen einer Sozialhilfebezügerin unterliegt wegen unregelmässiger Arbeitseinsätze<br />
Schwankungen. Massgebend für den Zeitpunkt der Ablösung ist die Bedürftigkeit. Um diese besser<br />
abschätzen zu können, kann das Einkommen über mehrere Monate beobachtet und beurteilt werden.<br />
Frage<br />
Maria C. arbeitet neu im Stundenlohn als<br />
Verkäuferin. Sie wird unregelmässig beschäftigt.<br />
In gewissen Monaten reicht ihr<br />
Einkommen nicht aus, um den Bedarf zu<br />
decken, während in anderen Monaten der<br />
Lohn über dem errechneten Existenzminimum<br />
liegt. Ihre Sozialarbeiterin stellt sich<br />
die Frage, ob dieser Einkommensüberschuss<br />
Frau C. jeweils zur freien Verfügung<br />
stehen sollte, wenn absehbar ist, dass ihr<br />
Einkommen im nachfolgenden Monat den<br />
Bedarf nicht decken wird und sie in der<br />
Folge erneut ergänzend mit Sozialhilfe<br />
unterstützt werden muss.<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />
und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />
Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />
(einloggen) SKOS-Line.<br />
Grundlagen<br />
Die Ablösung von der wirtschaftlichen Hilfe<br />
ist zu dem Zeitpunkt möglich, ab dem<br />
der Bedarf durch ein Einkommen gedeckt<br />
wird. Bei unregelmässigen Einkommen ist<br />
dieser Zeitpunkt aber nicht immer eindeutig<br />
feststellbar. Auch die gesetzlichen Grunlagen<br />
geben auf diese Frage keine Antwort.<br />
Daher besteht eine unterschiedliche Praxis,<br />
zu welchem Zeitpunkt ein Fall verwaltungstechnisch<br />
abgeschlossen wird und somit<br />
bei einer allfälligen Neuanmeldung<br />
das teils umfangreiche Abklärungsprozedere<br />
zu Beginn einer sozialhilferechtlichen<br />
Unterstützung wiederholt werden muss.<br />
Bei der Beurteilung können unterschiedliche<br />
Berechnungszeiträume für die sozialhilferechtliche<br />
Notlage gewählt werden.<br />
Ausschlaggebend muss jedoch immer die<br />
aktuelle Bedürftigkeit sein. Dabei sind die<br />
Prinzipien der Subsidiarität und der<br />
Gleichbehandlung, aber auch die Verhältnismässigkeit<br />
der getroffenen Lösung zu<br />
beachten.<br />
Grundsätzlich ist bei unregelmässigen<br />
Einkünften der Sozialhilfeanspruch jeden<br />
Monat neu zu berechnen. Dies bedeutet jedoch<br />
nicht, dass der Abrechnungszeitraum<br />
ebenfalls monatlich gewählt werden muss.<br />
Eine dreimonatige oder in begründeten<br />
Fällen sogar eine halbjährliche oder jährliche<br />
Abrechnung kann je nach Situation<br />
geeignet und erforderlich sein, um den<br />
grundsätzlichen Anspruch zu prüfen. So<br />
stellte das Bundesgericht kürzlich für einen<br />
Fall aus dem Kanton Zürich zusammenfassend<br />
fest (8C_325/2012, 24. August<br />
2012, Abschnitte 4.3 bis 4.5): Die Frage<br />
der Anrechenbarkeit von Einkünften stellt<br />
sich im sozialhilferechtlichen Sinne so lange,<br />
als sich die bedürftige Person in einer<br />
Notlage befindet. Eine besondere Problematik<br />
ergibt sich bei der Anrechnung von<br />
schwankendem Einkommen. Entscheidend<br />
ist, für welchen Zeitraum die Bedürftigkeit<br />
beurteilt wird. Eine monatliche<br />
Prüfung kann je nachdem zu anderen Ergebnissen<br />
führen als die Berücksichtigung<br />
einer Gesamtperiode. «Es ist nicht bundesrechtswidrig<br />
und bedeutet insbesondere<br />
keine willkürliche Auslegung und Anwendung<br />
(Art. 9 BV) der Bestimmungen des<br />
zürcherischen Sozialhilferechts, wenn die<br />
Überschussabrechnung nicht monatlich<br />
erfolgt.» Diese Einschätzung dürfte auch<br />
auf die Rechtslage in den meisten anderen<br />
Kantonen zutreffen.<br />
Diese Betrachtungsweise lässt sich<br />
insbesondere vor dem Hintergrund der<br />
Gleichbehandlung mit Personen rechtfertigen,<br />
die ebenfalls nahe dem sozialhilferechtlichen<br />
Existenzminimum leben und<br />
entsprechende Rücklagen bilden müssen.<br />
Es kann davon ausgegangen werden, dass<br />
von der Sozialhilfe unterstützte Personen<br />
Lohnüberschüsse in den Folgemonaten für<br />
Bedarfsdefizite nutzen und somit selber in<br />
der Lage sind, eine Bedürftigkeit abzuwenden<br />
oder zumindest zu mindern.<br />
Sofern im gewählten Betrachtungszeitraum<br />
ein durchschnittlicher Überschuss<br />
ermittelt wird, kann davon ausgegangen<br />
werden, dass keine sozialhilferechtliche<br />
Bedürftigkeit mehr besteht und die bisher<br />
unterstützte Person von der Sozialhilfe<br />
abgelöst werden kann. Andernfalls ist die<br />
Person weiter zu unterstützen, und ein<br />
allfälliger Überschuss ist im Folgemonat<br />
anzurechnen.<br />
Antwort<br />
Maria C. hat keinen Rechtsanspruch darauf,<br />
dass ihr der Lohnüberschuss eines einzelnen<br />
Monats zur freien Verfügung steht<br />
und im Folgemonat nicht angerechnet<br />
wird. Die Einschätzung, ob Maria C. im<br />
Durchschnitt über ausreichend Einkommen<br />
verfügt, um den Lebensunterhalt selbständig<br />
zu bestreiten, dürfte in diesem Fall<br />
nach drei Monaten möglich sein. Die Abrechnung<br />
kann demzufolge auch erst nach<br />
drei Monaten erfolgen. Sofern das durchschnittliche<br />
Einkommen nur knapp über<br />
dem Bedarf liegt, insbesondere wenn im<br />
nächsten Monat erneut ein Manko entsteht,<br />
ist eine Verlängerung des Betrachtungszeitraums<br />
um weitere drei Monate zu prüfen. •<br />
Markus Morger<br />
Daniela Moro<br />
Kommission Richtlinien<br />
und Praxishilfen der SKOS<br />
10 ZeSo 1/14 praxis
Frühe Förderung zahlt sich aus<br />
Die Schweiz ist noch weit davon entfernt, das Potenzial der frühen Förderung zur Bekämpfung und<br />
Prävention von Armut optimal zu nutzen. Dies zeigt das Armutsmonitoring von Caritas. Die Bemühungen,<br />
die frühe Förderung armutspolitisch wirksam zu gestalten, variieren von Kanton zu Kanton.<br />
Die Förderketten müssen gut aufeinander<br />
abgestimmt sein.<br />
Bild: zvg<br />
Die Anschubfinanzierung des Bundes<br />
schuf schweizweit in den letzten zehn Jahren<br />
mehr als 20 000 Betreuungsplätze in<br />
Kindertagesstätten. Niederschwellige Angebote<br />
wie das Programm «schritt:weise»<br />
wurden ausgebaut und das «Netzwerk Kinderbetreuung»<br />
lancierte 2012 gemeinsam<br />
mit der Unesco-Kommission einen Orientierungsrahmen,<br />
der den Bildungsaspekt<br />
im Bereich der frühen Förderung stärkt.<br />
Die Beispiele zeigen nicht nur die Bewegung,<br />
sondern auch die Breite der Massnahmen<br />
im Bereich der frühen Förderung.<br />
Mit dem Begriff «Frühe Förderung» werden<br />
alle Angebote sowohl inner- als auch<br />
ausserhalb der Familie umschrieben, die<br />
sich an Kinder bis zum Kindergarteneintritt<br />
richten und die eine <strong>ganz</strong>heitliche Entwicklung<br />
des Vorschulkindes ermöglichen.<br />
Die zahlreichen neu lancierten Projekte<br />
setzen Akzente bei der Förderung der Vereinbarkeit<br />
von Familie und Erwerbsarbeit,<br />
der Stärkung des Bildungsaspekts und bei<br />
der Integration von Kindern mit Migrationshintergrund.<br />
Aus armutspolitsicher Optik ist die<br />
frühzeitige Stimulierung von Kindern<br />
dann erfolgreich, wenn es ihr gelingt, die<br />
Startchancen der Kinder zu verbessern.<br />
Dazu müssen die Angebote für armutsbetroffene<br />
Familien erreichbar und bezahlbar<br />
sein. Die Eltern müssen einbezogen<br />
werden, und die pädagogische Qualität<br />
der Einrichtungen und deren Angebote<br />
müssen gewährleistet sein. Das heisst, der<br />
Bildungsaspekt muss eine zentrale Rolle<br />
spielen. Weiter müssen die Schnittstellen<br />
zwischen dem Frühbereich und den<br />
Regelstrukturen beachtet und die Zuständigkeiten<br />
geklärt werden. Die relevanten<br />
Akteure müssen gut vernetzt sein. Dies<br />
alles ist nur mit einer Gesamtsicht möglich.<br />
Sowohl die Bildungs- wie auch die Armutspolitik<br />
liegen in der Schweiz in der<br />
Kompetenz der Kantone. Caritas analysierte<br />
im Armutsmonitoring 2013 deshalb<br />
die kantonalen Strategien zur frühen Förderung<br />
und wollte wissen, inwiefern diese<br />
die Armutsbekämpfung beachten.<br />
Heterogene föderale Ansätze<br />
Die Analyse zeigt, dass die Bemühungen,<br />
die frühe Förderung armutspolitisch wirksam<br />
zu gestalten, erst jüngst begonnen<br />
haben und dass sie stark variieren. Mit<br />
Schaffhausen, Zürich, Bern und Zug verfügen<br />
derzeit vier Kantone über Strategien<br />
zur frühen Förderung mit einem expliziten<br />
Bezug zur Armutsbekämpfung und -prävention.<br />
Während Zürich, Bern und Zug verbindliche<br />
Strategien vorlegen, handelt es<br />
sich beim Konzept von Schaffhausen um<br />
nichtbindende Leitlinien. Im Gegensatz zu<br />
den anderen Kantonen bleibt die Zuger<br />
Strategie auf drei bis fünf Jahre beschränkt.<br />
In unterschiedlichen Stadien thematisieren<br />
Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Luzern<br />
und Freiburg Strategien zur frühen Förderung.<br />
Basel-Stadt verfügt über ein Konzept<br />
und eine Koordinationsstelle, hat jedoch<br />
keine publizierte Strategie. Luzern erarbeitet<br />
derzeit eine solche. In Basel-Landschaft<br />
und Freiburg sind politische Vorstösse hängig,<br />
die eine kantonale Strategie verlangen.<br />
Weitere Kantone integrieren die frühe Förderung<br />
in andere Strategien und verorten<br />
sie etwa in der Familien- und Integrationspolitik<br />
oder in der Politik zur Förderung<br />
der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.<br />
Dadurch werden zwar einige spezifische Aspekte<br />
gefördert, andere aber, wie die pädagogische<br />
Qualität der Angebote oder die<br />
Beachtung der Schnittstelle zwischen dem<br />
Frühbereich und dem Eintritt in den Kindergarten,<br />
stehen nicht im Blickfeld. In Glarus,<br />
St. Gallen, Uri und Appenzell-Innerrhoden<br />
sind kantonale Strategien kein Thema.<br />
Die Zusammenarbeit verbessern<br />
Das Armutsmonitoring von Caritas verdeutlicht:<br />
Die Schweiz ist noch weit davon<br />
entfernt, das Potenzial der frühen Förderung<br />
zur Bekämpfung und Prävention von<br />
Armut optimal zu nutzen. Nötig wäre ein<br />
Paradigmenwechsel, der den konzeptionellen<br />
Fokus von der Betreuung stärker hin<br />
zur Bildung verschiebt. Dies würde aber eine<br />
Gesamtsicht bedingen, die es erlaubt,<br />
dass die beteiligten Akteure eng zusammenarbeiten<br />
und die Förderketten ab der<br />
Geburt bis in den Kindergarten besser aufeinander<br />
abzustimmen. Dazu braucht es<br />
kantonale Strategien mit verbindlichen Zuständigkeiten,<br />
Zielen und Massnahmen sowie<br />
eine systematische Wirkungsmessung.<br />
Frühe Förderung zahlt sich aus. Zuallererst<br />
für die Kinder, deren Chancen für das<br />
spätere Schul- und Berufsleben verbessert<br />
werden. Es profitiert aber auch die Volkswirtschaft.<br />
Studien haben berechnet, dass<br />
jeder Franken, der in der frühen Förderung<br />
eingesetzt wird, einen volkswirtschaftlichen<br />
Nutzen von mindestens vier Franken erzielt.<br />
Dieser Nutzen entsteht durch eine<br />
höhere Erwerbsbeteiligung der Mütter,<br />
einen geringeren Bezug von Sozialleistungen<br />
und den Auswirkungen einer gelungenen<br />
Integration der Kinder. •<br />
Bettina Fredrich<br />
Leiterin Fachstelle Sozialpolitik<br />
Caritas Schweiz<br />
ARMUTSBEKÄMPFUNG 1/14 ZeSo<br />
11
«Das Eröffnen von Perspektiven<br />
ist das A und O jeder Hilfe»<br />
Für die SKOS geht eine Ära zu Ende: Nach 15 Jahren Präsidentschaft tritt Walter Schmid im Mai von<br />
seinem Amt zurück. Die SKOS nehme in einem sehr schwierigen Politikfeld eine Brückenbauerfunktion<br />
ein, sagt Schmid, und blickt auf kommende Herausforderungen für den Verband und die Sozialhilfe.<br />
Als Sie im Jahr 1999 zum Präsidenten<br />
der SKOS gewählt wurden, beschäftigte<br />
sich der Verband mit einem<br />
«drastischen Zuwachs» der Fallzahlen<br />
bei der Sozialhilfe. Die SKOS forderte<br />
in Anbetracht neuer sozialer Risiken<br />
als Folge von Liberalisierung und Deregulierung<br />
Massnahmen gegen den<br />
brüchig gewordenen Sozialversicherungsschutz.<br />
Wo stehen wir in dieser<br />
Hinsicht heute, 15 Jahre später?<br />
Walter Schmid: Damals ging eine lange<br />
Rezessionsphase in der Schweiz zu Ende.<br />
Während meiner Amtszeit als Chef des<br />
Fürsorgeamts der Stadt Zürich beispielsweise<br />
hatten sich die Fallzahlen verdoppelt<br />
und die Kosten verdreifacht. Wir forderten<br />
einen Umbau der sozialen Sicherungssysteme.<br />
Dazu ist es allerdings nicht gekommen.<br />
Dafür zu verschiedenen Teilrevisionen.<br />
Dank guter Konjunktur flachte das<br />
Wachstum der Fallzahlen in der Sozialhilfe<br />
später wieder ab.<br />
Was entgegnen Sie den Kritikern, die<br />
sagen, die heutige Sozialhilfe sei zu<br />
attraktiv und zu grosszügig?<br />
Die Leistungen der Sozialhilfe haben<br />
sich seit 1999 nicht wesentlich verändert,<br />
und der Grundbedarf wurde nur teuerungsbereinigt<br />
angehoben. Der Grundbedarf in<br />
der Sozialhilfe ist wesentlich tiefer als bei<br />
den Ergänzungsleistungen und auch tiefer<br />
als beim Betreibungsrecht. Es stimmt<br />
also nicht, dass die Sozialhilfe grosszügiger<br />
geworden ist. Aber man kann sagen,<br />
dass mehr Menschen nicht mehr auf<br />
den Versicherungsschutz der Sozialwerke<br />
zählen können und dass es auch mehr<br />
Menschen gibt, die die Voraussetzungen<br />
für einen Sozialversicherungsbezug nicht<br />
erfüllen und nie erfüllen werden. Aus<br />
diesem Grund sind die Zahl der Sozialhilfebeziehenden<br />
und die Kosten weiter<br />
angestiegen.<br />
Die Sozialhilfe kommt gegenüber den<br />
Sozialversicherungen vermehrt komplementär<br />
zum Einsatz. Wie beurteilen<br />
Sie diesen schleichenden Paradigmawandel,<br />
der den subsidiären<br />
Charakter der Sozialhilfe zunehmend<br />
infrage stellt?<br />
Natürlich gilt in der Sozialhilfe weiterhin<br />
das Subsidiaritätsprinzip. Sie kommt<br />
also nur zum Zuge, wenn keine anderen<br />
Mittel zur Verfügung stehen. Wenn man<br />
jedoch bedenkt, welche Arbeitsplätze in<br />
den vergangenen Jahren neu geschaffen<br />
wurden und welche verschwunden sind,<br />
dann erkennt man gewaltige Umwälzungen.<br />
Die Sozialhilfe hat wesentlich<br />
mitgeholfen, die Nebenwirkungen dieses<br />
Strukturwandels der Wirtschaft zu bewältigen<br />
und den Menschen ein Minimum an<br />
Sicherheit zu geben. Zur komplementären<br />
Seite der Sozialhilfe: Für mich bedeutet<br />
das eigentlich nur, dass die Sozialhilfe ein<br />
wichtiger und etablierter Bestandteil des<br />
Ganzen geworden ist.<br />
In Ihre «Ära» fällt die Festschreibung<br />
der aktivierenden Sozialhilfe in den<br />
SKOS-Richtlinien. Was hat man damit<br />
bewirken können?<br />
Die Sozialhilfeempfängerinnen und<br />
-empfänger sollen dabei unterstützt werden,<br />
wieder in die Erwerbstätigkeit zurückzufinden<br />
und auf eigenen Füssen stehen zu<br />
können. Das ist ein wichtiges Prinzip und<br />
ein generelles Paradigma in der Schweizer<br />
Sozialpolitik. Die aktivierende Sozialpolitik<br />
hat Möglichkeiten geschaffen, dass<br />
Leute wieder arbeiten konnten, die dies<br />
sonst nicht mehr getan hätten. Sie eröffnet<br />
für viele Menschen Perspektiven und<br />
erhöht die Akzeptanz der Sozialhilfe in der<br />
Bevölkerung.<br />
Wo sehen Sie die Grenzen des Gegenleistungsprinzips?<br />
Es hat eine gewisse Verabsolutierung<br />
dieses Prinzips stattgefunden, die mir<br />
missfällt. Man hat aus den Augen verloren,<br />
dass es auch Menschen gibt, die trotz<br />
Aktivierung nicht mehr zurück in einen<br />
Job finden, und die dennoch eine Existenzberechtigung<br />
haben. Auch für sie trägt die<br />
Gesellschaft eine Verantwortung. Was mir<br />
auch nicht gefällt ist, dass die Armut individualisiert<br />
wird. Man schiebt alle sozialen<br />
Probleme dem Individuum zu, und auch<br />
die Lösungen werden nur bei ihm gesucht.<br />
Dadurch entsteht schnell einmal der Eindruck,<br />
es läge nur am Individuum, seine<br />
Situation zu verbessern. Gesellschaftliche<br />
Entwicklungen wie der Strukturwandel<br />
oder der Einfluss der Bildungschancen<br />
werden ausgeblendet.<br />
Welchen weiteren Herausforderungen<br />
muss sich die SKOS vermehrt stellen?<br />
Das heutige Instrumentarium kann<br />
schlecht unterscheiden zwischen kurzfristiger,<br />
subsidiärer Unterstützung für<br />
Personen, die es schaffen, aus eigenem<br />
Antrieb wieder aus der Sozialhilfe herauszukommen,<br />
und Personen, die auf Dauer<br />
auf Sozialhilfe angewiesen sind. Auch das<br />
gibt es, etwa wenn die Invalidenversiche-<br />
«Die Sozialhilfe<br />
hat wesentlich<br />
mitgeholfen, die<br />
Nebenwirkungen<br />
des Strukturwandels<br />
zu<br />
bewältigen.»<br />
12 ZeSo 1/14 interview
ung heute gewisse Krankheitsbilder nicht<br />
mehr als für eine Rente relevant betrachtet<br />
und arbeitsunfähige Menschen keinen Zugang<br />
mehr zur Sozialversicherung haben.<br />
Diese Entwicklungen bedingen differenzierte<br />
Antworten.<br />
Eine andere grosse Herausforderung<br />
ist die öffentliche Wahrnehmung der Sozialhilfe<br />
und der Armut. Sie ist manchmal<br />
ziemlich weit von der Realität entfernt. So<br />
werden viele Probleme auf die Sozialhilfe<br />
projiziert, die gar nichts mit ihr zu tun<br />
haben, etwa bei Jugendlichen und ihren<br />
Bildungschancen: Bis die Sozialhilfe zum<br />
Zug kommt, ist schon sehr viel schief gelaufen.<br />
Gleichwohl macht die Öffentlichkeit<br />
solche Probleme an der Sozialhilfe<br />
fest und erwartet von uns Lösungen, für<br />
die wir die Instrumente nicht haben. Die<br />
Sozialhilfe wird oft mit dem Sozialstaat<br />
gleichgesetzt, obwohl bekannt ist, dass die<br />
Sozialhilfeausgaben nur rund zwei Prozent<br />
der gesamten Sozialausgaben und Sozialtransfers<br />
ausmachen. Solche Verzerrungen<br />
in der Wahrnehmung sind echte Herausforderungen.<br />
Daraus resultiert auch das Imageproblem,<br />
das die Sozialhilfe und mit ihr<br />
die SKOS in der Öffentlichkeit haben.<br />
Wie kann die SKOS dem begegnen?<br />
Solange die SKOS sich mit Sozialhilfe<br />
befasst, wird sie immer wieder mit Imageproblemen<br />
konfrontiert sein. Die Sozialhilfe<br />
war noch nie ein geliebtes Kind der<br />
Gesellschaft. Das war auch schon so, als<br />
man das Bettlervolk am Abend noch aus<br />
den Städten hinaus trieb, um die Leute<br />
nicht mehr sehen zu müssen. Wir haben<br />
es mit Menschen zu tun, die relativ wenig<br />
geben können und die oft als Belastung<br />
empfunden werden. Ich glaube aber, dass<br />
wir als Fachverband trotzdem viel Anerkennung<br />
geniessen. Wir haben in einem<br />
sehr schwierigen Politikfeld eine Brückenbauerfunktion<br />
und wir konnten in schwierigen<br />
Fragen immer wieder einen Konsens<br />
herstellen. Der Verband leistet insgesamt<br />
gute Arbeit. Ich habe das gerade jetzt bei<br />
der Ankündigung meines Rücktritts erfahren,<br />
als verschiedenste Kreise ihre Anerkennung<br />
unserer Arbeit zum Ausdruck<br />
gebracht haben.<br />
<br />
Bilder: Béatrice Devènes<br />
interview 1/14 ZeSo<br />
13
Wie haben Sie die Position der SKOS<br />
vis-à-vis von Bund, Kantonen und<br />
Gemeinden erlebt?<br />
Die Rolle der SKOS ist einzigartig, auch<br />
im internationalen Vergleich. Alle Akteure<br />
sind im Verband versammelt. Dadurch haben<br />
wir die wichtigsten Stimmen immer<br />
einfangen und in die Lösungsentwicklung<br />
einbinden können. Das ist ein grosses<br />
Privileg. Wir sind in unserer Entscheidfindung<br />
manchmal etwas schwerfällig,<br />
dafür sind unsere Entscheide solide abgestützt.<br />
Die Kehrseite ist, dass sich der Bund<br />
nicht besonders um das Thema Sozialhilfe<br />
kümmert – sie gehört nicht in seinen Zuständigkeitsbereich<br />
– und dass auch die<br />
Kantone dem Thema selten hohe Priorität<br />
einräumen.<br />
Fühlten Sie sich von den Kantonen in<br />
der Öffentlichkeit genügend unterstützt,<br />
als die Sozialhilfe im vergangenen<br />
Jahr politisch heftig angegriffen<br />
wurde?<br />
Im Grossen und Ganzen haben uns die<br />
Sozialdirektoren in der Sache sehr unterstützt.<br />
Sie haben aber verständlicherweise<br />
auch stark Rücksicht auf ihre kantonsinternen<br />
politischen Verhältnisse nehmen müssen.<br />
Aus Sicht der SKOS hätte man sich<br />
gelegentlich noch klarere oder vernehmbarere<br />
Aussagen zum Thema Sozialhilfe<br />
gewünscht. Das gilt übrigens auch für den<br />
Bund.<br />
Können Sie das noch weiter ausführen?<br />
Gerade etwa während der Debatte<br />
über die Renitenten vom vergangenen<br />
Frühjahr: Just zu jenem Zeitpunkt haben<br />
Behörden und Verbände sich mit<br />
grossen Gesten bei den Opfern der<br />
administrativen Verwahrung entschuldigt.<br />
Überspitzt gesagt waren die administrativ<br />
Versorgten die Renitenten von<br />
damals. Sie waren teilweise auch keine<br />
angenehmen Zeitgenossen. Man hat<br />
sie verwahrt und hat dabei rechtsstaatliche<br />
Prinzipien verletzt. Deshalb reicht<br />
es aus heutiger Sicht nicht, wenn man<br />
sich vierzig Jahre später entschuldigt<br />
für das, was man damals falsch gemacht<br />
hat, und nicht darüber nachdenkt, dass<br />
man auch in der Gegenwart etwas falsch<br />
machen könnte. Ein Wort zum Umgang<br />
mit Armutsbetroffenen und zur Bedeutung<br />
von rechtstaatlichen Prinzipien auch<br />
heute wäre da angebracht gewesen.<br />
14 ZeSo 1/14 interview<br />
Walter Schmid<br />
Walter Schmid (60) studierte Rechtswissenschaft<br />
in Lausanne, Zürich und Stanford.<br />
Von 1982 bis 1991 war er Zentralsekretär<br />
der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, danach<br />
Leiter des Amts für Jugend- und Sozialhilfe<br />
der Stadt Zürich. Von 2000 bis 2003<br />
arbeitete er als Projektleiter im Auftrag<br />
des Bundesrats für die Solidaritätsstiftung<br />
und die Verwendung von Goldreserven der<br />
Nationalbank. Seit 2003 ist Walter Schmid<br />
Direktor des Departements Soziale Arbeit<br />
an der Hochschule Luzern. Walter Schmid<br />
tritt an der Mitgliederversammlung im Mai<br />
nach 15 Jahren als Präsident der SKOS<br />
zurück.<br />
«Es genügt nicht,<br />
wenn man sich<br />
40 Jahre später<br />
entschuldigt für<br />
das, was man<br />
damals falsch<br />
gemacht hat.»<br />
Ein Ziel der SKOS ist die Harmonisierung<br />
der Sozialhilfe. Nun sind<br />
Tendenzen zu beobachten, die dem<br />
Erreichten entgegenlaufen. Wie gewonnen,<br />
so zerronnen?<br />
Die Harmonisierung ist relativ weit<br />
fortgeschritten, und es gibt immer wieder<br />
Gegenbewegungen. Das wird solange so<br />
bleiben, wie das System Sozialhilfe vom<br />
föderativen Staat gelenkt wird. Dort, wo es<br />
Abweichungen gibt, sind diese entweder<br />
im Rahmen der Bandbreiten, die die SKOS<br />
empfiehlt, oder sie bewirken keine allzu<br />
grossen Einschränkungen. Wenn etwa der<br />
Kanton Waadt die SKOS-Richtlinien nicht<br />
integral übernimmt, dafür bei den Jugendlichen<br />
eine «Stipendien-statt-Sozialhilfe-<br />
Strategie» verfolgt, dann ist das ein gutes<br />
kantonales Experiment. Der Föderalismus<br />
birgt gerade auch dann Chancen, wenn es<br />
auf nationaler Ebene zu politischen Blockaden<br />
kommt. Wir sehen das zurzeit bei den<br />
Ergänzungsleistungen für einkommensschwache<br />
Familien. Das sind Beispiele für<br />
gute und innovative Entwicklungen.
«Die Bekämpfung<br />
der Armut ist eine<br />
komplexe Sache,<br />
zu der es keine<br />
einfachen Rezepte<br />
gibt.»<br />
Was läuft, allgemein betrachtet, im<br />
System der sozialen Sicherheit der<br />
Schweiz gut?<br />
Wir haben ein zwar kompliziertes aber<br />
gut ausgebautes Netz von Sozialversicherungen,<br />
und im Hintergrund wirkt auch<br />
die Sozialhilfe als letztes verlässliches Netz<br />
der sozialen Sicherheit stabilisierend in der<br />
Sozialpolitik. Schwachpunkte sind gewisse<br />
Doppelspurigkeiten bei den Sozialwerken<br />
oder die immer noch sehr ungenügende interdisziplinäre<br />
Zusammenarbeit. Man sollte<br />
auch hinschauen, wo Fehlallokationen stattfinden,<br />
wo der Sozialstaat Umverteilungen<br />
vornimmt, von denen nicht unbedingt jene<br />
profitieren, die Leistungen nötig haben.<br />
Welchen konkreten Nutzen steuert die<br />
Sozialhilfe dem System bei?<br />
Es ist entscheidend für eine Gesellschaft,<br />
dass die letzten Existenzrisiken aufgefangen<br />
werden. Dass die Leute wissen,<br />
dass sie nicht ins Bodenlose fallen. Das<br />
gibt ihnen eine gewisse Autonomie und<br />
eine gewisse Risikofreude. Das ist nicht<br />
nur unter dem Aspekt des Strukturwandels,<br />
sondern <strong>ganz</strong> generell für den Zusammenhalt<br />
der Gesellschaft wichtig.<br />
Dank der Sozialhilfe haben wir in der<br />
Schweiz keine grösseren Bevölkerungsgruppen,<br />
die von der Gesellschaft ausgegrenzt<br />
leben. Das Eröffnen von Perspektiven<br />
für die Menschen ist das A und O<br />
jeder Hilfe.<br />
Wie beurteilen Sie die Armutspolitik<br />
des Bundes und der Kantone?<br />
Armut ist ein Thema, das alle staatlichen<br />
Ebenen angehen muss. Die Bekämpfung<br />
von Armut ist eine komplexe<br />
Sache, zu der es keine einfachen Rezepte<br />
gibt. Armut lässt sich im übrigen auch<br />
nie vollständig beseitigen. Es ist aber<br />
ein grosser Unterschied, ob man sich in<br />
einem Land mit der Armut arrangiert<br />
und nichts dagegen unternimmt oder ob<br />
man sie wahrnimmt und versucht, die<br />
Menschen zu unterstützen. Dabei muss<br />
auch dem Bund eine Rolle zukommen.<br />
Er hat – zwar erst in homöopathischen<br />
Dosen – damit begonnen, sich mit dem<br />
Thema zu befassen und Projekte zur Armutsbekämpfung<br />
aufzugleisen. Das ist<br />
ein erster wichtiger Schritt. Sonst überlässt<br />
man auf nationaler Ebene das Feld einseitig<br />
den Protagonisten der Empörungspolitik.<br />
Hatten Sie persönliche Ziele, als Sie<br />
vor 15 Jahren die Führung der SKOS<br />
übernommen haben, und sind Sie<br />
zufrieden mit dem, was Sie erreicht<br />
haben?<br />
Ich hatte die Absicht, den Verband gut<br />
zu führen und einen Beitrag an die Weiterentwicklung<br />
der Sozialhilfe zu leisten. Die<br />
Sozialhilfe hat in den vergangen Jahren gut<br />
funktioniert und sich weiterentwickelt. Die<br />
SKOS hat dazu einen wichtigen Beitrag<br />
geleistet. Insofern habe ich meine Ziele<br />
erreicht. Der grösste Teil der Verbandsarbeit<br />
wird allerdings nicht vom Präsidenten<br />
geleistet. Deshalb möchte ich an dieser<br />
Stelle auch den vielen Leuten, die uns bei<br />
unserer Arbeit unterstützt haben, meinen<br />
Dank aussprechen.<br />
Welche Erfahrung wird Ihnen nachhaltig<br />
in Erinnerung bleiben?<br />
Die Verabschiedung der Richtlinien<br />
von 2005 in der Helferei des Grossmünsters<br />
in Zürich, als wir während Stunden<br />
um die letzten Formulierungen des damals<br />
neuen Richtlinienwerks gerungen<br />
hatten und es uns schliesslich gelang, bis<br />
auf <strong>ganz</strong> wenige Enthaltungen sämtliche<br />
Mitglieder des Vorstands zur Zustimmung<br />
zu bewegen. <br />
•<br />
Das Gespräch führte<br />
Michael Fritschi<br />
interview 1/14 ZeSo<br />
15
Bild: Christian Flierl / Pixsil<br />
16 ZeSo 1/14 SCHWERPUNKT
Armut und Unterversorgung schaden<br />
der Gesundheit<br />
Menschen, die unter Mangel leiden, sind einem erhöhten Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Wer wenig<br />
Geld hat, spart bei den Gesundheitsleistungen. Da die Ärmsten der Bevölkerung auch am häufigsten<br />
krank sind, entsteht eine doppelte Ungleicheit: Die, die eigentlich mehr zum Arzt gehen sollten, sind<br />
gleichzeitig jene, die am ehesten auf einen Arztbesuch verzichten.<br />
Ein geringer Sozialstatus ist für den Menschen das grösste<br />
Gesundheitsrisiko. Das war vor 500 Jahren so, und das ist leider<br />
auch heute noch so, sogar wieder mit zunehmender Tendenz. Die<br />
Situa-tion von damals ist belegt durch statistische Zahlen des<br />
Hospice Général in Genf. Dort wurden ab dem 17. Jahrhundert<br />
Kinder nach der Geburt registriert und dabei in drei Gruppen eingeteilt,<br />
abhängig davon, ob sie in reiche, arme oder in Familien<br />
zwischen diesen Polen hineingeboren wurden. Vergleicht man die<br />
Mortalitätsquotionten dieser «Versuchsgruppen», so zeigt sich anhand<br />
der Sterblichkeit in der Kindheit und im Alter, dass die arme<br />
Bevölkerung im Durchschnitt viel häufiger gestorben ist respektive<br />
weniger alt wurde. Im Weiteren lässt sich zeigen, dass sich die<br />
Gesundheitschancen der Menschen im Verlauf der Jahrhunderte<br />
deutlich verbessert haben und dass die Armen davon am meisten<br />
profitiert haben. Die Entwicklung, wonach die Gesundheitsrisiken<br />
aufgrund von sozialen Ungleichheiten geringer wurden, dauerte<br />
bis Mitte 20. Jahrhundert. Seit 1950 wird eine Trendwende beobachtet.<br />
Die Schere der Ungleichheiten zwischen arm und reich<br />
und damit der Gesundheitschancen geht seither wieder auseinander.<br />
Je reicher man ist, desto weniger besteht ein Risiko, an einem<br />
Herzschlag zu sterben oder an Diabetes zu leiden. Je nach Krankheit<br />
trägt die Gruppe der Armen in der Bevölkerung ein zwei-, vieroder<br />
sogar ein zehnfaches Risiko, zu erkranken. Wohlhabende<br />
Menschen scheinen sehr viel mehr von den diversen sozialen, medizinischen<br />
und kulturellen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts<br />
zu profitieren als materiell schlechtgestellte Menschen.<br />
15 Prozent verzichten<br />
Eine repräsentative Studie zum Gesundheitsverhalten der Genfer<br />
Bevölkerung zeigt, dass 15 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2009<br />
aus ökonomischen Gründen während der letzten zwölf Monate auf<br />
Der « Zahnstatus»<br />
eines Menschen lässt<br />
auf seinen Sozialstatus<br />
schliessen.<br />
Gesundheitsleistungen verzichtet haben. Drei Viertel dieser<br />
Gruppe haben beispielsweise auf Zahnarztleistungen verzichtet.<br />
Das erstaunt noch nicht sonderlich, wenn man bedenkt, dass in<br />
der Schweiz Zahnarztleistungen nicht durch die obligatorische<br />
Krankenversicherung abgedeckt werden. Die eigentliche Überraschung<br />
war, dass 35 Prozent dieser Gruppe auf medizinische<br />
Konsultationen verzichten, und dass 5 Prozent sogar auf einen<br />
chirurgischen Eingriff verzichtet haben – dies trotz obligatorischer<br />
Krankenversicherung.<br />
Wenn man die Verzichte auf Gesundheitsleistungen unter dem<br />
Aspekt des Einkommens betrachtet, so sind darunter 4 Prozent<br />
Personen, die mehr als 13 000 Franken pro Monat verdienen.<br />
Bei den Ärmsten, jenen, die weniger als 3000 Franken verdienen,<br />
sind es 30 Prozent. Da die Ärmsten der Bevölkerung auch<br />
am häufigsten krank sind, entsteht eine doppelte Ungleichheit:<br />
Die, die eigentlich mehr zum Arzt gehen sollten, sind gleichzeitig<br />
jene, die am ehesten darauf verzichten. Eine Ursache für diesen<br />
Missstand ist das Schweizer Krankenversicherungssystem. Seit<br />
der Einführung der obligatorischen Krankenversicherung im<br />
Jahr 1996 haben sich die Prämien mehr als verdoppelt, und das<br />
geltende Franchisensystem verleitet sozial Schwächere dazu, eine<br />
hohe Franchise zu wählen. Wenn dann etwas passiert, steht ihnen<br />
das nötige Geld für die Behandlung nicht zur Verfügung. Verallgemeinernd<br />
gesagt lässt sich vom «Zahnstatus» eines Menschen auf<br />
seinen Sozialstatus schliessen.<br />
Die Rolle der sozio-ökonomischen Stellung<br />
Die wachsende soziale Ungleichheit und mit ihr die ungleiche<br />
Ressourcenverteilung führen also dazu, dass armutsbetroffene<br />
Menschen von der Gesellschaft als selbstverständlich angesehene<br />
Gesundheitsziele vermehrt nicht mehr erreichen und dass sie die<br />
ihnen zustehenden medizinische Leistungen nicht erhalten. Um<br />
die diversen Gesundheitsrisiken besser abschätzen zu können, beobachtet<br />
die Wissenschaft so genannte soziale Determinanten. Sie<br />
haben den weitaus grössten Einfluss auf unsere Gesundheit: Die<br />
Forschung geht davon aus, dass die sozio-ökonomische Situation<br />
und mit ihr verbundene Verhaltensweisen unsere Gesundheit<br />
zu 40 bis 50 Prozent bestimmen. Weiteren Einfluss üben die<br />
Umwelt sowie die Wohnsituation aus (20 Prozent). Die genetische<br />
Veranlagung ist zu 20 bis 30 Prozent bestimmend. Der Einfluss<br />
des Gesundheitssystems, in dem wir uns bewegen, auf die Gesundheit<br />
beträgt hingegen lediglich 10 bis 15 Prozentpunkte.<br />
Die zehn wichtigsten sozialen Determinanten sind, gemäss<br />
WHO, der Sozialgradient (die Stellung in der Gesellschaft), Stress,<br />
die frühe Kindheit, soziale Isolierung, die Situation am Arbeits-<br />
18 ZeSo 1/14 SCHWERPUNKT
Gesundheit<br />
15 Prozent der Genfer Bevölkerung verzichtet gemäss einer Studie aus ökonomischen Gründen auf Gesundheitsleistungen. Bilder: Keystone<br />
platz, Arbeitslosigkeit, soziale Unterstützung, (Sucht-)Abhängigkeiten,<br />
die Ernährung und die Transportsituation (Bewegung,<br />
Distanzen, Kosten). Am Sozialgradient beispielsweise lässt sich<br />
zeigen, dass Personen mit universitärer Ausbildung eine fünf bis<br />
sieben Jahre höhere Lebenserwartung haben als Personen, die<br />
nur die Grundstufe absolviert haben oder über keine Ausbildung<br />
verfügen. Es gilt: je höher die sozio-ökonomische Stellung, desto<br />
höher die Lebenserwartung.<br />
Eine besonders wichtige Determinante ist auch die frühe Kindheit.<br />
In dieser Phase wird unsere gesundheitliche Entwicklung fürs<br />
<strong>ganz</strong>e weitere Leben vorbestimmt. Das Risiko von Diabetes bei<br />
Männern beispielsweise hängt erwiesenermassen mit dem Geburtsgewicht<br />
zusammen. Je geringer das Geburtsgewicht, desto höher<br />
das Diabetesrisiko (mit 64 Jahren bis zu siebenfach erhöhtes Risiko).<br />
Wenn man untersucht, welche Frauen Kinder zur Welt bringen,<br />
die ein geringes Geburtsgewicht haben, dann sind das häufig<br />
Frauen, die rauchen oder die unter mehr Stress stehen als andere,<br />
beispielsweise weil sie ihr Kind ohne Partner aufziehen. Monoparentale<br />
Kinder sind zudem tendenziell auch einer schlechteren<br />
und unregelmässigeren Ernährung ausgesetzt. Später gesellen sich<br />
die Ausbildungschancen als weiterer gesundheitsbestimmender<br />
Faktor hinzu. Über die Ausbildung lernt man beispielsweise, was<br />
dem Körper gut tut und was nicht. Ein Blick auf des Rauchverhalten<br />
von 25-jährigen Amerikanern zeigt: Von den Jugendlichen, die<br />
nur eine Basisausbildung machen, rauchen rund 30 Prozent, bei<br />
den Studentinnen und Studenten sind es 10 Prozent.<br />
Es ist allerdings nicht immer so, dass eine einzelne, spezifische<br />
soziale Determinante stärker auf unsere Gesundheit wirkt als andere.<br />
Vielmehr greifen Determinanten ineinander über. Das Bild<br />
ist immer als Ganzes zu betrachten. Bei der Determinante Arbeit<br />
– um ein weiteres Beispiel zu nennen – geht es um die Autonomie,<br />
die Arbeitsprozesse selbst zu bestimmen. Ein Manager, der zwar<br />
oft unter grossem Stress steht, kann seinen Arbeitsplan selber einteilen.<br />
Wenn er sich vom Stress erholen muss, geht er Golf spielen<br />
oder joggen. Seine Sekretärin hingegen muss die Arbeit erledigen,<br />
die er ihr vorgibt. Sie kann die Arbeit nicht einfach kurz mal liegen<br />
lassen. Es gilt: je tiefer in der sozialen Hierarchie, desto geringer<br />
die Autonomie, seine Arbeitsprozesse zu bestimmen. Und je weniger<br />
Autonomie, desto höher ist beispielsweise das Risiko für einen<br />
Herzinfarkt.<br />
Den Einfluss der Determinanten ernst nehmen<br />
In den aktuellsten verfügbaren Zahlen weist das Bundesamt für<br />
Statistik (BfS) für das Jahr 2011 rund 580 000 Personen aus, die<br />
von Einkommensarmut betroffen sind. 2012 waren ebenfalls<br />
gemäss BfS 15 Prozent der Bevölkerung oder jede siebte Person in<br />
der Schweiz armutsgefährdet. Schon aufgrund dieser Zahlen ist es<br />
angezeigt, den Einfluss der sozialen Determinanten ernst zu<br />
nehmen und gegen die zunehmende soziale Ungleichheit aktiv zu<br />
werden. Dass die Schweiz ein reiches Land ist, ist kein Grund,<br />
nicht genau hinzuschauen. Denn das Motto «je reicher, desto<br />
höher die Lebenserwartung» gilt primär für Entwicklungsländer<br />
SCHWERPUNKT 1/14 ZeSo<br />
<br />
19<br />
mit einem Pro-Kopf-Einkommen bis 5000 Dollar. Für industrialisierte<br />
Länder mit hohen Pro-Kopf-Einkommen hat man hingegen<br />
festgestellt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung bei extremen<br />
Unterschieden bei der Vermögensverteilung tiefer ist als in<br />
Ländern, wo diese Schere weniger weit geöffnet ist.<br />
Den diversen wissenschaftlichen Erkenntnissen kann ich eigene<br />
Beobachtungen aus rund zwanzig Jahren sozialmedizinischer<br />
Arbeit hinzufügen. Ich hatte viel mit vulnerablen Populationen,<br />
mit Obdachlosen, mit nicht versicherten «illegalen» Migranten<br />
und aktuell mit Gefängnisinsassen zu tun und bin zur Einsicht<br />
gekommen, dass man aufgrund des Gesundheitszustandes eines<br />
Menschen oft auch auf die Qualität des Gesundheitssystems in<br />
seinem Herkunftsland schliessen kann. Wenn eine Gesellschaft<br />
vulnerable Bevölkerungsgruppen wie Migranten oder Häftlinge<br />
schlecht behandelt oder von Sozialleistungen ausschliesst, besteht<br />
eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass diese Gesellschaft auch andere<br />
sozial schwache Gruppen schlecht behandelt oder misshandelt.<br />
In Ländern, die auch für Häftlinge eine gute Gesundheitsversorgung<br />
gewährleisten, kann man hingegen davon ausgehen, dass<br />
die gesamte Population sehr gut betreut wird.<br />
Konsequenzen für die Sozialarbeit<br />
In Analogie kann man wohl davon ausgehen, dass, wenn in einem<br />
Land die Sozialsysteme bei den Ärmsten greifen, sie generell gut<br />
greifen und dass dadurch die Ungleichheit bei der Vermögens-<br />
verteilung geringer ist. Ungleichheiten im System sind für alle<br />
schlecht. Sie bergen die Gefahr von sozialer Unruhe, senken die<br />
durchschnittliche Lebenserwartung und verursachen langfristig<br />
Mehrkosten, die auf den Staat und die Gesellschaft zurückfallen.<br />
Soziale Systeme sind dann gut, wenn die sozialen Auffangmechanismen<br />
auch bei vulnerablen Gruppen richtig umgesetzt<br />
werden.<br />
Wer die wichtigsten sozialen Determinanten kennt und beachtet,<br />
kann früher intervenieren und gezielter handeln, auch in der<br />
Sozialarbeit. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sollten deshalb<br />
die genannten zehn Determinanten «auf dem Radar» haben<br />
und ihren Klienten entsprechende Fragen stellen. Wenn mehrere<br />
Fragen alarmierende Antworten zur Folge haben, dann ist unter<br />
Umständen eine Kontaktaufnahme mit dem Arzt angebracht.<br />
Möglicherweise zeigt sich auch, dass dem Klient die Kompetenz<br />
fehlt, mit Ärzten zu sprechen oder eine Packungsbeilage zu lesen<br />
und zu verstehen («health illiteracy»). Solchen Klienten können<br />
Sozialarbeitende begleitend zur Seite stehen und ihnen helfen, sich<br />
im System zu orientieren. Eine parallele Handlungsebene besteht<br />
sinngemäss bei der Ernährung respektive bei Ernährungsfragen.<br />
Investieren, wo es sich lohnt<br />
Die Gesellschaft sollte erkennen, dass es sich lohnt, möglichst früh in<br />
Integrationsprojekte zu investieren. Was Integrationsmassnahmen<br />
langfristig bewirken können, zeigt das «Perry-Preschool-Project»,<br />
für das in einer amerikanischen Kleinstadt in der Nähe von Detroit<br />
rund 120 drei- bis vierjährige Kinder aus sehr prekären Verhältnissen<br />
in zwei Gruppen eingeteilt wurden: Die Hälfte der Kinder<br />
wurde während sechs Monaten von Erzieherinnen betreut und stimuliert,<br />
etwa indem ihnen bei den Hausaufgaben geholfen wurde<br />
oder indem man ihnen eine ausgewogene Ernährung reichte. Die<br />
andere Hälfte wurde nicht stimuliert und betreut. Die Kinder wurden<br />
dann 40 Jahre lang beobachtet.<br />
Es zeigten sich spektakuläre Unterschiede im Werdegang der<br />
Probanden: Die während eines halben Jahrs geförderten Kinder<br />
hatten im Vergleich zu den anderen Kindern wesentlich häufiger<br />
einen Schulabschluss gemacht, sie verdienten wesentlich häufiger<br />
mehr als 20 000 Dollar im Jahr, es kam in dieser Gruppe zu wesentlich<br />
weniger Verhaftungen durch die Polizei usw. Das Projekt<br />
kostete den Staat rund 18 000 Dollar, gut investiertes Geld. Man<br />
hat berechnet, dass jeder Dollar dem Staat eine Ausgabenersparnis<br />
von 16 Dollar generiert hat. Wenn ein Staat also bei den Ausgaben<br />
sparen will, wie er es auch bei uns in jüngster Zeit wieder vermehrt<br />
tun muss, sollte man bedenken, dass man durch eine gezielte<br />
Förderung von sozial Benachteilgten einen sehr viel grösseren<br />
Spareffekt erreicht, als wenn man neue Gefängnisse baut und bei<br />
Gesundheits- und Bildungsangeboten spart. <br />
•<br />
Hans Wolff<br />
Universitätsspital Genf, Leiter gefängnismedizinische Abteilung<br />
Mitglied der Antifolterkommission des Europarats<br />
protokolliert von Michael Fritschi<br />
Manche können Gesundheitsinformationen nicht selbständig verarbeiten.<br />
Literatur<br />
Hans Wolff, Jean-Michel Gaspoz, Idris Guessous, Health care<br />
renunciation for economic reasons, Swiss Medical Weekly, 2011.<br />
20 ZeSo 1/14 SCHWERPUNKT
Migrantenvereine als Plattform für die<br />
Anliegen der Gesundheitsförderung<br />
Das Präventionsprojekt «Von MigrantInnen für MigrantInnen» hilft unter Berücksichtigung und<br />
Nutzung des sozialen Kontexts mit, die Gesundheitskompetenz, die Eigenverantwortung und das<br />
Wissen über Präventionsangebote der Migrationsbevölkerung zu stärken.<br />
Gesundheit<br />
Migrantinnen bestücken eine Lebensmittelpyramide.<br />
Bild: zvg<br />
Gesundheitsförderungsmassnahmen für die Migrationsbevölkerung<br />
sind dann besonders erfolgreich, wenn sie die Netzwerke des<br />
Zielpublikums mitberücksichtigen und auf dessen sozialen Kontext<br />
abgestimmt sind. Auf der Basis dieser Hypothese fördert das Forum<br />
für die Integration der Migrantinnen und Migranten (FIMM) die<br />
Ausbildung von so genannten Multiplikatorinnen und Multiplikatoren<br />
für die Anliegen der Gesundheitsprävention. Unterstützt wird<br />
das FIMM vom Bundesamt für Gesundheit und von etablierten<br />
Organisationen der Gesundheitsförderung.<br />
In Kursen werden sozial engagierte Migrantinnen und Migranten<br />
über die Besonderheiten des schweizerischen Gesundheitswesens<br />
und zu allgemeinen Gesundheitsthemen wie Ernährung, Bewegung,<br />
Sucht oder Depression aufgeklärt. Sie lernen so die Angebote<br />
der Gesundheitsprävention kennen und erhalten Unterlagen sowie<br />
Adressen der zuständigen Organisationen und Institutionen. Weiter<br />
werden sie mit Inputs und Basisinformationen für die Organisation<br />
von Gesundheitsförderungsveranstaltungen geschult. Ziel der Kurse<br />
ist, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer später in ihren<br />
Vereinen selber Präventionsveranstaltungen organisieren. Die Ausbildung,<br />
die in den drei grossen Sprachregionen der Schweiz durchgeführt<br />
wird, dauert drei Tage und wird von Fachpersonen aus dem<br />
Gesundheitsbereich geleitet. Ein Teil dieser Fachpersonen verfügt<br />
selbst über Migrationshintergrund.<br />
Gut vernetzte Schlüsselpersonen<br />
Bei der Auswahl der Multiplikatoren wurde darauf geachtet, dass<br />
sie in ihren Vereinen als Schlüsselpersonen engagiert und akzeptiert<br />
sind, dass sie sich für Gesundheitsfragen interessieren, und<br />
dass sie sich in der Kurssprache ausdrücken können. Ihre Aufgabe<br />
wird es sein, die Durchführung der Veranstaltungen in ihren Vereinen<br />
zu organisieren und bei Landsleuten für den Besuch der Veranstaltung<br />
zu werben, wobei ihnen ihre gute Vernetzung im Verein<br />
dient. Zudem können sie sich auf das Wissen stützen, das sie sich<br />
über Projektmanagement und Kursvorbereitung angeeignet<br />
haben. Dadurch, dass die Multiplikatorinnen und Multiplikatoren<br />
für ihre Arbeit entschädigt werden, wird Verbindlichkeit erreicht.<br />
An der Veranstaltung selbst treten dann Fachpersonen der Gesundheitsförderung<br />
auf. Idealerweise sprechen die Fachpersonen<br />
die Sprache der Zielgruppe. So hat beispielsweise ein türkischsprachiger<br />
Psychiater in einem türkischen Verein zum Thema<br />
Depression referiert. Wo dies nicht möglich ist, werden die Fachpersonen<br />
von interkulturellen Dolmetscherinnen unterstützt.<br />
23 Personen haben die ersten Multiplikatorenkurse mit Erfolg<br />
abgeschlossen. Sie haben seither 24 Informationsveranstaltungen<br />
organisiert und durchgeführt. Sechs der Veranstaltungen fanden<br />
im Tessin, sechs in der Romandie und zwölf in der Deutschschweiz<br />
statt. Insgesamt nahmen 534 Personen an den Veranstaltungen<br />
teil, das sind im Durchschnitt 22 Personen pro Veranstaltung.<br />
Sechs der Veranstaltungen thematisierten Depressionen, sechs<br />
weitere drehten sich um «Ernährung und Bewegung», fünf um<br />
«Alkohol und Tabak», die anderen Veranstaltungen widmeten sich<br />
einem Mix rund ums Thema Gesundheit.<br />
Die Ausbildung der Multiplikatoren trägt dazu bei, die Gesundheitskompetenz,<br />
die Eigenverantwortung und das Wissen<br />
über Präventionsangebote unter der Migrationsbevölkerung zu<br />
stärken. Dabei erweist sich das soziale Umfeld der Vereine als wertvolle<br />
Ressource: In Zusammenarbeit mit den Migrantenvereinen<br />
kann das Zielpublikum in einem ihm vertrauten Umfeld und in<br />
seiner Muttersprache für die Gesundheitsförderung sensibilisiert<br />
werden. Mit dieser aufsuchenden und partizipativen Methode<br />
lassen sich insbesondere auch sozio-ökonomisch benachteiligte<br />
Personen ansprechen, die mit herkömmlichen Präventionsangeboten<br />
kaum erreicht werden.<br />
Die Verantwortlichen in den Vereinen machen ihrerseits die<br />
Erfahrung, dass ihre Mitglieder sich durchaus für Gesundheitsthemen<br />
interessieren und an solchen Veranstaltungen auch teilnehmen.<br />
Im Idealfall können Gesundheitsthemen ein Bestandteil<br />
der Vereinsaktivitäten werden. Und auch die beteiligten Gesundheitsbehörden<br />
können profitieren, indem sie die Koordinaten der<br />
Multiplikatoren erhalten und Personen oder deren Namen kennenlernen,<br />
die sie kontaktieren können, wenn sie beispielsweise Informationsunterlagen<br />
an eine Zielgruppe abgeben möchten. Mit dem<br />
Projekt werden wichtige Brücken zwischen den Migrantenorganisationen<br />
und Organisationen im Bereich Gesundheit gebaut. •<br />
Emine Sariaslan<br />
Projektleiterin, FIMM Schweiz<br />
SCHWERPUNKT 1/14 ZeSo<br />
Psychische Probleme und Armut sind<br />
eng miteinander verbunden<br />
Psychisch Kranke sind besonders häufig von Erwerbslosigkeit und Armut betroffen. Mit einem<br />
abgestimmten Vorgehen könnten Ärzte und Sozialarbeitende dazu beitragen, mehr Personen mit<br />
psychischen Problemen im Arbeitsmarkt zu halten.<br />
Menschen mit psychischen Problemen haben ein signifikant erhöhtes<br />
Armutsrisiko gegenüber psychisch gesunden Menschen. In der<br />
Schweiz zeigt sich das beispielsweise darin, dass unter den Personen,<br />
deren Haushalteinkommen nicht mehr als 60 Prozent des<br />
Medianeinkommens der Bevölkerung entspricht, der Anteil der Personen<br />
mit psychischen Problemen etwa ein Drittel höher ist als jener<br />
der psychisch Beschwerdefreien. In den meisten anderen Industriestaaten<br />
liegen die Quoten zwischen psychisch kranken und gesunden<br />
armutsgefährdeten Personen noch deutlicher auseinander.<br />
Betrachtet man nur Personen mit schwereren psychischen<br />
Störungen, zum Beispiel psychisch Kranke mit einer IV-Rente,<br />
dann ist das Armutsrisiko nochmals signifikant höher – auch<br />
im Vergleich zu IV-Berenteten mit körperlichen Krankheiten,<br />
Geburtsgebrechen oder unfallbedingten Gebrechen. Fast jeder<br />
zweite psychisch behinderte IV-Rentner lebt in Armut oder ist<br />
armutsgefährdet. Bei Geburtsgebrechen, körperlich Behinderten<br />
und unfallbedingten Behinderungen betragen die entsprechenden<br />
Werte 25, 33 respektive 20 Prozent.<br />
Negative Wechselwirkungen<br />
Armut wiederum ist ein wesentlicher Risikofaktor für die Ausprägung<br />
einer psychischen Krankheit. Armut ist ein starker psychischer<br />
Stressor, der die Bewältigung des täglichen Lebens konkret<br />
erschwert. Wie stark die Belastung durch Armut sein kann, lässt<br />
sich erahnen, wenn man bedenkt, dass die Angst vor Arbeitsplatzverlust<br />
zu den grössten psychischen Stressoren gehört, die es gibt.<br />
Armut und von ihr ausgelöster Stress wirkt sich aber auch indirekt<br />
auf die psychische Befindlichkeit aus. Man fühlt sich inkompetent,<br />
an den Rand der Gesellschaft gedrängt, ausgeschlossen, und man<br />
ist abhängig von den Systemen der sozialen Sicherung. Dass die<br />
Betroffenen Sozialversicherungsleistungen erhalten, ist selbstverständlich<br />
eine wichtige Unterstützung. Auf der anderen Seite bedeutet<br />
es auch einen engen Kontakt zu den Behörden mit all den<br />
jeweiligen Vorschriften, Regeln und Pflichten, die subjektiv als bevormundend,<br />
erniedrigend oder stigmatisierend (als faul, undiszipliniert<br />
oder unwillig) erlebt werden können.<br />
Dies ist gerade bei Personen mit einer psychischen Störung<br />
nicht selten der Fall, weil ihre konkreten Behinderungen für Aussenstehende<br />
nur schwer einzuschätzen sind. Kommt hinzu, dass<br />
die häufigen Versagensängste psychisch Kranker oft mit fehlender<br />
Veränderungsmotivation verwechselt werden und die teils krankheitsbedingte<br />
«Uneinsichtigkeit» in das eigene problematische<br />
Verhalten als Verletzung der Mitwirkungspflicht interpretiert<br />
wird. Viele psychisch Kranke sehen sich deshalb latent oder offen<br />
mit dem Verdacht konfrontiert, zu Unrecht Sozialversicherungsleistungen<br />
zu beziehen.<br />
In der Schweiz entsteht die Verbindung zwischen Armut und<br />
psychischer Krankheit häufig über die Erwerbslosigkeit. Schweizerinnen<br />
und Schweizer mit psychischen Problemen haben eine<br />
geringere Erwerbsquote und eine höhere Arbeitslosenquote als<br />
die beschwerdefreie Population. Betrachtet man die Bezügerinnen<br />
und Bezüger von Sozialversicherungsleistungen, so leiden<br />
zwischen 30 bis 45 Prozent der Arbeitslosen, der Sozialhilfeempfänger<br />
und der IV-Berenteten unter einer psychischen Störung,<br />
während die Rate in der Gesamtbevölkerung rund 20 Prozent<br />
beträgt.<br />
Die Gründe für den engen Zusammenhang zwischen psychischer<br />
Krankheit und Erwerbslosigkeit liegen in besonderen Merkmalen<br />
dieser Krankheiten, der Personen und der Reaktionen des<br />
Umfelds. Besonders der frühe Beginn psychischer Störungen ist<br />
bedeutsam. Anders als die meisten körperlichen Erkrankungen<br />
beginnt die Hälfte aller psychischen Erkrankungen vor dem<br />
14. Lebensjahr und drei Viertel davon vor dem 24. Lebensjahr.<br />
Dieses frühe Erkrankungsalter hat negative Konsequenzen auf<br />
die Ausbildung (Schulprobleme, Ausbildungsabbrüche) und auf<br />
den Berufseinstieg (prekäre Jobs, häufige Stellenwechsel), und<br />
das frühe Erkrankungsalter prägt das Erleben der Betroffenen<br />
(Versagensängste und in der Folge starkes Vermeidungsverhalten).<br />
Neben dem frühen Störungsbeginn ist wesentlich, dass psychische<br />
Krankheiten oft wiederkehrend oder chronisch verlaufen und sich<br />
durch psychiatrische Behandlung zwar stabilisieren, aber meist<br />
nicht heilen lassen.<br />
Persönlichkeitsmerkmale mit Konfliktpotenzial<br />
Dies schlägt sich im Einkommen nieder: Personen, die aus psychischen<br />
Gründen eine IV-Rente beziehen, haben auch in der Zeit, als<br />
sie noch erwerbstätig waren, oft ein stark unterdurchschnittliches<br />
Einkommen erzielt, bedingt durch schlechte Jobs, wiederholte<br />
Arbeitslosigkeit und Sozialhilfeabhängigkeit. Armut und Erwerbslosigkeit<br />
haben fast immer eine lange Geschichte. Bei den personbezogenen<br />
Merkmalen ist wesentlich, dass schwer psychisch Kranke<br />
oft eine «schwierige» Persönlichkeit haben und in ihrem Erleben<br />
und Verhalten nur schwer zu beeinflussen sind. Sie verhalten sich<br />
uneinsichtig, stur und anklagend, fühlen sich schlecht behandelt<br />
oder sehen sich als Opfer. Diese häufigen Persönlichkeitsmerkmale<br />
sind auf dem biografischen Hintergrund der Betroffenen zu<br />
verstehen, und führen oft zu Konflikten am Arbeitsplatz oder in<br />
der Beziehung zu Behörden.<br />
Schliesslich tragen auch umfeldbezogene Charakteristiken zur<br />
besonderen Problematik psychisch Kranker bei, so etwa Vorurteile,<br />
ungenügendes professionelles Know-how involvierter Instanzen<br />
und die meist fehlende Vernetzung unter den behandelnden Ärzten.<br />
22 ZeSo 1/14 SCHWERPUNKT
Gesundheit<br />
Psychisch bedingte Arbeitsprobleme lassen sich oft nur mit einem integrierten Vorgehen lösen. <br />
Bild: Keystone<br />
Aber auch behandelnde Ärzte sind oft wenig hilfreich, weil sie den<br />
Kontakt mit den Arbeitgebenden und den Behörden zu selten suchen<br />
oder ihn mit Verweis auf das Arztgeheimnis gar verhindern.<br />
Das Krankschreibeverhalten der Ärzte – man will den Patienten<br />
«schützen» – ist nicht selten eine Barriere für den Arbeitsplatzerhalt<br />
oder für eine Wiedereingliederung. Zudem tragen die Sozialversicherungen<br />
der Häufigkeit von psychischen Störungen bei<br />
ihrer Klientel kaum Rechnung. Sei es, weil psychische Krankheit<br />
mehr oder weniger negiert wird wie bei der Arbeitslosenversicherung<br />
oder weil die entsprechenden Kompetenzen und Ressourcen<br />
nicht vorhanden sind. Die meist negativen Reaktionen des Umfelds<br />
verstärken zudem die Hemmung der Betroffenen, sich mit<br />
ihren psychischen Problemen beispielsweise am Arbeitsplatz zu<br />
outen. Dies wiederum verhindert oft eine adäquate Reaktion des<br />
Umfelds. So lässt sich erahnen, wie komplex der Zusammenhang<br />
zwischen psychischen Problemen und Erwerbslosigkeit ist.<br />
Gemeinsam ein Setting erarbeiten<br />
Psychische Probleme spielen in der sozialen Arbeit sehr häufig eine<br />
wesentliche Rolle. Diese sollten von den Sozialarbeiterinnen und<br />
Sozialarbeitern aufgegriffen werden, und wenn psychische Probleme<br />
oder eine schwierige Persönlichkeit den Unterstützungsprozess<br />
entscheidend hemmen, sollten die Klienten respektive Klientinnen<br />
nach Möglichkeit einer ärztlichen oder psychiatrischen Behandlung<br />
zugewiesen werden. Generell sollte der Kontakt mit den<br />
behandelnden Ärzten gesucht werden. Dies ist gerade bei Klienten,<br />
die immer wieder Arbeitsstellen wegen Konflikten am Arbeitsplatz<br />
verlieren, besonders wichtig. Denn psychisch bedingte<br />
Arbeitsprobleme sind oft so komplex und dynamisch, dass man sie<br />
nur gemeinsam lösen kann. Das bedeutet allerdings, dass Sozialarbeitende,<br />
behandelnde Ärtinnen und Ärzte und die Klientel sich<br />
darüber einig werden müssen, wo das Problem zu verorten ist<br />
(Problemanalyse), wie dagegen vorgegangen werden soll (Eingliederungsplanung)<br />
und welche «Spielregeln» dabei gelten sollen<br />
(Setting).<br />
Psychische Krankheit, Erwerbslosigkeit und Armut sind nicht zuletzt<br />
deshalb eng miteinander verbunden, weil das Sozial- und das<br />
Gesundheitswesen so fragmentiert sind: Ärzte gehen Arbeitsprobleme<br />
in der Behandlung nicht konkret an und Sozialarbeitende kümmern<br />
sich zu wenig um die psychische Problematik. Mit einem integrierteren<br />
Vorgehen könnten mehr Personen mit psychischen Problemen im<br />
Arbeitsmarkt gehalten werden. Angesichts der steigenden Belastung<br />
der Sozialversicherungen durch die Ausgliederung psychisch Kranker<br />
sollte dies dringend an die Hand genommen werden. <br />
•<br />
Niklas Baer<br />
Leiter Fachstelle für Psychiatrische Rehabilitation<br />
Psychiatrie Baselland<br />
SCHWERPUNKT 1/14 ZeSo<br />
Informationslücken an der Schnittstelle<br />
von medizinischer und sozialer Tätigkeit<br />
Dass Armut die Krankheitsanfälligkeit erhöht, beobachten Sozialarbeiter genauso wie Ärztinnen und<br />
Therapeuten. Die Bearbeitung der Gesundheitsprobleme von Armutsbetroffenen erfordert eine<br />
eigene Agenda mit einer langfristigen und vernetzten Perspektive.<br />
Eingeschränkte finanzielle Verhältnisse, eine fehlende oder unbefriedigende<br />
berufliche Tätigkeit und weitere soziale Belastungen<br />
hinterlassen gesundheitliche Spuren. Die wirtschaftliche Notlage,<br />
gepaart mit gesundheitlichen Problemen, führt dazu, dass die Fachkräfte<br />
bei ihren Aktivierungs- und Integrationsbemühungen vor äusserst<br />
anspruchsvollen Herausforderungen stehen: Wenn physische<br />
oder psychische Probleme im Wege stehen, beeinträchtigt dies die<br />
Chancen auf eine berufliche Wiedereingliederung. Zudem ist es oft<br />
schwierig, die Bereitschaft der Klienten zur Kooperation abzuschätzen.<br />
Beispielsweise, ob jemand die gemeinsam erarbeiteten Ziele<br />
und Massnahmen nicht verfolgen kann oder nicht verfolgen will.<br />
Obwohl in der Praxis viele Erfahrungen mit Krankheiten von<br />
Armutsbetroffenen gemacht werden, liegt wenig wissenschaftliches<br />
Wissen darüber vor. Gut untersucht und belegt ist der Zusammenhang<br />
zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit<br />
im Allgemeinen. Weder das hohe Wohlstandsniveau noch die<br />
gute Sozial- und Gesundheitsversorgung in der Schweiz können<br />
verhindern, dass Einkommen, Bildung und beruflicher Status<br />
auch in der Schweiz in einem positiven Zusammenhang mit Gesundheit<br />
stehen. Dies zeigt der Gesundheitsbericht des Kantons<br />
Bern aus dem Jahr 2010 in eindrücklicher Weise.<br />
Über die Gesundheit von Armutsbetroffenen im Einzelnen ist<br />
jedoch wenig systematisches Wissen vorhanden, ein repräsentatives<br />
und flächendeckendes Bild über die gesundheitliche Situation<br />
von Armutsbetroffenen in der Schweiz fehlt bisher. In den existierenden<br />
Studien und Statistiken zur Armut tritt die Gesundheit,<br />
wenn überhaupt, nur als Teilaspekt auf. Bekannt ist beispielsweise,<br />
dass in der Stadt Bern die Gesundheitskosten von Sozialhilfebeziehenden<br />
deutlich höher sind als die durchschnittlichen Gesundheitskosten<br />
der übrigen Bevölkerung. Welche Krankheitsbilder<br />
in der Sozialhilfe typisch sind, wie sich diese entwickeln oder wie<br />
sich Armutsbetroffene mit ihrer Gesundheit auseinandersetzen,<br />
darüber ist hingegen wenig bekannt. Die Entwicklung von Massnahmen<br />
zur Gesundheitsförderung ist jedoch auf solches Wissen<br />
angewiesen.<br />
Die Stadt Bern hat deshalb eine Befragung von Langzeitarbeitslosen<br />
in Auftrag gegeben. Sie zeigt, dass sich Langzeitarbeitslose ihrer<br />
gesundheitlichen Probleme durchaus bewusst sind und dass sie sich<br />
Die Stärkung der Gesundheit von langzeitarbeitslosen Menschen – hier am Einsatzplatz – ist ein Pionierfeld. <br />
Bild: Marco Finsterwald<br />
24 ZeSo 1/14 SCHWERPUNKT
Gesundheit<br />
markant weniger gesund fühlen als der Durchschnitt der Bevölkerung.<br />
Die Arbeitslosen berichten über vielfältige physische und<br />
insbesondere auch über psychische Probleme wie den Verlust der<br />
Lebensfreude und der Motivation, ein beeinträchtigtes Selbstwertgefühl<br />
oder über Zukunfts- und Existenzängste. Namentlich die<br />
Überzeugung, die Kontrolle über das eigene Leben zu haben, ist<br />
bei den Langzeitarbeitslosen deutlich geringer ausgeprägt als im<br />
Durchschnitt der Schweizer Bevölkerung.<br />
Im Vergleich zeigen sich dramatische Unterschiede: Gegen<br />
60 Prozent der befragten 84 Langzeitarbeitslosen glauben nicht<br />
daran, das eigene Leben selber bestimmen zu können, während<br />
dieser Wert im Schweizer Durchschnitt bei ungefähr 20 Prozent<br />
liegt. Der Einfluss, den die Kontrollüberzeugung auf die verschiedenen<br />
Gesundheits- und Lebensbereiche ausübt, darf also nicht<br />
unterschätzt werden. Denn je höher die Kontrollüberzeugung ausgeprägt<br />
ist, desto positiver werden die Gesundheit sowie die sozialen<br />
und materiellen Lebensbedingungen eingeschätzt.<br />
Dass der Verlust des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten verheerende<br />
Auswirkungen zur Folge haben kann, zeigt sich auch im<br />
Beispiel rechts. Weil diese Klientin die Überzeugung verloren hat,<br />
im Berufsleben bestehen zu können, getraut sie sich nicht mehr,<br />
sich für eine Arbeitsstelle zu bewerben. Sie ist nicht mehr fähig,<br />
sich für ihre Eingliederung zu engagieren. Weil sie das selbst erkennt,<br />
stellen sich weitere psychische Krankheitszustände ein, die<br />
die eigenen Ressourcen zusätzlich minimieren.<br />
Armut macht krank<br />
Die Praxis weiss es und die Wissenschaft belegt es: Armut macht<br />
krank. Die soziale Einschränkung führt zu zusätzlichen gesundheitlichen<br />
Belastungen. Der Armut zu entkommen, wird doppelt<br />
schwierig, wenn die persönlichen Ressourcen durch Krankheit<br />
weiter eingeschränkt werden. Die Handlungsspielräume reduzieren<br />
sich weiter, ein Verharren in Krankheit und Armut wird wahrscheinlich.<br />
Angesichts der Komplexität der Problematik greifen<br />
einfache Behandlungsrezepte hier nicht. Die Bearbeitung der Gesundheitsprobleme<br />
von Armutsbetroffenen erfordert eine eigene<br />
Agenda mit einer langfristigen und vernetzten Perspektive. Eine<br />
erste nationale Tagung zum Thema Gesundheit und Armut am<br />
9. Mai <strong>2014</strong> in Bern schafft einen Rahmen, um den Austausch<br />
zwischen Praxis, Wissenschaft und Politik zu intensivieren (siehe<br />
dazu den Veranstaltungshinweis S. 35). <br />
•<br />
Martin Wild-Näf<br />
Berner Fachhochschule<br />
Fachbereich Soziale Arbeit<br />
Depressionen behindern<br />
die Arbeitssuche<br />
Frau Rüti ist eine 42-jährige Schweizerin. Früh Mutter geworden,<br />
hat sie die Primar- und Realschule abgeschlossen, aber<br />
keine Berufsausbildung absolviert. Nach der Scheidung von<br />
ihrem Ehemann und einer ersten Phase der Erwerbslosigkeit<br />
hat sie während einiger Jahre als Angestellte eines Lebensmittelgeschäfts<br />
gearbeitet. Seit der Schliessung dieses<br />
Ladens ist sie wieder erwerbslos, seit mehreren Jahren<br />
bezieht sie Sozialhilfe. Über ihr psychisches Wohlbefinden<br />
befragt, erzählt Frau Rüti, dass sie immer wieder depressive<br />
Phasen durchmache. Die Depressionen seien auch ein Grund<br />
dafür, dass sie sich gar nicht richtig zutraue, eine Arbeitsstelle<br />
zu finden. Im Gespräch über ihr subjektives Gesundheitsverständnis<br />
wird deutlich, dass sich dieses Verständnis<br />
vorwiegend auf die Fähigkeit zur Arbeit bezieht. «Ob jemand<br />
gesund ist, sieht man für mich daran, wie er die Abläufe im<br />
Arbeitsprozess meistert», sagt sie. «Ob er etwas durchhalten<br />
kann und ob er seine Aufgaben erledigen kann, ohne in eine<br />
Krise zu geraten.» Frau Rüti würde gerne wieder einmal paar<br />
Jahre lang «einfach gesund sein, damit ich arbeiten und das<br />
durchhalten kann.»<br />
Quelle: Lätsch, Pfiffner und Wild-Näf, 2012.<br />
Literatur<br />
Die Gesundheitschancen sind ungleich verteilt, Vierter Gesundheitsbericht<br />
des Kantons Bern, GEF, 2010.<br />
D. Lätsch, R. Pfiffner, M. Wild-Näf, Die Gesundheit sozialhilfebeziehender<br />
Erwerbsloser in der Stadt Bern, BFH, 2012.<br />
D. Haller, B. Erzinger, S. Steger, D. Lätsch, Gesundheitliche Aspekte in<br />
der Sozialhilfe, BFH, 2013.<br />
F. Wolffers, J. Fassbind, Strategien und Massnahmen zur beruflichen<br />
und sozialen Integration, Bern, 2010.<br />
F. Wolffers, Hohe Gesundheitskosten als Herausforderungen für die<br />
Sozialhilfe, Soziale Sicherheit CHSS, 3/2012.<br />
SCHWERPUNKT 1/14 ZeSo<br />
Freiwillige leisten Unterstützung bei der<br />
Bewältigung des Alltags<br />
In Zürich hilft das «Projekt Salute» Menschen, die unter sozio-ökonomisch begründeten gesundheitlichen<br />
Problemen leiden und die von primären Hilfsinstanzen wie Sozialdiensten oder<br />
ambulanten psychiatrischen Angeboten nicht erreicht werden.<br />
Soziale Faktoren wie Einsamkeit, materielle Not oder ein niedriger<br />
gesellschaftliche Status können krank machen und bei kranken<br />
Menschen die Genesung negativ beeinflussen. Doch nicht alle<br />
Menschen, die unter gesundheitlichen Problemen leiden, die mit<br />
sozialen Faktoren im Zusammenhang stehen, werden von den<br />
Unterstützungsangeboten spezialisierter Hilfsinstanzen, wie sie<br />
beispielsweise die Sozialhilfe oder ein ambulanter psychiatrischer<br />
Dienst darstellen, erreicht. Diverse Gründe können dafür die Ursache<br />
sein: Unwissen über die Hilfsangebote, Schamgefühle und oft<br />
eine Situation «irgendwo zwischen Medizin und Sozialarbeit», die<br />
verhindert, dass die betroffenen Personen Unterstützung erhalten.<br />
Um diese Menschen kümmert sich in der Stadt Zürich das Projekt<br />
Salute, das vom städtischen Gesundheitsdepartement finanziell<br />
unterstützt und vom Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) Kanton<br />
Zürich koordiniert wird.<br />
Auslöser für das Projekt war eine Intitiative, die ein Angebot<br />
zur Entlastung von Ärztinnen und Ärzten schaffen sollte, die mit<br />
gesundheitsbelastenden sozialen Problemen ihrer Patientinnen<br />
und Patienten konfrontiert sind. Mittlerweile können alle Akteure<br />
im Gesundheitswesen der Stadt ihre Patienten bei Salute anmelden.<br />
Dort werden diese von Freiwilligen bei der Bewältigung ihres<br />
Alltags unterstützt. Die Freiwilligen liest Salute sorgfältig aus: Sie<br />
müssen sich durch eine hohe Sozialkompetenz auszeichnen und<br />
ein mehrstufiges Rekrutierungsverfahren durchlaufen.<br />
Die Rolle der freiwilligen Helfer<br />
Die freiwilligen Helferinnen und Helfer kommen aus verschiedenen<br />
Berufsgruppen. Gemein ist ihnen eine Affinität zum Gesundheits-<br />
oder Sozialwesen, die sich oft im beruflichen Hintergrund<br />
spiegelt. Einige sind berufstätig und arbeiten nebenher ein paar<br />
Beim Hausbesuch kann die freiwillige Mitarbeiterin konkrete Hilfe zur Bewätligung des Alltags leisten.<br />
Bild: Roland Blattner<br />
26 ZeSo 1/14 SCHWERPUNKT
Gesundheit<br />
Stunden pro Woche für Salute, andere sind pensioniert. Ilona Caratsch<br />
beispielsweise, die sich als freiwillige Mitarbeiterin engagiert,<br />
ist Familienfrau und hat als Psychologin und Erziehungsberaterin<br />
gearbeitet. Ihre Motivation für die Freiwilligenarbeit geht<br />
zurück auf eigene Erfahrungen: «Mein Vater kam 1956 aus Ungarn<br />
als Flüchtling in die Schweiz. Seine positiven Erfahrungen im<br />
Flüchtlingslager des Schweizerischen Roten Kreuzes haben mich<br />
veranlasst, mich in Form einer Freiwilligenarbeit zu revanchieren».<br />
Sie erlebe eine gewisse Befriedigung, wenn sie andere Menschen<br />
unterstützen kann.<br />
Sigrid Peters, eine andere Freiwillige, die heute nicht mehr berufstätig<br />
ist, hat viele Jahre als Sachbearbeiterin bei verschiedenen<br />
Konzernen gearbeitet. Sie erlebt ihre Einsätze bei Salute als «endlich<br />
einmal eine spannende und abwechslungsreiche Tätigkeit.»<br />
Oft würden im Lauf eines Einsatzes noch gewichtigere Probleme<br />
auftauchen. Solche, die bei der Anmeldung nicht erwähnt wurden,<br />
erzählt sie. Im Unterschied zu anderen Beratungsdiensten machen<br />
die Freiwilligen von Salute Hausbesuche. So können sie sich<br />
bei einfachen Problemlagen auch einmal die Zeit nehmen, <strong>ganz</strong><br />
konkret Hilfe zu leisten. Mit dem Angebot erreicht Salute Menschen,<br />
die durch andere Hilfsangebote nicht erfasst wurden: Zwei<br />
von drei Klientinnen oder Klienten hatten vor oder während der<br />
Betreuung durch Salute keinen Kontakt mit einem professionellen<br />
Sozialdienst.<br />
Verdeckte Armutsproblematik<br />
Die häufigsten Gründe für die Zuweisungen an Salute sind Armut,<br />
finanzielle Probleme, Wohnungsprobleme respektive fehlende<br />
Nachbarschaftshilfe. Von den 110 Anfragen im Jahr 2013 wurden<br />
75 Fälle bearbeitet. Bei 50 Fällen kamen freiwillige Helfer<br />
zum Einsatz, 25 Fälle konnte der Koordinator direkt bearbeiten.<br />
Die übrigen Anfragen wurden entweder durch den Koordinator<br />
triagiert oder mussten zurückgewiesen werden, da sie nicht den<br />
Kriterien des Angebots entsprachen. Die Fälle weisen auf eine<br />
eigentliche Lücke im Versorgungsnetz hin. Zudem steckt hinter<br />
den Zahlen auch eine verdeckte Armutsproblematik: Drei von fünf<br />
Personen, die Hilfsangebote von Salute in Anspruch nehmen,<br />
Das Angebot von Salute<br />
Leistungen<br />
- Telefonische Beratung und Hilfestellung bei der Suche nach<br />
geeigneten Angeboten für die zuweisenden Ärzte und Fachpersonen.<br />
- Begleitung der Klienten und Klientinnen zu einer für sie<br />
geeigneten Fachstelle<br />
- Hausbesuche zur konkreten Problemlösung vor Ort<br />
Häufig nachgefragte Hilfestellungen<br />
- Unterstützung bei der Geltendmachung von Leistungen, der<br />
Bewältigung von administrativen Aufgaben und im Umgang<br />
mit Amtsstellen<br />
- Vermittlung von Fachstellen und sozialen Kontakten<br />
- Begleitung zu Terminen<br />
www.srk-zuerich.ch/salute<br />
haben ein Netto-Haushaltseinkommen von 3000 Franken oder weniger.<br />
Die Mehrheit der Unterstützten lebt allein und pflegt wenig bis<br />
keine sozialen Kontakte. Ein Drittel sagt von sich, keine Verwandten<br />
zu haben, mit denen sie sich verbunden fühlen, und viele haben keine<br />
nahestehenden Freunde. Die meisten sind nicht erwerbstätig und beziehen<br />
eine Rente, wie ein Evaluationsbericht zum Projekt gezeigt hat.<br />
Das Durchschnittsalter der unterstützten Personen beträgt 55 Jahre.<br />
Neben somatischen Leiden sind es häufig psychische Beschwerden<br />
und Abhängigkeitsproblematiken, die zur Notlage beitragen. •<br />
Christian Rupp<br />
Bereichsleiter Überbrückung<br />
Schweizerisches Rotes Kreuz Kanton Zürich<br />
Fallbeispiel: Fortschreitende Vereinsamung<br />
Frau R., eine gelernte Verkäuferin, ist aufgrund einer Erkrankung<br />
der Atemwege seit ihrem 45. Lebensjahr auf ein Atemgerät angewiesen,<br />
das sie immer bei sich hat. Das Atemgerät schränkt ihre<br />
Mobilität stark ein, sodass sie kaum mehr unter die Leute geht.<br />
Ihren einzigen Sohn, der in der Westschweiz lebt, sieht die heute<br />
55-Jährige selten, von ihrem Mann lebt sie geschieden. Frau R.<br />
gab an, dass sie nur zu einer Person neben ihrem Sohn regelmässigen<br />
Kontakt habe. Mit dieser Person könne sie manchmal auch<br />
Persönliches besprechen. Frau R. empfindet oft negative Gefühle<br />
wie tiefe Traurigkeit, Verzweiflung, Angst und hat Depressionen.<br />
Ihre Lebensqualität beurteilt sie insgesamt als schlecht. Sie kann<br />
zwar einigermassen für sich selbst sorgen, hat aber grosse Schwierigkeiten,<br />
am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Schon einfache<br />
Aktivitäten, wie die Fahrt mit dem Bus zur nächsten Migros,<br />
sind wegen des Atemgeräts für Frau R. eine grosse Herausforderung.<br />
Trotz allem versucht sie aber immer wieder auch das Positive<br />
zu sehen und sich ihrem Schicksal zu stellen.<br />
Eine Spitex-Pflegerin hatte die fortschreitende Vereinsamung<br />
von Frau R. bemerkt und sie – mit ihrem Einverständnis – bei<br />
Salute angemeldet. Salute solle helfen abzuklären, wie die Frau ihr<br />
Defizit an sozialen Kontakten aufgefangen werden könnte. Nach<br />
einem telefonischen Gespräch trafen sich Frau R., eine freiwillige<br />
Mitarbeiterin sowie der Projekt-Koordinator von Salute bei ihr zuhause.<br />
Salute verhalf Frau R. zu regelmässigen Besuchen durch die<br />
Nachbarschaftshilfe. Diese organisiert unter Einbezug von Freiwilligen<br />
aus der Nachbarschaft konkrete Hilfestellungen für Einkäufe<br />
oder Besuche. Weiter hat die Salute-Mitarbeiterin Frau R. für<br />
einen Französischkurs angemeldet, dessen Besuch sie sich schon<br />
lange gewünscht hat. Zum Sprachkurs wird sie jeweils von einer<br />
Person der Nachbarschaftshilfe begleitet. <br />
•<br />
Professionelle Sozialarbeit bedingt<br />
flexible Vorgehensweisen<br />
Damit sich die sozialarbeiterische Tätigkeit innerhalb der Sozialhilfe entfalten kann, müssen die<br />
gesetzlichen Spielräume genutzt werden. Gedanken zu den Kernaufgaben der Sozialhilfe, die sich<br />
insbesondere an zukünftige Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter richten.<br />
Der Auftrag der Sozialhilfe wird in den<br />
kantonalen Sozialhilfegesetzen und den<br />
dazugehörigen Ausführungsbestimmungen<br />
umschrieben. Dabei wird zwischen wirtschaftlicher<br />
und persönlicher Hilfe unterschieden.<br />
Die wirtschaftliche Hilfe dient<br />
der Existenzsicherung, während durch die<br />
persönliche Hilfe die berufliche und soziale<br />
Integration gefördert werden sollen. Die<br />
Ausrichtung der wirtschaftlichen Hilfe<br />
orientiert sich an den SKOS-Richtlinien,<br />
während es bei der Ausgestaltung der persönlichen<br />
Hilfe grosse Unterschiede gibt.<br />
Aufgrund der Mitwirkungspflichten der<br />
Klientinnen und Klienten kann das Handlungsfeld<br />
der Sozialhilfe als Pflichtkontext<br />
bezeichnet werden, in dem nicht alles mit<br />
den Klienten aushandelbar ist und auch<br />
finanzielle Sanktionen verhängt werden<br />
können.<br />
Bestehen bei den Klientinnen und Klienten<br />
mehr als vorübergehende finanzielle<br />
Schwierigkeiten, müssen auch die Ursachen<br />
und Folgen der Armutssituation wie<br />
psycho-soziale oder gesundheitliche Probleme<br />
berücksichtigt werden. Das bedingt<br />
ein fallspezifisches Vorgehen. Allerdings<br />
steht in der Praxis nicht immer genügend<br />
Zeit für Beratungen und nachhaltige Interventionen<br />
zur Verfügung, sodass sich die<br />
Sozialhilfe auf die Ausrichtung finanzieller<br />
Leistungen beschränken kann. In polyvalenten<br />
Sozialdiensten besteht zudem<br />
eine Tendenz, dass Fälle des Kindes- und<br />
Erwachsenenschutzes aufgrund ihrer Dringlichkeit<br />
prioritär bearbeitet werden.<br />
Sozialhilfe ist auf die Sozialarbeit<br />
angewiesen<br />
Weil die Sozialhilfe die berufliche und soziale<br />
Integration der Klienten fördern soll,<br />
ist sie auf die soziale Arbeit angewiesen.<br />
Bei vielen Klientinnen und Klienten liegen<br />
nicht nur finanzielle Probleme vor, sodass<br />
Beratung oder Case Management geleistet<br />
Spielraum schaffen und nutzen<br />
Damit die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter<br />
in der Sozialhilfe qualitativ hochstehende<br />
Leistungen erbringen können,<br />
sind sie auf förderliche organisatorische<br />
Rahmenbedingungen angewiesen. Die Organisation<br />
muss sicherstellen, dass der<br />
Spielraum für ein professionelles Handeln<br />
nicht aufgrund administrativer und betriebswirtschaftlicher<br />
Vorgaben zu stark eingeschränkt<br />
wird. Es muss möglich sein, gemeinsam<br />
mit den Klienten fallspezifische<br />
Lösungen zu entwickeln. Weiter ist eine<br />
Organisationskultur nötig, die Reflexionsarbeit<br />
fördert und die der sozialarbeiterischen<br />
Rationalität grosses Gewicht beimisst. So<br />
können beispielsweise fachliche Konzepte<br />
für die Zusammenarbeit mit verschiedenen<br />
Klientengruppen wie jungen Erwachsenen,<br />
Working Poor oder mit ausgesteuerten älteren<br />
Sozialhilfebeziehenden entwickelt werden<br />
und auch entsprechende Wissensbestände<br />
in der Organisation aufgebaut und<br />
weiterentwickelt werden.<br />
Eine besondere Herausforderung der<br />
sozialen Arbeit in der Sozialhilfe besteht<br />
darin, dass bei der Fallbearbeitung Verwerden<br />
müssen. Zudem sind bei Entscheiden<br />
über finanzielle Leistungen komplexe<br />
Abklärungen erforderlich und aufgrund<br />
der Mitwirkungspflicht häufig fachliche<br />
Einschätzungen nötig, beispielsweise in<br />
Bezug auf die Arbeitsfähigkeit oder die Zumutbarkeit<br />
der Teilnahme an Integrationsprogrammen.<br />
Das Potenzial sozialarbeiterischer Professionalität<br />
in der Sozialhilfe liegt darin,<br />
dass komplexe Problemsituationen erkannt<br />
und fallspezifisch bearbeitet werden.<br />
Dies bedingt sorgfältige Abklärungen<br />
und eine partizipative Beziehungsgestaltung<br />
zum Klienten. Die Beratungs- und<br />
Vernetzungsarbeit sowie eine flexible Vorgehensweise<br />
sollen dem Einzelfall gerecht<br />
werden. Sorgfältige Abklärungen sind also<br />
eine Voraussetzung dafür, dass realistische<br />
Ziele formuliert und ein Vorgehen geplant<br />
werden können, bei dem die Klienten weder<br />
unter- noch überfordert werden.<br />
Die partizipative Beziehungsgestaltung<br />
beinhaltet, dass den Klientinnen und<br />
Klienten bewusst Mitbestimmungsmöglichkeiten<br />
eingeräumt werden, was sich<br />
positiv auf ihre Kooperationsbereitschaft<br />
und damit auf den Erfolg der Interventionen<br />
auswirkt. Im Rahmen der Beratung<br />
Die Rücksichtnahme<br />
auf die<br />
Besonderheiten<br />
des Einzelfalls erhöht<br />
die Chance<br />
auf langfristigen<br />
Erfolg.<br />
können die Klienten mit ihrer Problematik<br />
konfrontiert werden und es können<br />
Veränderungsprozesse angeregt werden,<br />
indem ihnen beispielsweise Vorschläge für<br />
das weitere Vorgehen unterbreitet werden.<br />
Bei der Vernetzung ist sicherzustellen, dass<br />
involvierte Angebote die Probleme, Ressourcen<br />
und Bedürfnisse der Klienten angemessen<br />
berücksichtigen. Damit lassen<br />
sich unnötige Abbrüche oder Leerläufe<br />
vermeiden. Ein flexibles Vorgehen, das auf<br />
die Besonderheiten des Einzelfalls Rücksicht<br />
nimmt, ist zwar aufwändiger als eine<br />
routinisierte Vorgehensweise, dafür ist das<br />
Unterstützungspotenzial grösser, und das<br />
erhöht die Wahrscheinlichkeit langfristiger<br />
Erfolge.<br />
28 ZeSo 1/14 SOZIALARBEIT IN DER SOZIALHILFE
In der Praxis steht nicht immer genügend Zeit für nachhaltige Beratungen zur Verfügung. Bild: Pixil<br />
waltungsvorgaben und fachliche Standards<br />
berücksichtigt werden müssen: Einerseits<br />
sollen Probleme der Klientinnen<br />
und Klienten normkonform angegangen<br />
werden, andererseits soll angemessen auf<br />
die Klienten und deren Lebenssituation<br />
eingegangen werden. Dies bedingt, dass<br />
gesetzliche Spielräume genutzt werden<br />
und fallspezifische Problemlösungen die<br />
dominante Vorgehensweise sind.<br />
Gelingt dies, kann von einer professionalisierten<br />
Sozialhilfe gesprochen werden,<br />
bei der Fachlichkeit und administrative<br />
Vorgaben nicht im Widerspruch<br />
zueinander stehen müssen. Voraussetzungen<br />
dafür sind neben fachlich kompetenten<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern<br />
und einer Organisationskultur, die<br />
der sozialarbeiterischen Rationalität ein<br />
hohes Gewicht beimisst, auch eine angemessene<br />
Ressourcenausstattung der Sozialdienste.<br />
<br />
•<br />
Rahel Müller de Menezes, Dozentin<br />
Simon Steger, wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />
Berner Fachhochschule, Soziale Arbeit<br />
Empfehlungen für die<br />
Ausgestaltung der<br />
persönlichen Hilfe<br />
1. Schaffen Sie gegenüber den Klientinnen<br />
und Klienten Transparenz über die Rahmenbedingungen<br />
der Unterstützung. Erklären<br />
Sie ihnen die Möglichkeiten und Grenzen<br />
der Unterstützung durch den Sozialdienst<br />
(Mitwirkungspflichten, Unterstützungsrichtlinien).<br />
Damit lassen sich Kooperationsund<br />
Widerstandsprobleme reduzieren.<br />
2. Gestalten Sie die persönliche Hilfe konsequent<br />
als Hilfe zur Selbsthilfe und suchen<br />
Sie flexible Lösungen im Einzelfall. Nutzen<br />
Sie konsequent die Ressourcen des Gegenübers<br />
und seines Umfelds. Damit werden<br />
die Autonomie und die Kompetenzen der<br />
unterstützten Person oder Familie gestärkt.<br />
3. Legen Sie als Organisation fest, welche<br />
Leistungen im Rahmen der persönlichen<br />
Hilfe erbracht werden und differenzieren<br />
Sie die persönliche Hilfe für unterschiedliche<br />
Klientengruppen (junge Erwachsene,<br />
psychisch Kranke, ältere Sozialhilfebeziehende).<br />
4. Koordinieren Sie Ihre Hilfeprozesse mit den<br />
beteiligten Institutionen im Versorgungssystem<br />
(Integrationsprogramme,<br />
Hausärzte etc.).<br />
5. Strukturieren Sie den Hilfeprozess in<br />
mindestens drei Phasen des methodischen<br />
Handelns: Analyse, Intervention und Evaluation.<br />
Dies ermöglicht ein strukturiertes und<br />
reflektiertes Vorgehen. Diese Phasen lassen<br />
sich organisatorisch verankern (beispielsweise<br />
durch kollegiale Besprechungen von<br />
Intake-Fällen).<br />
Literatur<br />
Rahel Müller de Menezes, Soziale Arbeit in<br />
der Sozialhilfe – eine qualitative Analyse<br />
von Fallbearbeitungen, Springer, Wiesbaden,<br />
2012.<br />
SOZIALARBEIT IN DER SOZIALHILFE 1/14 ZeSo<br />
29
Wenn in der Rekrutenschule<br />
das Geld ausgeht<br />
Vor dem Militärdienst die Stelle verloren, während der Rekrutenschule die Miete nicht mehr bezahlen<br />
können oder im Wiederholungskurs verunfallt: Bei solchen Problemen können sich die Betroffenen an<br />
den Sozialdienst der Armee wenden.<br />
Der Empfangsschalter könnte auch einem<br />
anderen Zweck dienen. Ein Mann nimmt<br />
Anmeldungen entgegen und kontrolliert<br />
die Angaben zur Person. Er hält telefonisch<br />
Rücksprache und öffnet schliesslich<br />
per Knopfdruck die gläserne Eingangstür.<br />
Victor Läng, Stellvertreter Chef Bereich<br />
Sozialdienst der Armee, begrüsst uns im<br />
Verwaltungsgebäude an der Rodtmattstrasse<br />
110 in Bern. Hier befindet sich das<br />
«Personalbüro der Armee», zu dem auch<br />
der Sozialdienst der Armee (SDA) gehört.<br />
Immer wieder wird Victor Läng während<br />
des Besuches militärische Abkürzungen<br />
verwenden. Oft spricht er von den<br />
AdA und bezeichnet so die Angehörigen<br />
der Armee. Er erzählt von Lusia und ergänzt,<br />
dass damit das Projekt «Lesen und<br />
Schreiben in der Armee» gemeint ist. «In<br />
den elf Jahren, in denen ich hier arbeite,<br />
habe ich wohl so einige Abkürzungen<br />
übernommen», sagt Läng schmunzelnd.<br />
Das ist aber auch schon das Einzige, das<br />
dem bald 60-jährigen Sozialberater, der<br />
vorher als betrieblicher Sozialarbeiter in<br />
der Privatwirtschaft und in einem öffentlichen<br />
Sozialdienst tätig war, einen militärischen<br />
Anstrich verleiht.<br />
Milizsozialberater<br />
Auch die Büros der sieben Mitarbeitenden<br />
des SDA weisen kaum auf den militärischen<br />
Arbeitskontext hin. Hier gehen jährlich<br />
rund 5000 Anrufe mit Beratungsanfragen<br />
ein. Und hier werden die Einsätze<br />
der 26 Milizsozialberater koordiniert, die<br />
im Rahmen ihres Militärdienstes Beratungen<br />
in den Rekrutenschulen (RS) der <strong>ganz</strong>en<br />
Schweiz durchführen. Sie beraten die<br />
Rekruten bei finanziellen Angelegenheiten<br />
und helfen beim Erstellen eines Budgets<br />
für die Dienstzeit. Oder sie informieren<br />
über arbeitsrechtliche Fragen wie beispielsweise<br />
den Kündigungsschutz, unterstützen<br />
die Rekruten bei psychosozialen<br />
Problemen oder vermitteln sie an geeignete<br />
Stellen weiter, zum Beispiel an den<br />
Psychologisch-Pädagogischen Dienst der<br />
Armee. Mehrheitlich arbeiten die Milizsozialberater<br />
auch im Zivilleben im Sozialbereich,<br />
andere sind Lehrer oder Juristen.<br />
«Die verschiedenen Hintergründe bereichern<br />
die Beratungsarbeit sehr», sagt Victor<br />
Läng.<br />
Wenn sich die Gelegenheit vor Ort in<br />
der RS nicht ergibt, können die Angehörigen<br />
der Armee auch beim Armeesozialdienst<br />
in Bern in die Beratung kommen.<br />
Neben Läng arbeiten hier zwei weitere<br />
Sozialberater und eine Sozialberaterin.<br />
Der Sozialdienst richtet bei finanziellen<br />
Engpässen auch Zuschüsse aus, zum Beispiel,<br />
wenn Rekruten bereits eine eigene<br />
Wohnung haben und die Erwerbsausfallentschädigung<br />
(EO) nicht ausreicht, um<br />
Victor Läng, stellvertrender Chef Bereich SDA<br />
die Miete zu bezahlen. «Mietzuschüsse<br />
werden am meisten nachgefragt und sind<br />
in den letzten Jahren eine der Hauptausgabenpositionen»,<br />
sagt Läng.<br />
Budget erstellt und Deutschkurs<br />
vermittelt<br />
Dieses Anliegen hatte auch ein 23-jähriger<br />
Rekrut, von dem Läng erzählt. Kürzlich sei<br />
ihm dieser hier an seinem runden Beratungstisch<br />
gegenüber gesessen. Der Automobilfachmann<br />
hatte kurz vor RS-Beginn<br />
seine Stelle verloren. Er bekam in der<br />
Rekrutenschule das EO-Minimum von<br />
1700 Franken im Monat, musste aber unter<br />
anderem die Wohnung weiterbezahlen,<br />
die er mit seiner Ehefrau bewohnte. Der<br />
Mann hatte mit einer höheren Entschädigung<br />
gerechnet, da seine Frau im fünften<br />
Monat schwanger war. Er war nicht darüber<br />
informiert, dass er diese erst ab Geburt<br />
des Kindes geltend machen konnte. Da seine<br />
Frau kaum Deutsch sprach und keiner<br />
Erwerbsarbeit nachgehen konnte, war das<br />
Paar in eine finanzielle Notlage geraten.<br />
«Zuerst klärte ich für den AdA ab, ob die<br />
Kündigung rechtens war», beschreibt Läng<br />
den Ablauf der Beratung. Dann habe er<br />
den Mann über die Erwerbsersatzordnung<br />
informiert und mit ihm ein Budget erstellt.<br />
Und schliesslich habe dem Paar bis zur Geburt<br />
des Kindes mit einem Unterstützungsbetrag<br />
über die Runde geholfen<br />
werden können. Die Beratung des SDA<br />
kann aber auch weitere Aspekte enthalten.<br />
«In diesem Fall haben wir der Ehefrau des<br />
AdA einen Deutschkurs vermittelt», erzählt<br />
Läng.<br />
Er stellt immer wieder fest, dass viele<br />
junge Leute schlecht über ihre Ansprüche<br />
und Pflichten während der Dienstzeit Bescheid<br />
wissen und sich teilweise zu wenig<br />
mit ihrer finanziellen Situation auseinandersetzen.<br />
«Wenn man von einem Budget<br />
spricht, ist das für viele ein Fremdwort.»<br />
30 ZeSo 1/14 reportage
«Wenn man von<br />
einem Budget spricht,<br />
ist das für viele ein<br />
Fremdwort.»<br />
Im Büro in Bern gehen jährlich rund 5000 Anrufe mit Beratungsanfragen ein. Bilder: Béatrice Devènes<br />
Andererseits seien die EO-Regelungen für<br />
viele komplex, räumt Läng ein. Deswegen<br />
versucht der SDA bereits am Orientierungstag<br />
beziehungsweise anlässlich der<br />
Rekrutierung anzusetzen: Die künftigen<br />
Rekruten werden mit Filmen und Broschüren<br />
ermuntert, sich rechtzeitig mit<br />
ihrer finanziellen Situation während der<br />
RS auseinanderzusetzen.<br />
2013 haben knapp 8 Prozent der eingerückten<br />
Rekruten, nämlich rund 1600,<br />
eine Beratung des SDA in Anspruch genommen.<br />
Ein Drittel davon erhielt eine<br />
finanzielle Hilfe. Dabei dienen auch die<br />
SKOS-Richtlinien als Referenzrahmen.<br />
Die Beiträge für Rekruten machen über<br />
60 Prozent der Gesamtausgaben des SDA<br />
von 1,57 Millionen Franken aus. Das Geld<br />
stammt aus privaten Stiftungen. Lediglich<br />
die sieben Stellen der SDA-Mitarbeitenden<br />
sind durch den Bund finanziert. Neben den<br />
Rekruten können auch WK-Absolventen,<br />
Angehörige des Rotkreuzdienstes und des<br />
Zivilschutzes, Personen, die Friedenförderungsdienst<br />
leisten sowie Militärpatienten<br />
und Hinterbliebene von verstorbenen Militärpatienten<br />
die Angebote des SDA in Anspruch<br />
nehmen. Insgesamt bearbeitete der<br />
SDA 2013 rund 2000 Dossiers.<br />
Unfall im Wiederholungskurs<br />
Victor Läng erzählt die Geschichte eines<br />
Militärpatienten, die ihn sichtlich betroffen<br />
macht. 1986 verunfallte ein heute<br />
53-jähriger Panzergrenadier in seinem<br />
letzten Wiederholungskurs. Wegen der erlittenen<br />
schweren Knieverletzung konnte<br />
er danach nicht mehr in seinem Beruf als<br />
Zimmermann arbeiten. Das kaputte linke<br />
Bein führte zu einer Fehlbelastung des<br />
rechten Beins und über die Jahre dazu,<br />
dass der Mann auch dieses Bein nicht<br />
mehr richtig benutzen konnte. Eine lange<br />
Leidensgeschichte begann, die durch versicherungsrechtliche<br />
Aspekte zusätzlich belastet<br />
wird. Auch nach über 25 Jahren ist<br />
noch nicht abschliessend geklärt, welche<br />
Leistungen die SUVA-Militärversicherung<br />
und welche die Invalidenversicherung zu<br />
übernehmen hat. Der Mann habe sich<br />
schliesslich beim SDA gemeldet, der ihn in<br />
dieser «Zeit des Übergangs» rechtlich<br />
berät, und ihn psychosozial und teilweise<br />
auch finanziell unterstützt.<br />
Es ist aber selten, dass Personen über<br />
einen solch langen Zeithorizont unterstützt<br />
werden. Die Beratung ist normalerweise<br />
auf die Dienstzeit beschränkt. Am Ende der<br />
RS oder des WK erlischt der Anspruch. Die<br />
Klienten müssen sich dann bei Bedarf an<br />
den öffentlichen Sozialdienst wenden. Im<br />
Unterschied zu diesem hat der SDA keine<br />
ausdrückliche gesetzliche Verpflichtung,<br />
Leistungen zu erbringen. «Dadurch sind<br />
wir vielleicht auch etwas freier und können<br />
pragmatischer arbeiten», sagt Läng. «Wir<br />
entscheiden situativ, bedarfsgerecht, auch<br />
im Rahmen unserer SDA-Grundlagen.»<br />
Das Ziel sei in erster Linie, die AdA in<br />
schwierigen Lebenslagen soweit zu entlasten,<br />
dass sie freier von finanziellem und<br />
persönlichem Stress und damit sicherer<br />
ihren Militärdienst absolvieren können, betont<br />
Läng und fügt an: «Ich sage immer, vor<br />
dem Verdienen kommt das Dienen.» •<br />
Regine Gerber<br />
reportage 1/14 ZeSo<br />
31
Mit provisorischen Mietverträgen<br />
Wohnraum für Benachteiligte finden<br />
Die Waadtländer Stiftung Apollo hilft Menschen in schwierigen Situationen, eine Wohnung zu finden.<br />
Sie schliesst den Mietvertrag auf ihren eigenen Namen ab, und wenn sich die Lage für die unterstütze<br />
Person verbessert hat, wird der Vertrag auf diese überschrieben.<br />
PLATTFORM<br />
Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />
diese Seite als Plattform an. In dieser Ausgabe<br />
der Stiftung Apollo in Vevey.<br />
Sozial schwächere Menschen bekunden oft Mühe, eine geeignete Wohnung für sich zu finden.<br />
Notunterkunftslösungen gibt es in vielen<br />
Gemeinden, doch diese sind primär für<br />
sozial stark ausgegrenzte Personen bestimmt:<br />
Für Menschen in weniger akuten<br />
Notlagen sind sie weniger geeignet. Zudem<br />
operieren Notunterkünfte oft an der<br />
Grenze ihrer Kapazitäten. Menschen in<br />
Notlagen sind eine verletzliche Bevölkerungsgruppe,<br />
die gerade aufgrund ihrer<br />
Umstände auf eine stabile Wohnsituation<br />
angewiesen ist. Für sie setzt sich die Stiftung<br />
Apollo ein: Im zunehmend wettbewerbsorientierten<br />
Immobilienmarkt, der<br />
viele «aussen vor» lässt, kann die Stiftung<br />
mit der Unterzeichnung von Mietverträgen<br />
auf ihren Namen und der Unterstützung<br />
und Betreuung von Wohnungssuchenden<br />
gute Lösungen herbeiführen.<br />
Die Gründung der Stiftung geht auf eine<br />
Studie zurück, welche die drei Waadtländer<br />
Riviera-Gemeinden Vevey, Montreux und<br />
La Tour-de-Peilz im Jahr 2008 durchführen<br />
liessen. Mit ihr sollten der Wohnungsmangel<br />
und die Probleme, mit denen<br />
Menschen in finanziellen oder sozialen<br />
Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche<br />
konfrontiert sind, untersucht werden. Die<br />
Behörden, die Gemeindeverwaltungen<br />
und die sozialen und medizinischen Strukturen<br />
hatten alle das Gleiche festgestellt:<br />
Wenn Wohnungsmangel herrscht, sind<br />
die sozial schwächeren Menschen auf<br />
dem Immobilienmarkt besonders hilflos.<br />
Aufgrund dieses Befunds begannen die<br />
Auftraggeberinnen der Studie, über die<br />
Gründung einer gemeinnützigen Stiftung<br />
zu diskutieren. Mit dem Ziel, mit einem innovativen<br />
Ansatz Lösungen für Menschen<br />
mit geringen Aussichten auf eine Wohnung<br />
anzubieten. Nachdem im November<br />
2010 die Stadt Vevey und das Sozialamt<br />
des Kantons Waadt beschlossen hatten,<br />
die Stiftung Apollo zu unterstützen, konnte<br />
diese am 1. Februar 2011 ihre Tätigkeit<br />
aufnehmen. Ein Jahr später trat die<br />
Gemeinde La Tour-de-Peilz der Stiftung<br />
bei, damit auch sie ihren benachteiligten<br />
Einwohnerinnen und Einwohnern eine<br />
Betreuung für die Wohnungssuche anbieten<br />
konnte.<br />
Angebot und Zielgruppen<br />
Das Angebot von Apollo richtet sich an Personen,<br />
die keine Unterkunft haben, in einer<br />
ungeeigneten Wohnung leben oder von ei-<br />
ner Zwangsräumung bedroht sind und<br />
Schwierigkeiten haben, eine Wohnung zu<br />
finden. Der Zugang zum Angebot ist unabhängig<br />
von der Familienzusammensetzung<br />
und von den Einkommensverhältnissen.<br />
Bedingung ist allerdings, dass die Begünstigten<br />
in der Lage sind, selbständig ihren<br />
Haushalt zu führen, und dass sie sich verpflichten,<br />
sich beraten zu lassen. Eine weitergehende<br />
Betreuung ist freiwillig.<br />
Der offene Zugang zu den Leistungen ist<br />
die grösste Stärke der Stiftung und gleichzeitig<br />
ihr Markenzeichen. In so genannten<br />
«Comptoirs du logement», Workshops<br />
für die Wohnungssuche, wird den Klientinnen<br />
und Klienten unter anderem<br />
gezeigt, wie sie Zugang finden zu den verschiedenen<br />
Wohnungsangeboten im In-<br />
32 ZeSo 1/14 plattform
Bild: Keystone<br />
ternet. Sie werden unterstützt beim Ausfüllen<br />
der Mietgesuchsformulare und beim<br />
Verfassen von Bewerbungsschreiben. Ziel<br />
dieser Begleitung ist die Vermittlung von<br />
Kompetenzen, die die Fähigkeit zur Wohnungssuche<br />
stärken.<br />
Wenn es die soziale Situation erfordert<br />
und wenn parallel erfolgte Bemühungen<br />
um einen Mietvertrag auf den eigenen<br />
Namen erfolglos waren, bietet die Stiftung<br />
der betroffenen Person an, eine Wohnung<br />
auf den Namen von Apollo zu suchen. Die<br />
unterstützte Person unterzeichnet dann einen<br />
Vertrag mit der Stiftung, in dem geregelt<br />
wird, unter welchen Bedingungen die<br />
Stiftung ihr diese Wohnung für ein oder<br />
zwei Jahre zur Verfügung stellt. Die Frist<br />
kann auch verlängert werden.<br />
Apollo überwacht in der Folge die Überweisung<br />
des Mietzinses und stellt eine<br />
soziale Betreuung der Mieterinnen und<br />
Mieter sicher. Im Gegenzug verpflichten<br />
sich diese, alles zur Überwindung der Probleme,<br />
die sie an der eigenständigen Unterzeichnung<br />
eines Mietvertrags hindern,<br />
zu unternehmen. Solche Probleme sind<br />
oft Verschuldung, schlechte Einteilung des<br />
Geldes oder das Verhalten. Die Leistungen<br />
von Apollo sind kostenlos. Die Begleitung<br />
geht zu Ende, wenn sich die Mietverhältnisse<br />
der unterstützten Person stabilisiert<br />
haben und sie einen Mietvertrag auf ihren<br />
eigenen Namen unterschreiben konnte.<br />
Alle wichtigen Akteure involvieren<br />
Da die Wohnungsversorgung auch unter<br />
Fachleuten als ein echtes Problem gilt,<br />
stösst das innovative Konzept von Apollo<br />
bei Fachstellen, Politikern und Medien auf<br />
ein reges Interesse. Dies wiederum führte<br />
zur Idee, einen jährlichen Tag der Reflexion<br />
und des Austauschs und damit eine<br />
Plattform für Begegnungen zwischen den<br />
wichtigsten Akteuren im Wohnbereich zu<br />
schaffen.<br />
Am 21. November 2013 nahmen an<br />
den nun bereits «3. Assises du logement»<br />
in Montreux rund 130 Personen aus dem<br />
Sozial- und Gesundheitsbereich, aus öffentlichen<br />
Verwaltungen, aus der Politik<br />
und aus Immobilienkreisen teil. Unter<br />
dem Tagungsmotto «Die Wohnungsfrage<br />
anders denken» standen am Vormittag,<br />
der für die Berufsleute reserviert war, drei<br />
thematische Workshops auf dem Programm.<br />
Im zweiten Teil der Veranstaltung<br />
am Nachmittag wurden in Referaten die<br />
Problematik der Wohnversorgung thematisiert<br />
und Lösungen diskutiert. Die<br />
«4. Assises du logement» sind bereits in<br />
Vorbereitung. Sie finden am 27. November<br />
<strong>2014</strong> wiederum im Music and Convention<br />
Center von Montreux statt.<br />
Die Stiftung Apollo<br />
Das Team von Apollo besteht aus der Leiterin,<br />
zwei Sozialarbeitenden und einer administrativen<br />
Assistentin, die sich zusammen<br />
310 Stellenprozente teilen. Apollo empfängt<br />
rund 400 Personen oder Familien pro Jahr,<br />
die wöchentlich durchgeführten «Comptoirs<br />
du logement» werden von durchschnittlich<br />
30 Personen besucht. In den vergangenen<br />
drei Jahren haben rund hundert Personen<br />
durch die Unterstützung der Stiftung einen<br />
Mietvertrag auf ihren Namen erhalten. Aktuell<br />
werden 46 Wohnungen über auf den Namen<br />
der Stiftung gemietet. Die Mitverträge, die<br />
auf den Namen von Apollo lauten, wurden mit<br />
15 verschiedenen Immobilienverwaltungen<br />
abgeschlossen.<br />
www.fondation–apollo.ch<br />
Leider stehen nur wenige Instrumente<br />
zur Verfügung, um das in der Verfassung<br />
verankerte Recht auf Wohnen auf Gesetzesebene<br />
durchzusetzen. Die Stiftung<br />
Apollo engagiert sich mit ihren Angeboten<br />
für dieses Recht. Aktuell wird gemeinsam<br />
mit der Gemeinde Montreux ein Projekt<br />
für Gemeinschaftswohnungen abgeklärt.<br />
Angesichts der bisherigen Erfolge, der zunehmenden<br />
Anzahl Menschen, die sich an<br />
Apollo wenden, sowie der Nachfrage von<br />
Partnerorganisationen erwägt die Stiftung,<br />
ihr Angebot auszubauen und ihre Tätigkeit<br />
auf weitere Regionen des Kantons auszudehnen.<br />
<br />
•<br />
Rachèle Féret<br />
Leiterin der Stiftung Apollo<br />
plattform 1/14 ZeSo<br />
33
Lesetipps<br />
Zur sozialen Lage der<br />
Schweiz<br />
Sozialarbeit und<br />
Politik<br />
Bestandesaufnahme<br />
zum Thema Arbeit<br />
Datenschutz in der<br />
Sozialarbeit<br />
Das Caritas-Jahrbuch nimmt die<br />
soziale und wirtschaftliche Entwicklung<br />
in der Schweiz unter die Lupe.<br />
Im ersten Teil des Sozialalmanachs<br />
<strong>2014</strong> zeigt Bettina Friedrich auf,<br />
dass besonders untere Einkommensschichten<br />
und Menschen, die<br />
über 50 Jahre alt sind, kaum vom<br />
Wirtschaftswachstum profitieren. Im<br />
Gegenteil: Die Kostensteigerungen,<br />
besonders bei den Mieten, übersteigen<br />
die Lohnanstiege der unteren<br />
Einkommensklassen. Der Schwerpunktteil<br />
«Unter einem Dach»<br />
widmet sich deswegen der schweizerischen<br />
Raum- und Wohnpolitik.<br />
Die Beiträge verschiedener Autoren<br />
beleuchten die Mechanismen des<br />
Immobilienmarkts und analysieren,<br />
inwiefern sie die soziale Gerechtigkeit<br />
untergraben. Ergänzt wird der<br />
Band mit Reportagen aus dem Alltag<br />
von Menschen, die auf Wohnungssuche<br />
sind.<br />
Ein Blick auf die Geschichte der<br />
Sozialarbeit im 20. und 21. Jahrhundert<br />
zeigt, dass ihr Verhältnis zur<br />
Sozialpolitik jeweils unterschiedlich<br />
akzentuiert wurde und Pendelbewegungen<br />
zwischen expliziter<br />
Politisierung und Entpolitisierung<br />
bestehen. Gegenwärtig scheint die<br />
Sozialarbeit auf eine Repolitisierung<br />
zuzusteuern. Zunehmende soziale<br />
Ungleichheit sowie vielfältige<br />
Deprofessionalisierungs- und<br />
Abbautendenzen in der Sozialarbeit<br />
geben hierfür hinreichend Anlass.<br />
Das Buch greift diese Themen<br />
auf, indem es das Spannungsfeld<br />
zwischen Sozialarbeit, Sozialpolitik<br />
und gesellschaftlichen Problemlagen<br />
aus verschiedenen Blickwinkeln<br />
reflektiert und in Beziehung zu<br />
aktuellen Theorien und Konzepten<br />
der Sozialarbeit setzt.<br />
In den letzten Jahren wurde immer<br />
wieder das «Ende der Arbeitsgesellschaft»<br />
vorausgesagt. Dabei ist<br />
und bleibt Arbeit in den allermeisten<br />
Biografien eine zentrale Grösse: Die<br />
Mehrheit der Menschen finanziert<br />
ihren Lebensunterhalt mit Lohnoder<br />
abhängiger Auftragsarbeit. Und<br />
auch unbezahlte Arbeit wird immer<br />
unabdingbar bleiben, zum Beispiel<br />
Sorge- und Versorgungsarbeit. Das<br />
Buch des sozialkritischen Schweizer<br />
Think Tanks «Denknetz» beleuchtet<br />
aus verschiedenen Blickwinkeln,<br />
unter welchen Bedingungen heute<br />
bezahlte und nicht bezahlte Arbeit<br />
erbracht wird. Es wird aufgezeigt,<br />
wo und wie die Menschen in ihrer<br />
Arbeit «verknechtet» werden, weil<br />
der Profit und nicht der Mensch im<br />
Vordergrund steht. Im letzten Kapitel<br />
präsentiert das Buch Visionen und<br />
Forderungen zu «guter Arbeit».<br />
Sozialarbeitende benötigen in der<br />
Praxis eine Fülle an Informationen<br />
und Daten über ihre Klientinnen und<br />
Klienten und sind auf den Datenaustausch<br />
mit Behörden und Fachstellen<br />
angewiesen. Der Leitfaden, der im<br />
Auftrag des Berufsverbands Avenir<br />
Soical entstanden ist, erläutert dazu<br />
datenschutzrechtliche Grundlagen<br />
auf kantonaler und bundesrechtlicher<br />
Ebene. Weiter werden für den<br />
Praxisalltag relevante Aspekte zur<br />
Datenerhebung und -bearbeitung,<br />
Aktenverwaltung und Datenbekanntgabe<br />
ausgeführt. Die verschiedenen<br />
Praxisbeispiele sollen für eine<br />
korrekte datenschutzrechtliche<br />
Handhabung sensibilisieren. Zudem<br />
werden konkrete Empfehlungen<br />
abgegeben, wie Sozialarbeitende mit<br />
schützenswerten Personendaten<br />
umgehen können.<br />
Caritas (Hrsg.), Sozialalmanach <strong>2014</strong>,<br />
Schwerpunkt: Unter einem Dach,<br />
Caritas-Verlag, 2013, 240 Seiten, CHF 34.–<br />
ISBN: 978-3-85592-131-7<br />
Birgit Bütow, Karl August Chassé, Werner<br />
Lindner, (Hrsg.), Das Politische im<br />
Sozialen, Historische Linien und aktuelle<br />
Herausforderungen der Sozialen Arbeit,<br />
Verlag Barbara Budrich, 2013, 240 Seiten,<br />
CHF 28.–<br />
ISBN: 978-3-84740-030-1<br />
Ruth Gurny, Ueli Tecklenburg (Hrsg.),<br />
Arbeit ohne Knechtschaft, Bestandesaufnahmen<br />
und Forderungen rund ums<br />
Thema Arbeit, Edition 8, 370 Seiten,<br />
CHF 29.–<br />
ISBN: 978-3-85990-189-6<br />
Peter Mösch Payot, Kurt Pärli, Datenschutz<br />
in der Sozialen Arbeit. Eine<br />
Praxishilfe zum Umgang mit sensiblen<br />
Personendaten, Avenir Social (Hrsg.),<br />
35 Seiten, CHF 14.–<br />
Bezug über www.avenirsocial.ch<br />
34 ZeSo 1/14 service
RATGEber zum neuen<br />
Sorgerecht<br />
In der Schweiz wird ab 1. Juli <strong>2014</strong><br />
das gemeinsame Sorgerecht für<br />
alle Eltern – ob ledig, verheiratet,<br />
getrennt oder geschieden – zum<br />
Regelfall. Dieses Buch informiert<br />
sowohl Fachleute als auch Eltern über<br />
das neue Gesetz und seine Konsequenzen.<br />
Expertinnen und Experten<br />
verweisen auf Aspekte, die ihnen<br />
wichtig erscheinen: Wie kann die<br />
gemeinsame elterliche Sorge – insbesondere<br />
nach einer Trennung oder<br />
Scheidung – funktionieren? Welche<br />
Voraussetzungen braucht es dazu auf<br />
Seiten der Eltern, der Behörden und<br />
der Gesellschaft? Und welche Voraussetzungen<br />
sind nötig, damit<br />
Kinder eine Trennung unbeschadet<br />
überstehen? Ergänzend berichten<br />
Elternpaare, wie es ihnen trotz ihrer<br />
Trennung gelingt, einvernehmlich für<br />
die gemeinsamen Kinder zu sorgen.<br />
Im Anhang finden sich Hinweise auf<br />
konkrete Interventionsprojekte sowie<br />
nützliche Adressen und Links.<br />
Margret Bürgisser, Gemeinsam Eltern<br />
bleiben – trotz Trennung oder Scheidung.<br />
Mit Informationen zum neuen Sorgerecht,<br />
Hep-Verlag, <strong>2014</strong>, 290 Seiten, CHF 39.–<br />
ISBN: 978-3-0355-0077-6<br />
Lebenslange<br />
Bildung<br />
Das Buch der Schweizer Bildungsexpertin<br />
Margrit Stamm versammelt<br />
eine Auswahl ihrer wichtigsten<br />
Veröffentlichungen zu Themenbereichen<br />
wie frühkindliche Bildung,<br />
Schuleintritt und Schulschwänzen<br />
sowie zu Fragen der Berufsbildung,<br />
späten Potenzialen oder zur Bedeutung<br />
der Familie für den Schul- und<br />
Lebenserfolg. Basierend auf dem<br />
Gedanken, dass Entwicklung von<br />
der Geburt bis zum Tod stattfindet,<br />
wird die Bildungsforschung zudem<br />
anhand entwicklungspsychologisch<br />
relevanter Stationen in einer Lebensspannenperspektive<br />
verortet. Die<br />
Autorin hat die Textsammlung mit<br />
einführenden Texten zu allen Kapiteln<br />
erweitert. Das Buch richtet sich<br />
an Lehrerinnen und Lehrer, Eltern<br />
sowie an ein breites, interessiertes<br />
Publikum.<br />
Margrit Stamm, Entwicklung ohne Ende.<br />
Wie sie Bildungswege und Lernstufen<br />
beeinflusst, Rüegger-Verlag, 300 Seiten,<br />
CHF 35.–<br />
ISBN: 978-3-7253-1009-8<br />
veranstaltungen<br />
Tagung zu Gesundheit und Armut<br />
Gesundheit und Armut stehen in vielfältigen Zusammenhängen:<br />
Finanziell benachteiligte Menschen haben ein höheres Risiko<br />
zu erkranken. Erwerbslosigkeit kann zu Gesundheitsproblemen<br />
führen, Gesundheitsprobleme können aber auch Erwerbslosigkeit<br />
verursachen. An der Schnittstelle von Gesundheit und<br />
Armut stellen sich somit zahlreiche Herausforderungen für die<br />
Gesellschaft und die Politik, die an der Tagung aus unterschiedlichen<br />
Blickwinkeln untersucht werden. Die Veranstaltung der<br />
Berner Fachhochschule wird in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt<br />
für Gesundheit, der Stadt Bern, dem Schweizerischen<br />
Roten Kreuz, der Caritas und der SKOS durchgeführt.<br />
Tagung «Gesundheit & Armut – ungleich gesund»<br />
Freitag, 9. Mai <strong>2014</strong>, Sorell Hotel Ador Bern<br />
www.soziale-arbeit.bfh.ch<br />
Neuerungen im Kindesschutz<br />
Die Tagung der Hochschule Luzern nimmt die aktuelle Diskussion<br />
rund um die Schnittstellen zwischen Kindes- und Erwachsenenschutz<br />
sowie Sozialhilfe auf. Die neuen Bestimmungen<br />
zum gemeinsamen Sorgerecht und zum Unterhaltsrecht werden<br />
vorgestellt, Herausforderungen und Chancen benannt und die<br />
Auswirkungen auf die Sozialhilfe und die Organe des Kindesund<br />
Erwachsenenschutzes diskutiert. Abgeschlossen wird die<br />
Tagung mit einem Blick in die Zukunft: Welches sind die Perspektiven<br />
und Prognosen im Kindesschutz?<br />
Luzerner Tagung zum Kindes- und Erwachsenenschutzrecht:<br />
Schnittstellen zur Sozialhilfe und Neuerungen im Kindesschutz<br />
Mittwoch, 14. Mai <strong>2014</strong>, Hochschule Luzern<br />
www.hslu.ch/fachtagung-kes<br />
Herausforderung Hochaltrigkeit<br />
Der öffentliche Diskurs zum hohen Alter wird von Krisenszenarien<br />
zur Finanzierung der Altersvorsoge und der Pflegekosten<br />
geprägt. Das erstaunt nicht: Demographische Schätzungen<br />
gehen davon aus, dass sich der Anteil von Menschen über 80<br />
in der Schweiz bis 2060 verdreifachen und auf mehr als eine<br />
Million Menschen anwachsen wird. Es stellt sich die Frage, wie<br />
die Gesellschaft die vorhandenen Ressourcen verteilt, damit<br />
Menschen aller Altersstufen ein gutes Auskommen haben. An<br />
der nationalen Fachtagung von Pro Senectute werden diese<br />
und weitere Fragestellungen rund um das Thema Hochaltrigkeit<br />
thematisiert und Lösungsansätze diskutiert.<br />
Nationale Fachtagung: «Über 80 – unterschätzt?»<br />
Donnerstag, 15. Mai <strong>2014</strong>, Kongresshaus Biel<br />
www.pro-senectute.ch/nf<strong>2014</strong><br />
service 1/14 ZeSo<br />
35
Schwester Agnes, Lehrerin in Tansania: «Solange ich gesund bin, werde ich mein Wissen weitergeben.» <br />
Bild: Ursula Markus<br />
Die Missionarin<br />
Schwester Agnes Schneider unterrichtet auch mit 74 Jahren noch an der St. Martins Girls Secondary<br />
School in ihrem Geburtsland Tansania. Sie hat eine Mission: Junge Frauen durch Bildung vor Aids und<br />
Drogen bewahren.<br />
Sie ist auf Heimaturlaub in ihrem Stammkloster<br />
Baldegg im luzernischen Seetal.<br />
Eine Operation des grauen Stars war nötig<br />
geworden. «Alles gut gegangen, nur noch<br />
ein kleines Fremdkörpergefühl im Auge»,<br />
sagt sie. Sister Agnes ist zierlich. Und zäh.<br />
Ihre Schule liegt in Mbingu, 550 Kilometer<br />
von Dar es Salaam entfernt – eine Tagesreise<br />
im Bus, auf schlechten Strassen.<br />
Rund dreihundert junge Frauen zwischen<br />
14 und 18 Jahren besuchen in St. Martins<br />
die vierjährige Secondary School, Schlüssel<br />
zu allen weiterführenden Schulen und Ausbildungen.<br />
Sie hat Foto-CDs mitgebracht: Strahlende<br />
junge Frauen an winzigen Pulten sitzend,<br />
auf einfachen Schlafmatten liegend<br />
oder ihren Schul-Lunch geniessend. Nahrung<br />
und sauberes Wasser sind kostbar.<br />
Die Eltern der Schülerinnen, Kleinbauern,<br />
seien «very very very poor», sagt Schwester<br />
Agnes. Sie unterrichtet Englisch, beaufsichtigt<br />
die Schülerinnen aber auch beim<br />
Putzen oder Abfallauflesen. Sie sollen<br />
«Cleanliness» lernen, doch es geht ihr um<br />
mehr. Da die Eltern kaum Schulgeld zahlen<br />
können, sucht Schwester Agnes Spendengelder,<br />
damit die Mädchen möglichst<br />
lange an ihrer Schule bleiben können.<br />
Und sich nicht mit Aids infizieren, keine<br />
Drogen nehmen oder in die Prostitution<br />
geraten. «Schule», sagt die Pädagogin mit<br />
blitzenden Augen, «stärkt das Selbstbewusstsein.<br />
Früher zählten Mädchen hier<br />
nichts.»<br />
Auch sie selber hat eine bewegte Biographie.<br />
1939 kommt sie als Tochter eines<br />
deutschen Vaters und einer tansanischen<br />
Mutter im damaligen Tanganjika zur Welt.<br />
Der Vater muss zurück nach Deutschland,<br />
die Mutter kann ihr Kind nicht stillen, es<br />
wächst in einem Kinderheim der Baldegger<br />
Schwestern auf. Viel später erst wird<br />
die junge Frau ihre Eltern wiederfinden.<br />
Rückkehr nach Tansania<br />
Inzwischen waren die Schweizer Nonnen<br />
für das Mädchen zu Heldinnen geworden.<br />
«Sie halfen anderen. Das war mein Weg.<br />
Kein anderer!», sagt die Vierundsiebzigjährige<br />
mit unerwarteter Heftigkeit. Die junge<br />
Frau lässt sich zur Lehrerin ausbilden. Mit<br />
vierundzwanzig kann sie nach Baldegg<br />
reisen, um Ordensschwester zu werden.<br />
Endlich! Es ist minus 24 Grad kalt. Ihren<br />
Wunsch, sofort als Missionarin nach Tansania<br />
zurückzukehren, muss sie auf Eis legen.<br />
Sie leidet an einer Knochenmarkstörung<br />
und muss operiert werden. Afrika,<br />
sagen die Ärzte, ist noch nicht für dich.<br />
Volle 32 Jahre unterrichtet Schwester<br />
Agnes im Lehrerinnenseminar Baldegg.<br />
«Dann, 2004, mit fünfdundsechzig, durfte<br />
ich endlich nach Tansania zurück», sagt<br />
sie. Und lächelt. Dass jemand aus der «sehr<br />
reichen, sehr friedlichen Schweiz» nach<br />
Afrika zurückkommt, ist für ihre Schülerinnen<br />
schwer verständlich. «Die Mädchen<br />
glauben, alle Weissen seien steinreich. Wie<br />
sonst könnten sie in Tansania den <strong>ganz</strong>en<br />
Tag am Strand liegen?» Schwester Agnes<br />
antwortet ihnen, die Weissen hätten für<br />
ihre Ferien gespart, und überhaupt arbeite<br />
man in Europa hart und trage Sorge zur<br />
Umwelt. Diese Arbeitshaltung sei es wert,<br />
kopiert zu werden. Einige ihrer früheren<br />
Schülerinnen, erzählt sie mit Stolz, studierten<br />
inzwischen Medizin oder Sozialarbeit.<br />
Was entgegnet sie Schweizern, die sagen,<br />
Afrikaner seien faul und kämen nur<br />
hierher, um vom Sozialstaat zu profitieren?<br />
«Das», antwortet sie lächelnd, «ist<br />
euer Vorurteil. Ich begegne nur sehr selten<br />
faulen schwarzen Leuten, schon gar nicht<br />
Frauen.» In ein paar Tagen fliegt Schwester<br />
Agnes zurück nach Tansania. Was möchte<br />
sie in ihrem Leben noch erreichen, persönlich?<br />
«Für mich?», fragt sie mit grossen<br />
Augen zurück. Und fügt bei, sie sei Ordensfrau,<br />
habe das zu tun, was Gott von ihr<br />
verlange. «Solange ich gesund bin, werde<br />
ich mein Wissen weitergeben. Ich habe<br />
eine Mission dort.» Es klingt tatsächlich<br />
wie ein Gelöbnis.<br />
•<br />
Paula Lanfranconi<br />
36 ZeSo 1/14 porträt
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Schnittstellen zur Sozialhilfe und<br />
Neu erungen im Kindesschutz (14. Mai <strong>2014</strong>)<br />
Weitere Informationen unter www.hslu.ch/weiterbildung-sozialearbeit<br />
Immer aktuell informiert: www.hslu.ch/newsletter-sozialearbeit<br />
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(CAS), die auch einzeln besucht werden können:<br />
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• CAS Sozialmanagement, Oktober <strong>2014</strong><br />
• CAS Führung im Kontext des psychosozialen<br />
Bereichs, April 2015<br />
MAS in Social Informatics<br />
Der MAS besteht aus drei Zertifikatslehrgängen<br />
(CAS), die auch einzeln oder in Modulen als Seminare<br />
besucht werden können:<br />
• CAS Medienpädagogik, 22. April <strong>2014</strong><br />
• CAS Online Services, 9. Mai <strong>2014</strong><br />
• CAS Informatik-Projektleitung, auf Anfrage<br />
CERTIFICATE OF ADVANCED STUDIES (CAS)<br />
• CAS Schulsozialarbeit, 2. Mai <strong>2014</strong><br />
• CAS Supported Employment, 14. August <strong>2014</strong><br />
• CAS Leiten von Teams, 21. August <strong>2014</strong><br />
• CAS Beratungs-Training, 3. September <strong>2014</strong><br />
• CAS Sozialpädagogische Familienbegleitung,<br />
September <strong>2014</strong><br />
• CAS Coaching, 30. Oktober <strong>2014</strong><br />
SEMINARE<br />
• Fachseminar Praxisausbildung,<br />
17. September <strong>2014</strong><br />
• Querdenken, Herbst <strong>2014</strong><br />
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auf Anfrage<br />
Details zu diesen und weiteren Angeboten unter www.fhsg.ch/weiterbildung<br />
FHS St.Gallen, Weiterbildungszentrum WBZ-FHS, Rosenbergstrasse 59, 9000 St.Gallen<br />
+41 71 226 12 50, weiterbildung@fhsg.ch<br />
FHO Fachhochschule Ostschweiz www.fhsg.ch