ZESO_3-2013_ganz
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SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
ZeSo<br />
Zeitschrift für Sozialhilfe<br />
03/13<br />
Private Sozialhilfe die facettenreiche Tätigkeit nicht-staatlicher<br />
sozialhilfe-organisationen kulturvermittler Martin Heller im zeso-interview<br />
sozialhilfedebatte sach- und praxisbezogene Diskussionen sind erwünscht
SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
SKOS-WEITERBILDUNG<br />
Praxis der öffentlichen Sozialhilfe<br />
4. November <strong>2013</strong>, 13 bis 18 Uhr<br />
Hotel Arte in Olten<br />
In der Sozialhilfe stellen sich Fachleuten und Behördenmitgliedern komplexe Fragen. Rechtliches Wissen<br />
ist ebenso gefragt wie methodisches Handeln oder Kenntnisse des Systems der sozialen Sicherheit.<br />
Die Weiterbildung der SKOS nimmt diese Themen auf. Es werden Grundlagen zur Armutsproblematik und<br />
zur Ausgestaltung der Sozialhilfe vermittelt, Verfahrensgrundsätze thematisiert und das Prinzip der<br />
Subsidiarität erläutert. Die Veranstaltung richtet sich an Mitglieder von Sozialbehörden, Fachleute der<br />
Sozialarbeit und Sachbearbeitende von Sozialdiensten.<br />
Programm und Anmeldung: www.skos.ch Veranstaltungen<br />
SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
Beobachter-Ratgeber<br />
Sozialhilfe – Rechte, Chancen und Grenzen<br />
Was die Sozialhilfe für mehr als 200 000 Menschen in der Schweiz bedeutet, zeigt die Neuauflage des<br />
Beobachter-Ratgebers «Sozialhilfe – Rechte, Chancen und Grenzen». Der Leitfaden informiert über<br />
die Möglichkeiten der Sozialhilfe und beantwortet Fragen zur Sozialhilfe-Praxis. Das Buch richtet sich in<br />
erster Linie an Betroffene, ist aber auch eine wichtige Praxishilfe für Behördenmitglieder und andere<br />
Interessierte. Es ist in Zusammenarbeit mit der SKOS entstanden.<br />
Toni Wirz, «Sozialhilfe – Rechte, Chancen und Grenzen»<br />
Beobachter-Buchverlag, 5. aktualisierte Auflage 2012, 112 Seiten, 24 Franken<br />
(SKOS-Mitglieder 20 Franken).<br />
Buch bestellen: www.skos.ch Publikationen
Michael Fritschi<br />
Verantwortlicher Redaktor<br />
konstruktive nachbarschaft<br />
Sozialarbeit beinhaltet – neben der Betreuung von Klienten<br />
und Klientinnen – in vielen Fällen auch die Kooperation und<br />
Kontaktpflege mit involvierten Partnern des Systems. Doch<br />
was weiss man wirklich voneinander, wenn man nicht oft<br />
und eng zusammenarbeitet? Möglicherweise eher wenig. So<br />
haben wir, die in der Regel aus der Sicht der «staatlichen»<br />
Sozialhilfe berichten, uns daran gemacht, einen Blick über<br />
den Gartenzaun in Richtung Institutionen der «privaten»<br />
Sozialhilfe zu werfen. Wie positionieren und präsentieren sie<br />
sich vis-à-vis der öffentlichen Sozialhilfe? Wo sind die Berührungspunkte<br />
und wie funktioniert die Zusammenarbeit an<br />
diesen Schnittstellen? Weiter interessierte die Frage, ob die<br />
private Sozialhilfe aufgrund des Spardrucks in den Kantonen<br />
und Gemeinden eigentlich immer häufiger auch Aufgaben der<br />
öffentlichen Hand übernimmt, und falls ja, welche? Dass bei<br />
solchen Betrachtungen auch subjektive Befindlichkeiten<br />
eingefangen werden, liegt in der Natur der Sache. Die diversen<br />
Beiträge fügen sich zusammen zu einen Bild eines konstruktiven<br />
nachbarschaftlichen Nebeneinanders (S. 16-27).<br />
Was die Sozialhilfepraxis von der Kulturarbeit lernen könne,<br />
fragten wir den Kulturvermittler und ehemaligen Direktor<br />
der Expo.02, Martin Heller, im <strong>ZESO</strong>-Interview. Eine positive<br />
Bedeutungssetzung für den Begriff Widerstand, so seine<br />
Antwort. Widerstand im Sinn von Kräftigung, sich auch in<br />
misslichen Lebenslagen einen eigenen Weg zu suchen.<br />
Hellers Betrachtungen über die kulturellen und politischen<br />
Mentalitäten in der Schweiz, Österreich und Deutschland<br />
und über das Prestige, das man funktionierenden Kulturoder<br />
Sozialeinrichtungen beimisst, regen ebenfalls zum<br />
weiteren Nachdenken an (S. 12-15). Ich wünsche Ihnen eine<br />
spannende Lektüre.<br />
editorial 3/13 ZeSo<br />
1
SCHWERPUNKT16–27<br />
private sozialhilfe<br />
Die Rolle der privaten Sozialhilfe wird gemeinhin<br />
als ergänzend zur staatlichen Sozialhilfe verstanden.<br />
Der Blick auf die diversen Tätigkeitsgebiete<br />
der nicht-staatlichen Sozialhilfe ergibt ein spannendes<br />
und facettenreiches Bild. Und er zeigt,<br />
dass die private Sozialhilfe nicht bloss eine ergänzende,<br />
sondern auch eine die öffentliche Sozialhilfe<br />
unterstützende und situativ substituierende<br />
Funktion hat.<br />
<strong>ZESO</strong> zeitschrift für sozialhilfe<br />
Herausgeberin Schweizerische konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />
www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS,<br />
Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch,<br />
Tel. 031 326 19 19 Redaktion Michael Fritschi Redaktionelle<br />
begleitung Dorothee Guggisberg Autorinnen und Autoren in<br />
dieser Ausgabe Herbert Ammann, Yann Bochsler, Pascal Engler,<br />
Sébastien Giovannoni, Dorothee Guggisberg, Manuela Honegger,<br />
Martina Huber, Esther Jost, Cathérine Merz, Daniel Röthlisberger,<br />
Walter Schmid, Barbara Spycher, Bernadette von Deschwanden,<br />
Martin Waser Titelbild Rudolf Steiner layout mbdesign Zürich,<br />
Marco Bernet Korrektorat Peter Brand Druck und Aboverwaltung<br />
Rub Media AG, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch,<br />
Tel. 031 740 97 86 preise Jahresabonnement Inland CHF 82.–<br />
(für SKOS-Mitglieder CHF 69.–), Abonnement ausland CHF 120.–,<br />
Einzelnummer CHF 25.–.<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN 1422-0636 / 110. Jahrgang<br />
Bild: Rudolf Steiner<br />
Erscheinungsdatum: 9. September <strong>2013</strong><br />
Die nächste Ausgabe erscheint im Dezember <strong>2013</strong>.<br />
2 ZeSo 3/13 inhalt
INHALT<br />
5 Der Sozialstaat nützt allen. Kommentar<br />
von Martin Waser, Vorsteher<br />
Sozialdepartement Stadt Zürich<br />
6 13 Fragen an Cathérine Merz<br />
8 Sozialhilfe-Debatte: Die SKOS bietet<br />
eine gute Plattform für Diskussionen<br />
10 Praxis: Wie sind freiwillige<br />
Zuwendungen Dritter im Budget zu<br />
berücksichtigen?<br />
11 Bedarfsleistungen: Die Kantone<br />
müssen einheitliche Bemessungsgrundlagen<br />
schaffen<br />
12 «Kultur ermöglicht neue Sinnesentwürfe<br />
für die Gesellschaft»:<br />
Interview mit Martin Heller<br />
16 SCHWERPUNKT:<br />
private sozailhilfe<br />
18 Die private Sozialhilfe spielt bei der<br />
Armutsbekämpfung eine wichtige<br />
Rolle<br />
20 Dazu beitragen, Voraussetzungen für<br />
eine Unterstützung zu erfüllen<br />
22 Mit einem öffentlichen Auftrag im<br />
Rücken lässt sich langfristig planen<br />
24 «Wenn wir Daten austauschen, dann<br />
ist es zum Wohl des Klienten»<br />
27 Armut muss mit einer integralen<br />
Strategie bekämpft werden<br />
DIE stehauffrau<br />
Der kulturvermittler<br />
geordnete tagesStrukturen<br />
Cathérine Merz hat als Mitbegründerin<br />
des Strassenmagazins Surprise schon viel<br />
erlebt. Heute arbeitet sie in der integrativen<br />
Beratung der Kontaktstelle für Arbeitslose<br />
in Basel.<br />
6<br />
Er entwickelt die Inhalte für das neue<br />
Humboldt-Forum in Berlin, war Intendant<br />
von Linz 2009 Kulturhauptstadt Europas<br />
und künstlerischer Direktor der Expo.02.<br />
Im <strong>ZESO</strong>-Interview äussert sich Martin<br />
Heller zu kultur- und sozialpolitischen<br />
Herausforderungen und Zusammenhängen<br />
sowie über den Einfluss der neuen Medien<br />
auf das Kulturverständnis.<br />
12<br />
Zu Beginn des Projekts hatten die Kunden<br />
noch Bedenken, ihre Einkäufe Arbeitslosen<br />
anzuvertrauen. Heute ermöglicht die<br />
Stiftung Intact vielen Langzeitarbeitslosen<br />
eine kundenorientierte Beschäftigung.<br />
28 Wenn das Workfare-Prinzip<br />
Unfairness bewirkt<br />
30 Reportage: Pedalen für die Kunden,<br />
die Umwelt und das eigene Glück<br />
32 Plattform: Das Gastronomie-Label<br />
Fourchette verte<br />
34 Lesetipps und Veranstaltungen<br />
36 Die Punktesammlerin: Porträt von<br />
Debora Buess, Initiantin der Solikarte<br />
glanzidee an der migroskasse<br />
30<br />
Die Gutscheine für die Cumulus-Punkte aus<br />
dem Projekt Solikarte bekommt Debora<br />
Buess unterdessen in einem kleinen Paket,<br />
in einem Couvert hätten sie nicht mehr<br />
Platz, so viele sind es. Die Bons werden<br />
an Organisationen verschickt, die sich<br />
für Sans-Papiers und Nothilfe-Bezüger<br />
einsetzen.<br />
36<br />
inhalt 3/13 ZeSo<br />
3
NACHRICHTEN<br />
Kein Rahmengesetz für<br />
Sozialhilfe<br />
Der Ständerat hat vor der Sommerpause die<br />
Motion «Rahmengesetz für die Sozialhilfe»<br />
mit 27 zu 12 Stimmen abgelehnt, nachdem<br />
der Nationalrat das Anliegen im vergangenen<br />
September noch mit 107 zu 53 unterstützt<br />
hatte. Die Motion sei auf viel Sympathie,<br />
aber auf keine Einigkeit gestossen, führte<br />
Bundesrat Alain Berset in seinem Votum vor<br />
dem Ständerat aus. Die SKOS bedauert den<br />
Entscheid, der die Schaffung einer gesetzlichen<br />
Grundlage für eine Harmonisierung<br />
der Sozialhilfe auf nationaler Ebene auf die<br />
lange Bank schiebt.<br />
Umsetzung der<br />
Ausschaffungsinitiative<br />
Der Bundesrat hat einen Gesetzesentwurf<br />
zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative<br />
präsentiert. Er sieht vor, dass ausländische<br />
Personen wegen klar definierter, schwerer<br />
Delikte des Landes verwiesen werden<br />
können. Betrugsdelikte im Zusammenhang<br />
mit Abgaben sollen dem unrechtmässigen<br />
Bezug von Sozialleistungen gleichgesetzt<br />
werden. Die Festlegung einer Mindeststrafe<br />
von sechs Monaten soll Ausschaffungen wegen<br />
Bagatelldelikten verhindern und dem<br />
Verhältnismässigkeitsprinzip Rechnung tragen.<br />
Dies entspricht den Empfehlungen der<br />
SKOS im Rahmen der Vernehmlassung.<br />
580 000 Personen von<br />
Armut betroffen<br />
Die Zahl der Armutsbetroffenen ist nach wie<br />
vor sehr hoch. Jede 13. Person oder rund<br />
580 000 Menschen in der Schweiz waren<br />
2011 von Einkommensarmut betroffen. Zu<br />
diesem Ergebnis kommt die Erhebung über<br />
die Einkommen und Lebensbedingungen<br />
(SILC) des Bundesamts für Statistik. Die<br />
Armutsquote hat seit 2007 zwar um fast<br />
zwei Prozent abgenommen, sie ist im Vergleich<br />
zum Vorjahr aber konstant geblieben.<br />
Hinzu kommen rund 430 000 Armutsgefährdete,<br />
die nur knapp über der Armutsgrenze<br />
leben. Alleinerziehende, Alleinlebende und<br />
Personen mit geringer Bildung sind besonders<br />
oft von Armut betroffen. Erwerbsarbeit<br />
ist nach wie vor ein sehr wirksamer Schutz<br />
vor Armut, kann sie aber nicht immer verhindern.<br />
Das verdeutlichen die 130 000 Erwerbstätigen<br />
unter den Armutsbetroffenen.<br />
Die Zahlen zeigen, dass eine aktive und zielgerichtete<br />
Armutsbekämpfungspolitik in der<br />
Schweiz weiterhin unerlässlich ist.<br />
4 ZeSo 3/13 aktuell<br />
Der Anteil an Familien mit Unterstützungsbedarf bleibt hoch. <br />
Ergänzungsleistungen für Familien<br />
erfüllen ihre Ziele<br />
Der Sozialbericht <strong>2013</strong> des Kantons Solothurn<br />
widmet Familien und ihren ökonomischen<br />
Situationen besondere Aufmerksamkeit.<br />
Ein spezielles Augenmerk wird dabei<br />
auf die neu eingeführten Ergänzungsleistungen<br />
für Familien (FamEL) gerichtet.<br />
Solothurn hat diese Leistung 2010 als erster<br />
Kanton der Deutschschweiz eingeführt<br />
und lässt ihre Wirkung derzeit von der<br />
Fachhochschule Nordwestschweiz und der<br />
SKOS evaluieren. Die Zwischenergebnisse<br />
der Evaluation, die im Sozialbericht präsentiert<br />
werden, zeigen, dass die FamEL<br />
die gesetzten Ziele überwiegend erfüllen.<br />
Familien, die mit Ergänzungsleistungen<br />
unterstützt werden, sind grundsätzlich<br />
besser gestellt, als wenn sie Sozialhilfe be-<br />
Erläuterungen zur Zuständigkeit für die<br />
Unterstützung von Personen aus Drittstaaten<br />
Personen aus Drittstaaten können nur unter<br />
bestimmten Voraussetzungen in der<br />
Schweiz leben und arbeiten. Ihre Aufenthalts-<br />
und Arbeitsbewilligung ist immer an<br />
einen bestimmten Zweck gebunden. Die<br />
Zahl der fallbezogen zur Anwendung kommenden<br />
Bewilligungsarten und Voraussetzungen<br />
ist entsprechend gross. Dadurch<br />
wird die Feststellung einer Unterstützungsberechtigung<br />
für Sozialhilfe manchmal<br />
schwierig. Die SKOS-Kommission für<br />
Rechtsfragen hat deshalb ein Grundlagenpapier<br />
verfasst, das sich mit den Zuständigkeiten<br />
für die Unterstützung befasst.<br />
ziehen würden. In einzelnen Fällen, etwa<br />
bei hohen Betreuungskosten, gelingt es<br />
aber nicht, die Armutsgrenze der Sozialhilfe<br />
zu überschreiten. Weiter zeigt sich, dass<br />
die Sozialhilfe durch die FamEL im erwarteten<br />
Umfang entlastet wird. Insgesamt<br />
kommt der Bericht zum Schluss, dass die finanzielle<br />
Situation für viele Familien angespannt<br />
bleibt und der Anteil an Familien mit<br />
Unterstützungsbedarf weiterhin hoch ist.<br />
Alleinerziehende tragen ein erhöhtes Sozialhilferisiko,<br />
Paarhaushalte mit Kindern hingegen<br />
nicht. Der Solothurner Sozialbericht<br />
setzt sich auch mit weiteren Problem- und<br />
Lebenslagen der Bevölkerung sowie generell<br />
mit dem System der sozialen Sicherung im<br />
Kanton auseinander.<br />
•<br />
<br />
Das Papier listet die diversen Bewilligungsvoraussetzungen<br />
auf und nennt die für<br />
die Sozialhilfe relevanten Bedingungen. Die<br />
Ausführungen ergänzen die «Bewilligungsübersicht<br />
EU/EFTA-Bürger/innen» und die<br />
dazu gehörenden Erläuterungen «Sozialhilfe<br />
und Personenfreizügigkeitsabkommen»,<br />
welche die Unterstützungszuständigkeiten<br />
und Bewilligungsvoraussetzungen mit Blick<br />
auf Personen aus dem EFTA-Raum erklären.<br />
Die Grundlagenpapiere stehen auf der<br />
SKOS-Website zum Download bereit. •<br />
www.skos.ch Themen<br />
<br />
Bild: Keystone
KOMMENTAR<br />
Der Sozialstaat nützt allen<br />
Der Sozialstaat ist eine grosse Stärke der<br />
Schweiz. Er hilft direkt den Menschen, die<br />
seine Angebote nutzen und beispielsweise<br />
Transferleistungen beziehen oder die Sozialberatung<br />
aufsuchen. Er nützt aber auch<br />
denen, die seine Leistungen nicht direkt in<br />
Anspruch nehmen: Er trägt zum sozialen<br />
Zusammenhalt bei und ist ein Standortvorteil<br />
für die Wirtschaft. Um nur drei Beispiele<br />
zu nennen: Die Verhinderung offener Drogenszenen<br />
durch Drogenhilfe und Intervention<br />
im öffentlichen Raum macht Plätze und<br />
Pärke sicherer und fördert die Lebensqualität.<br />
Frühförderung und Brückenangebote<br />
für Jugendliche verbessern die Chancengleichheit<br />
und verhindern Folgekosten. Das<br />
Wissen um die soziale Absicherung im Fall<br />
eines Jobverlusts macht Menschen risikofreudiger<br />
und einen flexiblen Arbeitsmarkt<br />
mehrheitsfähig.<br />
Ein zentrales Element unseres Sozialstaats<br />
ist die Sozialhilfe. Das «letzte Netz» sichert<br />
die Existenz von Menschen, die durch<br />
die Maschen der vorgelagerten Systeme<br />
fallen. Die Sozialhilfe leistet soziale und<br />
berufliche Integration und gibt Menschen,<br />
die nicht für sich selber sorgen können, die<br />
Chance, doch wieder auf die eigenen Beine<br />
zu kommen oder zumindest den Zustand<br />
zu stabilisieren. Die SKOS-Richtlinien als<br />
einheitlicher Rahmen, der Rechtsgleichheit<br />
und -sicherheit fördert, aber auch Spielraum<br />
für lokal unterschiedliche Bedürfnisse<br />
lässt, sind das breit abgestützte fachliche<br />
Fundament der Sozialhilfe.<br />
Ist das Niveau der Sozialhilfe gemäss SKOS-<br />
Richtlinien richtig? Ich bin davon überzeugt.<br />
Für Einzelpersonen ist es äusserst knapp<br />
bemessen, und bei Familien kann es nicht<br />
sein, dass wir die Kinder bestrafen, weil<br />
ihre Eltern auf Sozialhilfe angewiesen sind.<br />
Die tiefsten Löhne auf dem Arbeitsmarkt<br />
liegen heute leicht über dem Sozialhilfeniveau<br />
für einen Einpersonenhaushalt. Eine<br />
Absenkung würde prekäre Beschäftigungsverhältnisse<br />
noch prekärer machen. Die<br />
Schwächsten materiell noch schwächer zu<br />
stellen, würde auch ihre soziale Integration<br />
gefährden.<br />
Über das Niveau der Sozialhilfe kann man<br />
sachlich und nüchtern diskutieren. Die öffentliche<br />
Debatte, die wir seit dem Frühling<br />
erleben, ist aber nicht von Argumenten,<br />
sondern von Polemik geprägt. Haltlose<br />
Unterstellungen, dass die SKOS für unkooperative<br />
Sozialhilfebeziehende und gegen<br />
Sozialämter Partei ergreife, die Aufbauschung<br />
der Schwelleneffekte, obwohl diese<br />
in der Praxis wenig relevant sind, und die<br />
Bewirtschaftung von Misstrauen gegen den<br />
Sozialstaat schädigen nicht nur die SKOS,<br />
sondern unseren Sozialstaat als grosse<br />
Stärke der Schweiz. Städte und Gemeinden,<br />
Kantone und private Organisationen müssen<br />
an der fachlichen Weiterentwicklung<br />
der Richtlinien arbeiten, aber reine Polemik<br />
entschieden zurückweisen.<br />
Martin Waser, Stadtrat<br />
Vorsteher Sozialdepartement Stadt Zürich<br />
aktuell 3/13 ZeSo<br />
5
13 Fragen an Cathérine Merz<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
Sind Sie eher arm oder eher reich?<br />
Ich musste während langer Zeit mit meinem Einkommen<br />
eher im unteren Mittelstand zurechtkommen.<br />
Heute habe ich eine interessante, abwechslungsreiche<br />
Arbeit, die mir Freude macht und dazu<br />
einen anständigen Lohn. Genug Geld zur Verfügung<br />
zu haben, frei entscheiden zu können, was man gerne<br />
machen möchte, ist schon fast ein Luxus in der<br />
heutigen Gesellschaft. Im Vergleich zum finanziellen<br />
Reichtum sind für mich zwischenmenschliche<br />
Beziehungen, ein intaktes soziales Netz, Freunde,<br />
ein verständnisvoller Partner und mich unterstützende<br />
Arbeitskolleginnen ein wertschätzender Reichtum,<br />
der unbezahlbar ist.<br />
Was empfinden Sie als besonders ungerecht?<br />
Ungerechtigkeit ist jederzeit und überall auf der<br />
Welt präsent. Seien es die Taglöhner, die aus Polen<br />
kommen und für drei Euro pro Stunde in Italien Tomaten<br />
ernten. Sei es die Nachbarin, die als Verkäuferin<br />
100 Prozent arbeitet und mit einem Mindestlohn<br />
von 3500 Franken für eine vierköpfige Familie<br />
aufkommen muss. Kinder, deren Rechte missachtet<br />
werden. Tiere, die in Massenhaltungen aufgezogen<br />
werden. Junge Menschen, die für mehr Freiräume<br />
kämpfen und vertrieben werden. Menschen, die<br />
aufgrund ihrer Hautfarbe immer noch mit Diskriminierungen<br />
zu kämpfen haben. Dies sind Dinge, die<br />
mich bewegen und interessieren. Unsere Welt in<br />
ihrer <strong>ganz</strong>en Vielfalt sollte gewaltfreier, menschenwürdiger<br />
und toleranter sein.<br />
Glauben Sie an die Chancengleichheit?<br />
Der Glaube allein genügt nicht. Es braucht Pionierinnen<br />
und Pioniere, die gemeinsam den Weg aufzeigen.<br />
Die die Chancengleichheit dort durchsetzen<br />
helfen, wo sie immer noch nicht umgesetzt ist.<br />
Auch auf politischer Ebene. Für mich bedeutet dies,<br />
dass man Chancengleichheit auch im eigenen Haushalt<br />
umsetzt und praktiziert. Solche Haushalte sind<br />
als Vorbilder wichtig für die nachfolgenden Generationen.<br />
Was bewirken Sie mit Ihrer Arbeit?<br />
Als Beraterin in der integrativen Beratung unterstütze<br />
ich Menschen rund um arbeits- und sozialrechtliche<br />
Fragen. Die Ratsuchenden erhalten eine<br />
bessere Übersicht über ihre Probleme und Klarheit<br />
darüber, wie der weitere Weg begangen werden<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
kann. Sie lernen, dass sie ihre Rechte wahrnehmen<br />
können und sie erfahren über einen längeren Zeitraum<br />
hinweg Unterstützung und Begleitung. Dadurch<br />
können sich die Menschen wieder stabilisieren<br />
und ihre Gesundheit sowie die Selbstfürsorge<br />
ernst nehmen. Nur ein gesunder Mensch kann sich<br />
in der heutigen Zeit in der Arbeitswelt behaupten.<br />
Für welches Ereignis oder für welche Begegnung würden<br />
Sie ans andere Ende der Welt reisen?<br />
Begegnungen mit der Natur und der Tierwelt, der<br />
Kunst, mit Menschen – sei es im Süden oder im Norden<br />
– faszinieren mich und könnten ein Grund sein,<br />
bis ans andere Ende der Welt zu reisen. Nüchtern<br />
betrachtet finde ich aber, dass die Schweiz auch<br />
einiges an Natur, Tieren, Kunst und interessanten<br />
Menschen aufweisen kann, die zu entdecken sich<br />
lohnt.<br />
Wenn Sie in der Schweiz drei Änderungen einführen<br />
könnten. Welche wären das?<br />
Ich würde das Grundeinkommen einführen. Damit<br />
würden viele soziale und finanzielle Probleme<br />
gelöst und neue Herausforderungen und Aufgaben<br />
würden entstehen. Dies wäre für mich eine interessante<br />
Neuentwicklung der Gesellschaft. Des Weiteren<br />
würde ich eine staatliche Grundversorgung für<br />
alle einführen, im Sinne einer Einheitskrankenkasse.<br />
Und ich würde einen Stopp der Privatisierung des<br />
öffentlichen Eigentums verlangen.<br />
Können Sie gut verlieren, und woran merkt man das?<br />
Persönlich habe ich einen lockeren Umgang damit.<br />
Für mich steht weniger das Gewinnen oder Verlieren<br />
im Vordergrund. Ich finde die Prozesse und die<br />
persönliche Entwicklung, die man in solchen Momenten<br />
machen darf, viel wesentlicher. Sie helfen<br />
einem, die Dinge, wie sie geschehen, zu verstehen.<br />
Quasi Learning by Doing.<br />
Bügeln Sie Ihre Blusen selbst?<br />
Blusen bügeln ist für mich sekundär. Ich kann<br />
sehr gut ohne Bügeleisen leben und bin es gewohnt,<br />
die Wäsche so aufzuhängen, dass man die Kleider<br />
nachher anziehen kann, ohne sie zu bügeln. Ich erinnere<br />
mich, dass ich meine Mutter oft erlebte, wie<br />
sie die Hemden meines Vaters bügelte. Ich sagte<br />
mir damals, ich möchte später keinen Mann, der<br />
Hemden trägt. Ich glaubte, Bügeln sei eine Frauenarbeit,<br />
die ich aber überhaupt nicht mochte. Heute<br />
lebe ich mit meinem Partner zusammen, der allerlei<br />
Hemden trägt und diese selber bügelt.<br />
6 ZeSo 3/13 13 fragen an
Catherine Merz<br />
Bild: Christian Flierl<br />
Cathérine Merz, 53, ist Mitbegründerin des Strassenmagazins Surprise, das<br />
vor 20 Jahren entstanden ist. Heute arbeitet die ausgebildete Sozialpädagogin<br />
in der integrativen Beratung der Kontaktstelle für Arbeitslose in Basel.<br />
Cathérine Merz ist Mutter eines erwachsenen Sohnes.<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
Welcher Begriff ist für Sie ein Reizwort?<br />
Als mein Sohn eines Tages von der Primarschule<br />
nach Hause kam und mir erzählte, dass auf der<br />
Wand des Schulhauses «Fuck the Mother» steht,<br />
war ich erstaunt. Ich finde diese drei Wörter sehr<br />
frauenverachtend. Viele Begriffe – alte und neue<br />
– entstehen durch die Gesellschaft, in der wir uns<br />
bewegen. Oft sind es eher Reizzustände, die bei mir<br />
Betroffenheit und Gereiztheit auslösen: Begriffe<br />
wie Vergewaltigung, Erniedrigung oder Ungerechtigkeiten<br />
jeder Art.<br />
Wenn Sie die Wahl haben, nehmen Sie das Auto, das Velo<br />
oder den Zug?<br />
Ich bin vor Kurzem nach Barcelona geflogen. Die<br />
Möglichkeit, mit dem Zug zu fahren, wurde verworfen,<br />
da die Zugfahrt über 14 Stunden dauert und die<br />
Anschlüsse nicht garantiert waren. Mit dem Auto<br />
oder mit dem Velo war auch keine Lösung, da wir nur<br />
vier Tage für den Städtetrip gebucht hatten. Wenn es<br />
irgendwie geht, fahre ich aber mit dem Zug oder bin<br />
mit dem Velo unterwegs.<br />
Haben Sie eine persönliche Vision?<br />
Ohne Atomstrom leben zu können.<br />
Gibt es Dinge, die Ihnen den Schlaf rauben?<br />
Zurzeit kann ich mich sehr gut zwischen meinem<br />
privaten Leben und meiner Arbeitswelt abgrenzen.<br />
Natürlich gibt es immer wieder Momente, in denen<br />
ich vieles hinterfrage und nach Lösungen suche.<br />
Dass mir dies den Schlaf rauben würde, erlebe ich<br />
jedoch weniger.<br />
Mit wem möchten Sie gerne per Du sein?<br />
Mir ist eigentlich unwichtig, ob man sich per Du<br />
oder Sie anspricht. Wichtiger scheint mir, dass der<br />
Inhalt, das was miteinander gesprochen wird, interessant,<br />
geistreich und fröhlich sein kann.<br />
13 fragen an 3/13 ZeSo<br />
7
Die SKOS bietet eine<br />
gute Plattform für Diskussionen<br />
Die Gemeinden spielen bei der Entwicklung der Sozialhilfe eine wichtige Rolle und tragen die SKOS<br />
als Fachverband wesentlich mit. Es ist richtig, dass sie Probleme in der Sozialhilfe thematisieren. Für<br />
praxisbezogene Diskussionen stellt die SKOS verschiedene Gremien zur Verfügung.<br />
Ein junger Mann bezieht Sozialhilfe, verweigert<br />
aber die Zusammenarbeit mit den<br />
Behörden. Daraus resultiert eine juristische<br />
Auseinandersetzung über mehrere Instanzen.<br />
Das Bundesgericht bestätigt die<br />
Einhaltung rechtsstaatlicher Verfahrensabläufe.<br />
Dieser Sachverhalt löste im Frühling<br />
eine breite mediale Auseinandersetzung<br />
über die Sozialhilfe und die SKOS aus.<br />
Denn die SKOS hat den Entscheid des<br />
Bundesgerichts insofern begrüsst, als dass<br />
er Klarheit schafft, unter welchen Voraussetzungen<br />
Leistungskürzungen und Leistungseinstellungen<br />
möglich sind. Vier Gemeinden<br />
sind in der Folge aus der SKOS<br />
ausgetreten. In mehreren Gemeinden und<br />
Kantonen folgten Anträge zum Austritt aus<br />
dem Verband. Gleichzeitig wurden an verschiedenen<br />
Orten parlamentarische Vorstösse<br />
zur generellen Kürzung der Sozialhilfeleistungen<br />
eingereicht.<br />
Ein knapper Kommentar zu einem Entscheid<br />
zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit<br />
durch das höchste Schweizer Gericht kann<br />
kaum die alleinige Ursache für die fundamentale<br />
Debatte über die Sozialhilfe und<br />
die SKOS sein, die der «Fall Berikon» auslöste.<br />
Sowohl die Sozialhilfe als auch die<br />
SKOS als Fachverband sind zwar immer<br />
wieder Ziel von heftigen Auseinandersetzungen.<br />
Neu waren dieses Mal aber die<br />
Austritte und die zahlreichen politischen<br />
Interventionen – die weitreichende Auswirkungen<br />
haben könnten.<br />
Die SKOS bedauert, dass die Debatte<br />
mit den unzufriedenen Gemeinden nicht<br />
innerhalb des Verbands, sondern vorab<br />
über mediale Kanäle stattgefunden hat.<br />
Die ausgetretenen Kommunen sind im<br />
Vorfeld nie mit der SKOS in Kontakt getreten.<br />
Die in der Debatte aufgeworfenen<br />
Fragen, beispielsweise der Umgang mit<br />
unkooperativen Menschen, sind allerdings<br />
ernst zu nehmen. Es ist richtig, dass darüber<br />
diskutiert wird. Es ist aber auch richtig,<br />
dass diese Fragen mit der nötigen Sorgfalt<br />
und Differenziertheit diskutiert werden.<br />
Die Faktenlage<br />
Die Sozialhilfe funktioniert gut. Sie nimmt<br />
im Schweizer Sozialsystem eine zentrale<br />
Breit abgestützt und im nationalen Konsens entwickelt: Die Sozialhilfe baut auf ihre Träger.<br />
Bild: Keystone<br />
8 ZeSo 3/13 aktuell
Position ein und sie ist ein wichtiges Glied<br />
zur Sicherung des sozialen Friedens und<br />
damit des Wohlstands in der Schweiz. Die<br />
SKOS-Richtlinien sind für die Umsetzung<br />
der Sozialhilfe ein unentbehrliches und<br />
taugliches Instrument. Die Kantone und<br />
Gemeinden erbringen auf der Basis der<br />
Richtlinien für über 235 000 Menschen<br />
in der Schweiz wichtige Dienstleistungen.<br />
Sie tun dies in vielen Fällen unter schwierigen<br />
Voraussetzungen: Wer in der Sozialhilfe<br />
ist, hat sich oft über Jahre Verhaltensweisen<br />
angeeignet, die von den Mitarbeitenden<br />
der Sozialen Dienste besondere Fähigkeiten<br />
verlangen. Die Subsidiarität der<br />
Sozialhilfe erfordert zudem genauste Abklärungen<br />
und ausgewiesenes Fachwissen.<br />
Und der öffentliche Druck ist hoch, die<br />
Ressourcen knapp.<br />
Die Rolle des Verbands und der<br />
Gemeinden<br />
Dass ein Fachverband Normen herausgibt,<br />
die durch die Expertise seiner Mitglieder<br />
aus der Praxis und der Verwaltung erarbeitet<br />
und verabschiedet werden, ist nichts<br />
Aussergewöhnliches. Die Mitglieder der<br />
SKOS sind zum grössten Teil die öffentliche<br />
Hand, insbesondere die Kantone und<br />
viele Gemeinden. Dass sie durch die Vereinheitlichung<br />
der Sozialhilfe versuchen,<br />
sowohl einen schweizweiten wie auch einen<br />
innerkommunalen Rahmen zu setzen, wirkt<br />
sich positiv aus. Es wird Rechtsgleichheit<br />
geschaffen und «Sozialtourismus» verhindert.<br />
Das breite Netz des Verbands gewährleistet<br />
eine umfassende Debatte über die<br />
Ausgestaltung der Sozialhilfe. Hier leisten<br />
auch kritische Stimmen einen wichtigen Input.<br />
Dafür stehen im Verband verschiedene<br />
Gremien und Gefässe zur Verfügung.<br />
Die Gemeinden spielen bei der Entwicklung<br />
der Sozialhilfe also eine wichtige<br />
Rolle und sie tragen die SKOS als Verband<br />
wesentlich mit. Diese Stärke wird durch<br />
Austritte geschwächt. Wer austritt, verzichtet<br />
gleichzeitig auf die Möglichkeit der<br />
direkten Mitsprache und auf die fachliche<br />
Unterstützung, die der Verband seinen<br />
Mitgliedern bei der Wahrnehmung ihrer<br />
anspruchsvollen Aufgabe anbietet.<br />
Die SKOS ist offen für eine sachliche<br />
Debatte<br />
Die SKOS hat sich verschiedentlich zur<br />
aktuellen öffentlichen Diskussion geäussert<br />
und sie ist auch auf der politischen<br />
Ebene aktiv geworden. Sie hat die aufgeworfenen<br />
Fragen mit dem Schweizerischen<br />
Gemeindeverband diskutiert und sie<br />
ist im Gespräch mit den kantonalen Sozialdirektorinnen<br />
und Sozialdirektoren sowie<br />
mit der Städteinitiative Sozialpolitik.<br />
Dass die Schweiz eine wirkungsvolle,<br />
faire Sozialhilfe und zu deren Ausgestaltung<br />
ein Instrument wie die SKOS-Richtlinien<br />
braucht, haben derweil namhafte Politikerinnen<br />
und Politiker bestätigt: SODK-Präsident<br />
Peter Gomm, Regierungsrat Kanton<br />
Solothurn, und Mario Fehr, Regierungsrat<br />
Kanton Zürich (an der letzten SKOS-Mitgliederversammlung),<br />
drei weitere kantonale<br />
Sozialdirektorinnen (in der <strong>ZESO</strong> mit<br />
Themenschwerpunkt SKOS-Richtlinien)<br />
sowie auch der Präsident der Städteinitiative<br />
und Vorsteher des Sozialdepartements<br />
der Stadt Zürich Martin Waser (s. Kommentar<br />
Seite 5).<br />
Viele der aufgeworfenen Themen wurden<br />
bereits vor der jüngsten Medienkontroverse<br />
vom Verband aufgenommen und<br />
diskutiert. So etwa Fragen zu den situationsbedingten<br />
Leistungen oder Fragen<br />
zur Wirksamkeit des 2005 eingeführten<br />
Anreizsystems. Eine empirische Untersuchung<br />
zu diesem Thema wäre, wie das<br />
unter anderem gefordert wurde, durchaus<br />
begrüssenswert.<br />
Bei der aktuellen Debatte geht es nicht<br />
allein um die SKOS und ihre Richtlinien.<br />
Es geht um die Sozialhilfe als funktionsfähiges<br />
und breit abgestütztes Instrument<br />
der Sozialpolitik. Und dieses darf nicht<br />
aufs Spiel gesetzt werden. Zu viele Menschen<br />
sind auf Sozialhilfe angewiesen und<br />
die Gesellschaft als Ganzes profitiert von<br />
ihr. Die SKOS setzt sich mit allen Mitteln<br />
dafür ein, dass die Bedeutung, die Stärken<br />
und der Nutzen der Sozialhilfe der Öffentlichkeit<br />
deutlich gemacht werden. •<br />
Dorothee Guggisberg<br />
Geschäftsführerin SKOS<br />
Die Gemeinden leisten<br />
gute Arbeit<br />
Mit Getöse sind<br />
im Frühjahr vier<br />
Gemeinden aus der<br />
SKOS ausgetreten.<br />
Der mediale Wirbel<br />
war ungewöhnlich<br />
gross. Auslöser war<br />
mein Kommentar<br />
zu einem Bundesgerichtsentscheid,<br />
der den Eindruck erwecken konnte, ich<br />
würde mich auf die Seite unkooperativer und<br />
provokativer Sozialhilfeempfänger schlagen.<br />
Das war nicht meine Absicht. Vielmehr hatte<br />
ich es begrüsst, dass das oberste Gericht die<br />
rechtlichen Voraussetzungen für die Einstellung<br />
von Leistungen geklärt hat. Das schafft<br />
für alle Beteiligten, auch für die Gemeinden,<br />
Rechtssicherheit.<br />
Der Unmut in einzelnen Gemeinden weist<br />
allerdings auf ein paar grundlegendere<br />
Probleme hin, denen die Sozialhilfe ausgesetzt<br />
ist. Zunächst bleiben schwierige und<br />
wenig kooperationsbereite Personen für<br />
die Sozialhilfe eine harte Herausforderung.<br />
Wie soll mit ihnen umgangen werden? Wo<br />
liegen die Grenzen des Zumutbaren? Wann<br />
können Leistungen eingestellt werden? Jede<br />
Gemeinde kennt solche Fälle, die an den<br />
Nerven zehren. Ich habe grossen Respekt vor<br />
Sozialdiensten und Behörden, die im Alltag<br />
versuchen, auch diesen Menschen gerecht<br />
zu werden. Zudem fühlen sich gerade kleinere<br />
Gemeinden in solchen Fragen oft allein<br />
gelassen. Offenbar auch von der SKOS. Darauf<br />
werden wir als Fachverband ein besonderes<br />
Augenmerk richten müssen.<br />
Schliesslich bleibt die Sozialhilfe im Fadenkreuz<br />
politischer Auseinandersetzungen. Die<br />
verschiedenen, ähnlich lautenden Vorstösse,<br />
die in den letzten Monaten in Parlamenten<br />
eingereicht wurden, richten sich vordergründig<br />
gegen die SKOS und ihre Richtlinien. Sie<br />
haben aber vor allem die Sozialhilfe als Pfeiler<br />
der sozialen Sicherheit zum Gegenstand.<br />
Während die SKOS ihre Richtlinien immer<br />
wieder den veränderten gesellschaftlichen<br />
Gegebenheiten angepasst hat, darf der Schutz<br />
der armutsbetroffenen Bevölkerung in der<br />
Schweiz nicht zur Disposition gestellt werden.<br />
Walter Schmid<br />
Präsident SKOS<br />
aktuell 3/13 ZeSo<br />
9
Wie sind freiwillige Zuwendungen<br />
Dritter zu berücksichtigen?<br />
Eine 19-jährige Sozialhilfebezügerin bezahlt mit einem Zuschuss ihres Grossvaters einen Mietzins,<br />
der über den Richtlinien der Gemeinde liegt. Grundsätzlich müssen regelmässige freiwillige<br />
Leistungen Dritter im Unterstützungsbudget als Einnahme berücksichtigt werden.<br />
Andrea Bucher ist 19-jährig und absolviert<br />
eine Lehre. Weil die Eltern keine Unterhaltszahlungen<br />
leisten können, wird sie ergänzend<br />
zu Lehrlingslohn und Stipendium<br />
mit Sozialhilfe unterstützt. Sie kann nicht<br />
bei den Eltern und aus psychischen Gründen<br />
auch nicht in einer Wohngemeinschaft<br />
wohnen. Sie hat einen neuen Mietvertrag für<br />
eine 2,5-Zimmer-Wohnung abgeschlossen.<br />
Der Mietzins von 1323 Franken liegt erheblich<br />
über den Richtlinien der Gemeinde<br />
für einen Ein-Personen-Haushalt. Andrea<br />
erklärt, ihr Grossvater habe ihr einen Betrag<br />
an die Miete zugesichert. Damit könne sie<br />
die Differenz zwischen dem von der Gemeinde<br />
anerkannten und dem tatsächlichen<br />
Mietzins ausgleichen.<br />
Frage<br />
Wie ist mit Zuschüssen Dritter umzugehen,<br />
mithilfe derer sich unterstützte Personen<br />
eine Wohnung leisten können, die wesentlich<br />
teurer ist als es die kommunalen<br />
Richtlinien vorgeben?<br />
Grundlagen<br />
Nach dem Grundsatz der Subsidiarität<br />
und entsprechend den SKOS-Richtlinien<br />
sind freiwillige Leistungen Dritter unabhängig<br />
von deren Höhe im Budget grundsätzlich<br />
als Einnahmen zu berücksichtigen,<br />
wenn sie zur freien Verfügung stehen<br />
(SKOS-Richtlinien, A.4 und E.1.1).<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />
und beantwortet. Das web-basierte Beratungsangebot<br />
für SKOS-Mitglieder ist über das Intranet<br />
zugänglich: www.skos.ch Intranet (einloggen)<br />
SKOS-Line.<br />
Gemäss Lehre und Praxis werden freiwillige<br />
Leistungen Dritter dann nicht angerechnet,<br />
wenn sie von bescheidenem<br />
Umfang sind, ausdrücklich zusätzlich zu<br />
den Sozialhilfeleistungen (oft mit Zweckbestimmung)<br />
erbracht werden und bei<br />
einer Anrechnung entfallen würden. Von<br />
einer Anrechnung ist aber nicht abzusehen,<br />
wenn mit den Zuwendungen Dritter<br />
ungedeckte, überhöhte Miet- oder Lebenshaltungskosten<br />
oder Luxusausgaben finanziert<br />
werden (vgl. C. Hänzi, Leistungen<br />
der Sozialhilfe in den Kantonen, in: Das<br />
Schweizerische Sozialhilferecht, Luzern<br />
2008, S. 141).<br />
Ob die Zuschüsse bei Anrechnung entfallen<br />
würden, spielt in der Praxis kaum<br />
eine Rolle. Bei vorgängiger Kenntnis<br />
entscheidet die Sozialbehörde anhand<br />
anderer Kriterien über die Anrechnung<br />
und muss allenfalls das Risiko eingehen,<br />
dass die Leistung entfällt. Wenn die Sozialbehörde<br />
erst im Nachhinein von einer<br />
freiwilligen Zuwendung erfährt, kann die<br />
Leistung gar nicht mehr entfallen. Auswirkungen<br />
hat der Wegfall der Zuwendung<br />
einzig auf das Budget der unterstützten<br />
Person, die nicht mehr über zusätzliche<br />
Mittel verfügen kann. Es ist aber nicht<br />
Aufgabe der Sozialhilfe, das Budget der<br />
betroffenen Person über das Sozialhilfeniveau<br />
zu heben.<br />
Allerdings hat eine unterstützte Person<br />
das Recht, übliche Gelegenheitsgeschenke<br />
zu empfangen, ohne dass dies zu einer Reduktion<br />
der Sozialhilfe führt. Deshalb ist<br />
auf die Anrechnung von (Geld-) Geschenken<br />
zu Weihnachten, zum Geburtstag oder<br />
ähnlichen Anlässen zu verzichten, auch<br />
wenn das Geld der beschenkten Person zur<br />
freien Verfügung steht. In diesen Fällen<br />
kommt eine Anrechnung nur in Betracht,<br />
wenn die Nichtanrechnung wegen des<br />
Umfangs der Zuwendung unbillig wäre.<br />
Weiter muss berücksichtigt werden, ob<br />
eine zweckgerichtete Zuwendung für eine<br />
Ausgabenposition erbracht wird, die im<br />
Unterstützungsbudget enthalten ist. Hingegen<br />
ist es unerheblich, ob es sich um<br />
eine Geld- oder Naturalleistung handelt.<br />
Es muss also zwischen folgenden freiwilligen<br />
Zuwendungen Dritter unterschiedenen<br />
werden.<br />
1. Regelmässig erbrachte freiwillige Leistungen<br />
sind anzurechnen, wenn sie<br />
tatsächlich zur freien Verfügung stehen,<br />
für eine im Unterstützungsbudget enthaltene<br />
Ausgabenposition ausgerichtet<br />
werden oder der Finanzierung von Luxus<br />
dienen.<br />
2. Einmalige, nicht zweckgebundene<br />
Leistungen sind anzurechnen. Ausgenommen<br />
sind übliche Gelegenheitsgeschenke<br />
oder Leistungen von bescheidenem<br />
Umfang.<br />
3. Einmalige, zweckgebundene Leistungen,<br />
die nicht für eine im Unterstützungsbudget<br />
enthaltene Ausgabenposition<br />
ausgerichtet werden, sind in der<br />
Regel nicht anzurechnen. Eine Anrechnung<br />
kommt nur in Betracht, wenn<br />
eine sehr hohe Zuwendung zur Finanzierung<br />
von Luxus geleistet wird und<br />
eine Nichtanrechnung stossend wäre.<br />
Antwort<br />
Beim freiwilligen Mietzinszuschuss des<br />
Grossvaters von Andrea Bucher handelt es<br />
sich um eine regelmässig erbrachte freiwillige<br />
Leistung. Sie wird für die Wohnkosten<br />
und damit für eine Ausgabenposition erbracht,<br />
die im Unterstützungsbudget enthalten<br />
ist. Dass der im Budget angerechnete<br />
Mietzins nicht mit dem effektiven Mietzins<br />
übereinstimmt, ändert nichts an dieser<br />
Tatsache. Folglich ist die Differenzzahlung<br />
als Einnahme solange anzurechnen, wie sie<br />
tatsächlich eingeht. <br />
•<br />
Bernadette von Deschwanden<br />
Mitglied Kommission Richtlinien<br />
und Praxishilfen der SKOS<br />
10 ZeSo 3/13 praxis
Die Kantone müssen einheitliche<br />
Bemessungsgrundlagen schaffen<br />
Steuern und Bedarfsleistungen sind eng miteinander verknüpft. Für eine effiziente sozialpolitische<br />
Steuerung der kantonalen Leistungssysteme drängt sich die Einführung von einheitlichen<br />
Bemessungsgrundlagen auf, damit keine unerwünschten Effekte auftreten.<br />
Bedarfsleistungen sind wichtige sozialpolitische<br />
Instrumente für eine effiziente Armutsbekämpfung.<br />
Sie sind der Sozialhilfe<br />
unmittelbar vorgelagert und entlasten sie.<br />
Die Kantone kennen zahlreiche bedarfsabhängige<br />
Sozialleistungen, mit denen sie<br />
Schweizer Haushalte bei der Bewältigung<br />
von spezifischen Lebenssituationen finanziell<br />
unterstützen. So tragen beispielsweise<br />
Stipendien wesentlich dazu bei, dass auch<br />
Personen in bescheidenen wirtschaftlichen<br />
Verhältnissen Zugang zu einer Ausbildung<br />
erhalten. Eine weitere bedarfsabhängige<br />
Sozialleistung ist die Alimentenbevorschussung,<br />
die zum Zug kommt, wenn der Alimentenzahler<br />
seinen Unterhaltsverpflichtungen<br />
nicht nachkommt. Die Gewährung<br />
solcher finanzieller Hilfen ist einkommensabhängig.<br />
Die zuständigen meist kommunalen<br />
Amtsstellen klären die Bedürftigkeit<br />
ab, indem sie die finanzielle Leistungsfähigkeit<br />
der Antragstellenden überprüfen.<br />
Dafür verwenden sie oftmals die letztjährige<br />
Steuerverfügung. Die Amtsstellen stützen<br />
sich dabei teilweise auf unterschiedliche<br />
massgebliche Einkommen (Nettolohn,<br />
Nettoeinkommen oder steuerbares Einkommen).<br />
Somit besteht eine enge Verknüpfung<br />
und Wechselwirkung zwischen<br />
Bedarfsleistungs- und Steuersystem.<br />
Die Kantone steuern diese Systeme<br />
und haben die Aufgabe, sie aufeinander<br />
abzustimmen. Das stellt sie vor grosse<br />
Herausforderungen, weil sowohl mit den<br />
Bedarfsleistungen als auch mit den Steuern<br />
spezifische sozialpolitische Ziele verfolgt<br />
werden. So werden im Rahmen von<br />
Steuerreformen etwa Sozialabzüge für<br />
Familien eingeführt oder verändert. Weil<br />
solche Reformen die für die Berechnung<br />
relevanten massgeblichen Einkommen<br />
verändern, werden die Anspruchskreise<br />
und Beträge der Bedarfsleistungen unter<br />
Umständen empfindlich beeinflusst. Wird<br />
beispielsweise eine Abzugsmöglichkeit für<br />
bestimmte Haushalte gestrichen, steigt<br />
Unterschiedliche Bemessungsgrundlagen können zu<br />
unerwünschten Effekten führen. Bild: Keystone<br />
gleichzeitig das massgebliche Einkommen<br />
in einem anderen Leistungssystem, und<br />
die ausgerichteten Beträge sinken dementsprechend.<br />
An dieser Stelle setzt der Ansatz des einheitlichen<br />
massgeblichen Einkommens<br />
an. Sein Ziel ist die Vereinheitlichung der<br />
Einkommensberechnung für alle kantonalen<br />
Bedarfsleistungen. Die berücksichtigten<br />
Einkommen und Abzüge sowie die<br />
Anrechnung von Vermögen für die Berechnung<br />
der Sozialleistungen werden vom<br />
Kanton klar und verbindlich festgelegt.<br />
Drei Gründe sprechen dafür:<br />
- Sozialpolitische Steuerung. Sowohl das<br />
Bedarfsleistungs- wie auch das Steuersystem<br />
sind mit dem Instrument des<br />
einheitlichen massgebenden Einkommens<br />
besser steuerbar, weil damit alle<br />
Amtsstellen die gleiche Bemessungsgrundlage<br />
verwenden. Die Auswirkungen<br />
von Steuerreformen auf die<br />
Bedarfsleistungen können besser abgeschätzt<br />
werden. Ausserdem sind Anpassungen<br />
an der Berechnung des einheitlichen<br />
massgeblichen Einkommens<br />
jederzeit möglich. Die sozialpolitische<br />
Steuerung der jeweiligen Leistungen<br />
durch die Kantone erfolgt nunmehr<br />
gezielt über die Bestimmung der Einkommensgrenzen<br />
und Leistungshöhen.<br />
Schwelleneffekte und negative Erwerbsanreize<br />
im Gesamtsystem können besser<br />
erkannt und verhindert werden.<br />
- Rechtsgleichheit. Eine einheitliche Bemessungsgrundlage<br />
bedeutet, dass die<br />
finanzielle Leistungsfähigkeit der Haushalte,<br />
ungeachtet ihrer Zusammensetzung,<br />
bei allen Amtsstellen gleich ermittelt<br />
wird. Damit wird sichergestellt,<br />
dass die Haushalte über alle Systeme<br />
hinweg gleichgestellt werden.<br />
- Vereinfachung und Transparenz. Das<br />
Gesamtsystem wird für Behörden und<br />
Leistungsbeziehende übersichtlicher und<br />
verständlicher. Reformen im Steuerund<br />
im Bedarfsleistungssystem können<br />
besser kommuniziert und von der Bevölkerung<br />
nachvollzogen werden.<br />
Einheitliche Bemessungsgrundlagen für<br />
Bedarfsleistungen tragen dazu bei, dass sich<br />
die Kantone ein Bild machen können, wie<br />
ihre Bedarfsleistungen einzeln, in Bezug<br />
aufeinander sowie im Zusammenspiel mit<br />
den Steuern wirken. Das ist notwendig, um<br />
die Bedarfsleistungen gezielt einsetzen und<br />
weiterentwickeln zu können. Das neue<br />
Grundlagenpapier «Einheitliches massgebliches<br />
Einkommen» steht auf der<br />
SKOS-Website zum Download bereit. •<br />
Yann Bochsler<br />
Fachbereich Grundlagen SKOS<br />
RECHT 3/13 ZeSo<br />
11
«Kultur ermöglicht neue Sinnesentwürfe<br />
für die Gesellschaft»<br />
Die Schweiz hat keine vernünftige nationale Kulturgesetzgebung, und es werden zu viele Diskussionen<br />
um Nebensächlichkeiten geführt, findet der Kulturvermittler und Troubleshooter Martin Heller. Für die<br />
Sozialhilfe wünscht er sich eine positivere Bedeutungssetzung des Begriffs Widerstand.<br />
Herr Heller, Sie werden einmal als<br />
Kulturvermittler, ein andermal als Kulturgenerator<br />
oder Kulturunternehmer<br />
bezeichnet. Was machen Sie genau?<br />
Ausstellungsmacher, Kurator, Kulturmanager:<br />
Die Kernaussage hinter diesen<br />
Begriffen ist, dass alles, was ich tue, mit<br />
Kultur zu tun hat. Allerdings sind meine<br />
Rollen in Kulturprojekten unterschiedlich.<br />
Meist habe ich ein kleines Team. Manchmal<br />
reissen wir selber etwas an, manchmal<br />
werden wir angefragt, manchmal bin ich<br />
im Mandat angestellt. Es kann sich um<br />
Kultur im engeren Sinn handeln wie bei<br />
der Gestaltung einer Ausstellung, um Konzeptarbeit<br />
oder um die Begleitung eines<br />
Prozesses. Dabei geht es mir immer um Inhalte.<br />
Werbung und Kommunikation um<br />
ihrer selbst willen machen wir nicht.<br />
Wie grenzen Sie die Begriffe Kunst<br />
und Kultur gegeneinander ab?<br />
Kunst ist eine Teilmenge von Kultur,<br />
wie Populärkultur oder Brauchtum. Kultur<br />
kann heute so vieles bedeuten, dass der Begriff<br />
ziemlich ausgefranst erscheint und je<br />
nach Situation definiert werden muss. Die<br />
Unesco stellt praktisch alle menschlichen<br />
Verhaltensweisen, Mentalitäten usw. unter<br />
den Begriff Kultur. Für mich und meine<br />
Arbeit ist Kultur an materielle Produkte<br />
und an die Art und Weise ihres Gebrauchs<br />
gebunden.<br />
Sie arbeiten in der Schweiz, in Österreich<br />
und in Deutschland. Wie<br />
unterscheiden sich die Mentalitäten in<br />
diesen Ländern?<br />
Das kann man nicht pauschalisieren.<br />
Ich würde eher die noch immer grossen<br />
Unterschiede zwischen Stadt und Land<br />
betonen, gerade in Bezug auf die Kultur.<br />
Dennoch: Das Verhältnis zur Kultur wird<br />
wesentlich durch das Verhältnis zum Staat<br />
definiert. In der Schweiz schlägt durch,<br />
dass wir uns als Teil des Staates verstehen.<br />
In Österreich und Deutschland wird der<br />
Staat eher als Gegenüber zur Zivilgesellschaft<br />
empfunden.<br />
Mit welchen Konsequenzen?<br />
Das Schweizer Selbstverständnis führt<br />
dazu, dass intellektuelle Höhenflüge<br />
verpönt und grosse Aufwendungen für<br />
die Kultur verdächtig sind. Dies bewirkt<br />
gleichzeitig, dass die Schwelle, ab der<br />
sich Bürgerinnen und Bürger für kulturell<br />
kompetent erklären, unglaublich niedrig<br />
ist. In Österreich habe ich ein <strong>ganz</strong> anderes<br />
Verhältnis zur Kultur erlebt. Da wird man<br />
als Fachperson gewählt und hat wie der Intendant<br />
im Theater einen grossen persönlichen<br />
Entscheidungsspielraum. So etwas<br />
gibt es in der Schweiz nicht. Ein Museumsdirektor<br />
bei uns ist immer einer Kommission<br />
gegenüber verantwortlich. In Deutschland<br />
ist es noch einmal anders. Dort gibt es<br />
eine Tradition der Hoch- oder Feuilletonkultur,<br />
die hochkarätige Auseinandersetzungen<br />
ermöglicht. Entsprechend finden<br />
sich in Deutschland, aber auch in Österreich,<br />
seit jeher mehr Intellektuelle und<br />
Kulturschaffende, die sich zu politischen<br />
Themen äussern. In der Schweiz sind gerade<br />
die kulturellen Akteure deutlich zurückhaltender.<br />
Sehen Sie Parallelen zwischen der<br />
Schweizer Kulturpolitik und der Sozialpolitik<br />
in der Schweiz?<br />
In der Schweiz gibt es keine vernünftige<br />
nationale Kulturgesetzgebung – Kulturpolitik<br />
ist Sache der Kantone und Gemeinden.<br />
Die Sozialhilfe ist auch Sache der Kantone<br />
und Gemeinden...<br />
Eine Parallele könnte deshalb in der<br />
politischen Bedeutung liegen. Welches<br />
öffentliche Prestige haben kulturelle und<br />
soziale Institutionen, soziale Fragen und<br />
Projekte? Ein anderer Aspekt dieser Frage<br />
betrifft die Teilhabe oder Nicht-Teilhabe:<br />
Wer wird – in meinem Gebiet – von der<br />
Kultur ausgeschlossen, und von welcher<br />
Art von Kultur? Welches sind die Gründe<br />
dafür? Sind es Herkunft, finanzielle Mittel<br />
12 ZeSo 3/13 interview
oder mangelnde Bildung? Was leistet das System,<br />
um Aussenstehende zu integrieren? Zugleich<br />
muss man sehen, dass wir im Vergleich<br />
mit anderen Ländern hinsichtlich der Dichte<br />
des kulturellen Angebots und dessen Finanzierung<br />
doch eher paradiesische Zustände haben,<br />
und zwar für einen Grossteil der Bevölkerung.<br />
Bilder: Christine Bärlocher<br />
Kultursubventionen stossen zyklisch<br />
auf Kritik, teilweise aus den gleichen<br />
Kreisen, die die Sozialhilfe angreifen.<br />
Solche ideologisch begründeten Aktionen<br />
sind seltener geworden. Kultur bezeichnet<br />
mehr und mehr erstrebenswerte<br />
Qualitäten – bis hin zu Unternehmens-<br />
oder Gastrokultur. Aber natürlich ist der<br />
Preis dieser Entwicklung eine gewisse Beliebigkeit.<br />
Lassen sich die Wirkung und der Nutzen<br />
von Kultur messen?<br />
Nein. Das ist genauso unsinnig wie gewisse<br />
Quantifizierungen im Sozial- und<br />
Gesundheitsbereich. Man stösst damit<br />
sofort an Grenzen. Es sind jedoch zwei<br />
sich überlagernde Entwicklungen zu beobachten:<br />
Die Kulturgesellschaft, die sich<br />
herausgebildet hat, wird wie der Rest unserer<br />
Gesellschaft automatisch auch ökonomisiert.<br />
Kann man die Qualität von kulturellen<br />
Leistungen beurteilen?<br />
Es gibt da keine absoluten Standards.<br />
Es ist wie bei der ISO-Zertifizierung: Sie<br />
müssen selbst festlegen, auf welche Werte<br />
Sie sich einlassen. Natürlich kann man<br />
den Bekanntheitsgrad einer Ausstellung<br />
beurteilen, oder die Anzahl Besuche, oder<br />
die Art und Weise, wie ein Thema Anklang<br />
findet. Das sind weiche Grössen,<br />
die aber doch ein Profil ergeben können.<br />
Die qualitative Einschätzung komplexer<br />
Projekte jedoch wie der Expo.02 oder<br />
der Europäischen Kulturhauptstadt Linz<br />
2009, an denen ich massgebend beteiligt<br />
war, benötigt mehr Aufwand und Zeit. Es<br />
gibt diverse Umweg-Effekte und Umweg-<br />
Rentabilitäten.<br />
Weshalb soll sich eine Gesellschaft<br />
eine funktionierende Kulturpolitik<br />
leisten?<br />
Kultur ermöglicht neue Sinnesentwürfe<br />
für die Gesellschaft. Nicht als Korrektiv,<br />
sondern als substanzielle und reflektierende<br />
gesellschaftliche Notwendigkeit.<br />
Ohne Kulturbetrieb würden wir uns vieler<br />
Experimentierfelder und non-konformer<br />
Verhaltensweisen berauben. Ökonomisch<br />
<br />
interview 3/13 ZeSo<br />
13
etrachtet liegt der Nutzen in den Transferleistungen,<br />
die aus Kulturarbeit hervorgehen<br />
– in Ideen und Ansätzen, die sich in andere<br />
Bereiche übersetzen lassen. Und ohne<br />
Kulturtätige würde im sozialen Gefüge eine<br />
bestimmte – und heilsame! – Form von<br />
Leidenschaft und kreativer Obsession fehlen.<br />
«Ohne Kulturtätige<br />
fehlt im<br />
sozialen Gefüge<br />
eine bestimmte<br />
Form von Leidenschaft<br />
und kreativer<br />
Obsession.»<br />
Wie beurteilen Sie die laufende Diskussion<br />
über die Sozialhilfe?<br />
Was mir auffällt ist, dass sich die Schere<br />
zwischen arm und reich extrem geöffnet<br />
hat, insbesondere hier in Zürich. Es<br />
gibt viel versteckte Armut, und selbst in<br />
Mittelstandsfamilien müssen beide Partner<br />
arbeiten gehen, damit die Rechnung<br />
halbwegs aufgeht. Die Unfähigkeit, mit<br />
dieser Situation umzugehen, und die<br />
diffuse Unzufriedenheit darüber reibt<br />
sich sehr stark an den Institutionen. Die<br />
Menschen sind dünnhäutiger geworden<br />
gegenüber Verfahrensfragen oder<br />
gegenüber den SKOS-Richtlinien, die<br />
versuchen, solche Probleme möglichst<br />
gerecht zu lösen. Jedes Mal, wenn eine<br />
vermeintliche Unstimmigkeit entdeckt<br />
wird, gibt das Anlass zu heftigen Auseinandersetzungen.<br />
Aber der Grund sind<br />
die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse.<br />
Und ich habe den Eindruck, es<br />
handle sich um eine versteckte Bürokratisierungsdiskussion.<br />
Inwiefern?<br />
Die Haltung der einzelnen Personen,<br />
von der so vieles abhängt, wird von systemkonformen<br />
Positionen verdrängt. Ich sehe<br />
das auch in kulturellen Institutionen. Mich<br />
persönlich interessiert, wie Anreize funktionieren.<br />
Mit welchen Anreizen ist es einem<br />
Sozialsystem möglich, die Widerstandskraft<br />
des Einzelnen im Sinn von Selbsthilfe<br />
nicht nur zu erhalten, sondern zu stärken?<br />
Das ist etwas vom Schwierigsten. Wie kann<br />
verhindert werden, dass sich die Leute aufgeben?<br />
Je grösser jedoch ein System wird,<br />
desto mehr nimmt es überhand.<br />
Was bedeutet Ihnen Solidarität?<br />
Das ist wie «Kultur» auch so ein Begriff,<br />
den ich nur sehr zurückhaltend verwende.<br />
In der Praxis geht es um ein Grundprinzip,<br />
das verlangt, dass man sich verantwortlich<br />
fühlt. Verantwortung ist für mich ein weit<br />
konkreterer und stärkerer Aufhänger für<br />
eine Lebenshaltung, die auch Solidarität<br />
ermöglicht.<br />
Die SKOS hat ein soziales Existenzminimum<br />
definiert und setzt sich dafür<br />
ein, dass Bedürftige auch an kulturellen<br />
und sozialnen Veranstaltungen<br />
teilnehmen können. Gehört diese Art<br />
von Teilhabe zum Grundbedarf eines<br />
Menschen?<br />
Das hängt davon ab, welche Art von<br />
Leben ermöglicht werden soll. Zu jeder<br />
Existenz gehört ein Eingebundensein in<br />
ein soziales – und das heisst immer auch<br />
kulturelles – Gefüge. Wenn das fehlt, beginnt<br />
das Leben auseinanderzubrechen.<br />
14 ZeSo 3/13 interview
Als Intendant von Linz 2009 haben Sie<br />
an der Eröffnungsfeier die Polit- und<br />
Wirtschaftsprominenz auf 70 Wohnungen<br />
verteilt und sie dort privat bekochen<br />
lassen. Basierte das auf einem<br />
künstlerischen Konzept oder war das<br />
eher ein Integrationsprojekt?<br />
Beides. Ich mache mitunter die frustrierende<br />
Erfahrung, wie wenig an Gala-Diners<br />
passiert. Man sitzt mit vielen Gästen an<br />
einem Tisch, aber ein wirklich anregender<br />
Austausch findet kaum statt. Also<br />
haben wir nach anderen Möglichkeiten<br />
gesucht. Gleichzeitig war die Aktion auch<br />
ein Zeichen gegenüber der Stadt – sie war<br />
schliesslich die Gastgeberin. Schliesslich<br />
wollten wir aber auch die Etiketten durcheinander<br />
bringen und Wärme schaffen.<br />
martin heller<br />
Martin Heller (61) hat Kunstgeschichte, Ethnologie<br />
und Europäische Volkskunde an der Universität<br />
Basel studiert, nachdem er sich an der damaligen<br />
Kunstgewerbeschule Basel zum Zeichenlehrer ausgebildet<br />
hatte. Ab 1986 war er Kurator und von 1990 bis<br />
1998 Direktor des Museums für Gestaltung in Zürich.<br />
Von 1999 bis 2003 war Martin Heller künstlerischer<br />
Direktor der Expo.02 und ist seither als selbständiger<br />
Kulturunternehmer (Heller Enterprises) tätig. Er<br />
übernahm kulturelle und kulturpolitische Mandate in<br />
Deutschland, Österreich und der Schweiz, darunter<br />
die urbane Neugestaltung der stillgelegten Zeche<br />
Zollverein in Nordrhein-Westfalen oder die Intendanz<br />
für die Kulturhauptstadt Europas Linz 2009. Seit<br />
2010 entwickelt er unter anderem die Inhalte für das<br />
neue Humboldt-Forum Berlin.<br />
Ist Kultur per se integrierend?<br />
Kultur allein ist eigentlich bloss die<br />
Beschreibung eines gesellschaftlichen<br />
Sachverhalts. Das Vorhandensein von verschiedenen<br />
Vereinen beispielsweise ist<br />
noch nicht integrierend. Sie können auch<br />
ausgrenzend wirken. Aber Kultur hat gute<br />
Chancen, integrierend zu wirken.<br />
Welchen Einfluss haben die neuen<br />
Medien auf das Kulturverständnis, auf<br />
kulturelle Entwicklungen?<br />
Durch das Internet und andere Effekte<br />
der Medialisierung und Globalisierung<br />
sind lokale Massstäbe von Kultur obsolet<br />
geworden. Die Informiertheit und Reichweite<br />
hat enorm zugenommen. Dadurch<br />
haben sich die Rahmenbedingungen sowohl<br />
für kulturell Tätige wie für jene, die<br />
Kultur konsumieren, massiv verändert.<br />
Die Transformation der Wahrnehmungsbedingungen<br />
ist extrem, und ihre Wirkung<br />
wird erst langsam sichtbar: etwa im<br />
wachsenden Unterschied zwischen denen,<br />
die digitalisiert sozialisiert sind und jenen,<br />
die noch analoge Zeiten erlebt haben. Der<br />
Bildungseffekt von Kultur ist in den Hintergrund<br />
gerückt gegenüber den Möglichkeiten<br />
der Informationsbeschaffung.<br />
Das muss man aber nicht bedauern. Es<br />
öffnet neue Chancen. Verlorengegangen<br />
ist nichts, die Gewichte haben sich einfach<br />
verschoben.<br />
Sie übernehmen oft schwierige<br />
Aufträge, Aufträge quasi mit Absturzpotenzial,<br />
sei es aktuell in Berlin, sei<br />
es damals im Rahmen der nationalen<br />
Expo.02. Was reizt Sie an der Rolle des<br />
Troubleshooters?<br />
Vorweg: Wir haben viele interessante<br />
Projekte, die ohne Probleme und Widerstände<br />
ablaufen. Aber das ist medial halt<br />
weniger spektakulär. Bei Grossprojekten<br />
wie den genannten prallen oft völlig unterschiedliche<br />
Auffassungen aufeinander.<br />
Ich finde das interessant und fühle mich<br />
stark genug, andere Haltungen in Frage<br />
zu stellen. Mit Glaubwürdigkeit lassen sich<br />
schwierige Situationen in der Regel meistern.<br />
Wobei Auseinandersetzungen meist<br />
zu produktiveren Resultaten führen als das<br />
Baden in Harmonie.<br />
Ich übernehme auch gerne Verantwortung.<br />
Bei Linz 2009 konnte ich durchsetzen,<br />
dass ich alleine über ein Budget von<br />
70 Millionen Euro entscheiden konnte.<br />
Das ermöglicht Radikalität und wäre in der<br />
Schweiz unmöglich. Als künstlerischer Direktor<br />
der Expo.02 war ich umgeben von<br />
«Kultur hat gute<br />
Chancen, integrierend<br />
zu wirken.»<br />
interdepartementalen Arbeitsgruppen und<br />
musste mir für meine Ideen immer neue<br />
Allianzen und auch wirtschaftliche Partnerschaften<br />
suchen.<br />
Natürlich kann eine derartige Verantwortung<br />
auch eine grosse Last sein. Aber<br />
es wird dabei Energie frei, man kommt<br />
viel schneller an die neuralgischen Punkte,<br />
die zu klären sind. In der Schweiz gibt es<br />
zu viele Selbstschutzmechanismen, man<br />
führt Luxusdiskussionen um Nebensächliches.<br />
Da sehe ich übrigens durchaus auch<br />
Parallelen zum Sozialbereich.<br />
Was kann die Sozialhilfepraxis von der<br />
Kulturarbeit lernen?<br />
Vielleicht die positive Bedeutungssetzung<br />
des Begriffs Widerstand. Widerstand<br />
als Kräftigung, sich auch in misslichen<br />
Lebensumständen einen eigenen Weg zu<br />
suchen, und nicht nur im Sinne von Hilfe<br />
zur Selbsthilfe. Es gibt ja zahlreiche Kulturschaffende,<br />
die in prekären Lebensbedingungen<br />
leben. Die meisten nehmen<br />
das in Kauf, weil sie auf der anderen Seite<br />
durch ihre kreative und künstlerische<br />
Tätigkeit eine Befriedigung erfahren. Das<br />
gibt ihnen eine Art innere Ausgeglichenheit.<br />
Wenn man davon etwas in das soziale<br />
Förderdenken integrieren könnte, wäre<br />
dies ein wertvoller Transfer. •<br />
Das Gespräch führte<br />
Michael Fritschi<br />
interview 3/13 ZeSo<br />
15
Bild: Rudolf Steiner<br />
16 ZeSo 3/13 SCHWERPUNKT
Die private Sozialhilfe spielt bei der<br />
Armutsbekämpfung eine wichtige Rolle<br />
Die private und die öffentliche Sozialhilfe ergänzen sich gut. Das zeigt ein Blick auf die Entstehungsgeschichte<br />
und die heutige Positionierung der Angebote. Damit die private Sozialhilfe ihre Stärken<br />
voll ausspielen kann, braucht es eine leistungsfähige öffentliche Sozialhilfe.<br />
Die Rolle der privaten Sozialhilfe vis-à-vis der öffentlichen Sozialhilfe<br />
und deren Verhältnis zueinander lässt sich auf verschiedene<br />
Weise beschreiben: über ihre Entstehungsgeschichte und ihre gesellschaftliche<br />
Bedeutung, über die Art der Trägerschaften und der<br />
Finanzierung oder über die spezifischen Angebote der privaten<br />
Sozialhilfe.<br />
Historisch betrachtet war Sozialhilfe beziehungsweise die Armenfürsorge<br />
eine Aufgabe der Klöster. Im Hochmittelalter (1050 bis<br />
1250) stiessen die Klöster jedoch an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen<br />
Leistungsfähigkeit und drohten selbst zu verarmen. Dies<br />
und die damals wachsende Armut in der Bevölkerung bewirkte,<br />
dass neue Institutionen geschaffen wurden, die unabhängig von<br />
Kirchen und Klöstern entstanden: Spitäler sowie Siechen- und<br />
Armenhäuser. Erste bürgerliche Stiftungen trugen ebenfalls zur<br />
Kommunalisierung der Fürsorge bei. Die wirtschaftliche Krise<br />
des Spätmittelalters (1500) bewirkte dann einen weiteren Schritt<br />
in der Armenfürsorge. Die Fürsorge der Obrigkeiten und damit<br />
des Staats äusserte sich im Erlass und in der Durchsetzung gesundheitspolizeilicher<br />
Massnahmen und in Vorkehrungen zur<br />
Lebensmittelversorgung. Diese Betrachtungen zeigen, dass die<br />
private Sozialhilfe weiter zurückreicht als die öffentliche Sozialhilfe.<br />
Im verwandtschaftlichen Verhältnis kann sie gegenüber der<br />
öffentlichen Sozialhilfe eine Art Elternschaft geltend machen.<br />
Allerdings besteht auf eine Unterstützung durch private Sozialhilfe<br />
– im Gegensatz zur öffentlichen Sozialhilfe – kein klagbarer<br />
Rechtsanspruch.<br />
Finanzierung und Trägerschaft<br />
Die Finanzierung der öffentlichen Sozialhilfe erfolgt denn auch<br />
durch die öffentliche Hand. Die Kantone und Gemeinden sind für<br />
ihre Durchführung verantwortlich. Eine Ausnahme bildet die Sozialhilfe<br />
für Asylsuchende, für die der Bund die Hauptlast trägt.<br />
Die Finanzierung der privaten Sozialhilfe hingegen erfolgt durch<br />
Spendengelder und durch die Bewirtschaftung von Eigenkapital,<br />
aber teilweise auch durch die öffentliche Hand. In den vergangenen<br />
Jahrzehnten haben Leistungsvereinbarungen zwischen Privaten<br />
und dem Staat stark an Bedeutung gewonnen.<br />
Private Hilfswerke binden<br />
die Bevölkerung in die<br />
Armutsbekämpfung ein.<br />
Zu den auf nationaler Ebene wichtigsten privaten Sozialhilfeeinrichtungen<br />
gehören die drei «Pro-Werke» Pro Infirmis, Pro<br />
Senectute und Pro Juventute, Caritas Schweiz, das Hilfswerk der<br />
Evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS), das Schweizerische<br />
Arbeiterhilfswerk (SAH), das Schweizerische Rote Kreuz (SRK)<br />
und die Heilsarmee. Die privaten Sozialhilfeeinrichtungen lassen<br />
sich in Hilfswerke (religiöse und nicht-religiöse), Stiftungen und<br />
weitere nicht staatliche Institutionen einteilen.<br />
Relevanz des Angebots<br />
Gemäss Bundesamt für Statistik belaufen sich die jährlichen direkten<br />
Sozialhilfeausgaben zu Lasten der öffentlichen Hand auf<br />
rund zwei Milliarden Franken. Das Ausmass der privaten Sozialhilfe<br />
ist hingegen nicht erforscht. Schätzungen sind zwar möglich,<br />
aber mit Vorsicht zu geniessen. Folgende Überlegungen lassen<br />
darauf schliessen, dass der Umfang dieser Leistungen sehr<br />
bedeutsam ist. In der Schweiz gibt es rund 13 000 Stiftungen,<br />
knapp 40 Prozent von ihnen geben eine Tätigkeit im sozialen Bereich<br />
an. Insgesamt verfügen gemeinnützige Stiftungen über ein<br />
geschätztes Vermögen von 70 Milliarden Franken, wobei die jährliche<br />
Ausschüttung nur einen Bruchteil davon ausmacht. Eine unsystematische<br />
Umfrage bei den Pro-Werken und anderen national<br />
tätigen Hilfswerken im Hinblick auf diesen Beitrag lässt<br />
vermuten, dass sich das jährliche Unterstützungsvolumen der privaten<br />
Sozialhilfe auf rund 20 Millionen Franken beläuft. Das entspricht<br />
immerhin einem Prozent der staatlichen Ausgaben für die<br />
Sozialhilfe.<br />
Anders als die Leistungen der öffentlichen Sozialhilfe sind die<br />
Angebote und Zuständigkeitsbereiche der Privaten nicht definiert.<br />
Klar ist hingegen, dass sie wichtige Aufgaben bereits vorgelagert<br />
zur Sozialhilfe übernehmen, indem sie beispielsweise Beratung<br />
für Ratsuchende anbieten, die noch nicht von staatlichen Stellen<br />
erfasst wurden. Oder sie springen dort ergänzend zu den Leistungen<br />
der öffentlichen Sozialhilfe ein, wo diese nicht möglich oder<br />
nicht ausreichend sind. Das Angebot der privaten Sozialhilfe ist<br />
also sowohl in finanzieller Hinsicht wie auch in Bezug auf die<br />
Angebotspalette bedeutsam.<br />
Ungeklärte Subsidiarität<br />
Die SKOS-Richtlinien geben vor, dass Sozialhilfeleistungen grundsätzlich<br />
auch subsidiär sind gegenüber Leistungen Dritter, die ohne<br />
rechtliche Verpflichtung erbracht werden. Die öffentliche Sozialhilfe<br />
wäre demnach nur subsidiär zu den Leistungen der<br />
Hilfswerke oder Stiftungen auszurichten.<br />
Die Realität ist eine andere. Im Gegensatz zu früher haben die<br />
privaten Hilfswerke den Zugang zu ihren finanziellen Mitteln er-<br />
18 ZeSo 3/13 SCHWERPUNKT
private sozilhilfe<br />
Die private Sozialhilfe übernimmt wichtige Aufgaben, zum Beispiel die eines Mahlzeitendienstes für Rentnerinnen und Rentner.<br />
Bild: Keystone<br />
schwert und orientieren sich oft an der öffentlichen Sozialhilfe.<br />
Die meisten unter ihnen betonen sinngemäss, dass die Leistungen<br />
der öffentlichen Hand nicht ersetzt, sondern nur gezielt ergänzt<br />
werden können. Hier zeigt sich ein nicht vollends geklärtes Verständnis<br />
der Subsidiarität. Die Frage lautet: Welche Leistung geht<br />
vor? Die Praxis verhält sich pragmatisch. Es gibt Sozialdienste, die<br />
versuchen, die freiwilligen Leistungen Dritter systematisch zu erschliessen,<br />
andere wiederum delegieren diese Verantwortung an<br />
die Klientel.<br />
Gesellschaftliche Bedeutung<br />
Die gesellschaftliche Bedeutung der privaten Sozialhilfe zeigt sich<br />
auf verschiedenen Ebenen. Sie hilft da, wo die Unterstützung des<br />
Staats nicht greift, finanziert zum Beispiel Ferienaufenthalte für<br />
Bedürftige oder übernimmt Arztrechnungen. Die zahlreichen Projekte<br />
im Bereich der beruflichen und sozialen Integration sind<br />
ebenfalls zentral. Hinzu kommt die bereits genannte wichtige Beratungstätigkeit.<br />
Zudem bilden die Privaten eine Kohäsionskraft<br />
in der Zivilgesellschaft. Die Bevölkerung wird quasi in die Armutsbekämpfung<br />
eingebunden, mittels Spenden oder ehrenamtlicher<br />
Tätigkeit. Die Gesellschaft nimmt hier ergänzend zum Staat eine<br />
unterstützende Rolle wahr.<br />
In einem Referat hat SKOS-Präsident Walter Schmid einmal<br />
die Frage gestellt, ob Vormundschaft und Sozialhilfe Geschwister<br />
seien. Er verneinte dies und verwies dabei auf historische Gründe<br />
sowie auf die unterschiedliche Rechtsgestalt. Weiter oben wurde<br />
auch auf ein mögliches verwandtschaftliches Verhältnis von privater<br />
und öffentlicher Sozialhilfe hingewiesen. Immerhin tragen<br />
sie ja den gleichen «Nachnamen». Die Ausführungen haben aber<br />
deutlich gemacht: Zwischen der privaten und der öffentlichen<br />
Sozialhilfe besteht kein direktes Verwandtschaftsverhältnis. Und<br />
trotzdem besteht eine wichtige Beziehung zueinander. Während<br />
Betroffene die Unterstützung der öffentlichen Sozialhilfe rechtlich<br />
durchsetzen können – ähnlich wie bei der Unterhaltspflicht<br />
der Eltern gegenüber ihren Kindern –, besteht kein Anrecht auf<br />
private Sozialhilfe. Die Rolle der privaten Sozialhilfe gegenüber<br />
der öffentlichen gleicht am ehesten der einer Gotte beziehungsweise<br />
Patin: Sie ist im Normalfall wenig belastet, die Gespräche<br />
haben einen informellen Charakter und Beratungen sind ohne<br />
Verpflichtungen möglich. Dafür kommt die finanzielle Hilfe nur<br />
unregelmässig (wie jedes Patenkind weiss), und die Höhe kann<br />
stark variieren.<br />
Dies hat auch Konsequenzen für die künftige Sozialpolitik.<br />
Falls in Zukunft Leistungen vom Staat gekürzt werden sollten,<br />
können die Privaten nur begrenzt einspringen. Es braucht daher<br />
weiterhin eine leistungsfähige Sozialhilfe der öffentlichen Hand,<br />
damit die Privaten ihren angestammten wichtigen Part auch in<br />
Zukunft wahrnehmen können.<br />
•<br />
Pascal Engler<br />
Dozent im Bachelor - und Masterstudiengang<br />
Berner Fachhochschule, Fachbereich Soziale Arbeit<br />
SCHWERPUNKT 3/13 ZeSo<br />
Dazu beitragen, Voraussetzungen für eine<br />
Unterstützung zu erfüllen<br />
Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) leistet seit vielen Jahrzehnten Einzelfallhilfe.<br />
Die folgenden Betrachtungen und Beispiele zeigen, wie die private Sozialhilfe die öffentliche<br />
Sozialhilfe ergänzen und teilweise auch entlasten kann.<br />
Finanzielle Unterstützungen sind der quantitativ wichtigste Teil<br />
der privaten Sozialhilfe. Es handelt sich dabei um Unterstützungsleistungen,<br />
die wichtig und gesellschaftlich nützlich sind,<br />
für die aber keine gesetzlichen Grundlagen existieren. Oder, dort<br />
wo sie existieren, diese nur ungenügende Mittel vorsehen. Die<br />
meisten Unterstützungen dieser Art betreffen Zahnbehandlungen,<br />
Hilfen für Schuldensanierungen und Privatkonkurse sowie<br />
Ausstände bei den Krankenkassen. Solche Schwerpunkte geben<br />
immer auch Hinweise auf die sozialpolitische Diskussion in einer<br />
Gesellschaft.<br />
Im Folgenden interessieren aber vor allem zwei Aspekte des<br />
Verhältnisses zwischen privater und staatlicher Sozialhilfe. Anhand<br />
von Beispielen wird dargestellt, wo die private Sozialhilfe die<br />
gesetzlichen Bestimmungen und damit die öffentliche Sozialhilfe<br />
ergänzt. Danach wird der Dialog zwischen öffentlicher und privater<br />
Sozialhilfe angesprochen und gezeigt, dass die private Sozialhilfe<br />
auch kontrollierend und korrigierend wirken kann.<br />
Beispiel 1<br />
Ein Paar, beide Anfang 50, besitzt ein winziges Berggüetli, mit<br />
dem es ein Jahreseinkommen von 3000 Franken erzielt. Ein<br />
wichtiger Teil seines Bar- und Naturaleinkommens sind seine<br />
Schweine. Nur muss der Stall dringend saniert werden, weil er<br />
den Verordnungen des Tierschutzes nicht mehr entspricht. Bedingung<br />
für den Erhalt von Subventionen war die Mitarbeit am<br />
Bau des neuen Stalls und eine finanzielle Beteiligung der Ei-<br />
Bescheidenes Leben im Berggüetli: Die Einzelfallhilfe wie jene der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft kann dazu beitragen, unnötige<br />
Härtefälle zu verhindern und Betroffenen Chancen zu eröffen.<br />
Bild: Keystone<br />
20 ZeSo 3/13 SCHWERPUNKT
private sozilhilfe<br />
gentümer an den Kosten. Die SGG hat rund ein Drittel der Kosten<br />
übernommen und damit ermöglicht, dass das Paar seinen<br />
kleinen Hof sicher für weitere zehn Jahre bewirtschaften kann.<br />
In grösster Bescheidenheit, aber nach seinem freien Willen.<br />
Beispiel 2<br />
Kurz vor Weihnachten wird eine junge Studentin von ihrer<br />
Mutter aus der gemeinsamen Wohnung verwiesen. Aufgrund<br />
des Einkommens der Mutter war die Tochter bisher nicht stipendienberechtigt.<br />
Die behördliche Klärung des Anspruchs auf<br />
Stipendien in der neuen Situation mit getrennten Wohnungen<br />
und eines möglichen Anspruchs gegenüber der Mutter auf Unterstützung<br />
wird Monate dauern. Die junge Frau erhält von der<br />
SGG noch zwischen Weihnachten und Neujahr Mittel, sodass<br />
sie vorerst einmal aufatmen kann.<br />
In beiden Fällen kommen spezifische Stärken der privaten Sozialhilfe<br />
zu Tragen: Sie kann sehr schnell handeln und kann situativ<br />
dazu beitragen, dass die Voraussetzungen für eine öffentliche Unterstützung<br />
erfüllt werden. Mit ihrem Ermessensspielraum kann<br />
sie es ermöglichen, dass dem Sinn der Gesetzgebung entsprechend<br />
gehandelt werden kann, auch wenn der Buchstabe des Gesetzes<br />
das nicht zulassen sollte. Dies geschieht im Wissen darum,<br />
dass gesetzliche Regelungen, selbst wenn sie noch so differenziert<br />
ausgearbeitet sind, nie in der Lage sind, die gesamte Realität des<br />
Lebens zu erfassen.<br />
Es liegt in der Natur der Sache, dass auch in der öffentlichen<br />
Sozialhilfe Fehler vorkommen können. Auch dieser Aspekt kann<br />
anhand von Beispielen erläutert werden.<br />
Beispiel 3<br />
Ein junger Mann, der über eine hochqualifizierte Ausbildung<br />
(Fachhochschulabschluss) verfügt, leidet unter psychischen<br />
Problemen. Weil er Schulden in der Höhe von 40 000 Franken<br />
hatte, wollte ihn der zuständige Sozialdienst einen Privatkonkurs<br />
eröffnen lassen. Dies mit der Begründung, der Mann sei<br />
nur zu 50 Prozent arbeitsfähig. Die SGG schätzte die Situation<br />
differenzierter ein: Damit eine später mögliche Erhöhung<br />
des Arbeitspensums und somit des Einkommens nicht damit<br />
belastet würde, dass dann zuerst einmal die Schuldscheine abbezahlt<br />
werden müssen – was einer weitergehenden Genesung<br />
im Wege stehen könnte –, wurde dem Mann ein Beitrag zur<br />
Schuldensanierung angeboten.<br />
Zahlen und Fakten zur SGG<br />
Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG)<br />
nimmt gemeinsam mit ihren in der Einzelfallhilfe tätigen<br />
Stiftungen jährlich 350 bis 400 Gesuche entgegen. Ein Drittel<br />
davon kann durchschnittlich positiv entschieden werden.<br />
Für diese Tätigkeit wendet die SGG jährlich rund 400 000<br />
Franken auf.<br />
Die Fallbearbeitung kostet jährlich rund 54 000 Franken. Die<br />
Bearbeitungskosten pro Gesuch belaufen sich auf durchschnittlich<br />
130 Franken.<br />
Neben dem national ausgerichteten Verein existieren diverse<br />
kantonale und regionale gemeinnützige Gesellschaften, die<br />
als eigenständige Körperschaften handeln und die ebenfalls<br />
Individualhilfen leisten.<br />
Beispiel 4<br />
Es ging um ein Gesuch an die SGG zur Übernahme der Kosten<br />
für eine eher aussergewöhnliche Drogentherapie, die von<br />
keiner öffentlichen Institution übernommen werden konnte.<br />
Rückfragen machten deutlich, dass der einreichende Sozialarbeiter<br />
sich unter Druck fühlte, weil die Familie der jungen Frau<br />
in der Region eine bedeutende Stellung einnahm und über ein<br />
Vermögen verfügte, das man gemeinhin als wohlhabend bezeichnet.<br />
In ihrem Absageschreiben wies die SGG deutlich darauf<br />
hin, dass in solchen Fällen keine privaten gemeinnützigen<br />
Gelder verwendet werden dürfen.<br />
In Situationen wie diesen braucht es gemeinsame Grundlagen<br />
und ein gemeinsames Grundverständnis über die Möglichkeiten<br />
der öffentlichen und die Möglichkeiten der privaten Sozialhilfe.<br />
Wichtigstes gemeinsames Instrument sind eindeutig die SKOS-<br />
Richtlinien, auch wenn sie von einer gemeinnützigen Organisation<br />
keineswegs als Vorschriften oder gar als gesetzliche Normen<br />
verstanden werden.<br />
Die Gesuche für finanzielle Hilfe, die an die SGG gerichtet werden,<br />
müssen über die örtlichen Sozialdienste oder über staatlich<br />
anerkannte Fachdienste wie beispielsweise jene der Pro Infirmis<br />
eingereicht werden. In der Regel werden nur Gesuche von über<br />
2000 Franken entgegen genommen. Falls die Personen steuerpflichtig<br />
sind, ist es für die Gewährung einer Unterstützung eine<br />
der Bedingungen, dass sich die öffentliche Hand mit einer Steuerreduktion<br />
oder mit Steuererlassen beteiligt. Die Hilfen haben das<br />
Ziel, mit einer einmaligen Unterstützung die Situation der Betroffenen<br />
nachhaltig zu verbessern.<br />
Die private Sozialhilfe ist eine wichtige und willkommene Zusatzhilfe<br />
oder vorübergehende Ergänzung zur öffentlichen Sozialhilfe,<br />
die sie in bestimmten Fällen auch ein Stück weit entlasten<br />
kann. Wir haben auch immer wieder erfahren, dass der Dialog<br />
unter den beteiligten Institutionen zu besseren oder verbesserten<br />
Lösungen führen kann. <br />
•<br />
Herbert Ammann<br />
Ehem. Geschäftsleiter (bis <strong>2013</strong>)<br />
Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft<br />
SCHWERPUNKT 3/13 ZeSo<br />
Mit einem öffentlichen Auftrag im<br />
Rücken lässt sich langfristig planen<br />
Caritas Neuenburg betreut im Auftrag des Kantons Flüchtlinge und ist dabei zuständig für Sozialhilfe<br />
und Eingliederungsmassnahmen. Der Autor beschreibt die Chancen und Risiken, die privaten<br />
Organisationen aus der Übernahme eines Sozialhilfeauftrags erwachsen können.<br />
Caritas Neuenburg ist im Rahmen eines kantonalen Leistungsauftrags<br />
zuständig für die Sozialhilfe für anerkannte Flüchtlinge. Zum<br />
Auftrag gehört auch die Begleitung der gesellschaftlichen und beruflichen<br />
Integration dieser Personengruppe. Für die Betreuung<br />
sind im Budget pro Familie und Monat zwei Stunden vorgesehen.<br />
Gestützt auf den Leistungsauftrag hat Caritas ihre Kompetenzen<br />
für Integrationsarbeit vertiefen und zusätzliche, ihr ursprüngliches<br />
Angebot erweiternde Dienstleistungen entwickeln<br />
können. So bietet das Hilfswerk heute beispielsweise Sprachkurse<br />
an, hilft bei der Wohnungssuche, setzt freiwillige Helfer für die<br />
individuelle Begleitung ein und informiert ihre Klientinnen und<br />
Klienten über Krankenversicherungen und andere Institutionen,<br />
über die sie Kenntnisse haben sollten. Bei der Wohnungssuche<br />
ist die Unterstützung durch Freiwillige äusserst wertvoll, geht es<br />
doch darum, Wohnungen für ausländische, fremdsprachige und<br />
sozialhilfeabhängige Familien zu suchen. Sie gehören zu der Personengruppe,<br />
die von privaten Hausverwaltungen am häufigsten<br />
abgewiesen wird.<br />
Private Sozialhilfe-Akteure sind für diese Art der Unterstützung<br />
bestens geeignet und leisten wertvolle Pionier- und Vorarbeit. Sie<br />
können innovative Projekte lancieren und dazu beitragen, Lücken<br />
im System der Betreuungs- und Beratungsangebote zu schliessen.<br />
Zur Finanzierung und Durchführung von Projekten können sie<br />
auf ein Netz von Spendern und Freiwilligen sowie auf Beiträge von<br />
Stiftungen und privatwirtschaftlichen Sponsoren zurückgreifen.<br />
Doch aufgepasst! Dieser strategische Ansatz kommt einer Gratwanderung<br />
gleich. Die Anstrengungen dürfen auf keinen Fall<br />
darauf hinwirken, dass durch alternative Finanzierungsquellen<br />
Budgetbeschränkungen bei anderen Institutionen ausgeglichen<br />
werden, bloss um auf diese Weise das Niveau der Sozialhilfeleistungen<br />
aufrechtzuerhalten. Das käme einer Schwächung des<br />
Sozialnetzes gleich. Um ihr Engagement nachhaltig zu sichern<br />
und weiter in die Sozialarbeit investieren zu können, ist Caritas<br />
Neuenburg deshalb auf die Sicherheit von Aufträgen der öffentlichen<br />
Hand angewiesen. Auf diesem Fundament kann sie zusätzliche,<br />
durch eigene Projekte finanzierte Leistungen erbringen.<br />
Beobachter- und Expertenfunktion<br />
Die folgenden Betrachtungen beleuchten die Zusammenarbeit<br />
und die Effizienz bei solchen Kooperationsmodellen:<br />
Die Revision der Sozialhilferichtlinien im Kanton Neuenburg im<br />
Jahr 2007 sah eine spürbare Kürzung der Leistungen zur Deckung<br />
des Lebensunterhalts vor – entgegen der Empfehlungen der SKOS.<br />
Als Hilfswerk und Auftragnehmerin konnte sich Caritas Neuenburg<br />
im Rahmen der Vernehmlassung zur Revision äussern. Da ihr das<br />
System aus erster Hand bekannt war, konnten die Auswirkungen<br />
Private Sozialhilfe-Akteure helfen, Lücken im System der Betreuungs- und Beratu<br />
der geplanten Revision eingehend analysiert werden. Und als unabhängige<br />
Expertin konnte Caritas in der Folge die Revision in einigen<br />
Punkten ein wenig mitgestalten. Das Zusammenwirken von öffentlichem<br />
und privatem Sektor erwies sich in diesem Fall als effizient.<br />
Denn ähnlich wie die Medien eine Kontrollfunktion gegenüber<br />
Exekutive, Legislative und Judikative ausüben, haben die Hilfswerke<br />
ein waches Auge auf die Entwicklung der Richtlinien und<br />
Gesetze im Sozialbereich. Solange diese einen annehmbaren Rahmen<br />
definieren, lässt sich mehr bewirken, wenn man sich aktiv am<br />
System und damit an seiner Entwicklung beteiligt. In diesem Licht<br />
ist es allerdings bemerkenswert, dass das Bundesamt für Migration<br />
die Betreuung der Empfangs- und Verfahrenszentren für Asylsuchende<br />
an gewinnorientierte private Unternehmen vergibt…<br />
Finanzielle und rechtliche Risiken<br />
Mit dem Übergang der Zuständigkeit für die Sozialhilfe an Flüchtlinge<br />
im Jahr 1998 vom Bund an die Kantone begann das kantonale<br />
Amt für Migration, die Fallpauschalen des Bundes an Caritas<br />
zu überweisen. Als in der Folge die Zahl der betreuten Personen<br />
stetig zunahm und die Ausgleichszahlungen rund um die Flüchtlingsbetreuung<br />
im Jahr 2007 die Höhe des gesamten übrigen<br />
Budgets der Organisation erreichten, war die Verwaltung dieser<br />
22 ZeSo 3/13 SCHWERPUNKT
private sozilhilfe<br />
ngsangebote zu schliessen.<br />
Bild: Pixsil<br />
Gelder zu einem erheblichen finanziellen Risiko geworden. Denn<br />
Caritas verfügt über das Vereinsvermögen hinaus über keine weiteren<br />
Defizitgarantien. Um die Risiken der Pauschalenverwaltung<br />
vom Hilfswerk an den Kanton zu übergeben, hat Caritas darauf<br />
dem Kanton ein alternatives Entschädigungsmodell vorgeschlagen,<br />
das es ihr erlaubt, dem Kanton die effektiv anfallenden Kosten<br />
der Sozialhilfe in Rechnung zu stellen.<br />
Als beauftragte Sozialhilfeorganisation entscheidet Caritas<br />
Neuenburg auch über Rückforderungen von Sozialhilfeleistungen<br />
oder über die Ausstellung von Schuldanerkennungen. Das bedeutet,<br />
dass die Schuldner in der Folge das bezogene Geld einem<br />
privaten Dienstleister, der öffentliche Gelder verwaltet, zurückbezahlen<br />
müssen. Auch das wirft Fragen auf, die im Rahmen<br />
des Leistungsauftrags geklärt werden müssen: Wer übernimmt<br />
das Eintreiben dieser Forderungen, wenn ein Sozialhilfedossier<br />
einmal geschlossen ist? Gehört das noch zum Sozialhilfeauftrag?<br />
Kann man in der gegebenen Funktion einen Schuldner überhaupt<br />
für Forderungen betreiben, die ein Dritter erhebt? Können Bund<br />
und Kanton eine Rückzahlung vom privaten Dienstleister einfordern,<br />
wenn der Schuldner zahlungsunfähig ist?<br />
Wäre Letzteres der Fall, müsste der Dienstleister Rückstellungen<br />
bilden, um dieses Risiko aufzufangen. Das ist aber angesichts<br />
der Höhe der Beträge und Finanzflüsse unmöglich. Auf solche<br />
und ähnliche Fragen müssen immer erst Antworten gefunden<br />
werden. Nicht zuletzt deshalb, um bei den beteiligten Parteien<br />
keine falschen Erwartungen aufkommen zu lassen.<br />
Kontrolle ist besser<br />
Der Kanton Neuenburg hat in der Folge die Risiken, die im Zusammenhang<br />
mit der Verwaltung der vom Bund erstatteten Pauschalen<br />
auftreten, übernommen. Im Gegenzug ist er aber darauf<br />
angewiesen, dass die Sozialhilfeausgaben für Flüchtlinge konsequent<br />
ausgewiesen werden. Doch je mehr Kontrollebenen eingerichtet<br />
werden (Hilfswerk, Kanton, Bund), desto grösser ist die Gefahr,<br />
dass man das Wesentliche, nämlich die Menschen, aus den<br />
Augen verliert. Wir bei Caritas Neuenburg haben mittlerweile<br />
manchmal das Gefühl, mehr Zeit in die transparente Abrechnung<br />
der eingesetzten Gelder als in die Förderung von Selbständigkeit<br />
und finanzieller Unabhängigkeit der Flüchtlinge zu investieren.<br />
Und es gibt in diesem Zusammenhang noch weitere Herausforderungen<br />
zu meistern. Über die Hälfte der kantonalen Mittel<br />
fliesst im Rahmen von Leistungsaufträgen an Dritte. Zu Kontrollund<br />
Steuerzwecken ist der Kanton deshalb bestrebt, für alle Leistungen<br />
einheitliche Rechnungslegungs- und Kennzahlenmodelle<br />
anwenden. Die privaten Dienstleister auf der anderen Seite haben<br />
eigene, auf die eigenen Ziele ausgerichtete Instrumente, mit denen<br />
sie ihre Tätigkeit und Ausgaben analysieren. Wenn diese Unterschiede<br />
nicht thematisiert werden, kann das Aufeinandertreffen<br />
der öffentlichen und der privaten Modelle zu Spannungen und<br />
Missverständnissen führen.<br />
Umständlich ist zudem, dass private Sozialhilfedienstleister<br />
immer wieder an Datenschutzgrenzen stossen. Wenn Belege und<br />
Vollmachten nicht ausreichen, müssen die öffentlichen Auftraggeber<br />
für sie die benötigten Informationen beschaffen. Das ist weder<br />
zweckmässig noch effizient.<br />
Aus der Zusammenarbeit zwischen einem öffentlichen Auftraggeber<br />
und einem privaten Auftragnehmer wie Caritas Neuenburg<br />
ergeben sich gemäss diesen Betrachtungen sowohl Vorteile<br />
wie auch Nachteile. Sie bietet Chancen und birgt Risiken. Umso<br />
wichtiger ist es, dass man sich auf einen stabiles Fundament stützen<br />
kann. Auf dieser Grundlage ist es möglich, eine Vorreiter- und<br />
Beobachterrolle zu übernehmen. Was wir uns aber vor allem wünschen<br />
ist, dass auch bei unseren Partnern weiterhin der Mensch<br />
im Mittelpunkt steht. <br />
•<br />
SCHWERPUNKT 3/13 ZeSo<br />
Sébastien Giovannoni<br />
Leiter Sozialberatung<br />
Caritas Neuenburg<br />
«Wenn wir Daten austauschen, dann ist<br />
es zum Wohl des Klienten»<br />
Sie betreuen teilweise die gleichen Personen und bearbeiten manchmal ähnliche Fragestellungen:<br />
Zwei Sozialarbeiterinnen, eine mit einem diakonischen, die andere mit einem staatlichen<br />
Sozialhilfeauftrag, im Gespräch über Schnittstellen und Zusammenarbeit.<br />
Frau ter Meer, Frau Flüeler, Sie arbeiten in der gleichen<br />
Stadt aber bei verschiedenen Organisationen als Sozialarbeiterinnen.<br />
Kennen Sie sich?<br />
Lilian ter Meer: Nein, bisher noch nicht.<br />
Daniela Flüeler: Ihr Name ist mir einmal in einer Mail begegnet.<br />
Wie eng sind denn die Kontakte zwischen Ihren Sozialdiensten?<br />
Ter Meer: Die Kontakte sind je nachdem mehr oder weniger<br />
eng. Sie laufen vor allem über die einzelnen Klienten. Wir sind in<br />
Bern in zwölf Kirchgemeinden aufgeteilt und betreuen Personen<br />
aus unserem Umfeld.<br />
Flüeler: Wir sind weniger sozialräumlich orientiert. Die Kontakte<br />
zu den Sozialdiensten der Kirchgemeinden sind sehr unterschiedlich<br />
und auch personenabhängig.<br />
Wo sehen Sie die Stärken kirchlicher Sozialdienste?<br />
Flüeler: In der Flexibilität und darin, dass sie mehr Zeit zur<br />
Verfügung haben als wir. Wir schätzen die kirchlichen Sozialdienste,<br />
weil dort auch einmal einfach zugehört wird, ohne dass<br />
gleich eine Gegenleistung verlangt wird. Wir selbst sind durch den<br />
gesetzlichen Rahmen eng gebunden.<br />
Ter Meer: Wir haben effektiv eine andere Bandbreite, weil wir<br />
weniger Fälle abarbeiten müssen. Das ist eine Chance. Bei rund<br />
Lilian ter Meer, Sozialarbeiterin im diakonischen Beratungs- und Sozialdienst der Kirchgemeinde Nydegg.<br />
Bilder: Pia Neuenschwander<br />
24 ZeSo 3/13 SCHWERPUNKT
private sozilhilfe<br />
der Hälfte der Fälle dreht es sich um Probleme mit den Finanzen.<br />
Wir helfen beispielsweise, Gesuche zu stellen oder beim Einteilen<br />
des Budgets. In einem Fall gehe ich für eine alte Frau zuerst<br />
zur Bank Geld abheben, dann zu ihr nach Hause, und zuletzt fürs<br />
Einzahlen auf die Post. Sie ist 93 und will und kann nicht mehr<br />
auf Lastschriftverfahren oder Zahlungsanweisung umstellen. Sie<br />
muss ihr Geld physisch vor sich haben.<br />
Leisten Sie auch materielle Unterstützung?<br />
Ter Meer: Ja. Mit unserer Hilfskasse können wir bei zeitlich befristeten<br />
Notlagen aushelfen. So haben wir beispielsweise einmal<br />
einem Vater eine Reise mitfinanziert, damit er im Ausland seine<br />
Tochter besuchen konnte.<br />
Über wie viel Geld verfügen Sie?<br />
Ter Meer: Das ist von Kirchgemeinde zu Kirchgemeinde unterschiedlich.<br />
Unsere «Kässeli» werden aus der Gottesdienstkollekte<br />
alimentiert. Dann gibt es manchmal zweckgebundene Legate,<br />
etwa für die Altersarbeit. Wir schwimmen aber nicht im Geld.<br />
Die öffentliche Hand muss sparen. Übernimmt die kirchliche<br />
Sozialhilfe manchmal auch Aufgaben, die nicht komplementär<br />
sondern eher substituierend zur öffentlichen<br />
Sozialhilfe sind?<br />
Flüeler: Wenn wir uns absprechen, ist das schon möglich.<br />
Das bedeutet aber nicht, dass wir Leute abschieben. Für gewisse<br />
Probleme haben wir wie gesagt zu wenig Ressourcen. Wir haben<br />
beispielsweise immer wieder Leute, die nicht verstehen, wie das<br />
mit der Krankenkasse funktioniert, auch wenn man es ihnen<br />
mehrmals erklärt. Für solche Beratungen wollten wir eigens eine<br />
Stelle schaffen, aber sie konnte bisher nicht finanziert werden.<br />
Also wenden sich diese Leute dann eben eher an private Sozialdienste.<br />
Gibt es bei gemeinsamen Klientinnen und Klienten einen<br />
Datenaustausch?<br />
Ter Meer: Ich frage die Klienten, ob ich mit der zuständigen<br />
Sozialarbeiterin telefonieren darf. Wenn sie einverstanden sind, ist<br />
der Informationsaustausch kein Problem. So kann ich beispielsweise<br />
ein Sozialhilfebudget einsehen und mit diesen Informationen<br />
ein Gesuch schreiben.<br />
Flüeler: Wenn wir Daten austauschen, dann ist es zum Wohl<br />
des Klienten. Es gibt auch Situationen, da müssen wir zurückhaltend<br />
sein. Wenn wir beispielsweise hören, dass ein Klient darauf<br />
aus ist, von möglichst vielen Quellen Geld zu organisieren. Dann<br />
dürfen wir nichts dazu sagen, ob er von uns auch unterstützt wird.<br />
Welche Rolle spielen für Sie, Frau ter Meer, die SKOS-Richtlinien?<br />
Ter Meer: Sie dienen mir als Orientierungshilfe. Beispielsweise,<br />
wenn ich für jemand ein Budget erstelle. Einmal ging es darum,<br />
einer Person zu erklären, dass sie ihre Ansprüche zurückbuchsta-<br />
<br />
Daniela Flüeler, Sozialarbeiterin im Sozialdienst der Stadt Bern.<br />
«Für gewisse Probleme<br />
haben wir zu wenig<br />
Ressourcen.»<br />
Daniela Flüeler<br />
zu den personen<br />
Daniela Flüeler, dipl. Sozialarbeiterin FH, ist<br />
Sektionsleiterin beim Sozialdienst der Stadt Bern.<br />
Lilian ter Meer, dipl. Sozialarbeiterin FH, arbeitet im<br />
diakonischen Beratungs- und Sozialdienst der<br />
Kirchgemeinde Nydegg.<br />
SCHWERPUNKT 3/13 ZeSo<br />
ieren muss, bevor Ergänzungsleistungen<br />
beantragt werden. Solche Fälle kommen immer<br />
mal wieder vor.<br />
Wenn jemand von karitativer Seite<br />
Geld erhält, für Leistungen, die Sie,<br />
Frau Flüeler, nicht übernehmen, wird<br />
das im Budget ausgewiesen?<br />
Flüeler: Nein. In aller Regel ist das<br />
abgesprochen. Die SKOS-Richtlinien erlauben<br />
zweckgebundene Zuwendungen<br />
von Dritten bis zu einem gewissen Grad.<br />
Schwierig wird es erst, wenn wir merken,<br />
dass jemand dies ausnützt.<br />
Spüren Sie die Auswirkungen der<br />
AVIG-Revision oder IV-Revision?<br />
Flüeler: Die IV-Revision spüren wir<br />
stark. Eingliederung vor Rente ist grundsätzlich<br />
schon richtig. Aber es kommen nun<br />
halt viele, die keine IV-Rente mehr erhalten,<br />
zu uns. Oder Personen, die Abklärungstermine<br />
verpassen – beispielsweise aus psychischen<br />
Gründen – und sich durch dieses Verhalten<br />
für eine IV-Rente disqualifizieren.<br />
Sind private Organisationen innovativer?<br />
Flüeler: Nicht generell. Das hängt auch<br />
von der Leitung eines Sozialdienstes ab.<br />
Ter Meer: Wir sind möglicherweise flexibler,<br />
weil wir weniger Hierarchien haben<br />
und so schneller reagieren können. Aber<br />
die Einführung des Teillohnmodells der<br />
Stadt Bern zeigt, dass auch öffentliche Sozialdienste<br />
innovativ sein können.<br />
Es gibt ein jährliches Treffen zwischen<br />
Ihren Sozialdiensten. Wie kam es<br />
dazu?<br />
Ter Meer: Die Sozialarbeitenden der<br />
reformierten Kirchgemeinden hatten das<br />
Bedürfnis, einen institutionellen Kontakt<br />
mit der Stadt herzustellen, gemeinsam<br />
übrigens mit der katholischen Kirche und<br />
der Passantenhilfe. Wir sammeln jeweils<br />
Fragen und Anliegen, die die Schnittstelle<br />
«Der Austausch<br />
hat dazu geführt,<br />
dass die Zusammenarbeit<br />
nun gut<br />
funktioniert.»<br />
Lilian ter Meer<br />
zum städtischen Sozialdienst betreffen, und diese werden dann in<br />
einer konstruktiven Art geklärt: Fragen beispielsweise zum Umgang<br />
mit Mietzinsschulden, zu Ausweisverlängerungen oder Einbürgerungen.<br />
So haben wir an der letzten Sitzung erfahren, dass<br />
der Sozialdienst Ausweisverlängerungen übernimmt, hingegen<br />
die Kosten für eine Einbürgerung nicht. Eine andere Frage war,<br />
wie Klienten bei einer Ablösung aus dem Sozialdienst auf die Situation<br />
danach vorbereitet werden. Ein drittes Beispiel betraf den<br />
Dossierabschluss bei Zwischenverdienst, also Personen, die nur<br />
vorübergehend keine Sozialhilfe beziehen.<br />
Flüeler: Wir erklären dann beispielsweise, dass, wenn wir<br />
jemanden nicht mehr finanziell unterstützen, dies für uns stati-<br />
stisch kein Fall mehr ist. Da sind wir aufgrund<br />
der Vorgaben streng. Erfolgt innert<br />
dreier Monate eine Wiederanmeldung, ist<br />
die frühere Sozialarbeiterin wieder für die<br />
Person zuständig. Dauert die unterstützungsfreie<br />
Periode länger, muss der Klient<br />
das <strong>ganz</strong>e Aufnahmeprozedere neu durchlaufen.<br />
Ter Meer: Die gemeinsamen Austauschsitzungen<br />
haben dazu geführt, dass<br />
die Zusammenarbeit nun gut funktioniert.<br />
Flüeler: Wir erleben das auch so. Ich<br />
hatte einen Fall, bei dem jemand zwei Monate<br />
nach Dossierabschluss wieder zu uns<br />
kam. Ihm waren alle Papiere gestohlen<br />
worden und er hatte keinen Rappen mehr.<br />
Ohne Geld kriegt er keine neuen Ausweise,<br />
ohne Ausweise kann er kein Konto eröffnen.<br />
Ich war froh, dass wir ihn aufgrund<br />
der guten Kontakte unkompliziert zur Passantenhilfe<br />
schicken konnten, die schneller<br />
reagieren konnte und dem Klienten bei<br />
der Beschaffung der Papiere geholfen hat,<br />
damit er anschliessend Sozialhilfe beantragen<br />
konnte. In solchen Fällen funktioniert<br />
das Sichergänzen wirklich sehr gut und<br />
partnerschaftlich.<br />
Ter Meer: Bevor es diese Treffen gab,<br />
fühlten sich die Kirchgemeinden als Lückenbüsser<br />
der Stadt. Leute wurden ohne vorherige<br />
Kontaktaufnahme zu uns geschickt.<br />
Das hat auch zu falschen Erwartungen bei<br />
den Bittstellern geführt.<br />
Flüeler: Die Austauschsitzungen sind<br />
wichtig. Aber allzu Vieles regeln lässt sich<br />
damit nicht. Detailfragen müssen im Einzelfall<br />
geklärt werden. Es geht um den Dialog<br />
und das gegenseitige Verständnis.<br />
Was ist das Ziel Ihrer Arbeit?<br />
Flüeler: Finanzielle Unabhängigkeit<br />
von Sozialdienst, soziale Integration. Integration<br />
im weitesten Sinn: Leute zur Ablösung<br />
führen und ihnen soweit zu helfen,<br />
dass es ihnen ihnen subjektiv und objektiv<br />
besser geht.<br />
Ter Meer: Ich kann das unterstützen. Unsere finanziellen<br />
Hilfen sind ausschliesslich punktuell, zeitlich befristet und<br />
thematisch eingegrenzt. Wir versuchen, diesen Leuten auf die<br />
eigenen Beine zu helfen. Wenn aber die Notlage gravierend<br />
und längerfristig ist, empfehlen wir, dass die Person sich beim<br />
Sozialdienst anmeldet. Neben der finanziellen Hilfe machen<br />
die Kirchgemeinden auch psychosoziale Begleitung. Dazu gehört<br />
es, hier zu sein, sich Zeit zu nehmen und Hausbesuche zu<br />
machen. <br />
•<br />
Das Gespräch führte<br />
Michael Fritschi<br />
26 ZeSo 3/13 SCHWERPUNKT
Armut muss mit einer integralen<br />
Strategie bekämpft werden<br />
private sozilhilfe<br />
Das Case Management und die interinstitutionelle Zusammenarbeit sollten kassenunabhängig<br />
funktionieren. Damit würden sich wichtige Akteure nicht mehr aus der Fallbearbeitung zurückziehen,<br />
nur weil sie nicht mehr zahlungspflichtig sind. Ein Plädoyer für ein nachhaltigeres IIZ-Modell.<br />
Armut geht alle an, sie ist kein isoliertes Problem. Weder bei der<br />
Analyse der Gründe für Armut, noch bei der Erarbeitung von<br />
Lösungsansätzen. Fehlt bei der Analyse der Armutsentstehung<br />
eine <strong>ganz</strong>heitliche Betrachtung, wird man auch in der Lösungsfindung<br />
nur Symptombekämpfung betreiben. Auch die Betrachtung<br />
von Armut als bloss finanzielles oder wirtschaftliches Phänomen<br />
greift zu kurz. Soziale, geistige und spirituelle Armut sind markante<br />
Treiber struktureller Armut.<br />
Erkennt man die zum Teil komplexen Sachverhalte und die systemischen<br />
Abhängigkeiten, die die Armutsproblematik prägen,<br />
und vergleicht sie mit den meist sequenziellen und wenig integralen<br />
Lösungsfindungen, stellt man fest, dass in der Organisation<br />
und der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren<br />
bei der Armutsbekämpfung ein grosses Potenzial besteht. Zwar<br />
wurde mit dem Ansatz IIZ (interinstitutionelle Zusammenarbeit)<br />
ein grosser Schritt in die richtige Richtung gemacht. Dennoch<br />
zeigt sich in der Praxis, dass das «Kassendenken» noch weit verbreitet<br />
ist. Erschwerend kommt hinzu, dass – je nach Entwicklung<br />
eines Falls – sich wichtige Akteure nach und nach aus der Fallbearbeitung<br />
zurückziehen, weil sie nicht mehr zahlungspflichtig sind.<br />
Beispielsweise die Arbeitsvermittlung: Die betroffenen Personen<br />
verbleiben dann in der Obhut der Sozialhilfe, die als Folge nun<br />
alle Systeme, Arbeit, Wohnen, Förderung und Teilhabe, bedienen<br />
muss. Dies führt zu einer Überforderung der Ressourcen in der<br />
Sozialhilfe.<br />
Die heutigen Formen der IIZ sind so definiert, dass die staatlichen<br />
Sozialversicherungen, die Berufsberatung und die Sozialhilfe<br />
an einen Tisch sitzen. Andere Akteure wie zum Beispiel die<br />
Wirtschaft, die Gesellschaft allgemein, Kirchen oder eben auch<br />
private Sozialwerke werden nur bedingt in die Lösungsfindung<br />
einbezogen. Dies auch deshalb, weil die Armutsbekämpfung als<br />
rein staatliche Aufgabe verstanden wird. Armut ist aber ein gesellschaftliches<br />
Problem. Aus diesem Grund müssten möglichst<br />
viele Akteure bei der Lösungsfindung mitarbeiten. In dem Zusammenhang<br />
ist auch darauf hinzuweisen, dass die Ressourcen der<br />
Armutsbetroffenen – ihre Erfahrungen, Skills und Netzwerke –<br />
auch immer noch zu wenig berücksichtigt werden.<br />
Für ein nicht im Vollzug<br />
angesiedeltes Case<br />
Management wären<br />
private Sozialwerke als<br />
Partner denkbar.<br />
Lücken im Sozialnetz der Schweiz<br />
Wenn man nach den Lücken im Sozialnetz der Schweiz sucht, findet<br />
man diese an den Schnittstellen zwischen den staatlichen Sozialversicherungen<br />
und der Sozialhilfe oder im Bereich des langjährigen<br />
Sozialhilfebezugs. Die Begleitumstände sind vielfältig, doch<br />
eines scheint klar: Eine integrale Strategie, die bessere Vernetzung<br />
der Akteure und ein besserer Einbezug des Know-hows von Spezialisten,<br />
die Teilnahme möglichst aller Schlüsselakteure und generell<br />
die Suche nach langfristigen Lösungen sind Faktoren, deren<br />
breite Berücksichtigung bessere Resultate hervorbringen würde.<br />
Viele Herausforderungen können nicht oder nur begrenzt von einem<br />
einzelnen Akteur erfolgreich bewältigt werden. Ein umfassendes<br />
Case Management wäre notwendig. Dieses sollte aber möglichst<br />
nicht im Bereich des Vollzugs angesiedelt sein, sondern<br />
kassenunabhängig arbeiten können. Hierfür wären private Sozialwerke<br />
als Partner denkbar.<br />
Als Beispiel für einen solchen Ansatz kann ein Projekt aus<br />
Amsterdam dienen. Die Heilsarmee als privates Sozialwerk führt<br />
im Auftrag der Stadt Amsterdam ein «Intake-House», in dem insbesondere<br />
obdachlose Menschen aufgenommen werden. Dies<br />
mit dem Ziel, mit der betroffenen Person in einer sechswöchigen<br />
Abklärungsphase eine individuelle Strategie zu entwickeln. An<br />
dieser Strategieentwicklung nehmen die Heilsarmee und andere<br />
Sozialwerkvertreter als Case Manager teil, genauso wie Vertreter<br />
der Sozialhilfe, der Sozialversicherungen, der Arbeitsvermittlung,<br />
der Wohnungsvermittlung, von juristischen Beratungsstellen oder<br />
medizinisch-psychiatrischen Diensten. Nach der Abklärungsphase<br />
begleitet das Case Management die Klientinnen und Klienten,<br />
während diese an Massnahmen zur Arbeitsintegration, zur Wohnkompetenzförderung<br />
und so weiter oder an sozialtherapeutischen<br />
Massnahmen teilnehmen. Neben den wirtschaftlichen Vorteilen<br />
einer solchen Arbeitsweise spielt auch der Beziehungsaspekt in<br />
der Begleitung eine wichtige Rolle. Im Sinne einer langfristigen<br />
und integralen Lösung für Armutsbetroffene und eines effizienten<br />
Mitteleinsatzes müssten solche Lösungsansätze vermehrt auch in<br />
der Schweiz verfolgt werden.<br />
•<br />
Daniel Röthlisberger<br />
Direktor Sozialwerke<br />
Heilsarmee Schweiz<br />
Wenn das Workfare-Prinzip<br />
Unfairness bewirkt<br />
Personen mit Migrationshintergrund können in der Sozialhilfe Diskriminierung und Rassismus<br />
erfahren, wenn das Prinzip von Leistung und Gegenleistung unreflektiert über ethische und<br />
kulturelle Besonderheiten gestellt wird.<br />
Kantonale Sozialhilfegesetze, interne Reglemente<br />
und Weisungen sowie die SKOS-<br />
Richtlinien geben in der Schweiz vor, wie<br />
Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter die<br />
Situation ihrer Klienten beim Intake erfassen<br />
sollen. Obwohl diese Regelwerke nicht<br />
nach ethnischen und kulturellen Gruppen<br />
unterscheiden und keineswegs diskriminierend<br />
wirken sollen, kommt es vor, dass<br />
Menschen mit Migrationshintergrund auf<br />
ihre kulturelle Herkunft oder ihren Assimilierungsgrad<br />
reduziert werden, wenn sie<br />
um finanzielle Unterstützung bei der Sozialhilfe<br />
anklopfen. Dies zeigte sich im Rahmen<br />
einer auf Interviews basierenden qualitativen<br />
Untersuchung, die im Zeitraum von<br />
2007 bis 2012 in den Sozialdiensten von<br />
Genf und Winterthur durchgeführt wurde.<br />
«Er hat halt leider diese Kultur und behandelt<br />
alles wie in einem Souk (...). Trotz<br />
seines Schweizer Passes lebt er noch wie im<br />
Nahen Osten», beschrieb beispielsweise<br />
eine Sozialarbeiterin aus Genf die Haltung<br />
eines Klienten palästinensischer Herkunft<br />
gegenüber Geld. Eine andere Sozialarbeiterin<br />
aus Winterthur behauptete, dass<br />
Mütter aus «dem Süden» zu behütend gegenüber<br />
ihren Kindern seien. Frauen aus<br />
dem Norden hingegen seien fähig, ihre<br />
Kinder Fremden zu überlassen.<br />
Problemfeld kulturelle Assimilierung<br />
Im gleichen Sinn problematisch sind Situationen,<br />
in denen explizit eine kulturelle<br />
Assimilierung von den Klienten eingefordert<br />
wird, damit sie Sozialleistungen erhalten<br />
– obwohl dieses Kriterium keine formelle<br />
Basis hat. «Ich diskutierte mit denen,<br />
aber die verweigern jegliche Diskussion»,<br />
erzählte eine Sozialarbeiterin. «Die Albaner<br />
haben ihre Kultur und ihre Denkweise (...).<br />
Aber nichtsdestotrotz müssen sie eine Gegenleistung<br />
erbringen und sich anpassen,<br />
unabhängig von ihrer Kultur und zwar weil<br />
sie sich entschieden haben, in die Schweiz<br />
Es geht auch anders<br />
Den kulturellen Hintergrund ihrer Klientinnen<br />
und Klienten in die Prinzipien der<br />
Sozialhilfe zu integrieren, bereitet den Sozialarbeitenden<br />
tendenziell Schwierigkeiten.<br />
Eine Ausnahme war jene Sozialarbeiterin<br />
in Genf, die ihre aus Tunesien stammende<br />
Klientin motivierte, mit dem Imam zu verhandeln,<br />
wie sie den Ramadan im Arbeitsalltag<br />
praktizieren könne, damit sie ihre<br />
Teilzeitstelle im Spital nicht verliert.<br />
Es hat sich gezeigt, dass die Fähigkeit,<br />
kritisch über die eigene Kategorisierung<br />
von Klientinnen und Klienten mit Migrationshintergrund<br />
zu reflektieren, auch vom<br />
institutionellen Kontext abhängt. Sozialarbeitende<br />
im untersuchten Sozialdienst<br />
Winterthur, in dem das Workfare-Prinzip<br />
(«Leistung bedingt Gegenleistung») durch<br />
ein Case Management und eine Klienten-<br />
Segmentierung umgesetzt wurde, handelten<br />
aufgrund von automatisierten Denkweisen<br />
weniger aktiv reflektierend. Sie stehen<br />
unter grossem Zeitdruck, die Antragsteller<br />
im Hinblick auf die ihnen zustehenden<br />
Leistungen zu beurteilen und in Klientengruppen<br />
einzuteilen.<br />
In Genf, wo das Workfare-Prinzip noch<br />
nicht vollumfänglich formalisiert wurde<br />
und ein globales, individuelles Intake der<br />
Klienten verlangt wird, waren die Sozialarbeitenden<br />
hingegen eher fähig, ihre<br />
grundsätzlich ebenfalls automatisierten<br />
Gedanken kritisch zu hinterfragen. Sie<br />
konnten Klienten mit Migrationshinterzu<br />
kommen.» Solche Kategorisierungen<br />
und Verurteilungen nach ethnischen und<br />
kulturellen Merkmalen können zu Formen<br />
von institutionellem Rassismus führen, indem<br />
sie durch interne Regelungen und automatisierte<br />
Abläufe gestützt werden.<br />
Institutioneller Rassismus kann zu diskriminierendem<br />
Handeln mit materiellem<br />
Schaden für die Betroffenen führen. Eine<br />
Sozialarbeiterin aus Genf beispielsweise<br />
diskriminierte eine Klientin aus Südamerika,<br />
die ihren Eltern Geld schicken wollte.<br />
Sie reduzierte das Bedürfnis der Klientin<br />
auf ihre südamerikanische Kultur, in der<br />
man eine moralische Verpflichtung gegenüber<br />
den Eltern habe. Als die Klientin<br />
ihr Verhalten nicht änderte, wurde ihr die<br />
monatliche Sozialunterstützung in Form<br />
von Lebensmittelschecks abgegeben. Die<br />
Klientin wurde wegen ihrem «Mangel an<br />
kultureller Integration» bestraft.<br />
In einem anderen Fall wurden einer<br />
arabisch-irakischen Familie die Sozialleistungen<br />
gekürzt, weil der Mann seine Ehefrau<br />
davon abhielt, eine Arbeit zu suchen.<br />
Wegen mangelnder, kultureller Assimilierung<br />
an die «schweizerische Idee», dass<br />
Männer und Frauen arbeiten sollten, wurde<br />
die <strong>ganz</strong>e Familie bestraft. Weil sie auf<br />
einer «Ethnisierung» basiert und die Mitwirkungspflicht<br />
der Klienten nicht nach<br />
objektiven und individuellen Kriterien<br />
beurteilt wurde, stellt diese Sanktion eine<br />
Diskriminierung dar.<br />
Kategorisierungen<br />
können zu Formen<br />
von institutionellem<br />
Rassismus führen.<br />
Nicht jede Ethnisierung führt jedoch zu<br />
einer Diskriminierung. Eine Sozialarbeiterin<br />
aus Winterthur organisierte eine informelle<br />
Diskussionsrunde für eine Klientin<br />
aus Peru, die Schwierigkeiten hatte, einen<br />
Deutschkurs für Analphabeten zu finden.<br />
Diese Bereitschaft, nach einer individuellen<br />
Lösung zu suchen, ist bei Sozialarbeitenden<br />
aber eher selten anzutreffen.<br />
28 ZeSo 3/13 STUDIE
Die Forderung nach kultureller Anpassung ist eine Herausforderung für alle.<br />
Bild: Pixsil<br />
grund in ihrer Individualität wahrnehmen<br />
und dementsprechend behandeln.<br />
Fazit<br />
Institutionellem Rassismus in der Sozialhilfe<br />
kann entgegen getreten werden, indem<br />
ein betrieblicher Rahmen geschaffen<br />
wird, in dem Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter<br />
die Voraussetzungen für eine kritische<br />
Reflexion ihrer Entscheide finden.<br />
Es wäre deshalb wünschenswert, wenn das<br />
Workfare-Prinizip, das auch in die SKOS-<br />
Richtlinien eingeflossen ist, kritisch reflektiert<br />
wird und der Aspekt der individuellen<br />
Sozialhilfe in alltäglichen Arbeitsprozessen<br />
vermehrt gefördert würde.<br />
Zudem scheint es angezeigt, die Beurteilung<br />
der Dossiers von Personen mit<br />
Migrationshintergrund transparenter zu<br />
gestalten. Dazu könnten konkrete Vorgehensanleitungen<br />
hilfreich sein. Beispielsweise<br />
könnte beurteilt und entschieden<br />
werden, welche Mitwirkungspflicht von<br />
Klienten, die den Ramadan praktizieren<br />
wollen, verlangt wird. Oder ob Klientinnen,<br />
die auf Arbeitssuche sind, vom<br />
Tragen einer Ganzkörperbedeckung (Hijab)<br />
abgeraten werden sollte. Solche Situationen<br />
werden sehr unterschiedlich<br />
gehandhabt, was die Klientinnen der<br />
Sozialhilfe einer institutionellen Willkür<br />
aussetzt. Die SKOS könnte hier aufgrund<br />
ihrer zentralen Stellung aktiv werden und<br />
eine klare Position vertreten, etwa indem<br />
sie Empfehlungen in Form von «Good<br />
Practices» im Umgang mit kultureller<br />
Vielfalt in der Sozialhilfe definiert. Damit<br />
könnte nicht nur die Qualität der Dienstleistungen<br />
verbessert werden, sondern<br />
auch das Workfare-Prinzip gegenüber Migranten<br />
fairer gestaltet werden. •<br />
Manuela Honegger<br />
Politikwissenschaftlerin, Genf<br />
Literatur<br />
Manuela Honegger, Beyond the Silence<br />
– Institutional Racism, Social Welfare and Swiss<br />
Citizenship (Dissertation), Universität Lausanne,<br />
<strong>2013</strong>.<br />
STUDIE 3/13 ZeSo<br />
29
Pedalen für die Kunden, die Umwelt<br />
und das eigene Glück<br />
Sie vereint einen innovativen Service Public, nachhaltige Mobilität sowie sinnstiftende Arbeit für<br />
Langzeitarbeitslose: Die Burgdorfer Stiftung Intact mit ihren Angeboten wie dem Hauslieferdienst.<br />
Es riecht wie beim Velomechaniker. Kein<br />
Wunder. In drei langen Reihen stehen gegen<br />
200 Fahrräder im Zelt der Velostation.<br />
Neue und alte, Elektrovelos und ein paar<br />
Veloanhänger. Einer davon gehört Adrian<br />
Heiniger, der gerade einen prüfenden<br />
Blick in «sein Gestell» wirft. Da steht eine<br />
blaue, prall gefüllte Einkaufstasche. Diese<br />
hat eine Kundin nach dem Einkauf in der<br />
dafür vorgesehenen Annahmestelle in der<br />
Migros deponiert. Dort wurde sie von einem<br />
von Heinigers Kollegen abgeholt, und<br />
nun muss er sie der Kundin nach Hause<br />
bringen. Dazu hat er ein Elektrovelo, einen<br />
Anhänger und drei Stunden Zeit. Adrian<br />
Heiniger arbeitet beim Velo-Hauslieferdienst<br />
der Stiftung Intact in Burgdorf. Der<br />
Hauslieferdienst ist das Herzstück und einer<br />
der ältesten Bereiche der Stiftung, die<br />
1997 unter dem Namen Velostation gegründet<br />
wurde (siehe Kasten).<br />
Das Arbeitslosenprojekt war eine<br />
Schweizer Premiere, und die Initianten<br />
mussten damals gegen Vorurteile ankämpfen.<br />
«Die Betreiber sorgten sich wegen der<br />
fristgerechten Auslieferung der Aufträge,<br />
wenn die Arbeitslosen nicht zur Arbeit erscheinen<br />
würden», erinnert sich Barbara<br />
Baumgartner, Bereichsleiterin Hauslieferdienst<br />
bei Intact. «Und die Kunden hatten<br />
Bedenken, ihre Einkäufe Arbeitslosen anzuvertrauen.»<br />
Sechzehn Jahre später sind diese Vorurteile<br />
längst ausgeräumt. Die anfänglich<br />
rund 400 Lieferungen pro Jahr sind angewachsen<br />
auf über 24 000. Sie werden von<br />
Sozialhilfebezügerinnen und Sozialhilfebezügern<br />
austragen. Jeder fünfte Burgdorfer<br />
Haushalt lässt sich hin und wieder<br />
Einkäufe, die in einem lokalen Geschäft<br />
getätigt wurden, für drei Franken mit<br />
dem Velo nach Hause bringen. Das freut<br />
die Betreiber aus mehreren Gründen. «Sowohl<br />
die Förderung der nachhaltigen Mobilität<br />
als auch die soziale Integration sind<br />
wichtige Anliegen von Intact. Genauso wie<br />
Dienstleistungen, die den Steuerzahlern einen<br />
Mehrwert bieten», sagt Baumgartner.<br />
Adrian Heiniger auf Tour in der Burgdorfer Altstadt.<br />
30 ZeSo 3/13 reportage
Es hat wieder Einkaufstaschen im Gestell.<br />
Diese Dienstleistungen hat Intact laufend<br />
ausgebaut, und sie beschränken sich<br />
heute längst nicht mehr auf die Mobilität:<br />
Recycling, Reinigung, ein Nähatelier und<br />
ein Café gehören dazu. Letzteres befindet<br />
sich im ehemaligen Wartsaal des umgenutzten<br />
Bahnhofs Burgdorf-Steinhof.<br />
Lange Holztische mit Stühlen laden<br />
zum Verweilen ein, ein Klavier und hellgrüne<br />
Wände verströmen Gemütlichkeit,<br />
der Duft nach Essen macht Appetit. Er<br />
kommt aus der Küche, wo drei Frauen<br />
in Kochschürzen hantieren. Eine Frau<br />
schneidet Kartoffeln, eine zweite gibt<br />
Gurkenscheiben in eine Schüssel mit<br />
dampfendem Reis, eine dritte brät Quorn-<br />
Schnitzel und erklärt nebenbei die weiteren<br />
Arbeitsschritte. Es ist Ursula Rauh, die<br />
Bereichsleiterin des Bahnhoftreffs Steinhof.<br />
Sie ist dafür zuständig, dass die rund<br />
80 Portionen Mittagessen für die drei Kindertagesstätten<br />
pünktlich um elf Uhr die<br />
Küche verlassen und dass das Menü bereit<br />
ist, wenn das Café zweimal in der Woche<br />
für Gäste öffnet. Auch dann, wenn wie<br />
heute bloss zwei statt vier Köchinnen zur<br />
Arbeit erscheinen, was öfters vorkommt.<br />
Den Umgang mit Konflikten lernen<br />
«Bei den meisten langzeitarbeitslosen<br />
Frauen im Gastrobereich steht die soziale<br />
Integration im Vordergrund, nicht die Eingliederung<br />
in den ersten Arbeitsmarkt», erklärt<br />
die anwesende Sozialarbeiterin Ruth<br />
Marbach. Nebst dem Vermitteln einer Tagesstruktur,<br />
einer sinnstiftenden Tätigkeit<br />
und Aussenkontakten gehe es aber auch<br />
darum, einen anderen Umgang mit Konflikten<br />
zu trainieren. Die Frauen könnten<br />
Bilder: Annette Boutellier<br />
Stiftung Intact<br />
Die Stiftung ermöglicht mit ihren diversen<br />
Dienstleistungen jährlich rund 500 Langzeitarbeitslosen<br />
eine kundenorientierte Beschäftigung.<br />
Die Ursprünge von Intact gehen<br />
zurück ins Jahr 1997, als auf Initiative von<br />
Pro Velo und mit dem Schwung des Pionierprojekts<br />
«Fussgänger- und Velomodellstadt»<br />
die bewachte Velostation beim Bahnhof<br />
Burgdorf sowie der Velo-Hauslieferdienst<br />
als Arbeitslosenprojekt lanciert wurden. Die<br />
diversen Angebote werden heute von rund 70<br />
Betreuungspersonen begleitet.<br />
www.wir-bringens.ch<br />
hier lernen, dass es nach Konflikten auf eine<br />
gute Art weitergehen kann. Das sei eine<br />
wichtige Kompetenz, um auf dem Arbeitsmarkt<br />
zu bestehen.<br />
Das strebt Sandra Meier (Name geändert)<br />
an. Die 40-jährige gelernte Verkäuferin<br />
hat es vor rund fünf Jahren aus dem<br />
ersten Arbeitsmarkt gespickt, wie sie es<br />
nennt. «Gott sei Dank» könne sie seit eineinhalb<br />
Jahren zu 70 Prozent im Bahnhoftreff<br />
in der Küche arbeiten. «Ich bin der Typ,<br />
der arbeiten muss. Ich kann nicht einfach<br />
zuhause rumsitzen.» Man glaubt es ihr aufs<br />
Wort, sie verströmt Energie und Optimismus.<br />
Dieser sei ihr zu Beginn, als sie «<strong>ganz</strong><br />
unten, beim Sozialdienst» gelandet sei, abhandengekommen.<br />
Im Bahnhoftreff habe<br />
man ihr das Gefühl zurückgegeben, «dass<br />
ich etwas kann», und sie hat die Küche und<br />
den Service als neues Berufsfeld entdeckt.<br />
Ein erster Wiedereinstieg im ersten Arbeitsmarkt<br />
vor ein paar Monaten war nicht von<br />
Dauer, doch spätestens in einem halben<br />
Jahr will sie eine richtige Stelle gefunden<br />
haben. Das wöchentliche Bewerbungscoaching<br />
von Intact hilft ihr dabei.<br />
Auch Adrian Heiniger vom Hauslieferdienst,<br />
28-jährig, gelernter Landwirt und<br />
seit zwei Jahren arbeitslos, hat sich Ziele<br />
gesteckt. Sein Hauptziel ist, körperlich<br />
fitter zu werden. Sagt‘s und tritt in die Pedale,<br />
als er in der Burgdorfer Altstadt den<br />
Hang hochfährt. Zwar wird er vom Elektroantrieb<br />
des Flyers unterstützt, doch nach<br />
einem Tag mit rund 60 Kilometern und<br />
30 transportierten Taschen spüre er dennoch,<br />
was er geleistet habe.<br />
Anspruchsvolle und niederschwellige<br />
Arbeiten<br />
Für sein Vollzeitpensum erhält er zusätzlich<br />
zum Sozialhilfegeld monatlich 500<br />
Franken, inklusive Essensgeld. Noch mehr<br />
aber zählt für ihn die Bewegung, die frische<br />
Luft, die Abwechslung, die Kameraden.<br />
«Das ist genau das, was ich brauche<br />
und was mich glücklich macht.» Auch dass<br />
es heute regnet, tut seiner guten Laune keinen<br />
Abbruch.<br />
Die Arbeitsbereiche bei Intact reichen<br />
von anspruchsvollen, selbständigen Arbeiten<br />
wie dem Hauslieferdienst bis zu niederschwelligen<br />
Arbeiten im Stundenlohn<br />
in der Recycling-Werkstatt. Die Integration<br />
in den Arbeitsmarkt steht längst nicht<br />
bei allen im Vordergrund – es geht auch<br />
um Würde, um geordnete Strukturen, um<br />
Sinn. Ein ehemaliger Mitarbeiter hat das<br />
einmal so auf den Punkt gebracht: «Hier<br />
fühle ich mich erstmals seit langer Zeit wieder<br />
als Mensch.» Anderen Ehemaligen ist<br />
es gelungen, eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt<br />
finden. Es sind aber eher wenige.<br />
Adrian Heiniger ist wieder zurück in<br />
der Velostation beim Bahnhof. Während<br />
seine Kollegen die parkierten Velos von<br />
Pendlerinnen überwachen oder Touristen,<br />
die das Emmental erkunden wollen, die<br />
Elektrovelos erklären, checkt er sein Gestell.<br />
Dort haben sich während seiner<br />
Abwesenheit mehrere Einkaufstaschen,<br />
Windelpackungen und Getränkeharassen<br />
angesammelt. Das ist <strong>ganz</strong> nach seinem<br />
Gusto, denn das einzige, was Heiniger<br />
beim Hauslieferdienst missfällt, ist, wenn<br />
es wenig zu transportieren gibt und er warten<br />
muss. <br />
•<br />
Barbara Spycher<br />
reportage 3/13 ZeSo<br />
31
Für eine ausgewogene Ernährung<br />
in Krippen, Schulen und Betrieben<br />
Fourchette verte ist ein Qualitätslabel für Gastronomiebetriebe, die gesunde, ausgewogene Mahlzeiten<br />
anbieten. Im Kanton Genf initiiert und seither kontinuierlich gewachsen, wird das Label mittlerweile auch<br />
in der Deutschschweiz vergeben, wo weitere Sektionen entstehen sollen.<br />
Fourchette verte Schweiz ist ein Non-Profit-<br />
Verein, der das Menüangebot und die Qualität<br />
der Verpflegung bei Institutionen wie<br />
Kindertagesstätten, Schulen, Mensen und<br />
Altersheimen überprüft und zertifiziert.<br />
Im Jahr 1999 mit dem Ziel gegründet, eine<br />
nationale Koordination zu erreichen, gehen<br />
die Ursprünge des Vereins auf ein Pilotprojekt<br />
aus dem Jahr 1993 im Kanton<br />
Genf zurück.<br />
Zu jener Zeit war das Interesse an der<br />
betrieblichen Gesundheitsförderung in<br />
der Schweiz noch relativ gering. An einer<br />
Weiterbildung in Schweden wurde die<br />
damalige Genfer Gesundheitsdirektorin<br />
auf ein Projekt aufmerksam, das zum Ziel<br />
hatte, Restaurants, die eine ausgewogene<br />
Ernährung anboten, mit einem Label versehen.<br />
Sie übernahm die Idee und startete<br />
eine eigene Initiative, die ihr Engagement<br />
vorerst auf Krippen, Schulen und Mittagstische<br />
fokussierte.<br />
Seither sind über 1200 Betriebe mit<br />
dem Label ausgezeichnet worden, das sich<br />
bald in weitere Regionen der Schweiz ausgebreitet<br />
hat. In der deutschsprachigen<br />
Schweiz sind die Kantone Aargau, Bern<br />
und Solothurn die ersten, die mitmachen.<br />
Auch hier verbreitet sich die Philosophie<br />
und das Label von Fourchette verte in<br />
der Anfangsphase primär über Kindertagesstätten.<br />
Aktuell sucht der Verein nach<br />
Möglichkeiten, in weiteren Kantonen der<br />
Deutschschweiz zusätzliche Sektionen aufzubauen.<br />
PLATTFORM<br />
Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />
diese Seite als Plattform an. In dieser Ausgabe<br />
dem Verein Fourchette verte Schweiz.<br />
In Kindertagesstätten werden die Komponenten der Mahlzeiten im Teller separat angerichtet.<br />
Ernährungsspezifische Kriterien<br />
für alle Altersstufen<br />
Die Grundidee ist einfach. Gemeinschaftsgastronomiebetriebe<br />
sollen Angebote bereitstellen,<br />
die es erlauben, sich ausgewogen<br />
und abwechslungsreich zu ernähren. Ernährungsspezifische<br />
Kriterien regeln den<br />
Fett- und Proteingehalt, die Häufigkeit von<br />
Gemüse und Früchten, den Umgang mit<br />
Salz und Gewürzen und die Zubereitungsarten.<br />
Ergänzend gibt es Kriterien zur Hygiene<br />
und zur Abfalltrennung sowie Empfeh-<br />
lungen zur Auswahl von lokalen und<br />
saisonalen Produkten sowie zur Präsentation<br />
der Speisen. Für die Qualitätsüberprüfung<br />
sind diplomierte Ernährungsberaterinnen<br />
FH zuständig, die auf Wunsch auch<br />
Weiterbildungen anbieten. So kann der Verein<br />
gewährleisten, dass die Umsetzung korrekt<br />
und bedürfnisnah begleitet wird.<br />
Bei Ihren Empfehlungen unterscheidet<br />
Fourchette verte zwischen Altersstufen und<br />
der Dauer der Verpflegung. Für Kleinkinder<br />
unter vier Jahren in Kitas und in Kinder-<br />
32 ZeSo 3/13 plattform
Bild: Keystone<br />
horten wird der Fokus auf kindergerechte<br />
Portionengrössen und auf die Darreichungsform<br />
gelegt. Die einzelnen Komponenten<br />
der Mahlzeit werden zum Beispiel nicht<br />
gemischt, sondern im Teller separat angerichtet.<br />
Bei Gemeinschaftsverpflegungsbetrieben<br />
und Selbstbedienungsrestaurants<br />
stehen ein umfassendes Salat-Angebot und<br />
Gemüse in grossen Mengen im Vordergrund.<br />
Bei Altersheimen wiederum und<br />
Betrieben, die Senioren <strong>ganz</strong>tags verpflegen,<br />
wird das Vorbeugen von Mangel-<br />
ernährung speziell beachtet. Hier wird auf<br />
die Ernährungsgewohnheiten dieser Menschen,<br />
die Konsistenz der Nahrung und<br />
eine ausreichende Proteinzufuhr geachtet.<br />
Im Alltag bedeutet dies etwa, dass für<br />
Menschen mit Kauproblemen Früchte als<br />
Kompott angeboten werden.<br />
Ausrichtung auf Ernährungsstrategie<br />
<strong>2013</strong>-2016<br />
Fourchette verte Schweiz hat im vergangenen<br />
Jahr die Zusammenarbeit zwischen<br />
der Deutschschweiz und der Romandie intensiviert.<br />
Dazu werden die Grundlagendossiers,<br />
die den Betrieben abgegeben werden,<br />
neu gestaltet. Die neuen Dossiers der<br />
Kategorien «Kleinkinder» und «Junior»<br />
wurden diesen Sommer publiziert. Mittelfristig<br />
will Fourchette verte in allen Kantonen<br />
der Schweiz Fuss fassen.<br />
Bei der Überarbeitung der Dossiers wurden<br />
die Inhalte aktualisiert und mit den<br />
Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft<br />
für Ernährung abgeglichen. Zudem<br />
wurden gesetzliche Anpassungen bezüglich<br />
Nichtraucher-Zonen im Gastgewerbe<br />
übernommen und die Bestimmungen auf<br />
Basis der geltenden gesetzlichen Hygiene-<br />
Grundlagen neu formuliert. Hier wurde<br />
teilweise mit Kantonschemikern zusammengearbeitet.<br />
Mit den neuen Dossiers wird es nun<br />
auch einfacher, die Problemfelder und<br />
Handlungsstrategien, die in der Schweizer<br />
Ernährungsstrategie <strong>2013</strong>-2016 formuliert<br />
wurden, anzugehen und umzusetzen.<br />
Die Ernährungsstrategie basiert ihrerseits<br />
auf den wichtigsten Erkenntnissen aus<br />
dem 6. Schweizerischen Ernährungsbericht<br />
(vgl. www.bag.admin.ch Themen <br />
Ernährung und Bewegung).<br />
Ein gesundheitsförderndes Umfeld<br />
wird dann zur Realität, wenn Informationen<br />
klar formuliert sind, auf gesicherten<br />
Grundlagen beruhen und für die Anbieter<br />
Fourchette verte<br />
Der Verein Fourchette verte Schweiz berät<br />
Anbieter wie Krippen oder Altersheime mit<br />
Gastrobetrieben bei ernährungsbezogenen<br />
Verbesserungsprozessen. Hauptziel ist<br />
es, möglichst vielen Schweizerinnen und<br />
Schweizern eine ausgewogene Ernährung<br />
zu ermöglichen. Die Anstrengungen der<br />
Betriebe honoriert Fourchette verte mit einen<br />
Qualitäts-Zertifikat.<br />
Der Verein hat<br />
kantonale Sektionen,<br />
die auf<br />
regionaler Basis<br />
den Prozess<br />
vom Antrag<br />
des Betriebs bis<br />
zur Übergabe des<br />
Labels begleiten.<br />
Mitgliedkantone sind Aargau, Bern, Freiburg,<br />
Genf, Jura, Neuenburg, Solothurn, Tessin,<br />
Wallis und Waadt.<br />
www.fourchetteverte.ch<br />
der Gemeinschaftsverpflegung umsetzbar<br />
sind. Oder anders gesagt: Das Essverhalten<br />
kann sich erst ändern, wenn die<br />
Verhältnisse es zulassen, dass ausgewogenes<br />
Essen angeboten wird. In diesem<br />
Sinne «Guten Appetit»!<br />
•<br />
Esther Jost Honegger<br />
Koordinatorin Deutschschweiz<br />
Fourchette verte<br />
plattform 3/13 ZeSo<br />
33
Lesetipps<br />
Ratgeber zur<br />
Invalidität<br />
Ansätze zur<br />
Arbeitsintegration<br />
Wege aus der<br />
Schuldenfalle<br />
Was ist Soziale<br />
Arbeit?<br />
Wer sich mit dem Thema Invalidität<br />
auseinandersetzen muss, ist auf<br />
kompetente Informationen angewiesen.<br />
Wie wird eine Rente berechnet?<br />
Welche Hilfsmittel bezahlt die<br />
Invalidenversicherung? Und was<br />
bedeutet Frühintervention oder Wiedereingliederung?<br />
Die überarbeitete<br />
Auflage des Beobachter-Ratgebers<br />
«Invalidität» gibt dazu Antworten.<br />
Leicht verständlich informiert das<br />
Handbuch Betroffene und Angehörige<br />
über ihre Rechte und zeigt<br />
Möglichkeiten und Angebote auf,<br />
die ihnen offenstehen. Der Ratgeber<br />
beschreibt auch, wie ein<br />
IV-Verfahren abläuft und wie das<br />
Zusammenspiel mit Krankenkasse,<br />
Unfallversicherung, Pensionskasse,<br />
3. Säule und Ergänzungsleistungen<br />
funktioniert. Die Ausführungen werden<br />
mit Beispielen aus der Praxis,<br />
einem Glossar und über hundert<br />
Adressen und Links ergänzt.<br />
Das Konzept des «Supported<br />
Employment» beschreibt Ansätze<br />
zur Arbeitsintegration von Menschen<br />
mit erschwertem Zugang zum<br />
Arbeitsmarkt. Der Autor schränkt<br />
das Konzept nicht auf einzelne<br />
Zielgruppen ein: Langzeitarbeitslose<br />
kommen genauso zur Sprache<br />
wie Menschen mit Behinderungen.<br />
Das Buch untersucht das Konzept<br />
zudem im Hinblick auf die<br />
gesetzlichen und die spezifischen<br />
sozialversicherungsrechtlichen Rahmenbedingungen<br />
in der Schweiz.<br />
Es richtet sich an Fachpersonen<br />
der Arbeitsintegration und andere<br />
Interessierte und bietet praxisnahe<br />
Informationen für die Diskussion<br />
und Umsetzung von Supported<br />
Employment.<br />
Das Team des Vereins Berner<br />
Schuldenberatung beschreibt in der<br />
neuen, vollständig überarbeiteten<br />
Auflage dieses Standardwerks,<br />
wie man als Fachperson in eine<br />
Schuldenberatung einsteigt und wie<br />
eine Schuldensanierung oder eine<br />
Konkursbegleitung daraus wird. Die<br />
Autoren geben zudem Antworten auf<br />
Fragen aus der Praxis: Wie führt man<br />
eine Diskussion über das Haushaltsbudget?<br />
Wann und wie tritt man<br />
an die Gläubiger heran? Und wann<br />
ist ein Privatkonkurs sinnvoll?<br />
Das Handbuch enthält diverse<br />
Diagramme, Tabellen, Formulare<br />
sowie Mustervorlagen für Briefe und<br />
Eingaben. Ein detailliertes Stichwortverzeichnis<br />
macht das Buch zum<br />
alltagstauglichen Nachschlagewerk<br />
für Praktikerinnen und Praktiker.<br />
Wie und warum entsteht Soziale<br />
Arbeit? Was sind ihre theoretischen<br />
Fundamente? Und wie beeinflussen<br />
aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen<br />
die Zukunft der Sozialarbeit?<br />
Diese und weitere Fragen diskutieren<br />
die Autorinnen und Autoren, indem<br />
sie den Traditionen und Wirkungen<br />
der Sozialarbeit nachgehen. Das<br />
Lehrbuch richtet sich sowohl an<br />
Studentinnen und Studenten als<br />
auch an Praktikerinnen und<br />
Praktiker, die eine systematische<br />
Übersicht über die wichtigsten<br />
Fragestellungen suchen und sich für<br />
die Debatte um die Wirkungsweisen<br />
und Widersprüche der Sozialarbeit<br />
interessieren.<br />
Ueli Kieser, Jürg Senn, Invalidität. Was Sie<br />
über Renten, Rechte und Versicherungen<br />
wissen müssen, 5. überarbeite Auflage,<br />
Beobachter-Edition, <strong>2013</strong>, 216 Seiten,<br />
CHF 38.–<br />
ISBN 978-3-85569-655-0<br />
Daniel Schaufelberger, Peter Mösch Payot,<br />
Supported Employment.<br />
Arbeitsintegration für Personen mit<br />
erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt,<br />
Interact, <strong>2013</strong>, 144 Seiten, CHF 33.–<br />
ISBN: 978-3-906036-09-0<br />
Berner Schuldenberatung (Hrsg.),<br />
Schulden - was tun? Der Weg aus der<br />
Schuldenfalle, 4. aktualisierte Auflage,<br />
Edition Soziothek, <strong>2013</strong>, 156 Seiten,<br />
CHF 46.–<br />
ISBN 978-3-03796-500-9<br />
Sabine Hering (Hrsg.), Was ist Soziale<br />
Arbeit? Traditionen, Widersprüche,<br />
Wirkungen. Verlag Barbara Budrich, <strong>2013</strong>,<br />
252 Seiten, CHF 41.–<br />
ISBN 978-3-8474-0082-0<br />
34 ZeSo 3/13 service
Kriminalisierung<br />
von Armut<br />
Die Studie des französischen Soziologen<br />
Loïc Wacquant analysiert<br />
die Zusammenhänge zwischen<br />
Sicherheit und Armut sowie<br />
zwischen Strafverfolgung und<br />
sozialer Wohlfahrt. Am Beispiel der<br />
Entwicklung der Wohlfahrts- und<br />
Strafverfolgungspolitik der USA in<br />
den letzten zwei Jahrzehnten zeigt<br />
er auf, dass Menschen, die durch<br />
die Folgen der Globalisierung, durch<br />
die Deregulierung der Wirtschaft,<br />
die Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen<br />
und den Rückbau<br />
der sozialen Sicherung auf dem<br />
Weg des sozialen Abstiegs sind,<br />
überdurchschnittlich häufig vor<br />
Gericht stehen. Die Studie kommt<br />
zum Schluss, dass gesellschaftliche<br />
Problemgruppen im Zeitalter<br />
des Neoliberalismus zunehmend<br />
kriminalisiert und weggesperrt<br />
werden.<br />
Loïc Wacquant, Bestrafen der Armen.<br />
Zur neoliberalen Regierung der sozialen<br />
Unsicherheit, 2. Auflage, Verlag Barbara<br />
Budrich, <strong>2013</strong>, 359 Seiten, CHF 41.–<br />
ISBN 978-3-8474-0121-6<br />
Umgang mit digitalen<br />
Medien<br />
Das SJW-Heft «Ist da jemand?»<br />
bietet Schülerinnen und Schülern<br />
ab 11 Jahren einfach verständliche<br />
Informationen und viele konkrete<br />
Tipps zum Umgang mit digitalen<br />
Medien. Thematisch wird ein breites<br />
Spektrum abgedeckt: von der<br />
Geschichte des World Wide Web über<br />
soziale Netzwerke und Games bis<br />
zu Cybermobbig. Ein besonderes<br />
Augenmerk richtet das Heft auf<br />
Sicherheitsfragen: Wie erkennt man<br />
gefährliche Websites? Was muss<br />
beim Erstellen eines Facebook-<br />
Accounts beachtet werden? Und was<br />
kann man bei drohendem Cybermobbing<br />
tun? Ein kurzer Comic führt<br />
jeweils ins Thema ein, ein Text liefert<br />
das Hintergrundwissen und ein<br />
Glossar rundet die Kapitel ab. Damit<br />
stellt das Heft für Lehrerinnen und<br />
Leher sowie für Eltern einen guten<br />
Ausgangspunkt dar, mit Jugendlichen<br />
die Spielregeln im Internet zu<br />
diskutieren.<br />
Bettina Wegenast, Judith Zaugg, Ist da<br />
jemand? Umgang mit digitalen Medien,<br />
SJW Schweizerisches Jugendschriftenwerk,<br />
32 Seiten, CHF 5.–<br />
ISBN 978-3-7269-0610-8<br />
veranstaltungen<br />
Schulden und Sozialstaat<br />
Der Staat sichert durch seine Sozialleistungen die materielle<br />
Existenz bedürftiger Menschen. Er wird aber gegenüber Menschen<br />
in Armut und Verschuldung oft auch zum Gläubiger, etwa<br />
wenn Steuern oder Krankenkassenbeiträge nicht mehr bezahlt<br />
werden können. So können beim Sozialstaat unterstützende<br />
und fordernde Interessen aufeinanderprallen. Die nationale<br />
Fachtagung zur Schuldenberatung in der Sozialarbeit beleuchtet<br />
diesen Interessenkonflikt. Es werden Wege aufgezeigt, wie im<br />
Arbeitsalltag mit der Verschuldung im Sozialstaat umgegangen<br />
werden kann.<br />
Forum Schulden: Schuldenberatung in der Sozialen Arbeit<br />
Donnerstag, 7. November <strong>2013</strong>, Campus der FHNW, Olten<br />
www.forum-schulden.ch<br />
Sozialstaat: Standortvorteil für die<br />
Schweiz?<br />
Die Finanz- und Wirtschaftskrise in den USA und in Europa stellt<br />
die Systeme der sozialen Sicherheit vor grosse Herausforderungen.<br />
Sie verstärkt auch in der Schweiz die Zweifel an der<br />
finanziellen Tragbarkeit und der Effizienz des Sozialstaats. Mit<br />
Blick auf die Schweiz stellt die Schweizerische Vereinigung für<br />
Sozialpolitik (SVSP) an der Jahrestagung <strong>2013</strong> die Frage, ob<br />
denn nicht gerade die soziale Sicherheit eine wichtige Grundlage<br />
für den wirtschaftlichen Erfolg sei.<br />
SVSP-Jahrestagung: Sozialstaat – Standortvorteil für die Schweiz?<br />
Donnerstag, 19. September <strong>2013</strong>, Hotel Bern<br />
www.svsp.ch<br />
Ausländerinnen und Ausländer in der<br />
Sozialhilfe<br />
Staatsverträge, Asyl- und Ausländerrecht und kantonales Sozialhilferecht:<br />
Verschiedene Rechtsgebiete prägen die Anwendung<br />
der Sozialhilfe für Ausländerinnen und Ausländer. Sowohl das<br />
Migrationsrecht wie auch das Sozialhilferecht ermöglichen<br />
erhebliche Eingriffe in das Leben der Betroffenen. Gleichzeitig<br />
spielen in beiden Rechtsbereichen Spielräume und Ermessen<br />
eine grosse Rolle. Dies führt oft zu Unsicherheiten. Die Luzerner<br />
Tagung verschafft eine Übersicht über die rechtlichen Rahmenbedingungen<br />
zur Bemessung und Ausgestaltung der Sozialhilfe<br />
für Ausländerinnen und Ausländer und zeigt auf, was dabei in<br />
der Praxis zu beachten ist.<br />
Luzerner Tagung zum Sozialhilferecht<br />
Ausländerinnen und Ausländer in der Sozialhilfe<br />
Donnerstag, 24. Oktober <strong>2013</strong>, Hochschule Luzern<br />
www.hslu.ch/sozialearbeit<br />
service 3/13 ZeSo<br />
35
Ist im sozialen Bereich lieber konkret aktiv: Debora Buess mit Flyer für die Solikarte. <br />
Bild: Martina Huber<br />
Die Punktesammlerin<br />
Die Idee für die Solikarte kam Debora Buess, als sie an einer Migros-Kasse jobbte. Die Gutscheine,<br />
die durch die vielen solidarischen Cumulus-Karten zusammenkommen, werden an Organisationen<br />
weitergegeben, die sich für Sans-Papiers und Nothilfe-Bezüger einsetzen.<br />
Die Gutscheine für ihre Cumulus-Punkte<br />
bekommt Debora Buess unterdessen in einem<br />
kleinen Paket zugestellt – in einem<br />
Couvert hätten sie nicht mehr Platz, so viele<br />
sind es. So schickte ihr die Migros für die<br />
Monate Februar und März Bons im Wert<br />
von 13 645 Franken, für April und Mai waren<br />
es 23 840. «Ich zähle immer gleich<br />
nach, ob es stimmt», sagt die 22-jährige Ostschweizerin.<br />
Danach teilt sie die Bons auf<br />
und verschickt sie an Organisationen in der<br />
<strong>ganz</strong>en Schweiz, die sich für Sans-Papiers<br />
und Nothilfe-Bezüger einsetzen. Diese wiederum<br />
geben sie entweder direkt ab oder<br />
verwenden sie, um beispielsweise Essen für<br />
Mittagstische oder Schulmaterial zu kaufen.<br />
wegung Solidaritätsnetz Ostschweiz hatte<br />
Buess von nah erlebt, wie schwierig es insbesondere<br />
abgewiesene Asylsuchende haben.<br />
«Die erhalten zwischen drei und acht Franken<br />
am Tag. Davon kann man eigentlich gar<br />
nicht leben», sagt sie. Sie kenne Leute, die<br />
seit über zehn Jahren in der Schweiz sind,<br />
keine Aufenthaltsbewilligung haben, wegen<br />
Krieg aber nicht in ihre Heimat zurückkehren<br />
können. Viele leben in Bunkern. «Ich<br />
finde das schockierend. Jede Person hat das<br />
Recht auf ein menschenwürdiges Leben,<br />
egal woher sie kommt und warum sie sich in<br />
der Schweiz befindet.»<br />
Handeln statt studieren<br />
Etwas im sozialen Bereich zu studieren<br />
kam für die Ostschweizerin nicht in Frage:<br />
«Mich fasziniert die Natur und die Erde genauso<br />
wie der Mensch. Im sozialen Bereich<br />
bin ich lieber konkret aktiv.» So schrieb sie<br />
sich für ein umweltwissenschaftliches Studium<br />
an der Uni Lausanne ein und wechselte<br />
später auf Geologie. Und begann daneben,<br />
ihre Cumulus-Karte zu kopieren<br />
und an Freunde und Bekannte zu verteilen.<br />
Die Idee begeisterte und wurde bald<br />
über die Ostschweiz hinaus bekannt. Zwei<br />
Kolleginnen dehnten das Projekt 2011 auf<br />
den Raum Zürich aus, heute sind auch in<br />
Bern, Basel, Luzern, Aargau, im Tessin und<br />
in der Romandie zahlreiche Sammler mit<br />
Idee kam an der Migros-Kasse<br />
Alles begann im Sommer 2009. Buess hatte<br />
die Matura bestanden und jobbte während<br />
vier Monaten in der Migros Kronbühl in<br />
Wittenbach (SG). Sie stand täglich hinter<br />
der Kasse und fragte hunderte von Kunden<br />
nach ihrer Cumulus-Karte. «Da wurde mir<br />
bewusst, wie viele Punkte zusammenkommen<br />
könnten, wenn viele gemeinsam sammeln»,<br />
sagt sie. Die Idee für die Solikarte war<br />
geboren: Eine unpersönliche Chipkarte, die<br />
die Cumuluspunkte auf ein Sammelkonto<br />
überschreibt (www.solikarte.ch). Und es so<br />
erlaubt, ohne viel Aufwand Bedürftigen zu<br />
helfen. Während ihrer Tätigkeit bei der Beeiner<br />
Solikarte unterwegs, die ein Grafikerbüro<br />
entworfen hat. Je 20 000 Karten und<br />
Flyer gingen letzten Sommer in Druck. Die<br />
mit Strichcode ausgestatteten Flyer gingen<br />
so schnell weg, dass im Februar weitere<br />
40 000 gedruckt wurden. Kisten voller<br />
Material lagern im Keller von Buess und<br />
warten darauf, verschickt zu werden. «Im<br />
Moment bestellen wöchentlich etwa 50<br />
Leute Flyer oder Karten», sagt sie.<br />
Zwischendurch sah es einmal nicht so<br />
gut aus: Im Februar 2012 kündigte die<br />
Migros in einem Brief an, sie werde das<br />
Konto sperren, Cumulus-Karten seien für<br />
Einzelpersonen oder -haushalte gedacht.<br />
«Wir haben lange verhandelt, hin- und<br />
hergeschrieben, argumentiert», erzählt<br />
Buess. Nachdem sich auch die Medien<br />
eingeschaltet hätten, habe die Migros im<br />
Sommer 2012 eingelenkt und die Karte<br />
erlaubt. Dennoch stehen nun wieder Verhandlungen<br />
an: Der Grossverteiler möchte<br />
die gemeinsame Karte abschaffen und dafür<br />
allen die Möglichkeit geben, die Punkte<br />
via Internet auf das Konto des Projekts zu<br />
überweisen. «Diese Möglichkeit wäre schon<br />
gut», sagt Buess. Aber nur, wenn sie zusätzlich<br />
zur Solikarte bestünde. Sorgen macht<br />
sie sich keine: «Das schaffen wir auch dieses<br />
Mal.»<br />
•<br />
Martina Huber<br />
36 ZeSo 3/13 porträt
Gute Perspektiven<br />
für Fachleute der Sozialen Arbeit<br />
4 Fachhochschulen – 1 Master of Science<br />
Teilzeit- oder Vollzeitstudium / Start im September und Februar<br />
Vertiefungsrichtungen<br />
Gesellschaftlicher Wandel und die Organisation Sozialer Arbeit<br />
Sozialpolitik und Sozialökonomie<br />
Professions- und Methodenentwicklung<br />
Soziale Probleme, soziale Konflikte und Lebensführung<br />
www.masterinsozialerarbeit.ch<br />
Weiterbildung für die Kompetenzen von morgen<br />
Die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW bietet wissenschaftlich fundierte und praxisnahe Weiterbildungen<br />
mit hohem Qualitätsstandard an. Sie verbindet Praxisnähe und Anwendungsorientierung mit<br />
theoretischer Fundierung und gezieltem Einbezug von aktuellen Forschungsergebnissen. Ziel ist eine<br />
optimale Qualifikationsmöglichkeit für berufliche Herausforderungen.<br />
Die inhaltlichen Schwerpunkte unserer Angebote sind vielfältig:<br />
– Behinderung und Integration – Forschung – Migration<br />
– Beratung und Coaching – Gesundheit – Praxisausbildende in der Sozialen Arbeit<br />
– Change Management – Joint European Master – Recht<br />
– Eingliederungsmanagement – Kinder und Jugendliche – Sozialmanagement<br />
– Ethik – Methoden – Stadtentwicklung<br />
Kontakt und Information<br />
weiterbildung.sozialearbeit@fhnw.ch | T +41 (0)848 821 011 | www.fhnw.ch/sozialearbeit/weiterbildung<br />
Fachhochschule Nordwestschweiz | Hochschule für Soziale Arbeit | Riggenbachstr. 16 | 4600 Olten
Angebote, die wirken!<br />
Flexible und praxisorientierte Kurse, Studiengänge und Dienstleistungen<br />
für Fachpersonen und Organisationen der Sozialen Arbeit<br />
Durch<br />
blick<br />
CAS Soziale Arbeit in<br />
der Sozialhilfe [neu]<br />
Ziel des Studiengangs ist es, den<br />
Bedarf der Haupt-Risikogruppen zu<br />
erkennen und professionelle Interventionsstrategien<br />
zu entwickeln.<br />
Infoveranstaltungen:<br />
– 10.9.<strong>2013</strong>, 17.45-19.15 Uhr<br />
– 20.11.<strong>2013</strong>, 17.45-19.15 Uhr<br />
Web-Code: C-SOZ-9<br />
soziale-arbeit.bfh.ch/weiterbildung<br />
Quick-Scan Qualität: Gründliche<br />
Analyse für Sozialdienste<br />
Mittels Online-Befragung kö nnen<br />
Sie die Qualitä t Ihres Sozialdienstes<br />
abfragen – schnell und<br />
umfassend. Die Auswertung<br />
in einem Gesprä ch und einem<br />
Workshop erfolgt unter der<br />
Leitung des Kompetenzzentrums<br />
Qualitä tsmanagement der BFH.<br />
Informationen und Demoversion:<br />
qm.bfh.ch/quick-scan<br />
‣ Soziale Arbeit<br />
130729_Inserat_Zeso_3_<strong>2013</strong>_2.indd 2 31.07.<strong>2013</strong> 11:28:02<br />
Weiterdenken? Weiterbilden!<br />
Inspiration aus unserem Weiterbildungsprogramm:<br />
MASTER OF ADVANCED STUDIES (MAS)<br />
MAS in Management of Social Services<br />
Der MAS besteht aus drei Zertifikatslehrgängen<br />
(CAS), die auch einzeln besucht werden können:<br />
• CAS Führung im Kontext des psychosozialen<br />
Bereichs, Oktober <strong>2013</strong><br />
• CAS Sozialpolitik, April 2014<br />
• CAS Sozialmanagement, Oktober 2014<br />
MAS in Social Informatics<br />
Der MAS besteht aus drei Zertifikatslehrgängen<br />
(CAS), die auch einzeln oder in Modulen als Seminare<br />
besucht werden können:<br />
• CAS Medienpädagogik, Mai 2014<br />
• CAS Online Services, April 2015<br />
• CAS Informatik-Projektleitung, auf Anfrage<br />
CERTIFICATE OF ADVANCED STUDIES (CAS)<br />
• Coaching, September <strong>2013</strong><br />
• Brennpunkt Kindesschutz, Oktober <strong>2013</strong><br />
• Case Management, Oktober <strong>2013</strong><br />
• Kreativ Beraten, November <strong>2013</strong><br />
• Soziale Arbeit mit gesetzlichem Auftrag,<br />
März 2014<br />
SEMINARE<br />
• Querdenken, Oktober <strong>2013</strong><br />
• Elternaktivierung, November <strong>2013</strong><br />
• Coaching, November <strong>2013</strong><br />
• Erwachsenenschutzrecht, November <strong>2013</strong><br />
• Trainingswerkstatt Konfliktvermittlung,<br />
November <strong>2013</strong><br />
• Kindesrecht, Januar 2014<br />
Details zu diesen und weiteren Angeboten unter www.fhsg.ch/weiterbildung<br />
FHS St.Gallen, Weiterbildungszentrum WBZ-FHS, Rosenbergstrasse 59, 9000 St.Gallen<br />
+41 71 226 12 50, weiterbildung@fhsg.ch<br />
FHO Fachhochschule Ostschweiz www.fhsg.ch