ZESO_4-2017_ganz
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SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
ZeSo<br />
Zeitschrift für Sozialhilfe<br />
04/17<br />
Interview<br />
SODK-Präsident<br />
Martin Klöti im<br />
Gespräch<br />
Sozialdienste<br />
Fallbelastung senkt<br />
Ablösequote und<br />
erhöht Kosten<br />
Botza<br />
Asylbewerber lernen<br />
zusammen mit<br />
Sozialhilfeempfängern<br />
Bildung statt<br />
Beschäftigung<br />
Keine Chance auf Rückkehr in den ersten Arbeitsmarkt<br />
ohne Berufsausbildung
SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
Nationale Tagung<br />
Ermessen in der Sozialhilfe – Spielräume sinnvoll nutzen<br />
Neue Analysen und Ansätze zum Thema Ermessen<br />
Donnerstag, 22. März 2018, Kongresshaus Biel<br />
Das Leitprinzip der Individualisierung verlangt, dass Hilfeleistungen jedem einzelnen Fall angepasst sind<br />
und sowohl den Zielen der Sozialhilfe im Allgemeinen als auch den Bedürfnissen der betroffenen Person im<br />
Besonderen entsprechen. Der Entscheid über die Hilfeleistung und über die Art der Hilfe richtet sich nach der<br />
jeweiligen Gesetzgebung, die in der Regel einer professionellen Beurteilung einen gewissen Handlungsspielraum<br />
einräumt. Dieses Prinzip wird im Recht «Ermessen» genannt. Die Anwendung des Handlungsspielraums<br />
bzw. Ermessens erfordert im Alltag ein hohe Professionalität und ein berufliches Selbstverständnis.<br />
Die nationale Tagung in Biel bietet eine Plattform zur Präsentation und Diskussion von<br />
Handlungsmöglichkeiten sowie Best-Practice-Ansätzen.<br />
Programm und Anmeldung unter www.skos.ch Veranstaltungen<br />
«Wir brauchen<br />
mehr Master-<br />
Absolventinnen<br />
und -Absolventen,<br />
die Konzepte<br />
entwickeln und<br />
umsetzen.»<br />
Andrea Lübberstedt<br />
Leiterin des Amtes für Soziales,<br />
Kanton St. Gallen<br />
Absolventen und Arbeitgeber innen<br />
erzählen über Arbeitsalltag und<br />
Berufschancen. Jetzt reinklicken!<br />
www.masterinsozialerarbeit.ch<br />
MSA_Inserat_<strong>ZESO</strong>_170x130_170508.indd 4 08.05.17 14:18
Regine Gerber<br />
Redaktorin<br />
EDITORIAL<br />
Ohne Bildung keine<br />
Arbeitsmarktintegration<br />
Eine alleinerziehende Mutter holt trotz langer Abwesenheit vom<br />
Arbeitsmarkt einen Berufsabschluss im Detailhandel nach.<br />
Eine Sozialhilfebezügerin arbeitet sich zur Filialleiterin hoch.<br />
Und ein Küchenangestellter fühlt sich dank Abschluss fachlich<br />
sicherer und respektierter in seiner Tätigkeit. Diese Personen –<br />
Beispiele aus unseren Artikeln – haben dank Weiter- und Nachholbildung<br />
den Weg in ein erfolgreiches Berufsleben einschlagen<br />
können. Viele Geringqualifizierten haben diese Chancen<br />
nicht und tragen ein grosses Risiko, früher oder später in der<br />
Sozialhilfe zu landen – und lange dort zu verbleiben. Bildung<br />
ist daher zentral, um Armut zu verhindern. Nur: Das Prinzip<br />
«Wer hat, dem wird gegeben» gilt leider auch hier. Es bilden<br />
sich vorwiegend diejenigen Personen weiter, die bereits eine<br />
gute Ausbildung haben, und nicht jene, die es am meisten nötig<br />
hätten. Warum die Sozialhilfe umdenken und Bildung mehr<br />
fördern muss, lesen Sie im aktuellen Schwerpunkt (ab S.12).<br />
Umgedacht hat auch Bernhard Jungen. Als ihn seine Stelle als<br />
Pfarrer nicht mehr befriedigte, suchte er sich hinter dem Bierzapfhahn<br />
einer dreirädrigen Bar eine neue Aufgabe (S.36).<br />
Auch Martin Klöti hat von der Rinderzucht bis zur Lachsräucherei<br />
in seinem Leben schon einiges ausprobiert. Wo der seit dem<br />
1. August <strong>2017</strong> amtende Präsident der SODK die grossen<br />
sozialpolitischen Herausforderungen sieht, sagt er im Interview<br />
(S.8). Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre!<br />
4/17 ZeSo<br />
1
SCHWERPUNKT<br />
Ohne Bildung<br />
keine Chance<br />
Ohne Bildung haben<br />
Sozialhilfebeziehende<br />
kaum berufliche Chancen.<br />
Sie benötigen eine auf den<br />
ersten Arbeitsmarkt ausgerichtete<br />
Qualifizierung.<br />
50 Prozent der Sozialhilfebeziehenden<br />
haben keinen Berufsabschluss. Der Erwerb<br />
von Grundkompetenzen, Nachholbildung<br />
und Weiterbildung ist für ihre Integration<br />
zentral, denn Geringqualifizierte haben es<br />
in der Schweiz schwer auf dem Arbeitsmarkt.<br />
Ihre Chancen haben in den letzten<br />
Jahren noch deutlich abgenommen. Erfolgreiche<br />
Pilotprojekte gibt es beispielsweise<br />
in den Kantonen Basel-Stadt und Bern. Darüber<br />
hinaus ist aber ein Umdenken in der<br />
Sozialhilfe und im Bildungssystem nötig.<br />
12–23<br />
12–25<br />
17 23<br />
<strong>ZESO</strong><br />
zeitschrift für sozialhilfe Herausgeberin Schweizerische konferenz für Sozialhilfe SKOS, www.skos.ch Redaktionsadresse<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN 1422-0636 / 114. Jahrgang<br />
Erscheinungsdatum: 4. Dezember <strong>2017</strong><br />
Die nächste Ausgabe erscheint im März 2018<br />
Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS, Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch, Tel. 031 326 19 19<br />
Redaktion Ingrid Hess, Regine Gerber Autorinnen und Autoren in dieser Ausgabe Catherine Arber,<br />
Liliane Blurtschi, Miryam Eser Davolio, Milena Gehrig, Miriam Götz, Claudia Hänzi, Danièle Héritier, Michael<br />
Peier, Daniel Röthlisberger, Ronald Schenkel, Bettina Seebeck, Isabelle Steiner, Rahel Strohmeier Navarro<br />
Smith, Silvan Surber, Rebecca Widmer, Felix Wolffers, Heinrich Zwicky Titelbild Magali Girardin layout<br />
Marco Bernet, mbdesign Zürich Korrektorat Karin Meier Druck und Aboverwaltung Rub Media,<br />
Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 preise Jahresabonnement CHF 82.– (SKOS-<br />
Mitglieder CHF 69.–), Jahresabonnement Ausland CHF 120.–, Einzelnummer CHF 25.–.<br />
2 ZeSo 4/17
inhalt<br />
8<br />
5 Kommentar<br />
radikalisierung – Thema für die Sozialhilfe<br />
– Kommentar von Felix Wolffers<br />
6 PRAXIS<br />
ermöglicht Sozialhilfe jungen Erwachsenen<br />
eine eigene Wohnung?<br />
7 SKOS<br />
regula Unteregger und Ruedi Hofstetter<br />
– ein Blick zurück<br />
8 INTERVIEW<br />
«Diese wenigen Fälle kann eine Gesellschaft<br />
mittragen», sagt SODK-Präsident<br />
Martin Klöti<br />
12–25 schwerpunkt<br />
Bildung statt Beschäftigung<br />
14 Mit Bildung die Chancen von Sozialhilfebeziehenden<br />
erhöhen<br />
17 Von der Sozialhilfe in die Ausbildung –<br />
das Projekt «Enter»<br />
27<br />
19 Die Stanley Thomas Johnson Stiftung<br />
verhilft zu einer zweiten Chance<br />
20 Sozialdienst Dietikon: Bildungsmassnahmen<br />
auf den ersten Arbeitsmarkt<br />
ausrichten<br />
22 «Sozialarbeitende sind wichtig in der<br />
Grundkompetenzförderung», sagt Brigitte<br />
Aschwanden.<br />
24 Wie Betriebe Mitarbeitende ohne Berufsabschluss<br />
fördern können<br />
32<br />
28<br />
36<br />
32<br />
26 Fachbeitrag<br />
Fallbelastung – wenn Sozialarbeitende<br />
zu viele Fälle bearbeiten müssen, steigen<br />
die Kosten<br />
28 Fachbeitrag<br />
Armutsbetroffene sind oft nicht ausreichend<br />
mit Wohnraum versorgt<br />
31 Plattform<br />
Heilsarmee: Nicht nur Singen und Suppe<br />
verteilen<br />
32 Reportage<br />
im Wallis sollen Flüchtlinge zusammen<br />
mit Sozialhilfeempfängern ausgebildet<br />
werden<br />
34 Lesetipps und Veranstaltungen<br />
36 Porträt<br />
der ehemalige Pfarrer Bernhard Jungen<br />
mit seiner Bar auf drei Rädern<br />
4/17 ZeSo<br />
3
www.staedteinitiative.ch<br />
NACHRICHTEN<br />
Kennzahlenvergleich zur Sozialhilfe<br />
in Schweizer Städten<br />
Berichtsjahr 2016,<br />
14 Städte im Vergleich<br />
Michelle Beyeler, Renate Salzgeber, Claudia Schuwey<br />
Berner Fachhochschule, Fachbereich Soziale Arbeit<br />
Kinder sind ein<br />
Armutsrisiko<br />
Beat Schmocker, Herausgeber<br />
Bereichsleiter Soziales, Stadt Schaffhausen<br />
Die Zahl der Sozialhilfefälle ist in den<br />
Schweizer Städten 2016 durchschnittlich<br />
um 5,2 Prozent gestiegen; das ist mehr<br />
als in den vergangenen Jahren (Anstieg<br />
jeweils unter 3 Prozent). Eine deutliche<br />
Zunahme verzeichneten besonders mittelgrosse<br />
Städte und Agglomerationen, wie<br />
der neue Kennzahlenvergleich zur Sozialhilfe<br />
in Schweizer Städten 2016 zeigt. Das<br />
grösste Armutsrisiko haben in den Städten<br />
junge alleinerziehende Mütter zwischen 18<br />
und 25 Jahren. Über 80 Prozent von ihnen<br />
beziehen Sozialhilfe. Generell bestätigt der<br />
Bericht, dass Haushalte mit Kindern ein<br />
grösseres Armutsrisiko tragen. Um dem<br />
entgegenzuwirken, braucht es spezifische<br />
Programme für Alleinerziehende, ein bezahlbares<br />
Angebot an familienergänzender<br />
Betreuung und Ergänzungsleistungen für<br />
Familien.<br />
www.staedteinitiative.ch<br />
Neue Strategie zur beruflichen und<br />
sozialen Integration<br />
Immer mehr schlecht ausgebildete Menschen<br />
finden auf dem Arbeitsmarkt keinen<br />
Platz mehr und benötigen in der Folge Sozialhilfe.<br />
Mit dem «Fokus Arbeitsmarkt<br />
2025» und einer neuen Strategie zur beruflichen<br />
und sozialen Integration reagiert<br />
das Sozialdepartement der Stadt Zürich<br />
auf die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt<br />
und vollzieht einen Paradigmenwechsel<br />
in der Sozialhilfe. «Wollen wir die<br />
Chancen von Geringqualifizierten auf dem<br />
ersten Arbeitsmarkt nachhaltig verbessern,<br />
so müssen wir ihre Qualifikation verbessern<br />
– innerhalb wie ausserhalb der Sozialhilfe.<br />
Ansonsten laufen unsere Bemühungen<br />
Gefahr, zum Nullsummenspiel zu verkommen»,<br />
sagte der städtische Sozialvorsteher<br />
Raphael Golta Ende Oktober vor<br />
den Medien.<br />
Der «Fokus Arbeitsmarkt 2025» bildet<br />
das Dach, unter welchem das Sozialdepartement<br />
all seine Massnahmen zur<br />
Arbeitsmarktintegration bündelt. Mit der<br />
neuen Strategie zur beruflichen und sozialen<br />
Integration werden die für eine Arbeitsintegration<br />
in Frage kommenden Sozialhilfebeziehenden<br />
anhand ihrer Chancen<br />
für eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt und<br />
anhand ihrer Motivation, eine Stelle auf<br />
dem ersten Arbeitsmarkt anzustreben, neu<br />
in vier Zielgruppen eingeteilt, erklärte die<br />
Direktorin der Sozialen Dienste, Mirjam<br />
Schlup. Wer nahe am ersten Arbeitsmarkt<br />
dran ist und eine hohe Motivation zeigt,<br />
soll künftig gezielter gefördert, begleitet<br />
und qualifiziert werden.<br />
«Qualifikation ist nur mit Eigenmotivation<br />
möglich», sagte Raphael Golta. Sanktionen<br />
könnten die vorhandene Motivation<br />
beeinträchtigen. Ebenfalls auf Freiwilligkeit<br />
setzt das Sozialdepartement bei jenen,<br />
die aktuell kaum eine Chance haben für<br />
eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt und<br />
auch eine entsprechend tiefe Motivation<br />
zeigen, eine solche anzustreben. Bei ihnen<br />
steht die soziale Teilhabe mittels Beschäftigung<br />
im Vordergrund. «Wir akzeptieren,<br />
dass nicht alle einen Platz im Arbeitsmarkt<br />
finden. Wir geben die Betroffenen aber<br />
nicht auf», sagte Golta.<br />
Sanktionen bleiben möglich bei Sozialhilfebeziehenden,<br />
die zwar gute Chancen<br />
für den ersten Arbeitsmarkt aufweisen,<br />
aber keine Motivation zeigen, eine Stelle<br />
anzutreten. Rund 70 Prozent der Sozialhilfebeziehenden<br />
kommen für eine Arbeitsintegration<br />
gar nicht in Frage. Rund<br />
20 Prozent der Sozialhilfebeziehenden<br />
sind zudem Kinder unter 16 Jahren.<br />
(MM) <br />
•<br />
Neues SKOS-<br />
Weiterbildungsangebot<br />
Das Weiterbildungsangebot der SKOS ist<br />
neu gestaltet. Weiterhin bietet die SKOS<br />
darin eine Einführung in die öffentliche<br />
Sozialhilfe. Daneben sollen aber auch die<br />
vielfältigen Themen stärker beleuchtet werden,<br />
welche die SKOS und ihre Mitglieder beschäftigen.<br />
Neu werden die Weiterbildungen<br />
ab 2018 zweimal pro Jahr angeboten: An<br />
der Veranstaltung im November in Olten<br />
wird festgehalten (19. November 2018). Im<br />
Juni wird eine zusätzliche Veranstaltung für<br />
die Ostschweiz in Winterthur durchgeführt<br />
(26. Juni 2018). Neu werden pro Nachmittag<br />
nicht mehr nur drei, sondern vier Module<br />
angeboten. Wie bisher kann man an zwei<br />
Modulen pro Veranstaltung teilnehmen. Wer<br />
beide Weiterbildungskurse besuchen möchte,<br />
um dabei alle vier Module absolvieren zu<br />
können, profitiert von einem Rabatt bei den<br />
Teilnahmegebühren. (Red.)<br />
Zürcher Sozialamt mit neuer Chefin<br />
Andrea Lübberstedt heisst die neue Chefin<br />
des Zürcher Sozialamts. Sie tritt auf Anfang<br />
2018 die Nachfolge von Ruedi Hofstetter,<br />
langjähriges Mitglied der SKOS-Geschäftsleitung,<br />
an. Andrea Lübberstedt wechselt<br />
von der St. Galler in die Zürcher Verwaltung.<br />
Lübberstedt leitet derzeit das Amt für<br />
Soziales des Kantons St. Gallen. Sie absolvierte<br />
an der Universität Zürich ein Studium<br />
der Psychologie, Psychopathologie und<br />
Kriminologie. 2004 trat sie ins St. Galler<br />
Amt für Soziales ein, das sie seit 2012 leitet.<br />
Unter ihrer Leitung hat das Amt vielfältige<br />
Reformen im Sozialwesen ausgearbeitet,<br />
Entwicklungen angestossen und umgesetzt.<br />
Dazu zählt insbesondere die<br />
kinder- und jugendpolitische Strategie<br />
2015-2020, aber auch die Integration<br />
von Menschen mit Behinderung. •<br />
Andrea Lübberstedt.<br />
Bild: zvg<br />
4 ZeSo 4/17
KOMMENTAR<br />
Radikalisierung – Thema für die Sozialhilfe<br />
Spätestens seit dem Fall des Nidauer<br />
Imams, welcher mit seinen Hasspredigten<br />
das Zusammenleben vergiftet<br />
und zugleich in bedeutendem Umfang<br />
Sozialhilfeleis-tungen bezogen hat, ist klar:<br />
Radikalisierung ist auch für die Sozialhilfe<br />
ein wichtiges Thema. Die Öffentlichkeit<br />
reagiert zu Recht empört, wenn unterstützte<br />
Personen mit religiös oder politisch<br />
motivierten Kampfbotschaften Hass<br />
schüren. So weit ist alles klar. Was aber<br />
kann die Sozialhilfe hier tun? Wo hört das<br />
Recht auf freie Meinungsäusserung auf, wo<br />
liegen die Grenzen der Religionsfreiheit? Es<br />
stellen sich in diesem Zusammenhang viele<br />
Fragen, welche schwierig zu beantworten<br />
sind. Hilfreich erscheint es, das Thema<br />
von den Grundprinzipien des Staates<br />
und der Sozialhilfe her anzugehen. Es ist<br />
Aufgabe des liberalen Staates, Meinungen<br />
und religiöse Überzeugungen jeder Art zu<br />
dulden, solange sich diese nicht gegen das<br />
geltende Recht richten. Anspruch auf Sozialhilfe<br />
hat, wer bedürftig ist. Die politische<br />
oder religiöse Überzeugung einer Person<br />
spielt dabei keine Rolle und geht die Sozialdienste<br />
grundsätzlich nichts an. Andererseits<br />
haben unterstützte Personen aber die<br />
Pflicht zur Integration in die Gesellschaft.<br />
Das gilt in besonderem Masse für Flüchtlinge<br />
und vorläufig Aufgenommene, welche<br />
in der Schweiz Schutz suchen und erhalten<br />
und ihre Position in der Arbeitswelt und im<br />
sozialen Leben erst finden müssen.<br />
Wenn radikalisierte Personen zu Gewalt<br />
aufrufen, ist es primär Sache der Strafverfolgungsbehörden<br />
und der Fremdenpolizei,<br />
aktiv zu werden. Aufgabe der Sozialdienste<br />
ist es, wachsam zu sein. Wo immer sich<br />
Anhaltspunkte für Radikalisierung und<br />
Aufrufe zu Gewalt ergeben, müssen die<br />
Sozialdienste die unterstützten Personen<br />
mit Nachdruck auf die Respektierung der<br />
gesellschaftlichen Grundwerte und die<br />
Pflicht zur Integration hinweisen. Nicht<br />
zu übersehen ist aber, dass die Grenze<br />
zwischen erlaubtem und verbotenem Verhalten<br />
hier besonders schwer zu ziehen ist.<br />
Sinnvoll erscheint deshalb, in Verdachtsfällen<br />
eng mit Polizei und Justiz zusammenzuarbeiten.<br />
Auf Bundesebene soll noch im laufenden<br />
Jahr ein Nationaler Aktionsplan zur Verhinderung<br />
und Bekämpfung von Radikalisierung<br />
verabschiedet werden. Darin gibt<br />
es verschiedene Berührungspunkte zur<br />
Sozialhilfe. Ergänzend zum Aktionsplan auf<br />
Bundesebene ist die SKOS aktiv geworden<br />
und hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt,<br />
welche Massnahmen zur Unterstützung<br />
der Sozialdienste bei der Erkennung und<br />
Bekämpfung von Radikalisierung erarbeiten<br />
wird. Es braucht Antworten auf eine<br />
Reihe von Fragen: Welche präventiven<br />
Massnahmen gegen<br />
Radikalisierung gilt<br />
es zu ergreifen?<br />
Inwieweit sollen die<br />
Sozialdienste religiöse<br />
Vorschriften bei<br />
der Arbeitsintegration<br />
berücksichtigen?<br />
Unter welchen Bedingungen<br />
müssen sie<br />
sich an die Polizei<br />
oder Fremdenpolizei<br />
wenden und ist der<br />
Datenaustausch mit<br />
diesen erlaubt? Die<br />
richtigen Antworten<br />
auf diese Fragen zu<br />
finden ist schwierig,<br />
aber wichtig.<br />
Felix Wolffers<br />
Co-Präsident SKOS<br />
4/17 ZeSo<br />
5
Ermöglicht die Sozialhilfe jungen<br />
Erwachsenen eigenes Wohnen?<br />
PRAXIS Herr Lersch ist 21 Jahre alt und im letzten Lehrjahr. Wegen Konflikten mit seinen Eltern will<br />
er ausziehen. Ob ihm die Sozialhilfe eine andere Wohnform ermöglicht, ist abhängig davon, ob es als<br />
zumutbar erachtet wird, dass Herr Lersch im elterlichen Haushalt wohnen bleibt.<br />
Der 21-jährige Joel Lersch ist nach einem<br />
heftigen Streit mit seinen Eltern bei einem<br />
Freund untergekommen. Er hat die obligatorische<br />
Schule abgeschlossen und absolviert<br />
das letzte Lehrjahr zum Spengler EFZ.<br />
Sein Lehrlingsgehalt beträgt monatlich<br />
1000 Franken brutto. Die Eltern sind<br />
nicht in der Lage, gegenüber ihrem Sohn<br />
Unterhalt zu leisten, und der Antrag auf ein<br />
Stipendium wurde kürzlich abgelehnt.<br />
Herr Lersch meldet sich deshalb auf dem<br />
regionalen Sozialdienst und beantragt materielle<br />
Unterstützung. Er möchte nicht<br />
mehr bei seinen Eltern wohnen, weil die<br />
Konflikte mit ihnen nicht mehr auszuhalten<br />
seien. Er wolle erfolgreich seine Lehre<br />
abschliessen und brauche Distanz zur<br />
schwierigen Situation. Er erzählt von Alkoholproblemen<br />
der Mutter und von der Gewalttätigkeit<br />
des Vaters.<br />
Frage<br />
Kann von Joel Lersch verlangt werden, dass<br />
er weiterhin bei seinen Eltern wohnt, oder<br />
soll ihm die Sozialhilfe eine andere Wohnform<br />
ermöglichen? Wenn ja, welche Kosten<br />
werden übernommen?<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />
und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />
Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />
(einloggen) SKOS-Line.<br />
Grundlagen<br />
Per 1. Januar 2016 sind die SKOS-Richtlinien<br />
angepasst worden. Seither gelten für<br />
junge Erwachsene, also Personen zwischen<br />
dem vollendeten 18. und dem vollendeten<br />
25. Altersjahr, besondere Empfehlungen<br />
bei den Wohnkosten (SKOS-Richtlinien,<br />
Kapitel B.4).<br />
Von jungen Erwachsenen ohne abgeschlossene<br />
Erstausbildung wird erwartet,<br />
dass sie bei ihren Eltern wohnen. Ist dies<br />
nicht möglich, beispielsweise wegen Vorfällen<br />
häuslicher Gewalt, hocheskalierten<br />
Konflikten, psychischer Erkrankung oder<br />
Verwahrlosung der Eltern, soll der Bezug<br />
einer anderen günstigen Wohngelegenheit<br />
(z.B. einer Wohngemeinschaft) ermöglicht<br />
werden. Ein eigener Haushalt wird nur in<br />
Ausnahmefällen gewährt. Solche sind beispielsweise<br />
bei bestimmten psychischen<br />
Erkrankungen (Angststörungen) gegeben<br />
oder wenn die Betroffenen schon eigene<br />
Kinder haben.<br />
Liegen die Voraussetzungen für einen<br />
eigenen Haushalt beziehungsweise das Leben<br />
in einer Wohngemeinschaft nicht vor,<br />
kann vor einem Auszug aus dem Elternhaus<br />
die Übernahme der Wohnkosten verweigert<br />
werden, womit die betroffene Person<br />
faktisch gezwungen ist, im elterlichen<br />
Haushalt wohnen zu bleiben.<br />
Antwort<br />
In der vorliegenden Situation ist zu prüfen,<br />
ob eine Rückkehr in den elterlichen Haushalt<br />
zumutbar ist. Der von Herrn Lersch<br />
geschilderte Konflikt und die sich daraus<br />
ergebende Lage sind genau zu klären und<br />
zu beurteilen. Mit Einverständnis des Betroffenen<br />
kann zu diesem Zweck auch ein<br />
klärendes Gespräch mit den Eltern oder<br />
dem Lehrbetrieb geführt werden. Falls bei<br />
Joel Lersch Anzeichen bestehen, dass die<br />
schwierige Situation seine Gesundheit beeinträchtigt,<br />
kann eine ärztliche Beurteilung<br />
(z.B. durch einen Psychiater) eingeholt<br />
werden.<br />
Eine Rückkehr zu den Eltern erscheint<br />
eher unwahrscheinlich. Die Gewalttätigkeit<br />
des Vaters und die Suchterkrankung<br />
der Mutter belasten Herrn Lersch erheblich<br />
und gefährden damit kurzfristig den<br />
Lehrabschluss, langfristig aber auch seine<br />
psychische Gesundheit. Beide Verläufe widersprechen<br />
den Zielsetzungen der Sozialhilfe<br />
und sind deshalb zu vermeiden.<br />
Wird die Rückkehr zu den Eltern als<br />
nicht zumutbar eingestuft, ist Joel Lersch<br />
schriftlich mitzuteilen, dass die Kosten für<br />
eine günstige Wohngelegenheit in einer<br />
Wohngemeinschaft übernommen werden<br />
und er eine solche suchen darf. Auch ein<br />
Wohnheim für Lernende kommt in Frage.<br />
Gleichzeitig ist auszuführen, welcher verbindliche<br />
Kostenrahmen für die Wohnkosten<br />
gilt. Es empfiehlt sich, Herrn Lersch<br />
bei der Wohnungssuche aktiv zu unterstützen,<br />
beispielsweise durch den Hinweis auf<br />
passende Wohngelegenheiten. Das Ausstellen<br />
einer Mietzinsbestätigung kann je<br />
nach Situation hilfreich sein.<br />
Für den vorläufigen Aufenthalt beim<br />
Kollegen ist ein Budget zu erstellen und<br />
zu klären, welche Kosten für die Mitbenützung<br />
der Wohnung übernommen werden.<br />
Der Lehrlingslohn (netto) sowie die Ausbildungszulage<br />
sind als Einnahmen anzurechnen.<br />
•<br />
Claudia Hänzi<br />
Präsidentin Kommission Richtlinien<br />
und Praxis der SKOS<br />
6 ZeSo 4/17
«Den Menschen eine Stimme geben»<br />
SKOS Die Leiterin des Berner Sozialamts Regula Unteregger und der Leiter des Zürcher Sozialamts<br />
Ruedi Hofstetter wurden im Mai 2004 in die Geschäftsleitung der SKOS gewählt. Nun treten sie nach<br />
über 13 Jahren gleichzeitig zurück. Beide haben die Arbeit der SKOS und die Entwicklung der SKOS-<br />
Richtlinien massgeblich mitgeprägt. Wir bedanken uns <strong>ganz</strong> herzlich für ihr grosses Engagement für<br />
die Sozialhilfe.<br />
<strong>ZESO</strong>: Sie haben beide seit vielen<br />
Jahren die Entwicklungen in der Sozialhilfe<br />
mitverfolgt und mitgestaltet.<br />
Welche positive Veränderung war für<br />
Sie die wichtigste ?<br />
Regula Unteregger: Entscheidend für<br />
die Finanzierung der Sozialwerke und der<br />
Sozialhilfe ist die Integration der Erwerbsfähigen<br />
in den Arbeitsmarkt. Die engere<br />
Zusammenarbeit von Sozialversicherungen,<br />
Bildung, Migration und Sozialhilfe<br />
(IIZ) war ein Meilenstein. Im Kanton<br />
Bern sind dank der IIZ zahlreiche Integrations-<br />
und Bildungsangebote entstanden.<br />
Ruedi Hofstetter: Vielleicht ist die<br />
wichtigste Veränderung gar keine Veränderung?<br />
Ich erachte es als grossen Erfolg,<br />
dass die SKOS-Richtlinien trotz massiver<br />
Angriffe weiterhin als Grundlage für die<br />
Bemessung der wirtschaftlichen und persönlichen<br />
Hilfe für sozial benachteiligte<br />
Menschen gelten.<br />
Welche war die schwierigste?<br />
Unteregger: Die aktuelle Entwicklung<br />
in der Sozialhilfe im Kanton Bern macht<br />
mir Sorgen. Ich habe in den letzten Jahren<br />
mehrere kritische Diskussionen im Kanton<br />
erlebt. Das Ziel war aber immer – direkt<br />
oder indirekt – innerhalb der SKOS<br />
Veränderungen zu bewirken. Bern hat die<br />
geltenden Richtlinien auch massgeblich<br />
mitgeprägt. Jetzt sucht man weitgehend<br />
den Alleingang.<br />
Hofstetter: Die überzeugende Argumentation<br />
auf die pauschalen und undifferenzierten<br />
Angriffe auf die Sozialhilfe und<br />
letztlich auf Menschen, denen es im Leben<br />
nicht so gut geht, erachte ich als herausfordernde<br />
und anspruchsvolle Aufgabe.<br />
Gab es so etwas wie einen persönlichen<br />
Leitgedanken, den Sie<br />
verfolgten und zu realisieren versuchten?<br />
Regula Unteregger<br />
«Die aktuelle Entwicklung<br />
in der Sozialhilfe im<br />
Kanton Bern macht mir<br />
Sorgen.»<br />
Ruedi Hofstetter<br />
«Ich wünsche mir eine<br />
lebendige, aktive Schweizerische<br />
Konferenz.»<br />
Unteregger: Wir brauchen ein tragfähiges<br />
unterstes soziales Netz, das von den<br />
Betroffenen je nach Möglichkeit eine angemessene<br />
Gegenleistung einfordert und<br />
finanzierbar ist. Die Politik soll über die<br />
langfristig sinnvolle Balance aufgrund von<br />
Zahlen und Fakten sowie im Wissen um<br />
die Lebensrealität der unter der Armutsgrenze<br />
lebenden Menschen entscheiden.<br />
Das war mein Ziel.<br />
Hofstetter: Ich habe mich, wenn immer<br />
möglich, für Menschen eingesetzt,<br />
die am Rand oder <strong>ganz</strong> unten in der gesellschaftlichen<br />
Hierarchie stehen. Es sind<br />
Menschen, die wegen ihrer Einschränkungen<br />
nicht oder nur ungenügend am<br />
gesellschaftlichen und sozialen Leben<br />
teilnehmen können. Es war mir immer ein<br />
wichtiges Anliegen, diesen Menschen eine<br />
Stimme zu geben und mit guten Rahmenbedingungen<br />
dafür zu sorgen, dass ihnen<br />
ein Leben in Würde und mit einem möglichst<br />
hohen Mass an Eigenverantwortung<br />
und Selbständigkeit möglich ist.<br />
Was wünschen Sie sich für die Zukunft<br />
in der Sozialhilfepolitik?<br />
Unteregger: Unsere Gesundheitskosten<br />
sind hoch und steigen immer weiter.<br />
Dieses Kostenrisiko ist für unsere Gesellschaft<br />
ungleich grösser als die Entwicklung<br />
der Sozialhilfekosten. Auch im Gesundheitswesen<br />
berappt vieles der Steuerzahler.<br />
Die Existenzsicherung hätte eine ebenso<br />
starke Lobby verdient. Jeder kann eines<br />
Tages auf Unterstützung angewiesen sein.<br />
Hofstetter: Ich wünsche mir eine lebendige,<br />
aktive Schweizerische Konferenz<br />
für Sozialhilfe, die sich der Diskussion um<br />
die Ausgestaltung der Sozialhilfe stellt und<br />
gemeinsam mit Kantonen und Gemeinden<br />
überzeugende Antworten für die Besserstellung<br />
von armutsbetroffenen Menschen<br />
findet. <br />
•<br />
4/17 ZeSo<br />
7
«Diese wenigen Fälle kann eine<br />
Gesellschaft mittragen.»<br />
INTERVIEW Der St. Galler Regierungspräsident und Vorsteher des Departements des Innern Martin<br />
Klöti ist seit 1. August Präsident der Sozialdirektoren. Bei der nächsten Reform der SKOS-Richtlinien<br />
wird er in dieser Funktion eine wichtige Rolle spielen.<br />
«<strong>ZESO</strong>»: Herr Klöti, Sie sind seit 1. August<br />
Präsident der SODK. Worin sehen<br />
Sie Ihre Hauptaufgabe der nächsten<br />
Jahre?<br />
Martin Klöti: Es stehen eine <strong>ganz</strong>e<br />
Reihe von Reformen an. Die Revision der<br />
Ergänzungsleistungen, die Weiterentwicklung<br />
der IV und die Neuaufgleisung der<br />
Altersvorsorge. Das sind zwar Bundesgesetzgebungen,<br />
aber mit grossen Implikationen<br />
auf die Kantone. Und es scheint mir<br />
auch von grosser Wichtigkeit, dass wir die<br />
Solidarität in der Bevölkerung und zwischen<br />
den Generationen stärken.<br />
Die SODK repräsentiert 26 sehr<br />
verschiedene Kantone und auch die<br />
Sozialdirektoren vertreten politisch<br />
ein breites Spektrum. Wie geht ein<br />
Präsident da vor?<br />
Es ist vor allem wichtig, dass man gut<br />
informiert und die Prozesse zeitlich sorgfältig<br />
plant. Man muss wissen, wann ein<br />
Geschäft reif ist und alle Fragen beantwortet<br />
sind. Am Schluss stimmen die 26<br />
Sozialdirektorinnen und -direktoren in der<br />
Plenarversammlung per Mehrheitsentscheid<br />
ab.<br />
Wo sehen Sie die grossen sozialpolitischen<br />
Herausforderungen für die<br />
SODK?<br />
Der Spardruck darf nicht auf dem Buckel<br />
von Personen in schwierigen Lebenslagen<br />
erfolgen. Leistungskürzungen bei<br />
den Sozialversicherungen können dazu<br />
führen, dass die betroffenen Menschen<br />
in die Sozialhilfe als letztes Auffangnetz<br />
fallen. Dies wiederum hat für die Kantone<br />
und Gemeinden Mehrkosten zur Folge.<br />
Das bestehende soziale Sicherungssystem<br />
gilt es zu bewahren. Es ist ein zentraler<br />
Pfeiler unserer Wohlfahrt. Auch die Wirtschaft<br />
profitiert massgeblich davon. Wir<br />
müssen aber die demografische Entwicklung<br />
abfedern, ohne das Leistungsniveau<br />
im sozialen Sicherungssystem zu gefährden.<br />
Weiter müssen wir den Kostendruck<br />
auf die Bedarfsleistungen dämpfen. Stichworte<br />
dazu sind: Alterung, Vereinbarkeit<br />
von Familie und Beruf, unbezahlte Care-<br />
Arbeit. Ein sehr wichtiges Thema bleibt<br />
die Frage der Integration von vorläufig<br />
Aufgenommenen und Flüchtlingen. Wir<br />
haben also viel zu tun.<br />
Die Ergänzungsleistungen zur AHV<br />
und IV sind zentrale Pfeiler der sozialen<br />
Sicherheit. Wie können diese<br />
langfristig gesichert werden?<br />
Dies ist ein zentrales Thema für die<br />
SODK. Denn der Kostendruck ist für die<br />
Kantone immens. Das vorliegende Reformpaket<br />
muss aus unserer Sicht nun<br />
rasch durchgebracht werden und darf<br />
nicht zusätzlich beschwert werden. Weitere<br />
Schritte sind sicher nötig, bedürften<br />
aber einer eingehenden Prüfung.<br />
Welche Schritte meinen Sie?<br />
Zum Beispiel die Entflechtung von EL<br />
und individueller Prämienverbilligung<br />
oder Fragen der Langzeitpflege. Grundsätzlich<br />
möchten wir Einsparungen erzielen,<br />
ohne das Niveau der Leistung für die<br />
Individuen senken zu müssen. Das ist gewiss<br />
keine einfache Aufgabe.<br />
Bundesrat Alain Berset hat die Diskussion<br />
des Neuanlaufs in der Altersvorsorge<br />
eröffnet. Welche Anliegen hat<br />
die SODK an die nächste Vorlage?<br />
Ich möchte unserer bevorstehenden<br />
Diskussion nicht vorgreifen. Nur soviel:<br />
Die SODK hatte die Vorlage Altersvorsorge<br />
2020 im Wissen unterstützt, dass es sich<br />
um einen Kompromiss handelt; für uns ist<br />
die Reform der Altersvorsorge respektive<br />
der Erhalt des Vorsorgesystems fundamental.<br />
Und die Reform muss schnell kommen.<br />
Es wäre fatal, jahrelang zu warten, bis<br />
der politische Druck immens wird.<br />
Ein wichtiges Thema der SODK ist die<br />
Kinder- und Jugendpolitik. 2016 wurden<br />
dazu Empfehlungen verabschiedet.<br />
Wo werden Sie Akzente setzen?<br />
Im Fokus steht sicher die UNO-Kinderrechtskonvention.<br />
Den Kindern und Jugendlichen<br />
gehört die Zukunft. Wir setzen<br />
uns dafür ein, dass sie gute und möglichst<br />
gleiche Startchancen bekommen und wir<br />
ihnen, wo nötig, zielgerichtet unter die<br />
Arme greifen.<br />
Die Behindertenpolitik ist ein weiteres<br />
zentrales Dossier der SODK: Welche<br />
Herausforderungen gibt es in diesem<br />
Bereich?<br />
Auch hier steht die Umsetzung einer<br />
UNO-Konvention im Vordergrund. Die<br />
knappen Ressourcen der Kantone und<br />
Gemeinden stellen dabei eine Herausforderung<br />
dar. Wir haben aber in diesem<br />
Jahr bereits Strukturen geschaffen, um die<br />
Behindertenpolitik gemeinsam mit dem<br />
Bund weiterzuentwickeln. Dabei geht es<br />
vor allem darum, Möglichkeiten zu schaffen,<br />
damit Menschen mit Behinderungen<br />
so wohnen können, wie sie sich das wünschen.<br />
Auch für Menschen mit Behinderung<br />
ist meist die Arbeitsintegration vorrangiges<br />
Ziel.<br />
Die Integration in den ersten Arbeitsmarkt<br />
von Menschen mit Behinderungen<br />
bleibt eine Hauptaufgabe. Dabei beobachten<br />
wir auch eine wachsende Zahl an Leuten<br />
mit psychischen Beeinträchtigungen.<br />
Sie sind zwar häufig sehr leistungsfähig,<br />
aber nicht zu jeder Zeit. Es ist mir wichtig,<br />
dass man für sie besondere Arbeitsbedingungen<br />
schafft. Es gibt in einigen<br />
Kantonen gute Projekte, die es auf andere<br />
8 ZeSo 4/17
Martin Klöti<br />
Der 63-jährige Martin Klöti ist seit 2012 in der<br />
St. Galler Regierung und steht dem Departement<br />
des Innern vor. Voraussichtlich bis 2020 wird er<br />
die SODK präsidieren. Klöti ist ein Politiker, der<br />
auch Tabus anpackt . Er sucht und findet dabei<br />
Lösungen auf der Grundlage eines reichen beruflichen<br />
und persönlichen Erfahrungsschatzes.<br />
So will Klöti in St. Gallen das Zusammenleben<br />
verschiedener Kulturen und Religionen stärken,<br />
indem Religionsgemeinschaften – auch die muslimische<br />
– eine kantonale Anerkennung erhalten.<br />
Auf diese Art, verspricht sich der FDP-Politiker,<br />
können diese näher an den Staat herangeholt<br />
werden. Er erhält bisher allerdings noch wenig<br />
politische Unterstützung.<br />
<br />
Bilder: Palma Fiacco<br />
Kantone zu übertragen gilt. Zentral ist eine<br />
enge Zusammenarbeit mit der Wirtschaft.<br />
Allerdings gilt dasselbe auch für Personen<br />
aus der Sozialhilfe und oder mit Migrationshintergrund.<br />
In Anbetracht der sinkenden<br />
Zahl an niederschwelligen Arbeitsplätzen<br />
akzentuiert sich hier eine gewisse<br />
Konkurrenzsituation.<br />
Die SODK hat sich in den letzten Jahren<br />
mit dem Bund im Nationalen Pro-<br />
gramm Armut engagiert. Welches sind<br />
für Sie die wichtigsten Erkenntnisse<br />
daraus und wie soll es weitergehen?<br />
Dank dem Armutsprogramm konnten<br />
neue Erkenntnisse gewonnen und zahlreiche<br />
Hilfsinstrumente für Fachpersonen<br />
geschaffen werden. Gewonnen ist damit<br />
natürlich noch nicht viel, insbesondere für<br />
die Betroffenen nicht. Die Arbeiten haben<br />
jedoch gezeigt, dass ein grosses Engagement<br />
auf vielen Ebenen vorhanden ist und<br />
das Zusammenwirken der politischen Ebenen<br />
und der Fachebenen gut funktioniert<br />
und gewinnbringend ist. Armutsprävention<br />
und -bekämpfung ist eine Querschnittsaufgabe<br />
und muss eine Hauptaufgabe aller<br />
staatlichen Ebenen bleiben.<br />
2015 /2016 hat die SODK zum ersten<br />
Mal die SKOS-Richtlinien formal<br />
genehmigt. Welche Bedeutung kommt<br />
diesem Schritt zu?<br />
Die SKOS-Richtlinien haben einen hohen<br />
Stellenwert für die Kantone. Mit dem<br />
neu aufgegleisten Prozess und der Verabschiedung<br />
der politisch relevanten Punkte<br />
durch die SODK haben sie nochmals an<br />
Akzeptanz und Verbindlichkeit gewonnen.<br />
Was bedeutet es, wenn einzelne Kantone<br />
von den Richtlinien abweichen?<br />
Aktuelles Beispiel ist die Vorlage im<br />
Kanton Bern.<br />
Mit der 1. und 2. Etappe der SKOS-<br />
Richtlinienreform hat man gezielt Verbesserungen<br />
bzw. Kürzungen angesetzt,<br />
dort wo sie sozialpolitisch vertretbar sind.<br />
Die grosse Mehrheit der Kantone wendet<br />
die SKOS-Richtlinien an und setzt auch<br />
die beiden Revisionsschritte um, was zur<br />
Harmonisierung des Systems beiträgt. Darüber<br />
sind wir froh. Zur Sozialhilfegesetzgebung<br />
oder Entwicklungen in einzelnen<br />
Kantonen äussert sich die SODK nicht. Es<br />
werden wohl nie alle Kantone genau das<br />
gleiche machen.<br />
Was würde ein Bundesrahmengesetz<br />
in der Sozialhilfe bringen?<br />
Die Sozialhilfe ist historisch am wenigsten<br />
reguliert; eine höhere Regulierung<br />
würde die Verbindlichkeit stärken und die <br />
4/17 ZeSo<br />
9
«Zentral ist eine frühzeitige Erfassung und Begleitung von<br />
Personen, bei denen die Gefahr besteht, dass sie keinen Zugang<br />
zum Arbeitsmarkt finden bzw. den Anschluss verlieren.»<br />
<br />
Harmonisierung verbessern. Es gäbe eine<br />
einheitliche Anwendung von Minimalstandards.<br />
Die SODK hat sich in den letzten<br />
Jahren aber klar gegen ein Rahmengesetz<br />
ausgesprochen. Aus politischer Sicht<br />
kommt es für uns momentan nicht in Frage.<br />
Denn es geht nicht, dass der Bund ohne<br />
Mitfinanzierung neu eine Kernaufgabe der<br />
Kantone steuern würde; es würden zudem<br />
nur Minimalstandards festgelegt – folglich<br />
bestünde nur eine eingeschränkte Harmonisierung.<br />
Es bestünde die Gefahr einer<br />
Nivellierung gegen unten. Und schliesslich<br />
wären Anpassungen nur über einen schwerfälligen<br />
und langwierigen Prozess möglich.<br />
Sehen Sie bei der Sozialhilfe Reformbedarf?<br />
Die Sozialhilfe ist ein <strong>ganz</strong> entscheidendes<br />
Element der sozialen Sicherheit.<br />
Längst geht sie über ihren eigentlichen<br />
Wirkungskreis hinaus, nämlich Personen<br />
in Notlagen vorübergehend zu unterstützen.<br />
Dies bedingt eine stete Weiterentwicklung<br />
und Stärkung der Sozialhilfe und<br />
damit der SKOS-Richtlinien. Ich möchte<br />
in der Sozialhilfe aber nicht nur über<br />
Geld reden. Absolut zentral ist die Sozialberatung.<br />
Das ist für mich überhaupt die<br />
wichtigste Arbeit, die auf den Gemeinden<br />
gemacht wird. Wir brauchen dort Leute,<br />
die besondere Wege finden können, um<br />
die Betroffenen zu unterstützen. Ich habe<br />
in den Gemeinden viele Sozialarbeiter<br />
kennengelernt, die absolut hervorragende<br />
Arbeit leisten.<br />
Integration ist ein allgegenwärtiges<br />
Thema. Tun Gemeinden und Kantone<br />
genug?<br />
Die Integrationsbestrebungen der<br />
Kantone und Gemeinden sind enorm.<br />
Die Wirtschaft braucht qualifizierte Arbeitskräfte,<br />
die Anzahl der Arbeitsplätze<br />
für Schlechtqualifizierte sinkt dagegen<br />
tendenziell. Zentral ist eine frühzeitige Erfassung<br />
und Begleitung von Personen, bei<br />
denen die Gefahr besteht, dass sie keinen<br />
Zugang zum Arbeitsmarkt finden bzw. den<br />
Anschluss verlieren. Dies ist erkannt und<br />
wird von Kantonen und Gemeinden umgesetzt.<br />
Ohne gezielte Integrationsmassnahmen<br />
und die dazu nötigen Mittel beispielsweise<br />
für Nachholbildung wird dies aber<br />
nicht gelingen. Entscheidend wird sein,<br />
wie viel Geld für konkrete Integrationsprojekte<br />
bereitgestellt wird. Zudem muss<br />
man sich bewusst sein, dass nur ein Teil<br />
der Sozialhilfebeziehenden überhaupt integriert<br />
werden kann. Viele – zum Beispiel<br />
ältere oder traumatisierte Personen – sind<br />
nur partiell oder auf langwierigem Weg<br />
integrierbar. Diese Personen können an<br />
Beschäftigungsprogrammen teilnehmen,<br />
um die soziale Integration zu begünstigen,<br />
denn die Teilhabe am gesellschaftlichen<br />
Leben ist wesentlich. Diese wenigen Fälle<br />
kann eine Gesellschaft mittragen. Früher<br />
waren eben manche Unternehmen bereit,<br />
solche Angestellten mitzutragen. Heute ist<br />
das nicht mehr so. Diese Stellen wurden<br />
gestrichen. Eine Folge des Effizienzwahns.<br />
10 ZeSo 4/17
Wie sieht es bei der Integration von<br />
Migrantinnen und Migranten in den<br />
Arbeitsmarkt aus? Werden die bisher<br />
unternommenen Schritte ausreichen?<br />
Das Problem ist auch hier, dass viele<br />
niedrigqualifizierte Arbeitsplätze ins Ausland<br />
wandern. Es braucht also Investitionen<br />
in die Bildung. Die Integrationspauschalen<br />
des Bundes belaufen sich zur Zeit<br />
auf 6000 Franken. Wir verhandeln nun<br />
mit Bundesrätin Sommaruga über die<br />
Höhe, denn wir wollen, dass die Pauschale<br />
auf 18000 erhöht wird. Dazu brauchen<br />
wir zunächst eine Integrationsagenda,<br />
denn der Bund will Klarheit darüber, wofür<br />
die Kantone die Integrationspauschalen<br />
einsetzen werden. Wichtig ist aber immer<br />
auch, dass Unternehmer Unterstützung<br />
leisten, dass Arbeitgeber ihre Angestellten<br />
fördern und sie ermutigen, Sprachkurse zu<br />
machen und sie dafür freistellen. Ein sehr<br />
einfaches positives Beispiel ist für mich<br />
Tibits. Die Angestellten aus 80 Nationen,<br />
die bei der Restaurantkette angestellt sind,<br />
müssen untereinander Deutsch und nicht<br />
Englisch oder Spanisch sprechen. Solche<br />
Ansätze finde ich interessant. Generell<br />
lohnen sich Massnahmen zur Bildung und<br />
Prävention immer.<br />
Welchen Bezug haben Sie zum Thema<br />
Armut?<br />
Ich bin froh, nie von Armut betroffen<br />
gewesen zu sein. Ich habe aber vor allem<br />
ein sehr reiches Leben an Erfahrungen<br />
und an Menschen, die ich kennengelernt<br />
habe.<br />
Wenn man Ihren Werdegang liest,<br />
kommt man aus dem Staunen nicht<br />
mehr raus. Sie sind Lehrer, studierter<br />
Landwirtschaftsarchitekt, züchteten<br />
Angusrinder, waren Miteigentümer einer<br />
lukrativen Lachsräucherei, haben<br />
ein Hotel geführt und sind Präsident<br />
der Aidshilfe Schweiz, um nur ein paar<br />
Stichworte zu nennen. Wie prägt dieser<br />
vielfältige Hintergrund Ihren Blick<br />
auf die Sozialpolitik?<br />
Ich schätze mich glücklich, dass ich immer<br />
die Gelegenheit und die Freiheit hatte,<br />
Dinge zu tun, die mich interessiert und die<br />
der Zeit entsprochen haben. In der Schweiz<br />
ist verdächtig, wer keiner klar erkennbaren<br />
Karriere folgt. Dabei glaubt man mit viel<br />
Wissen und Ausbildung könne man Erfahrung<br />
kompensieren. Das stimmt aber<br />
nicht. Ich hatte mit Landwirten, Hotelangestellten<br />
etc. zu tun und habe Menschen<br />
aus aller Herren Länder kennengelernt. Als<br />
Politiker habe ich so die Möglichkeit, näher<br />
an die Menschen heranzukommen, nicht<br />
um ihnen nach dem Mund zu reden, sondern<br />
um zu hören, was sie denken.<br />
Wie kommt man als junger Lehrer von<br />
der Goldküste dazu, Angusrinder zu<br />
züchten?<br />
Das war der Traum der 70er Jahre, autonom<br />
zu sein, zu wissen, was es braucht,<br />
bis ein Stück Fleisch auf dem Teller liegt.<br />
Wir kauften den Bauernhof nicht wegen<br />
der schönen Wohnlage, sondern weil wir<br />
es schaffen wollten, ihn erfolgreich zu bewirtschaften<br />
mit unseren Angus-Rindern,<br />
Freiland-Hühnern und Lämmern. Ich besorgte<br />
morgens die Ställe und ging dann<br />
unterrichten, an einer Mehrklassenschule.<br />
Als Lehrer hatte ich auch Kontakt mit Familien,<br />
denen es nicht gut ging. Wir hatten<br />
auch auf dem Bauernhof eine Hilfskraft,<br />
die Alkoholiker war, die keine Mittel hatte<br />
und die wir stützen mussten. Unser Bewirtschaftungskonzept<br />
führte aber nicht zu<br />
einem «break even» und so sind wir in die<br />
Lachsräucherei eingestiegen. Dabei habe<br />
ich wieder sehr viel gelernt, gearbeitet,<br />
wieder dazu gelernt und wieder gearbeitet.<br />
Ich hätte mich nach dem Verkauf meiner<br />
Anteile an der Lachsräucherei aufs Whiskeytasting<br />
und Golfspielen beschränken<br />
können, aber ich beschloss, mit 40 noch<br />
Landschaftsarchitektur zu studieren. Ich<br />
habe einfach immer wieder Lust, etwas zu<br />
tun, auch in der Politik – und dies auch,<br />
wenn mich meine Partei nicht immer trägt.<br />
Sie haben mal gesagt, Sie bestellen<br />
gerne neue Felder, Sie arbeiten hart,<br />
bis der Erfolg sich einstellt – beides ist<br />
in der Sozialpolitik eher schwierig. Die<br />
Sozialpolitik ist ein sehr intensiv bearbeitetes<br />
Feld, auf dem Erfolge eher<br />
selten geerntet werden können.<br />
Ich denke schon, dass man in der Sozialpolitik<br />
etwas bewirken kann. Wenn das Klima<br />
unter den Kantonen und mit dem Bund<br />
gut ist, dann kann man etwas bewegen.<br />
Und ich denke, ein gutes Klima zu schaffen,<br />
das ist etwas, was ich gut kann. •<br />
Das Gespräch führte<br />
Ingrid Hess<br />
4/17 ZeSo<br />
11
12 ZeSo 4/17 SCHWERPUNKT<br />
Bild: Keystone
Bildung Statt beschäftigung<br />
Bildung statt Beschäftigung<br />
in der Sozialhilfe<br />
50 Prozent der Sozialhilfebeziehenden haben keinen<br />
Berufsabschluss. Der Erwerb von Grundkompetenzen,<br />
Nachholbildung und Weiterbildung ist für ihre Integration zentral,<br />
denn Geringqualifizierte haben es in der Schweiz schwer auf<br />
dem Arbeitsmarkt. Ihre Chancen haben in den letzten Jahren<br />
noch deutlich abgenommen. Erfolgreiche Pilotprojekte gibt<br />
es beispielsweise in den Kantonen Basel-Stadt und Bern.<br />
Darüber hinaus ist aber ein Umdenken in der Sozialhilfe und im<br />
Bildungssystem nötig, wie die Beiträge des Schwerpunktes zeigen.<br />
SCHWERPUNKT<br />
14 Mit Bildung die Chancen von Sozialhilfebeziehenden erhöhen<br />
17 Von der Sozialhilfe in die Ausbildung<br />
19 Zweite Chance auf Erstausbildung – unabhängig vom Alter<br />
20 Bildungsmassnahmen auf den ersten Arbeitsmarkt ausrichten<br />
22 Die Betroffenen finden den Weg in einen Kurs meistens nicht selbst – nachgefragt bei Brigitte Aschwanden<br />
24 Wie Betriebe Mitarbeitende ohne Berufsabschluss fördern können<br />
SCHWERPUNKT 4/17 ZeSo<br />
Mit Bildung die Chancen von<br />
Sozialhilfebeziehenden erhöhen<br />
Bildung ist in der Schweiz der entscheidende Faktor für die berufliche Integration. Um die Chancen<br />
von Sozialhilfebeziehenden zu erhöhen, muss daher vermehrt in ihre Bildung investiert werden.<br />
Notwendig sind Weiterbildungsmassnahmen nahe am regulären Arbeitsmarkt sowie Anpassungen<br />
im Bildungssystem und Stipendienwesen.<br />
Das Ausbildungsniveau der Gesamtbevölkerung der Schweiz ist in<br />
den letzten Jahren deutlich gestiegen und der Anteil der Personen<br />
ohne Bildungsabschluss gesunken. Bei Personen in der Sozialhilfe<br />
stagniert das Ausbildungsniveau jedoch auf tiefem Niveau. Insbesondere<br />
der Anteil der Sozialhilfebeziehenden ohne Berufsbildung<br />
verharrt bei 50 Prozent. Eine Integration von Personen mit<br />
geringen Qualifikationen in den Arbeitsmarkt ist zunehmend problematisch.<br />
Bereits in den 90er Jahren lag die Erwerbslosenquote<br />
von Niedrigqualifizierten klar über dem Durchschnitt. Seit 2011<br />
steigt sie bei Niedrigqualifizierten jedoch deutlich stärker an als<br />
bei Personen mit Berufsbildung. 2016 war die Erwerbslosenquote<br />
von Niedrigqualifizierten mit knapp 9 Prozent mehr als doppelt<br />
so hoch wie die entsprechende Quote von Personen mit einem Abschluss<br />
auf der Sekundarstufe II oder der Tertiärstufe.<br />
Diese Entwicklung ist eine Folge des strukturellen Wandels<br />
des Arbeitsmarktes. Durch den technischen Fortschritt und die<br />
Tertiarisierung der Wirtschaft haben Personen mit geringen Qualifikationen<br />
immer mehr Mühe, sich im Erwerbsleben zu behaupten<br />
und bei einem Verlust der Arbeitsstelle innert nützlicher Frist<br />
eine neue Anstellung zu finden. Auch wenn im Bereich der individuellen<br />
Dienstleistungen (z.B. Pflege, Reinigung, Lieferdienste)<br />
zusätzliche Arbeitsplätze für Personen ohne Berufsbildung entstehen,<br />
lässt die Nachfrage nach Ungelernten insgesamt stark<br />
nach. Zudem steigen auch in diesen Stellen die Anforderungen<br />
bezüglich IKT-Kompetenzen und Kenntnisse der Schriftsprache.<br />
Dies bestätigt eine Umfrage des Schweizerischen Dachverbandes<br />
für Lesen und Schreiben. Der Anteil der Kursteilnehmenden, die<br />
angeben, dass ihre Lese- und Schreibkompetenz im beruflichen<br />
Alltag nicht genügen, ist zwischen 2007 und 2015 von 30 auf<br />
62 Prozent gestiegen.<br />
Die SKOS unterscheidet drei verschiedene Kompetenzen, die<br />
mit Blick auf die berufliche und soziale Integration von entscheidender<br />
Bedeutung sind:<br />
• Grundkompetenzen umfassen das Lesen und Schreiben sowie<br />
die mündliche Ausdrucksfähigkeit in einer lokalen Landessprache,<br />
Alltagsmathematik und das Beherrschen von Informations-<br />
und Kommunikationstechnologien. Grundkompetenzen<br />
bilden die Grundlage für den Aufbau aller weiteren Kompetenzen<br />
und sind daher eine zwingende Voraussetzung für eine<br />
weiterführende Qualifikation.<br />
• Alltagskompetenzen sind erforderlich für die Bewältigung des<br />
persönlichen Alltags. Dazu zählen beispielsweise die Erledigung<br />
administrativer Aufgaben, der Umgang mit Geld oder das<br />
Führen eines eigenen Haushalts.<br />
• Arbeitsmarktliche Schlüsselkompetenzen sind zentral zur Bewältigung<br />
der allgemeinen Herausforderungen des beruflichen<br />
Alltags. Darunter fallen beispielsweise Planungs- und Organisationsfähigkeit,<br />
Lösungs- und Entscheidungsfähigkeit. Aus-<br />
In drei Stufen zur berufliche Qualifizierung<br />
Um die Arbeitsmarktchancen von Sozialhilfebeziehenden zu erhöhen<br />
und auch um die gesellschaftliche Teilhabe zu verbessern,<br />
muss in ihre Bildung investiert werden. Die bisherigen Anstrengungen<br />
reichen nicht aus. Eine Umfrage, die die SKOS bei 660<br />
Sozialdiensten durchgeführt hat, zeigt, dass es heute vor allem an<br />
Angeboten zur Förderung von Grund-, Alltags- und arbeitsmarktlichen<br />
Schlüsselkompetenzen und solchen zur beruflichen Qualifizierung<br />
fehlt. Diese sind jedoch Voraussetzung, um sich weitebilden<br />
zu können.<br />
Qualifizierung beginnt mit Grundkompetenzen.<br />
Bild: Daniel Desborough<br />
14 ZeSo 4/17 SCHWERPUNKT
Bildung statt Beschäftigung<br />
dauer, Belastbarkeit, Kreativität, Konfliktfähigkeit, Höflichkeit<br />
oder Toleranz.<br />
Das Weiterbildungsgesetz hat eine neue Förderstruktur im Bereich<br />
Grundkompetenzen geschaffen. Diese überlässt es jedoch<br />
der Initiative der Kantone, ob und wie viel sie in die Förderung<br />
der Grundkompetenzen investieren. Der Kantonsbetrag wird vom<br />
Bund verdoppelt. Der in der Periode <strong>2017</strong>-2020 im Rahmen des<br />
Bundeskredits für Bildung, Forschung und Innovation vorgesehene<br />
Betrag ist äusserst bescheiden und wird dem eigentlichen<br />
Förderbedarf nicht gerecht.<br />
Es ist nötig, dass Sozialhilfebeziehende, ausgehend von ihren<br />
individuellen Kompetenzen und Möglichkeiten, fokussiert weitergebildet<br />
werden.<br />
Die Förderung muss auf einem dreistufigen Modell der Qualifizierung<br />
beruhen:<br />
1) Sozialhilfebeziehende erwerben umfassende Grund-, Schlüssel-<br />
und Alltagskompetenzen. Damit fördern sie ihre Teilhabe<br />
an der Gesellschaft und legen die Basis für die weitere Qualifizierung.<br />
2) Sie erwerben niederschwellige berufliche Qualifikationen.<br />
Damit verbessern sie ihre Chance auf dem Arbeitsmarkt und<br />
legen die Basis für die berufliche Grundbildung.<br />
3) Sie durchlaufen eine berufliche Grundbildung (EBA oder<br />
EFZ). Damit erhöhen sie ihre Chance auf dem Arbeitsmarkt<br />
erheblich und sie erlangen die Grundlage, mit Veränderungen<br />
im Berufsleben Schritt halten zu können.<br />
Die Bildungskosten müssen vom Bildungswesen getragen und<br />
die Lebenshaltungskosten über Stipendien finanziert werden.<br />
Die Sozialhilfe soll lediglich die nicht anderweitig finanzierbare<br />
Lebenshaltung übernehmen. Dies hat auch zur Folge, dass die<br />
betroffenen Personen auf ihrem Qualifizierungsweg nicht primär<br />
Sozialhilfebeziehende, sondern Lernende sind. Die Sozialdienste<br />
und Sozialämter stellen ihren Bildungsbedarf fest, suchen mit ihnen<br />
geeignete Angebote und sind Begleiter auf dem Bildungsweg.<br />
Die Bildungsarbeit findet jedoch im Bildungswesen statt. Dies<br />
bedingt sowohl einen Paradigmenwechsel in der Sozialhilfe wie<br />
auch im Bildungssystem.<br />
Paradigmenwechsel in der Sozialhilfe<br />
Die Sozialhilfe hat neben der Existenzsicherung den Auftrag, die<br />
berufliche und soziale Integration bedürftiger Menschen zu gewährleisten.<br />
Dies ist insbesondere für Menschen zentral, die über<br />
längere Zeit auf Sozialhilfe angewiesen sind. Wenn sich die berufliche<br />
Integration in den regulären Arbeitsmarkt als unmittelbar<br />
schwierig erweist, werden Sozialhilfebeziehende oft in Angebote<br />
des zweiten Arbeitsmarktes gewiesen. Theoretisch dienen diese als<br />
Sprungbrett für den regulären Arbeitsmarkt. In Wirklichkeit erweisen<br />
sie sich oft als langfristige Lösung ohne Perspektive, weil<br />
die Massnahmen nicht in ein individuell zugeschnittenes Bildungsprogramm<br />
mit entsprechender Begleitung (Coaching) eingebettet<br />
sind.<br />
Daher ist in der Sozialhilfe ein Paradigmenwechsel notwendig.<br />
Mit «Bildung statt Beschäftigung» ist gemeint, dass die Sozialhilfebeziehenden<br />
nahe am regulären Arbeitsmarkt weitergebildet<br />
statt im zweiten Arbeitsmarkt beschäftigt werden müssen. Dies<br />
gilt nicht erst für die berufliche Qualifizierung oder Berufsbildung,<br />
sondern bereits für das Erlernen der Grund-, Schlüsselund<br />
Alltagskompetenzen. Eine solch zielgerichtete und begleitete<br />
Bildung ist die Voraussetzung für die berufliche und gesellschaftliche<br />
Integration.<br />
SCHWERPUNKT 4/17 ZeSo<br />
15<br />
Künftig soll die Stärkung der Bildung von ungenügend qualifizierten<br />
Bezügerinnen und Bezügern in vier Schritten erfolgen:<br />
1) Am Anfang steht eine fundierte Abklärung der individuellen<br />
Fähigkeiten und Fertigkeiten einschliesslich der Grund-,<br />
Schlüssel- und Alltagskompetenzen (Assessment).<br />
Finanzierung von Aus- und Weiterbildung<br />
durch die Sozialhilfe<br />
Die Sozialhilfe dient der Existenzsicherung und kann daher – subsidiär<br />
zu anderen Finanzierungsquellen – den Lebensunterhalt<br />
während einer Aus- oder Weiterbildung sichern. Eine umfassende<br />
Förderung ist jedoch aufgrund der aktuellen SKOS-Richtlinien nicht<br />
vorgesehen.<br />
Erstausbildung bei Volljährigen (H.6)<br />
Eine Erstausbildung fällt grundsätzlich in die Unterhaltspflicht<br />
der Eltern. Diese Unterhaltspflicht besteht auch dann, wenn eine<br />
volljährige Person ohne angemessene Ausbildung ist (Art. 277 Abs.2<br />
ZGB). Kann den Eltern nicht zugemutet werden, für Unterhalt und<br />
Ausbildung ihres volljährigen Kindes aufzukommen, und reichen die<br />
Einnahmen (Lohn, Stipendien, Beiträge aus Fonds und Stiftungen<br />
usw.) nicht aus, um den Unterhalt und die ausbildungsspezifischen<br />
Auslagen zu decken, kann die Sozialbehörde eine ergänzende Unterstützung<br />
ausrichten.<br />
Zweitausbildung und Umschulung (H.6)<br />
Beiträge an eine Zweitausbildung oder Umschulung können nur geleistet<br />
werden, wenn mit der Erstausbildung kein existenzsicherndes<br />
Einkommen erzielt werden kann und wenn dieses Ziel voraussichtlich<br />
mit der Zweitausbildung oder Umschulung erreicht wird. Ebenso<br />
ist eine Zweitausbildung oder Umschulung zu unterstützen, sofern<br />
damit die Vermittlungsfähigkeit der betroffenen Person steigt.<br />
Fort- und Weiterbildung (H.6)<br />
Die Kosten von beruflichen Fort- und Weiterbildungsmassnahmen<br />
sowie von persönlichkeitsbildenden Kursen können im individuellen<br />
Unterstützungsbudget berücksichtigt werden, wenn diese zur<br />
Erhaltung bzw. zur Förderung der beruflichen Qualifikation oder der<br />
sozialen Kompetenzen beitragen.<br />
Situationsbedingte Leistungen (C.1.2.)<br />
Die im Zusammenhang mit Schul-, Kurs- oder Ausbildungsbesuch<br />
entstehenden Kosten werden nach SKOS-Richtlinien über die SIL<br />
finanziert, soweit sie nicht im Grundbedarf enthalten sind oder über<br />
Stipendien gedeckt werden können.<br />
Kantonale Programme<br />
Derzeit ist es nur in wenigen Kantonen möglich, einen Berufsabschluss<br />
über die Sozialhilfe nachzuholen. Eine Vorreiterrolle nimmt<br />
der Kanton Waadt mit seinen Programmen FORJAD und FORMAD<br />
ein, die erwachsenen Sozialhilfebeziehenden ermöglichen, eine<br />
berufliche Grundbildung zu erlangen. Dabei werden sie bei ihrer Ausbildung<br />
jedoch nicht durch die Sozialhilfe, sondern durch Stipendien<br />
unterstützt. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt der Kanton Basel-Stadt<br />
mit dem Projekt «Enter» (vgl. <strong>ZESO</strong>-Artikel S.17-18).<br />
2) Aufgrund der Abklärung bestimmen die Betroffenen, von Fachleuten<br />
beraten und begleitet, ihr eigenes Bildungsziel. Dieses<br />
kann über mehrere Stufen zu erreichen sein. Zielbezogen wird<br />
so ein individueller Bildungsplan erstellt.<br />
3) Anhand des Bildungsplans suchen die Betroffenen mit Unterstützung<br />
von Fachpersonen das geeignete Bildungsangebot.<br />
Der zuständige Sozialdienst hilft beim Aufstellen des Budgets<br />
und der Absprache mit der Stipendien-Stelle.<br />
4) Die betroffene Person wird auf dem gesamten Bildungsweg begleitet,<br />
gecoacht und gefördert. Die Verantwortung bleibt bei<br />
der Sozialhilfe, bis das Bildungsziel erreicht ist und ein Einstieg<br />
in die Arbeitswelt erfolgt.<br />
Paradigmenwechsel im Bildungssystem<br />
Das Bildungssystem ist heute auf Personen ausgerichtet, welche<br />
die obligatorische Schule erfolgreich absolvieren, anschliessend in<br />
jungen Jahren eine Berufsausbildung abschliessen und im Verlauf<br />
des Berufslebens allenfalls berufsbegleitende Weiterbildungen besuchen.<br />
Sie erwerben in der Volksschule die Grundkompetenzen,<br />
in der beruflichen Grundbildung die nötigen Fähigkeiten und Fertigkeiten<br />
für die Arbeitswelt und damit die Voraussetzungen, mit<br />
deren laufenden Veränderungen Schritt zu halten.<br />
Das Bildungssystem ist in der Sekundarstufe II und auf der<br />
Tertiärstufe hochgradig durchlässig sowie verflochten. Es weist jedoch<br />
zwei Mängel auf: Ohne Grund-, Schlüssel- und Alltagskompetenzen<br />
– die in der Regel im Alter von 16 Jahren erworben sein<br />
sollten – fehlen elementare Voraussetzungen für den Weg in die<br />
Arbeitswelt, aber auch in weitere Bildungsbereiche. Und je älter jemand<br />
ist, desto schwieriger wird es, offene Bildungswege zu gehen.<br />
Für immer mehr Personen verläuft die Lern- und Erwerbsbiografie<br />
nicht mehr linear. Diese Personen haben es im heutigen System<br />
schwer, sich im Erwachsenenalter beruflich zu qualifizieren<br />
oder gar einen Lehrabschluss (EFZ) nachzuholen.<br />
Dies muss sich ändern:<br />
• Es braucht mehr Weiterbildungsangebote zum Erwerb der<br />
Grund-, Alltags- und arbeitsmarktlichen Schlüsselkompetenzen.<br />
• Anerkannte Bildungsmöglichkeiten unterhalb des EBA und<br />
EFZ-Niveaus müssen erweitert und die bestehenden Wege der<br />
Berufsbildung durch modular aufgebaute berufsbegleitende<br />
Qualifizierungskurse ergänzt werden.<br />
• Die Anspruchskriterien für Stipendien müssen angepasst werden.<br />
Auch Absolventen von Lehrgängen unterhalb des EFZund<br />
EBA-Niveaus müssen ohne Altersgrenze Anspruch auf bedarfsgerechte<br />
und existenzsichernde Beihilfen haben.<br />
Wichtig ist, dass die neu aufzubauenden oder auszuweitenden<br />
Bildungsangebote aller Art örtlich zusammengefasst, einer bestehenden<br />
Bildungseinrichtung eingegliedert oder angeschlossen<br />
werden und sichtbar sind. Es ist keine Strafe und keine Schande,<br />
sich zu bilden, egal in welchem Alter und auf welchem Niveau –<br />
es ist eine Leistung, für das Individuum, die Gesellschaft und die<br />
Wirtschaft. <br />
•<br />
Bettina Seebeck<br />
Fachbereich Grundlagen der SKOS<br />
16 ZeSo 4/17 SCHWERPUNKT
Bildung statt beschäftigung<br />
«Enter» unterstützt Erwachsene bei der Suche nach einem geeigneten Ausbildungsplatz. <br />
Von der Sozialhilfe in die Ausbildung<br />
Bild: Keystone<br />
Das Projekt «Enter» verhilft Sozialhilfebeziehende im Alter von 25 bis 40 Jahren im Kanton Basel-<br />
Stadt zu einer Berufsausbildung und führt sie zurück in den Arbeitsmarkt. Die Begleitung, Beratung<br />
und Organisation der materiellen Sicherung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer übernimmt dabei<br />
das Bildungssystem.<br />
Erwachsene Menschen ohne nachobligatorischen Abschluss arbeiten<br />
sehr oft in Tieflohnstellen und instabilen Arbeitssituationen.<br />
Ihre Integration in den Arbeitsmarkt ist prekärer und sie werden<br />
häufiger erwerbslos und sind deshalb auf Sozialleistungen angewiesen.<br />
Hinzu kommt, dass Personen ohne Berufsabschluss nur<br />
begrenzt Anschluss an Weiterbildungsmöglichkeiten haben und<br />
deshalb oft nicht mit den sich verändernden Anforderungen des<br />
Arbeitsmarktes Schritt halten können. Im Kanton Basel-Stadt besteht<br />
seit längerem ein grosses Engagement, um Jugendliche und<br />
junge Erwachsene beim Erlangen eines Berufsabschlusses zu unterstützen<br />
und die Jugendarbeitslosigkeit zu verringern. 2013 erarbeitete<br />
eine interdepartementale Projektgruppe mit Vertretern<br />
der Wirtschaft ein Konzept für Erwachsene ohne Bildungsabschluss<br />
aus, das auf eine Win-win-Strategie abzielt. Bildungspolitisch<br />
wird das Ziel verfolgt, die Anzahl Menschen mit einer nachobligatorischen<br />
Ausbildung im Sekundarbereich II zu erhöhen.<br />
Sozialpolitisch wird das Paradigma «Arbeit vor Bildung» der Sozialhilfe<br />
teilweise aufgebrochen und Menschen aus der Sozialhilfe<br />
eine weiterführende Perspektive geboten. Der Regierungsrat des<br />
Kantons Basel-Stadt beschloss 2014 das Pilotprojekt «Enter» umzusetzen.<br />
Die Innovation von «Enter» besteht aus dem Transfer der Teilnehmenden<br />
von der Sozialhilfe in das Bildungssystem. Das Projekt<br />
fokussiert auf Menschen der Sozialhilfe im Alter zwischen 25 und<br />
40 Jahre, die über keinen anerkannten Berufsabschluss verfügen<br />
und motiviert sind, diesen nachzuholen. Damit sollen Sie nachhaltig<br />
in den Arbeitsmarkt integriert werden. Es wurde ein Phasenmodell<br />
entwickelt, das primär von der Nutzung der bestehenden<br />
kantonalen Berufsbildungsstrukturen ausgeht. In einer ersten<br />
Phase wird die Zielgruppe systematisch aus der Sozialhilfe selektioniert<br />
und an die Berufsberatung zur Entwicklung einer individuellen<br />
Berufsbildungsstrategie weitergeleitet. Danach wird mit Unterstützung<br />
der Ausbildungsvermittlung des Gewerbeverbandes<br />
ein entsprechender Ausbildungsplatz gesucht. Nach erfolgter Akquisition<br />
der Lehrstellen und Beginn der Ausbildungen findet der<br />
Transfer der Teilnehmenden vom Sozial- in das Bildungssystem<br />
statt. Die psychosoziale Betreuung sowie die Sicherung der materiellen<br />
Existenz werden vom Bildungssystem geführt und verantwortet.<br />
Die Sozialhilfe trägt lediglich die Kosten für den Lebensunterhalt<br />
subsidiär zu Stipendien und Einkommen. Im Hintergrund<br />
des Projekts steht der Vorstoss der Schweizerischen Konferenz für<br />
Sozialhilfe (SKOS) aus dem Jahr 2011, der den Kantonen emp-<br />
SCHWERPUNKT 4/17 ZeSo<br />
<br />
17<br />
Der Zugang zur beruflichen<br />
Grundbildung ist anspuchsvoll<br />
und marktgesteuert.<br />
fiehlt, das Zusammenwirken von Sozialhilfe und Stipendienwesen<br />
zu überprüfen und den Grundsatz «Stipendien vor Sozialhilfe»<br />
umzusetzen. Nach erfolgter Ausbildung integrieren sich die Teilnehmenden<br />
in den Arbeitsmarkt und lösen sich von den Unterstützungsstrukturen<br />
und den Transferzahlungen. «Enter» steuert<br />
und unterstützt die Personen im Gesamtprozess.<br />
Hierzu ein kurzes Fallbeispiel: Frau D. wurde im September<br />
2014 durch die Sozialhilfe Basel-Stadt dem Projekt «Enter» zugewiesen.<br />
Ihre familiäre Situation mit zwei Kindern im Vorschulalter,<br />
die sie als alleinerziehende Mutter fast ausschliesslich selber<br />
betreut, hat dazu geführt, dass sie kaum qualifizierte Arbeit fand<br />
und bis jetzt keine Ausbildung abschliessen konnte. Mit der Begleitung<br />
durch das Projekt «Enter» konnten wichtige Schritte organisiert<br />
werden: Betreuung der Kinder in Tagesstrukturen, Erstellen<br />
eines umfassenden Bewerbungsdossiers. Nach erfolgreicher<br />
beruflicher Orientierung durch die Berufsberatung Basel-Stadt<br />
wurde Frau D. in ihrem Bewerbungsprozess zusätzlich durch die<br />
Partner-institutionen von «Enter», der Lehrstellenvermittlung des<br />
Gewerbeverbands Basel-Stadt sowie der Lehraufsicht Basel-Stadt,<br />
in ihrer Suche nach einem Praxisbetrieb unterstützt. Trotz dem<br />
Bemühen wollte sich vorerst kein Erfolg einstellen. Dank der Beharrlichkeit<br />
von Frau D. und den Bemühungen der Mitarbeitenden<br />
von «Enter» gelang es, trotz ihrer langen Abwesenheit vom<br />
Arbeitsmarkt eine geeignete Stelle im Verkauf für den Start ihrer<br />
Nachholbildung zu finden. Nach schwierigem Beginn verbesserte<br />
sie ihre Noten an der Berufsfachschule stetig und sie wurde sogar<br />
zur Klassensprecherin ernannt. Knapp zwei Jahre nach der Anmeldung<br />
bei Enter hat Frau D. ihre Abschlussprüfung als Detailhandelsfachfrau<br />
im Sommer 2016 erfolgreich abgelegt und konnte<br />
an ihrer Stelle direkt weiter arbeiten. Dank ihres verbesserten Einkommens<br />
konnte sie sich von der Sozialhilfe ablösen und führt<br />
nun ein finanziell unabhängiges und selbstbestimmtes Leben.<br />
Vom Phasen- zum Modulsystem<br />
Organisatorisch ist «Enter» bei Gap – Case Management Berufsbildung<br />
im Erziehungsdepartement angesiedelt. Am Projekt beteiligt<br />
sind zudem die Sozialhilfe, das Arbeitsintegrationszentrum<br />
Basel, die Sozialhilfe Riehen, die Berufsberatung Basel-Stadt, die<br />
Ausbildungsvermittlung des Gewerbeverbandes Basel-Stadt sowie<br />
das Amt für Ausbildungsbeiträge Basel-Stadt.<br />
Um die erste Wirkung von «Enter» zu überprüfen, hat das Büro<br />
für Arbeits- und sozialpolitische Studien BASS AG eine Evaluation<br />
über das Projekt erstellt. Aufgrund der positiven Ergebnisse<br />
und den bisherigen Erfahrungen beschloss der Regierungsrat<br />
des Kantons Basel-Stadt im Oktober 2016, «Enter» von der Pilot-<br />
in eine fünfjährige Projektphase zu überführen. Gleichzeitig<br />
wurden auch inhaltliche Anpassungen beschlossen sowie eine<br />
Ausweitung der Zielgruppe ins Konzept aufgenommen. So ist es<br />
möglich, bei ausgewiesener Zulassung und Eignung eine Ausbildung<br />
im tertiären Bereich zu absolvieren. Zudem können auch<br />
Personen ohne Sozialhilfebezug die Dienstleistung von «Enter»<br />
zwecks Absolvierung einer Nachholbildung in Anspruch nehmen,<br />
sofern eine Mehrfachproblematik vorliegt. Konzeptionell<br />
wurde verankert, dass «Enter» das bisherige Phasenmodell in<br />
ein Modulsystem abändert. Dies, um individueller auf die Bedürfnisse<br />
der einzelnen Teilnehmenden eingehen zu können.<br />
Es gibt verschiedene Wege, einen Berufsabschluss nachzuholen.<br />
Nebst der klassischen Berufslehre mit eidgenössischem<br />
Fähigkeitszeugnis (EFZ) und eidgenössischem Berufsattest<br />
(EBA), gibt es auch das Validierungsverfahren nach Artikel<br />
31 des Berufsbildungsgesetzes (BBV) sowie die Nachholbildung<br />
nach Artikel 32 (BBV). Im Konzept sind alle<br />
möglichen Wege vorgesehen, welche abgestimmt auf die individuelle<br />
Situation der teilnehmenden Person ausgewählt werden.<br />
Kein Massenprodukt<br />
Zurzeit absolvieren 52 Personen eine Ausbildung. Bisher sind 77<br />
Personen in eine Ausbildung eingestiegen, 13 haben diese bereits<br />
erfolgreich abgeschlossen und 12 haben ihre Ausbildung abgebrochen.<br />
Mehr als die Hälfte der Ausbildungsabbrechenden konnten<br />
jedoch von der Sozialhilfe abgelöst werden konnten, da sie über<br />
«Enter» eine Arbeitsstelle fanden. Die Mehrheit von gut zwei Dritteln<br />
der «Enter»-Teilnehmenden in Ausbildung absolvieren eine<br />
Lehre auf Niveau EFZ. Per Sommer 2018 suchen bereits mehr als<br />
35 eine Lehrstelle.<br />
Mit 48 Prozent hat der grösste Teil der angemeldeten Personen<br />
bei «Enter» das gesamte Schulsystem in der Schweiz durchlaufen.<br />
Die meisten von ihnen wurden in der Schweiz geboren. Die<br />
zweitgrösste Gruppe (38 Prozent) umfassen die spät eingereisten<br />
Personen, welche erst nach Abschluss der Schulzeit in die Schweiz<br />
migriert sind beziehungsweise in den letzten fünf Jahren in die<br />
Schweiz einreisten. Im Vergleich mit den übrigen Personen findet<br />
aber auch diese Personengruppe im gleichen Masse eine Lehrstelle<br />
wie diejenigen, welche die gesamte Schulzeit in der Schweiz<br />
durchlaufen haben. Die übrigen sind während der obligatorischen<br />
Schulzeit in die Schweiz gezogen.<br />
«Enter» ist kein Massenprodukt, das belegen die Zahlen. Dies<br />
hat verschiedene Gründe: Der Zugang in die berufliche Grundbildung<br />
ist anspruchsvoll und marktgesteuert. Personen aus der Sozialhilfe<br />
sind diesem Markt ausgesetzt und stehen in direkter Konkurrenz<br />
mit Jugendlichen und weiteren Marktteilnehmenden. Sie<br />
haben erschwerte Voraussetzungen; später Zuzug in die Schweiz,<br />
dysfunktionale Bildungsbiografien sowie belastete psychosoziale<br />
Lebenslagen sind nur einige Gründe dafür. Weitere Gründe sind<br />
das fehlende Betreuungsangebot für Alleinerziehende, die fehlende<br />
Passung zwischen Angebot und Nachfrage bei den Lehrstellen<br />
sowie die langfristige Bindung an eine Ausbildung von bis zu<br />
vier Jahren. Hinzu kommt, dass die mangelnde Sprachkompetenz<br />
oftmals eine zu hohe Hürde darstellt. In diesem Kontext ist «Enter»<br />
als äusserst erfolgreich zu werten, aber als eines von vielen Instrumenten<br />
für eine nachhaltige Arbeitsintegration zu verstehen. •<br />
Silvan Surber<br />
Erziehungsdepartement Basel-Stadt, Projektleiter «Enter»<br />
18 ZeSo 4/17 SCHWERPUNKT
Zweite Chance auf Erstausbildung –<br />
unabhängig vom Alter<br />
bildung statt beschäftigung<br />
Im Januar 2018 schreibt die Stanley Thomas Johnson Stiftung zusammen mit einer breitangelegten<br />
Trägerschaft des Kantons Bern den zweiten Durchgang des Projekts «2. Chance auf eine 1.<br />
Ausbildung» aus. Das Projekt finanziert motivierten Personen, die nicht über genügend eigene Mittel<br />
verfügen, einen Berufsabschluss.<br />
In der Schweiz haben über 400 000 Menschen im Alter von 25<br />
bis 54 Jahren keine abgeschlossene erste Berufsausbildung. Unausgebildete<br />
Erwachsene sind häufiger arbeitslos und überdurchschnittlich<br />
viele arbeiten in Tieflohnstellen. Die gesellschaftliche<br />
Entwicklung und der gestiegene Anteil von Personen ausländischer<br />
Herkunft führen zunehmend zu heterogenen Berufs- und<br />
Bildungslaufbahnen. Die Aus- und Weiterbildung von Erwachsenen<br />
ist deshalb aus wirtschafts-, gesellschafts- und sozialpolitischer<br />
Sicht von immenser Bedeutung. Dies bewog die Stanley Thomas<br />
Johnson Stiftung dazu, das Projekt «2. Chance auf eine 1. Ausbildung»<br />
ins Leben zu rufen, das Erwachsenen ermöglicht, eine Berufsbildung<br />
nachzuholen. Das Projekt, das als Kooperation zwischen<br />
der Stiftung und dem Kanton Bern funktioniert, hat<br />
schweizweit Pioniercharakter.<br />
Auf die Ausschreibung des Pilotprojekts im Frühling 2016<br />
bewarben sich 200 Personen. Voraussetzungen für eine Teilnahme<br />
waren unter anderem ungenügende finanzielle Mittel gemäss<br />
SKOS-Richtlinien, Wohnsitz im Kanton Bern und ein Mindestalter<br />
von 25 Jahren. Die regionalen Berufs- und Informationszentren<br />
(BIZ) wählten 130 Personen für ein Erstgespräch aus. 34<br />
Personen schafften es ins Programm. Gut drei Viertel der selektionierten<br />
Personen starteten diesen Herbst mit der Ausbildung. Für<br />
die restlichen Projektteilnehmenden werden noch individuelle<br />
Lösungen gesucht. Der meist gewählte Ausbildungsweg ist eine<br />
Lehre auf Sekundarstufe II (eidgenössisches Fähigkeitszeugnis<br />
EFZ oder eidgenössisches Berufsattest). In Ausnahmefällen finanziert<br />
das Projekt den Teilnehmenden ein von der Berufsbranche<br />
anerkannter Abschluss oder gar ein Abschluss auf Tertiärstufe. Zu<br />
den vom Projekt übernommenen Leistungen gehören neben den<br />
Ausbildungs- auch die Lebenshaltungskosten. Im Januar 2018<br />
wird der zweite Durchgang des Projektes ausgeschrieben.<br />
Coaching und Empowerment als A und O<br />
Während der Lehrstellensuche und der Ausbildungsphase betreuen<br />
erfahrene Coaches bei Bedarf die Projektbeteiligten. Dieses Setting<br />
hilft den Teilnehmenden bei der Lehrstellensuche, gibt ihnen<br />
während der Ausbildung einen Rückhalt und bietet bei allfälligen<br />
Schwierigkeiten und Problemen eine Beratung. Das Coaching findet<br />
meistens in Gruppen statt. Die Gruppe dient als zusätzliche<br />
Motivationsquelle und zum Informations- und Erfahrungsaustausch.<br />
Bei Bedarf kann auch die Arbeitgeberin mit dem Coach in<br />
Kontakt treten. Durch die Einführung eines «2.-Chance-Vorkurses»<br />
im Nachfolgeprojekt können künftig die Projektteilnehmenden<br />
ihre Schulbildung und ihre Lern- und Stresskompetenz<br />
ausbauen. Der Kurs möchte zudem die Familien der Projektteil-<br />
Das Coaching erhöht die Erfolgschancen der Ausbildung.<br />
nehmenden in den Prozess einbeziehen und auf die Ausbildungszeit<br />
vorbereiten. Der Vorkurs ergänzt das Coaching-Setting und erhöht<br />
die Chancen auf einen Ausbildungserfolg. Dieser neue Kurs<br />
in französischer und deutscher Sprache wird von der Erziehungsdirektion<br />
finanziert und in Partnerschaft mit einem Berufsbildungszentrum<br />
realisiert.<br />
Die breitangelegte kantonale Trägerschaft hat den volkswirtschaftlichen<br />
Nutzen des Projekts erkannt und untermauert die<br />
Einmaligkeit des Projekts. Dank der neuen finanziellen Partnerschaft<br />
mit der Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) kann<br />
das Nachfolgeprojekt eine grössere Teilnehmerzahl aufnehmen,<br />
denn die GEF übernimmt die Lebenshaltungs- und Ausbildungskosten<br />
der Hälfte der Projektteilnehmenden (d.h. von 25 der 50<br />
Teilnehmenden). Zudem wird sich die GEF zu 50 Prozent an den<br />
Projektkoordinations- und Betriebskosten beteiligen. Auch die<br />
Partnerschaft mit dem BIZ ist unverzichtbar: Ohne sie hätte keine<br />
so professionelle und effiziente Vorselektion der Teilnehmenden<br />
stattfinden können. Im Nachfolgeprojekt wird diese Kooperation<br />
noch ausgebaut und professionalisiert. <br />
•<br />
SCHWERPUNKT 4/17 ZeSo<br />
Bild: Keystone<br />
Danièle Héritier<br />
Projektkoordination «2. Chance auf eine 1. Ausbildung»<br />
Bildungsmassnahmen auf den ersten<br />
Arbeitsmarkt ausrichten<br />
Der Sozialdienst der Stadt Dietikon legt den Fokus auf die rasche Integration in den ersten<br />
Arbeitsmarkt. Auch die Bildungs- und Beschäftigungsmassnahmen für die Klientinnen und Klienten<br />
werden auf dieses Ziel ausgerichtet. In der 2016 geschaffenen Fachstelle Arbeitsintegration sind<br />
dafür spezialisierte Fachkräfte angestellt.<br />
Zum Zeitpunkt des Intakes sind die Antragstellenden der Sozialhilfe<br />
oft noch nicht lange aus dem ersten Arbeitsmarkt ausgeschieden<br />
und ihre Motivation und Chancen noch intakt. Die Situationsklärung,<br />
die Abklärung des Anspruchs auf Sozialhilfe sowie die<br />
Geltendmachung von subsidiären Leistungen beanspruchen jedoch<br />
viel Zeit und Ressourcen. Das Thema Arbeitsintegration<br />
kommt häufig zu kurz. Zudem liegen die Kernkompetenzen der<br />
Sozialarbeitenden nicht in diesem Bereich. Bis zur Einführung einer<br />
spezifischen Fachstelle stand die Arbeitsintegration auch im<br />
Sozialdienst Dietikon nicht im Vordergrund. Das Thema wurde<br />
erst in einem zweiten Schritt mit verschiedenen externen Anbietern<br />
(meist aus dem zweiten Arbeitsmarkt) angegangen.<br />
Der erste Arbeitsmarkt muss aber in der Sozialhilfe präsenter<br />
werden und das oberste Ziel der Integration sein. Deshalb wurden<br />
in Dietikon die bestehenden internen Angebote reorganisiert und<br />
der Entscheid gefällt, dass es für das komplexe Feld der Arbeitsintegration<br />
zwingend spezialisierte Fachkräfte braucht. Per 1.<br />
Januar 2016 ist die Fachstelle Arbeitsintegration geschaffen und<br />
in den Büroräumlichkeiten der Sozialhilfe eingegliedert worden.<br />
Die Mitarbeitenden der Fachstelle stammen beruflich aus der<br />
Personalvermittlung im ersten Arbeitsmarkt und der klassischen<br />
Arbeitsintegration. Es sind bewusst keine Sozialarbeitenden für<br />
diese Funktion eingestellt worden, um den Fokus auf das Thema<br />
Arbeit zu richten.<br />
Bildungsbedarf abklären<br />
Heute werden alle Antragstellenden unmittelbar nach dem ersten<br />
Kontakt im Intake mit der Fachstelle Arbeitsintegration vernetzt.<br />
Die Fachstelle plant mit den Antragstellenden anschliessend die<br />
notwendigen Schritte für die Arbeitsintegration. Zur Visualisierung<br />
werden Integrationspläne eingesetzt, die das berufliche Ziel<br />
wie auch die notwendigen Zwischenschritte aufzeigen. Es wird<br />
eruiert, welche Weiterbildungen oder Nachholbildungen für eine<br />
rasche und nachhaltige Integration notwendig sind. Diese Abklärung<br />
wird unter der Berücksichtigung des Grundsatzes der Subsidiarität,<br />
Wirtschaftlichkeit und Zweckmässigkeit durchgeführt. Es<br />
wird darauf geachtet, dass die Personen in der Sozialhilfe nicht<br />
besser gestellt werden als Arbeitslose auf dem freien Markt. Die<br />
Prüfung und die Umsetzung der Massnahmen erfolgt jeweils im<br />
Austausch mit den zuständigen Sozialarbeitenden und erfordern<br />
oft einen regen Kontakt mit potenziellen Arbeitgebern und anderen<br />
Partnern, beispielsweise mit dem BIZ (Berufs- und Informationszentrum).<br />
Um Doppelspurigkeiten zu vermeiden und eine<br />
noch zeitnähere Bearbeitung zu ermöglichen, ist vorgesehen, dass<br />
die Antragstellenden künftig bereits das erste Gespräch gemeinsam<br />
mit einem Sozialarbeitenden und einem Mitarbeitenden der<br />
Fachstelle Arbeitsintegration führen (vgl. Abbildung: Aktueller<br />
Prozess & Abbildung 2: Geplanter Prozess).<br />
Bei jungen Personen werden häufig Integrationspläne mit<br />
einem Lehrstellenziel erarbeitet. Klienten mit ausländischen Diplomen<br />
werden angeleitet, wie sie eine schweizerische Anerkennung<br />
erreichen können. Weiter kann ein Bildungsbedarf entstehen,<br />
wenn eine Klientin oder ein Klient aus gesundheitlichen<br />
Gründen seinem erlernten oder langjährig ausgeübten Beruf nicht<br />
mehr nachkommen kann. Im Falle eines negativen Entscheids der<br />
IV wird eine gesundheitlich angepasste Umschulung aufgegleist.<br />
Manchmal ist eine Beratung durch die Fachstelle zu alternativen<br />
Jobprofilen bereits ausreichend.<br />
Abbildung 1: Aktueller Prozess Intake und Arbeitsintegration<br />
Intake<br />
04.10.<strong>2017</strong><br />
Erster Kontakt<br />
Intake<br />
Antragsstellung<br />
Schalter<br />
Abgabe Antragsformular<br />
Abgabe Gesprächstermin<br />
11.10.<strong>2017</strong> 17.10.<strong>2017</strong> 27.10.<strong>2017</strong> 02.11.<strong>2017</strong> 10.11.<strong>2017</strong> 15.11.<strong>2017</strong> 15.12.<strong>2017</strong><br />
Zweiter Kontakt<br />
Intake<br />
Gespräch bei Sozialarbeitenden<br />
Beurteilung<br />
weiterer Verlauf<br />
Triage Arbeitsintegration<br />
Dritter Kontakt Intake<br />
bei Anspruch<br />
auf Sozialhilfe<br />
Berücksichtigung<br />
Erkenntnisse<br />
Fachstelle<br />
Erläuterung<br />
Rechte / Pflichten,<br />
Auszahlung<br />
Weitere Kontakte<br />
Intake bei Bedarf<br />
Kontrolle Auflage /<br />
Weisungen<br />
Auszahlung<br />
Unterstützung<br />
Übergabe Beratung<br />
Arbeitsintegration<br />
Erster Kontakt<br />
Fachstelle<br />
Planung Arbeitsintegration<br />
Lebenslauf überarbeiten<br />
Zweiter Kontakt<br />
Fachstelle<br />
Weiterbearbeitung<br />
Weitere Kontakte<br />
Fachstelle<br />
Weiterbearbeitung<br />
Weitere Kontakte<br />
Fachstelle<br />
Weiterbearbeitung<br />
20 ZeSo 4/17 SCHWERPUNKT
«Betroffene finden den Weg in<br />
einen Kurs meistens nicht selbst»<br />
NACHGEFRAGT Sozialarbeitende spielen als Vermittlerpersonen eine wichtige Rolle in der<br />
Förderung von Grundkompetenzen, sagt Brigitte Aschwanden, Geschäftsführerin des<br />
Vereins Lesen und Schreiben Deutsche Schweiz. Oft sei es aber nicht einfach, das Problem zu<br />
erkennen und bei den Klienten anzusprechen.<br />
<strong>ZESO</strong>: Frau Aschwanden, in der Schweiz haben schätzungsweise<br />
rund 800 000 Menschen eine Lese- und Schreibschwäche. Andere<br />
haben Schwierigkeiten Rechenaufgaben zu lösen oder mit dem<br />
Computer umgehen. Warum fehlt es so vielen Menschen an<br />
Grundkompetenzen?<br />
Brigitte Aschwanden: Die Ursachen dafür sind vielfältig und<br />
reichen von zu wenig Förderung in der Schule über visuelle und<br />
auditive Probleme und schwierige Lebensverhältnisse bis zu<br />
genetischen Gründen.<br />
Welche Menschen sind betroffen?<br />
Man hört immer wieder, dass vor allem junge Leute nicht<br />
mehr richtig lesen und schreiben können. Das Gegenteil ist<br />
der Fall: Die grössten Lücken haben Personen zwischen 55<br />
bis 65 Jahren oder noch ältere. Bei ihnen ist die Schulzeit und<br />
Ausbildung lange her und sie haben viele Kompetenzen wieder<br />
verlernt. Weiter sind eine geringe Ausbildung und ein bildungsferner<br />
familiärer Hintergrund Risikofaktoren. Tatsache ist, dass<br />
Lesen und Schreiben enorm komplexe Prozesse sind und die<br />
Anforderungen im Arbeitsalltag in den letzten Jahren gestiegen<br />
sind.<br />
Ihr Verein führt Sensibilisierungsveranstaltungen zu<br />
Grundkompetenzen für Fachpersonen aus Sozialen Diensten, RAV,<br />
Bildungsinstitutionen etc. durch. Warum ist das nötig?<br />
Personen mit mangelnden Grundkompetenzen finden den<br />
Weg in einen Kurs meistens nicht selbst, sondern durch Unterstützung<br />
von Drittpersonen. Sogenannte Vermittlerpersonen<br />
spielen deshalb eine grosse Rolle in der Grundkompetenzförderung.<br />
In den genannten Institutionen arbeiten Personen,<br />
die regelmässig in direktem Kontakt mit Betroffenen stehen.<br />
Unser Kernanliegen ist, Vermittlerpersonen zu informieren und<br />
mit falschen Vorstellungen aufzuräumen: Etwa, dass Illetrismus<br />
dasselbe sei wie Analphabetismus oder dass das Problem<br />
nur Migranten betreffe. Die Veranstaltungen sollen die Fachpersonen<br />
zudem befähigen, Betroffene anzusprechen und zu<br />
unterstützen.<br />
Brigitte Aschwanden<br />
Brigitte Aschwanden ist seit neun Jahren Geschäftsführerin<br />
des Vereins Lesen und Schreiben<br />
Deutsche Schweiz. Die 53-Jährige hat einen<br />
Abschluss lic. phil I (Slavistik, Osteuropäische<br />
Geschichte und Völkerrecht) und unter anderem<br />
Weiterbildungen im Bereich Projektmanagement<br />
und Organisationsentwicklung absolviert.<br />
Wie ist Ihre Erfahrung – wird auf Sozialdiensten erkannt, wenn einem<br />
Klienten oder einer Klientin Grundkompetenzen fehlen?<br />
Es ist nicht immer einfach, das Problem zu erkennen. Oft<br />
wird es nur bei den <strong>ganz</strong> Schwachen erkannt, die beispielsweise<br />
auf der Buchstaben-Ebene Mühe haben. Aber die Bandbreite<br />
ist viel grösser: Es gibt Betroffene, die können relativ problemlos<br />
Texte lesen und verstehen, jedoch nur <strong>ganz</strong> einfache Sätze<br />
ohne Nebensätze schreiben. Es besteht aber auch nicht der<br />
Anspruch an die Sozialberatenden, dass sie das Ausmass der<br />
mangelnden Grundkompetenzen beurteilen müssen. Dafür<br />
gibt es Fachleute, an die man die Klienten weitervermitteln<br />
kann. Wichtig ist, dass bei gewissem Verhalten an ein potenzielles<br />
Problem in diesem Bereich gedacht wird. Will ein Klient<br />
beispielsweise die Formulare immer mit nach Hause nehmen,<br />
um sie auszufüllen? Sagt eine Klientin wiederholt, sie habe die<br />
Brille vergessen? Ein Anzeichen kann auch Widerstand bei administrativen<br />
Dingen oder Bildungsangeboten sein.<br />
Wenn man mangelnde Grundkompetenzen vermutet, was ist der<br />
nächste Schritt?<br />
Viele Personen haben Respekt davor, ihre Vermutung bei<br />
den Klienten anzusprechen. Denn es ist nach wie vor ein Tabuthema,<br />
hier zur Schule gegangen sein und mit Lesen oder<br />
Schreiben dennoch Probleme zu haben. Die Betroffenen leiden<br />
zum Teil massiv darunter und schämen sich dafür. Bei<br />
manchen weiss nicht mal die Partnerin oder der Partner vom<br />
Problem. Aber Fachleute in beratenden Funktionen haben ja<br />
auch sonst viele schwierige und persönliche Themen, die sie<br />
22 ZeSo 4/17 SCHWERPUNKT
ildung statt beschäftigung<br />
Verein Lesen und Schreiben<br />
Deutsche Schweiz<br />
Der Verein Lesen und Schreiben Deutsche Schweiz setzt sich dafür<br />
ein, dass alle Menschen einen sicheren Umgang mit der Schriftsprache<br />
erlangen können. Seit 2010 führt der Verein gezielte Informations-<br />
und Sensibilisierungsveranstaltungen für die Öffentlichkeit<br />
und Vermittlerpersonen durch. Die kostenlosen Veranstaltungen<br />
bieten Institutionen die Möglichkeit, sich mit dem Thema Illetrismus<br />
auseinanderzusetzen und konkrete Handlungsmöglichkeiten zu<br />
lernen.<br />
www.lesenschreiben-d.ch<br />
Lücken lassen sich im Arbeitsalltag häufig verstecken. Beim<br />
Lesen und Schreiben ist das fast unmöglich.<br />
Bild: Béatrice Devènes<br />
mit ihren Klientinnen und Klienten ansprechen müssen. Und<br />
nach dem Ansprechen muss das konkrete Handeln folgen. Sozialberatende<br />
sollen auf Kursangebote aufmerksam machen,<br />
Kontakte vermitteln und im Idealfall die Kosten für die Bildungsangebote<br />
übernehmen.<br />
Sieht die Sozialhilfe die Förderung von Grundkompetenzen denn<br />
überhaupt als ihre Aufgabe an?<br />
Viele Sozialarbeitende sagen, dass Ihnen das Problem bewusst<br />
ist. Aber es hängt immer vom jeweiligen Sozialdienst ab,<br />
welches Gewicht dem Thema gegeben wird. Erstaunlich finde<br />
ich, dass bei Migrantinnen und Migranten bei den Sprachkenntnissen<br />
sehr genau hingeschaut wird, während eine ähnliche<br />
Standortbestimmung bei anderen Personen oft nicht stattfindet.<br />
Aber die Klientel der Sozialhilfe hat oft verschiedene Probleme.<br />
Es ist verständlich, dass die Sozialarbeitenden sich zuerst<br />
darum kümmern müssen, dass jemand eine Wohnung hat<br />
oder psychisch stabilisiert werden kann etc. Dennoch müssen<br />
Grundkompetenzen ein wichtiges Thema für die Sozialdienste<br />
sein. Lücken in diesem Bereich erschweren die Arbeitsintegration<br />
ungemein. Und dieses Problem wird sich weiter verschärfen.<br />
Niedrigqualifizierte Personen werden zunehmend aus<br />
dem Arbeitsmarkt verdrängt und mit mangelnden Grundkompetenzen<br />
wird die Reintegration sehr schwierig. Anderweitige<br />
Die Digitalisierung der Arbeitswelt verlangt auch nach anderen<br />
Grundkompetenzen. Welche Herausforderungen ergeben sich<br />
daraus?<br />
Auch in einer digitalisierten Gesellschaft wird man immer<br />
lesen und schreiben müssen. Aber in der Tendenz werden Jobs<br />
sicher anspruchsvoller und es ist eine zusätzliche Medienkompetenz<br />
gefragt. Bei der Definition, welche Grundkompetenzen<br />
für die Digitalisierung notwendig sind, stehen wir noch am Anfang.<br />
Muss man ein Smartphone anstellen können? Geht es<br />
darum zu wissen, was ein Hypertext ist? Muss man lediglich<br />
die Veränderungen einschätzen können?<br />
Wo im Bereich Grundkompetenzen besteht Ihrer Meinung nach aktuell<br />
der grösste Handlungsbedarf?<br />
Grosse Priorität hat weiterhin die Sensibilisierung. In der<br />
Schweiz werden bisher schätzungsweise weniger als 1 Prozent<br />
der Betroffenen mit Angeboten erreicht. Das liegt einerseits<br />
daran, dass viele nicht wissen, dass es diese Angebote gibt.<br />
Andererseits gibt es diejenigen, die sich selber nicht als Betroffene<br />
wahrnehmen oder sich dafür schämen. Um das zu ändern,<br />
müssen wir weiterhin auf allen Ebenen und durch die verschiedensten<br />
Kanäle für das Thema sensibilisieren. Die Angebote<br />
müssen wir noch verstärkt auf IKT (Informations- und Kommunikationstechnologien)<br />
ausweiten. Grundsätzlich ist nach wie<br />
vor die Finanzierungsfrage aktuell. Der im Bundesgesetz über<br />
Weiterbildung für die Grundkompetenzen vorgesehene Teil von<br />
rund 25 Millionen Franken ist im Verhältnis zu den in der BFI-<br />
Botschaft gesprochenen 26 Milliarden bescheiden, wenn man<br />
sich vor Augen führt, wie viele Menschen betroffen sind. •<br />
SCHWERPUNKT 4/17 ZeSo<br />
Das Gespräch führte<br />
Regine Gerber<br />
23<br />
Wie Betriebe Mitarbeitende ohne<br />
Berufsabschluss fördern können<br />
Wer in der Schweiz ohne Berufsabschluss arbeitet, lebt gefährlich. Doch die Situation ist nicht aussichtslos.<br />
Die Studie «Chancengeber» des Schweizerischen Verbands für Weiterbildung zeigt erfolgreiche<br />
Beispiele der Nachholbildung und gibt Empfehlungen an die Akteure, wie sie gelingen kann.<br />
14 Prozent der Schweizer Erwerbsbevölkerung verfügen nicht<br />
über einen Berufsabschluss. 69 Prozent dieser Gruppe gehen jedoch<br />
einer festen Arbeit nach. Auf dem Arbeitsmarkt sind sie benachteiligt<br />
und tragen ein hohes Risiko, arbeitslos zu werden. Ein<br />
Wiedereinstieg ohne Berufsabschluss ist nachweislich schwierig.<br />
Neben den privaten Konsequenzen für die Betroffenen verursacht<br />
diese Situation auch hohe volkswirtschaftliche und gesellschaftliche<br />
Kosten. Die Studie «Betriebe als Chancengeber» des Schweizerischen<br />
Verbands für Weiterbildung (SVEB) untersuchte zwischen<br />
2015 und <strong>2017</strong>, wie der erwerbstätige Teil der Erwachsenen ohne<br />
Berufsabschluss über die Strukturen der Betriebe erreicht und<br />
zu einem Abschluss geführt werden kann.<br />
Das Ziel der Studie war es festzustellen, welche Faktoren in den<br />
Betrieben und welche überbetrieblichen Rahmenbedingungen<br />
dazu führen, dass dieser Bildungsweg wahrgenommen wird und<br />
erfolgreich verläuft. Dazu wurden in zehn Betrieben aus fünf verschiedenen<br />
Branchen und allen drei Sprachregionen Fallstudien<br />
durchgeführt. So beschreibt die Studie den Fall eines 34-jährigen<br />
Mitarbeiters eines Hotels mit drei Restaurants, der das Eidgenössische<br />
Fähigkeitszeugnis (EFZ) Restaurationsfachmann absolviert<br />
hat. Gleichzeitig stand ein 36-jähriger Mitarbeiter desselben Betriebs<br />
zum Zeitpunkt der Befragung kurz vor dem Abschluss eines<br />
Eidgenössischen Berufsattests (EBA) Küchenangestellter. Für<br />
beide Mitarbeiter hat sich bisher die Arbeit durch den Abschluss<br />
beziehungsweise den Weg dahin nicht verändert. Doch sie fühlen<br />
sich fachlich sicherer und mehr respektiert.<br />
Anders sieht dies bei einer Pflegeassistentin und einem Pflegeassistenten<br />
aus, die in einer Institution aus dem Gesundheitsbereich<br />
mit 6700 Beschäftigten aus 86 verschiedenen Ländern tätig<br />
sind. Sie haben im Rahmen eines Ausbildungsvertrages den Abschluss<br />
EFZ Fachfrau/-mann nachgeholt, nachdem sie bereits 13<br />
beziehungsweise 26 Jahre bei dem Betrieb gearbeitet hatten. Beide<br />
Mitarbeiter fühlen sich mit einem Berufsabschluss fachlich sicherer und mehr respektiert. <br />
Bild: Keystone<br />
24 ZeSo 4/17 SCHWERPUNKT
ildung statt beschäftigung<br />
konnten die Ausbildung dank abnehmender familiärer Verpflichtungen<br />
in Angriff nehmen. Ihnen stand während der Ausbildung<br />
eine Bezugsperson zur Seite, sie konnten die Berufsfachschule<br />
während der Arbeitszeit besuchen und teilweise auch während der<br />
Arbeitszeit lernen. Ihr Lohn wurde vollumfänglich weiter bezahlt.<br />
Durch den Abschluss haben sie eine höhere Lohnstufe erreicht.<br />
Dies entsprach auch ihrer ursprünglichen Motivation genauso wie<br />
dem Wunsch, mehr Verantwortung zu übernehmen.<br />
Betriebliche Ebene<br />
Die Gründe für die Betriebe, Mitarbeiter ohne Berufsabschluss zu<br />
fördern, sind durchaus verschieden. Das Hotel legt starken Wert<br />
darauf, als einer der besten Arbeitgeber der Branche zu gelten. Entsprechend<br />
investiert es in die Nachholbildung. Weniger entscheidend<br />
war hier der Fachkräftemangel. Der Pflegebetrieb wiederum<br />
lebt eine strukturierte Weiterbildungskultur. Es gibt ein Budget<br />
für die Nachholbildung, das für Mitarbeitende reserviert ist, die<br />
den Aufnahmeprozess dafür bestehen. Darüber werden sowohl die<br />
Ausbildung als auch der Lohn und Schulmaterialien bezahlt. Welche<br />
Mitarbeitenden so gefördert werden, hängt von den Mitarbeitergesprächen<br />
mit den Vorgesetzten und deren Empfehlungen ab.<br />
Obwohl Faktoren wie Prestige oder etablierte Strukturen für<br />
Nachholbildung entscheidend sein können, spielen auf der betrieblichen<br />
Ebene Arbeitsmarktengpässe eine wichtige Rolle, wenn<br />
es um die Förderung von Personen ohne Berufsabschluss geht. Die<br />
Studie hat gezeigt: Je ausgeprägter der Fachkräftemangel in einer<br />
Branche ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Beschäftigte<br />
die Chance bekommen, einen Abschluss nachzuholen.<br />
Auch die Bildungsinfrastruktur und die betriebliche Lernkultur<br />
sind massgeblich. Betriebe, die Lehrlinge ausbilden und über eine<br />
entsprechende Infrastruktur verfügen, haben eine gute Basis für<br />
die Förderung der Nachholbildung. Nur so können die Vorgesetzten<br />
die Mitarbeiter bei allen Abläufen und Formalitäten unterstützen.<br />
Und natürlich spielt die Beziehung zum Arbeitnehmden eine<br />
zentrale Rolle. Langfristige Bindungen sind ein entscheidender<br />
Faktor für eine Förderung, wie es exemplarisch im Gastrobetrieb<br />
beobachtet werden konnte.<br />
Zusammenspiel der Akteure<br />
Die Berufsbildung ist gemäss Berufsbildungsgesetz eine gemeinsame<br />
Aufgabe von Bund, Kantonen und Anbietern der Berufsbildung,<br />
den sogenannten Organisationen der Arbeitswelt (OdA).<br />
Den Kantonen obliegt die Umsetzung und Aufsicht über die Berufsbildung.<br />
Die OdA verantworten Bildungsinhalte, Ausbildungsplätze<br />
und Qualifikationsverfahren. Der Bund agiert subsidiär<br />
und übernimmt die strategische Steuerung sowie die<br />
Qualitätssicherung. In diesem Zusammenspiel tragen die drei Akteure<br />
die Verantwortung für die Entwicklung erwachsenengerechter<br />
Angebote und setzen die überbetrieblichen Rahmenbedingungen<br />
für die Nachholbildung.<br />
Die Unterstützung von OdA und Kantonen beim Erarbeiten<br />
und Bereitstellen von Informationen zum Berufsabschluss für<br />
Langfristige Bindungen<br />
sind ein entscheidender<br />
Faktor für eine Förderung.<br />
Erwachsene ist eine wichtige Voraussetzung für das Engagement<br />
der Betriebe. Sie senkt den Aufwand und erhöht so die Chancen,<br />
dass sich Unternehmen für das Thema einsetzen. Zusätzlich können<br />
Strukturen zur Beteiligung von Kantonen oder OdA an der<br />
Finanzierung der Nachholbildung die Kosten für Betriebe und für<br />
Kandidatinnen und Kandidaten abbauen und damit wichtige Anreize<br />
schaffen. Durch das Vorhandensein erwachsenengerechter<br />
Angebote können darüber hinaus die Motivation der Lernenden<br />
gefördert und organisatorische Hürden abgebaut werden.<br />
Ergänzend zu den Faktoren, die das Engagement für die Nachholbildung<br />
fördern, wurden auch Bedingungen für deren erfolgreiche<br />
Umsetzung festgehalten. Hier sind vor allem die Begleitung<br />
und Beratung der Kandidatinnen und Kandidaten durch eine<br />
Ansprechperson im Betrieb zu nennen sowie die Förderung der<br />
Sprachkenntnisse und Grundkompetenzen als Vorbereitung für<br />
Unterricht und Prüfungen.<br />
Handlungsempfehlungen<br />
Die Faktoren und Bedingungen, die aus der Praxis abgeleitet wurden,<br />
werden in der Studie in Handlungsempfehlungen und Massnahmen<br />
übersetzt. Sie bieten Anhaltspunkte dafür, was die zentralen<br />
Akteure – Betriebe, OdA und Kantone – tun können, um die<br />
Nachholbildung im Betrieb zu fördern und erfolgreich umzusetzen.<br />
Den Betrieben wird empfohlen, ein auf sie zugeschnittenes<br />
Konzept für die Nachholbildung zu erstellen. Anhand dessen<br />
können sie die Mitarbeitenden informieren, begleiten und ihnen<br />
Möglichkeiten schaffen, Lernen und Arbeiten ohne Lohneinbussen<br />
zu verbinden. Auch die Förderung von Grundkompetenzen,<br />
die eine Voraussetzung für den Berufsabschluss bilden, sollte dabei<br />
berücksichtigt werden.<br />
Den OdA und den Kantonen wird empfohlen, im Rahmen ihrer<br />
Kompetenzen dazu beizutragen, dass erwachsenengerechte Nachholbildungsangebote<br />
zur Verfügung stehen. Sie sind darüber hinaus<br />
aufgefordert, nicht nur den Kandidatinnen und Kandidaten,<br />
sondern insbesondere auch den Betrieben die nötigen Informationen<br />
zur Verfügung zu stellen, damit sich diese möglichst effizient<br />
engagieren können.<br />
•<br />
Ronald Schenkel<br />
SVEB<br />
Studie:<br />
www.alice.ch/de/grundkompetenzen/mehr-zum-thema/<br />
Reduktion der Falllast<br />
verbessert Ablösequote und senkt<br />
Unterstützungsdauer<br />
FACHBEITRAG In einem<br />
Pilotprojekt der Sozialberatung<br />
Winterthur konnten die<br />
Fallkosten gesenkt werden,<br />
indem die Sozialarbeitenden<br />
weniger Fälle bearbeiten. Nebst<br />
den kurzfristigen Einsparungen<br />
wurden höhere Ablösequoten<br />
und eine durchschnittlich<br />
kürzere Unterstützungsdauer<br />
erreicht, wie eine aktuelle<br />
Studie zeigt.<br />
In den letzten Jahren ist die Falllast bei der<br />
Sozialberatung der Stadt Winterthur stetig<br />
gewachsen. Pro Vollzeitstelle in der sozialarbeiterischen<br />
Fallführung lag die Anzahl<br />
Fälle 2008 noch bei rund 90 Fällen, im Januar<br />
2015 bereits bei 124 und im März<br />
<strong>2017</strong> bei 143 Fällen. Die durchschnittliche<br />
Falllast von 140 und mehr Fällen pro<br />
Vollzeitstelle in der Langzeitberatung ist<br />
als sehr hoch einzustufen Die höheren<br />
Fallzahlen entstehen nicht allein durch einen<br />
verstärkten Zulauf zur Sozialhilfe, sondern<br />
vor allem durch geringere Ablösungszahlen,<br />
das heisst, dass Klientinnen und<br />
Klienten länger in der Sozialhilfe verbleiben.<br />
Um zu überprüfen, welche Auswirkungen<br />
eine Fallreduktion auf die Fallkosten<br />
und Ablösequote hat, wurden vom Gemeinderat<br />
drei zusätzliche Vollzeitstellen<br />
bewilligt. Die Sozialen Dienste der Stadt<br />
Winterthur beauftragten das Departement<br />
Soziale Arbeit der ZHAW, das Pilotprojekt<br />
ab September 2015 während 18 Monaten<br />
wissenschaftlich zu begleiten. Vor<br />
Projektstart wurden drei bisherige Sozialarbeitende<br />
der Sozialberatung Winterthur<br />
ausgelost, welche die Experimentalgruppe<br />
bildeten. Diese drei Sozialarbeitenden<br />
hatten während der 18-monatigen Versuchsphase<br />
eine maximale Falllast von<br />
75 Fällen auf 100 Prozent, während die<br />
übrigen Sozialarbeitenden mit der vollen<br />
Falllast arbeiteten und die Kontrollgruppe<br />
bildeten. Die Experimentalgruppe gab einen<br />
Teil ihrer bisherigen Fälle nach Zufallsprinzip<br />
bei Versuchsstart an die Kontrollgruppe<br />
ab. Neue Fälle wurden ebenfalls<br />
nach einem Zufallsverfahren zugewiesen.<br />
Die Studie der ZHAW hat untersucht,<br />
ob mit einer tieferen Falllast Klientinnen<br />
und Klienten besser beraten und vermehrt<br />
integriert werden können und sich so der<br />
Einsatz von mehr sozialarbeiterischen<br />
Ressourcen auszahlt. Die Studie umfasst<br />
sowohl eine qualitative als auch eine<br />
quantitative Analyse. In der quantitativen<br />
Auswertung (statistische Berechnungen<br />
bzgl. Einsparungen und Ablösequote/Aktenanalyse/Online-Befragung)<br />
wurde die<br />
Experimental- mit der Kontrollgruppe verglichen.<br />
Im qualitativen Teil (regelmässige<br />
Einzel- und Gruppeninterviews mit der<br />
Experimentalgruppe) wurde vertieft analysiert,<br />
wie die zusätzlichen Zeitressourcen<br />
eingesetzt wurden.<br />
Mehr Einnahmen, kürzere<br />
Unterstützungsdauer<br />
Die Ergebnisse der quantitativen Analyse<br />
zeigen, dass die Klientinnen und Klienten<br />
der Experimentalgruppe im Vergleich zur<br />
Kontrollgruppe höhere Einnahmen durch<br />
höhere Einkommen im ersten Arbeitsmarkt<br />
sowie durch höhere Unterstützungsleistungen<br />
Dritter (subsidiäre Leistungen<br />
durch Unterhaltsbeiträge, Alimente, Stipendien,<br />
Sozialversicherungen etc). erzielten.<br />
Die Sozialhilfeausgaben bezüglich<br />
Grundbedarf, Wohnkosten und Gesundheitskosten<br />
lassen jedoch kaum Möglichkeiten<br />
für Einsparungen zu. Die qualitative<br />
Auswertung kam zum Schluss, dass insbesondere<br />
die kontinuierliche, zielgerichtete<br />
Fallarbeit zum positiven Resultat auf der<br />
Einnahmeseite führte: Die drei Sozialarbeitenden<br />
setzten die zusätzlichen Zeitres-<br />
sourcen für den Klientenkontakt ein, um<br />
die Betroffenen enger begleiten zu können.<br />
Unter der hohen Falllast hingegen war weniger<br />
Zeit pro Fall vorhanden. Dazu kamen<br />
ständige «Notfallübungen» bei dringenden<br />
Problemsituationen von Klientinnen und<br />
Klienten. Gemäss den Interviews mit den<br />
Sozialarbeitenden ging dies auf Kosten der<br />
kontinuierlichen Fallarbeit.<br />
Werden die durchschnittlichen Fallkosten<br />
in den beiden Vergleichsgruppen<br />
berechnet, wird ersichtlich, dass die Experimentalgruppe<br />
durchschnittliche Einsparungen<br />
von rund 1450 Franken pro Fall<br />
und Jahr ausweisen kann. Rechnet man<br />
diesen Betrag auf die Gesamtzahl von rund<br />
2900 Fällen der Langzeitberatung hoch,<br />
ergibt dies rund 4 Mio. Franken an jährlichem<br />
Fallkosten-Einsparungspotenzial,<br />
wenn alle Sozialarbeitenden mit maximal<br />
75 Fällen pro 100 Stellenprozente arbeiten<br />
könnten. Zu diesen kurzfristig realisierbaren<br />
Einsparungen kommt noch zusätzliches<br />
Einsparungspotenzial hinzu. Es<br />
ist aufgrund der deutlich höheren Ablösequoten<br />
und der kürzeren Unterstützungsdauer<br />
zu vermuten (Experimentalgruppe:<br />
21 Monate, Kontrollgruppe: 27 Monate),<br />
dass die Sozialhilfequote gegenüber dem<br />
Status quo auch längerfristig gesenkt werden<br />
kann.<br />
Neben diesen Einsparungen auf Ebene<br />
der Fallkosten zeichnen sich weitere<br />
positive Ergebnisse ab, die es in Folgeuntersuchungen<br />
genauer zu erfassen gilt: Da<br />
Klienten der Experimentalgruppe höhere<br />
Erwerbseinkommen im regulären Arbeitsmarkt<br />
erzielt haben, stellt sich die Frage,<br />
ob sie auch längerfristig ihre Chancen in<br />
der Arbeitswelt erhalten beziehungsweise<br />
verbessern und sich nachhaltig von der Sozialhilfe<br />
ablösen können.<br />
Besserer Klientenkontakt, mehr<br />
Berufszufriedenheit<br />
Die drei Sozialarbeitenden des Pilotprojekts<br />
verwendeten die zusätzlichen Zeitressourcen<br />
insbesondere um:<br />
26 ZeSo 4/17
Zeitnahe und passende Aktivierung sowie<br />
allenfalls intensivere Beratung führen<br />
zu höherer Ablösequote von Klienten der<br />
Sozialhilfe. <br />
Bild: Daniel Desborough<br />
Die qualitative<br />
Auswertung kam<br />
zum Schluss, dass<br />
insbesondere die<br />
kontinuierliche,<br />
zielgerichtete Fallarbeit<br />
zum positiven<br />
Resultat auf<br />
der Einnahmeseite<br />
führte.<br />
• Hindernisse zu identifizieren und Interventionsmöglichkeiten<br />
zu analysieren<br />
• proaktiv vorzugehen und schneller zu<br />
reagieren, beispielsweise in der Kooperation<br />
mit involvierten Fachstellen<br />
• gemeinsam mit Klientinnen und Klienten<br />
sowie involvierten Fachstellen<br />
nach passenden Lösungen zu suchen<br />
• eine längerfristige, nachhaltig orientierte<br />
Hilfeplanung aufzugleisen<br />
• bei Bedarf die Fallkenntnisse durch<br />
Hausbesuche zu vertiefen<br />
• ältere Fälle neu zu analysieren<br />
• laufende Integrationsprozesse (z.B.<br />
Teillohnprogramm) zu überprüfen<br />
Während des Pilotprojekts sprachen<br />
die drei Sozialarbeitenden ihrer Einschätzung<br />
nach weniger Auflagen und Sanktionen<br />
aus, als dies zuvor der Fall war. Sie<br />
hätten nun Zeit, die Prozesse gemeinsam<br />
mit den Klienten auszuhandeln und diese<br />
näher zu begleiten oder einen zweiten<br />
Anlauf zu nehmen, wenn etwas nicht auf<br />
Anhieb klappe. Umgekehrt vermittelten<br />
sie ihren Klientinnen und Klienten auch,<br />
dass sie bei Unklarheiten oder Problemen<br />
stets auf sie zukommen können. So fühlten<br />
sich diese besser informiert und mit ihren<br />
Anliegen ernstgenommen. Die Sozialar-<br />
beitenden konnten dadurch auch zeitnahe<br />
Informationen erwarten, was die gegenseitige<br />
Verbindlichkeit und Kooperation<br />
deutlich verbesserte.<br />
Insbesondere die zeitnahe, passende<br />
Aktivierung der Ressourcen sowie die<br />
nötigenfalls intensive Beratung und der<br />
vermehrte Kontakt mit den Klientinnen<br />
und Klienten führten zu einer höheren<br />
Ablösequote. Zudem stieg die Berufszufriedenheit<br />
der Sozialarbeitenden. Dies<br />
nicht nur, weil sie nicht mehr ständig unter<br />
Hochdruck standen, sondern weil sie<br />
ihre methodischen Kompetenzen wieder<br />
richtig nutzen sowie mehr Befriedigung<br />
aus der zielführenden sozialarbeiterischen<br />
Beratung ziehen konnten. <br />
•<br />
Miryam Eser Davolio, Isabelle Steiner, Rahel<br />
Strohmeier Navarro Smith, Heinrich Zwicky,<br />
Milena Gehrig<br />
Institut Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe,<br />
Departement Soziale Arbeit, ZHAW<br />
Studie:<br />
www.zhaw.ch/de/sozialearbeit/forschung/vielfalt-und-gesellschaftliche-teilhabe/communitydevelopment/auswirkung-der-fallbelastung-inder-sozialhilfe-auf-die-abloesequote/<br />
4/17 ZeSo<br />
27
Angebote zur Wohnversorgung von<br />
sozial benachteiligten Haushalten<br />
FACHBEITRAG Armutsbetroffene Menschen sind<br />
durchschnittlich schlechter wohnversorgt und benötigen<br />
Unterstützungsangebote. Die angemessene Wohnversorgung<br />
von sozial benachteiligten Haushalten gehört deshalb zu<br />
den Schwerpunkten des «Nationalen Programms gegen<br />
Armut» (2014 - 2018). Zum Abschluss der Arbeiten publiziert<br />
das Nationale Armutsprogramm im Februar 2018 eine<br />
Hilfestellung. Die Hilfestellung soll Kantonen, Städten und<br />
Gemeinden Anregungen zum Aufbau von Angeboten zur<br />
Wohnversorgung von armutsbetroffenen Haushalten geben.<br />
mässige Belastung durch zu hohe Wohnkosten.<br />
Die Wohnkosten übersteigen 30<br />
Prozent des Bruttoeinkommens, ein Erfahrungswert,<br />
der sich in der Praxis als sinnvoller<br />
Grenzwert für die Beurteilung von<br />
Wohnkosten durchgesetzt hat.<br />
Die Untersuchung ging auch der Frage<br />
nach, wie hoch in den Risikogruppen der<br />
Anteil derjenigen ist, die in ungenügenden<br />
Wohnverhältnissen leben. Bei den Alleinstehenden<br />
unter 65 Jahren sind 31,2<br />
Prozent, bei den Alleinerziehenden 37,4<br />
Prozent nicht angemessen wohnversorgt.<br />
Ausländische Haushalte aus Drittstaaten<br />
wiesen mit 42,8 Prozent mehr als doppelt<br />
so oft eine ungenügende Wohnversorgung<br />
auf wie Schweizer Haushalte (17,9): Je gut<br />
ein Fünftel der Unterversorgten litt unter<br />
beengten Wohnverhältnissen (23,0%)<br />
oder hohen Wohnkosten (20,2%). Ihr<br />
primäres Wohnversorgungsproblem liegt<br />
somit anders als bei Schweizer und EU-<br />
25-Haushalten nicht bei den Kosten, sondern<br />
bei der Wohnungsgrösse.<br />
Bedarf ist ausgewiesen<br />
Der Bedarf an Unterstützung sozial benachteiligter<br />
Haushalte durch Fachstellen<br />
der Wohnhilfe oder der Sozialhilfe ist demnach<br />
ausgewiesen, insbesondere solange<br />
sich der Wohnungsmarkt im Bereich des<br />
preiswerten Wohnraums nicht massgeblich<br />
entspannt. Um allen Haushalten mit<br />
Risikofaktoren eine (angemessene) Wohn-<br />
Wenig Wohnraum für sozial<br />
benachteiligte Haushalte. <br />
Bild: Béatrice Devènes<br />
Die Versorgung mit angemessenem Wohnraum<br />
ist ein zentraler Aspekt der Existenzsicherung<br />
und ein Sozialziel in der Bundesverfassung<br />
(Art. 108 BV). Doch ist<br />
dieses für alle Bevölkerungsgruppen erreicht?<br />
Und was müsste getan werden, um<br />
die Wohnsituation für Menschen in armutsbetroffenen<br />
Haushalten und prekären<br />
Lebenslagen zu verbessern? Zur Beantwortung<br />
dieser Fragen wurde im Rahmen der<br />
Studie «Wohnversorgung in der Schweiz»<br />
ein Modell für die Beurteilung der Wohnversorgung<br />
geschaffen, das die fünf Dimensionen<br />
Wohnkosten, Wohnungsgrösse,<br />
Wohnungsqualität, Wohnlage und<br />
Wohnsicherheit berücksichtigt. Die Operationalisierung<br />
erfolgte auf Basis der beiden<br />
Module zu den Wohnbedingungen, die<br />
das Bundesamt für Statistik 2007 und<br />
2012 im Rahmen der SILC (Statistics on<br />
Income and Living Conditions) zusätzlich<br />
zu den jährlich erhobenen Basisdaten ermittelt.<br />
Die Analyse der Wohnversorgung zeigt,<br />
dass 83,5 Prozent der armutsbetroffenen<br />
Haushalte und 57,1 Prozent der Haushalte<br />
in prekären Lebenslagen keine angemessene<br />
Gesamtwohnversorgung aufweisen.<br />
Damit sind armutsbetroffene Haushalte<br />
viermal und Haushalte in prekären Lebenslagen<br />
fast dreimal häufiger unangemessen<br />
wohnversorgt als der Durchschnitt<br />
der Bevölkerung. Hauptursache der ungenügenden<br />
Wohnversorgung ist die überversorgung<br />
zu ermöglichen, braucht es beispielsweise<br />
auch neue Lösungen für Haushalte<br />
mit Betreibungen, die auf verlässliche<br />
Mietzinsgarantien angewiesen sind, um<br />
die Wohnkostenbelastung nicht zu erhöhen.<br />
Das «Nationale Programm gegen Armut»<br />
liess weitere Studien im Bereich<br />
«Nicht monetärer Unterstützung Armutsbetroffener<br />
im Wohnen» sowie zu «Finanzielle<br />
Garantien zur Unterstützung beim<br />
Zugang zu Wohnraum» realisieren:<br />
28 ZeSo 4/17
Systematisierung des Angebotsspektrums<br />
nicht-staatlich<br />
staatlich<br />
Angebotsprofil 1:<br />
Beratung und Unterstützung<br />
bei der Wohnungssuche<br />
Angebotsspektrum<br />
Angebotsprofil 2:<br />
Wohnungsvermittlung und<br />
Wohnraumsicherung<br />
Angebotsprofil 3:<br />
Begleitung und Betreuung<br />
in eigenen/angemieteten<br />
Liegenschaften<br />
Casanostra Biel (Stadt Biel-Bienne)<br />
IG Wohnen Basel (Kanton Basel-Stadt)<br />
Fondation Apollo (Ville de Vevey, La Tour-de-Peilz, Montreux, Yverdon-les-Bains)<br />
Stiftung Domicil (Stadt Zürich)<br />
Wohnhilfe (Gemeinde Schlieren)<br />
Wohnen Bern (Stadt Bern)<br />
Unité logement, Service social (Ville de Lausanne)<br />
Wohnen und Obdach (Stadt Zürich)<br />
Wohncoaching (Stadt Luzern)<br />
SAS (Città di Lugano)<br />
SAS (Lugano)<br />
Quelle: Althaus et.al. (2016): Nicht-monitäre Dienstleistungen im Bereich Wohnen für armutsbetroffene und -gefährdete Menschen –<br />
Eine Untersuchung von staatlichen und nicht-staatlichen Angeboten, Bern, Beträge zur Sozialen Sicherheit, Forschungsbericht 2/16, S. 31.<br />
Mit der systematischen Prüfung der<br />
nicht-monetären Angebote liessen sich<br />
drei typische Angebotsprofile bei den<br />
derzeitigen Anbietenden herausfiltern:<br />
Beratung und Unterstützung bei der Wohnungssuche<br />
bzw. bei Wohnfragen (Profil<br />
1), Wohnungsvermittlung und Wohnraumsicherung<br />
(Profil 2), Begleitung und<br />
Betreuung in eigenen oder angemieteten<br />
Liegenschaften (Profil 3). Je nach Ausrichtung<br />
erstreckt sich das spezifische Angebotsspektrum<br />
eines Akteurs in der Praxis<br />
über ein, zwei oder gar alle drei Profile. Der<br />
Zugang für armutsbetroffene und -gefährdete<br />
Menschen zum Wohnungsmarkt wird<br />
erleichtert, wenn die Anbieter von Dienstleistungen<br />
sich mit Akteuren aus der Immobilienbranche<br />
vernetzen und verbindlich<br />
mit ihnen zusammenarbeiten.<br />
Die Studien brachten aber auch Versorgungslücken<br />
zutage: Differenzierte Dienstleistungen<br />
der Beratung, Vermittlung und<br />
Sicherung von angemessenen Wohnungen<br />
finden sich längst nicht in allen Städten<br />
und Gemeinden mit angespannten Wohnungsmärkten.<br />
Und bei den bestehenden<br />
Angeboten übersteigt die Nachfrage nach<br />
Unterstützung häufig die Kapazitätsgrenzen.<br />
Dabei sind die Angebote in Profil 3<br />
erfahrungsgemäss auch bei entspannten<br />
Wohnungsmärkten notwendig, da sich armutsbetroffene<br />
und -gefährdete Menschen<br />
in komplexen Lebenslagen auf der Suche<br />
oder bei der Sicherung von Wohnraum immer<br />
mit Diskriminierung und Exklusion<br />
konfrontiert sehen.<br />
Die nicht-monetäre Unterstützung armutsbetroffener<br />
und -gefährdeter Menschen<br />
in Wohnfragen ist kommunal sehr<br />
unterschiedlich geregelt. Während gewisse<br />
Gemeinden spezialisierte Beratungs- und<br />
Unterstützungsstellen eingerichtet haben,<br />
sind solche in anderen Gemeinden nur<br />
teilweise vorhanden oder inexistent. Wo<br />
Angebote bestehen, kann zwischen staatlichen<br />
und nicht-staatlichen Anbietern von<br />
Dienstleistungen unterschieden werden.<br />
Städtische Sozialämter und Sozialdienste<br />
bieten neben der gesetzlich verpflichteten<br />
Obdachlosenhilfe (Bereitstellung von Notunterkünften)<br />
teils auch Unterstützung<br />
<br />
4/17 ZeSo<br />
29
ei der Wohnungssuche oder gegen drohenden<br />
Wohnungsverlust an und sie helfen<br />
Sozialhilfebeziehenden zuweilen auch<br />
bei der Stabilisierung ihrer Wohnsituation.<br />
In vielen Städten ging die Initiative<br />
für solche Dienstleistungen von privaten<br />
Vereinen oder Stiftungen aus, die ihre<br />
Aufgaben heute in der Regel im Leistungsauftrag<br />
einer oder mehrerer Gemeinden<br />
wahrnehmen.<br />
Erst finanzielle Garantien geben<br />
Sicherheit<br />
Eine grundlegende Erkenntnis der Studien<br />
ist, dass nicht-monetäre Dienstleistungen<br />
die Bereitschaft, das Verständnis und<br />
die Handlungssicherheit der Vermietenden<br />
fördern; doch erst finanzielle Garantien<br />
geben ihnen die letztlich entscheidende<br />
ökonomische Sicherheit.<br />
Gegenwärtig bestehen in der Praxis<br />
drei finanzielle Garantiemodelle: (1) die<br />
Verbürgung der Mietkaution, (2) die Solidarhaftung<br />
sowie (3) die direkte Übernahme<br />
des Mietvertrags. Alle Garantiemodelle<br />
richten sich an einkommensschwache und<br />
sozial benachteiligte Haushalte, unabhängig<br />
davon, ob sie Sozialhilfe beziehen.<br />
Indem diese Modelle auch allfällige finanzielle<br />
Lücken überbrücken, die nach der<br />
Ablösung von der Sozialhilfe entstehen<br />
können, oder ein (erneutes) Abrutschen<br />
durch eine gezielte Unterstützung verhindern,<br />
und indem sie dazu beitragen, teure<br />
Folgekosten aufgrund eines Wohnungsverlustes<br />
zu vermeiden, weisen sie für Städte<br />
und Gemeinden sowohl einen sozialen als<br />
auch einen wirtschaftlichen Nutzen aus.<br />
Im Unterschied zur öffentlichen Hand,<br />
für welche die direkte Übernahme finanzieller<br />
Garantien mit aufwändigen bürokratischen<br />
Prozessen oder teilweise fehlenden<br />
gesetzlichen Grundlagen einhergeht, sind<br />
Drittanbietende von Garantiemodellen<br />
flexibel und in der Lage, sehr rasch zu<br />
handeln. Durch den Abschluss von Leistungsvereinbarungen<br />
und Subventionen<br />
an Drittanbietende können Kantone,<br />
Städte und Gemeinden die gewünschten<br />
Leistungen und die Zusammenarbeit klar<br />
regeln, überprüfen und den aktuellen Entwicklungen<br />
und Erfahrungen anpassen.<br />
Hilfestellung zu Angeboten der Wohnhilfe<br />
Die Arbeiten des «Nationalen Programms gegen Armut» im Bereich «Wohnen» wurden begleitet von<br />
einer Projektgruppe aus Vertretern der SODK, des Städte- und Gemeindeverbands, der SKOS, der Immobilienbranche,<br />
Akteuren der Wohnhilfe und dem Bundesamt für Wohnungswesen. Weitere Ergebnisse<br />
des Programms sind verfügbar unter www.gegenarmut.ch/studien/<br />
Angebote der Wohnhilfe für sozial<br />
benachteiligte Haushalte<br />
Eine Hilfestellung für Kantone, Städte und<br />
Gemeinden<br />
Ein Knackpunkt bei der Förderung von<br />
erschwinglichem Wohnraum für sozial<br />
Benachteiligte ist die Bereitschaft der Gemeinden,<br />
die Garantiemodelle für Mieter<br />
mit sehr tiefen Einkommen ausserhalb der<br />
Sozialhilfe zu fördern. Auch hier bietet sich<br />
die Kooperation mit Drittanbietenden an,<br />
da diese teilweise mit relativ geringem Aufwand<br />
viel erreichen können.<br />
Basierend auf diesen Erkenntnissen<br />
wurde jetzt eine Hilfestellung für Kantone,<br />
Städte und Gemeinden entwickelt, um die<br />
möglichen Angebote der Wohnhilfe aufzuzeigen<br />
sowie konkrete Handlungsempfehlungen<br />
zu geben. Eine Checkliste zeigt das<br />
Vorgehen beim Aufbau solcher Angebote<br />
auf und liefert die entsprechenden Argumentarien<br />
für Angebote in der eigenen<br />
Gemeinde. Die Hilfestellung informiert<br />
über die diversen Schnittstellen zwischen<br />
Wohn- und Sozialpolitik, Objekt- und<br />
Subjekthilfe sowie über die möglichen Zusammenarbeitsformen<br />
insbesondere mit<br />
der Immobilienbranche als Hauptakteur<br />
auf dem Wohnungsmarkt. Das Herzstück<br />
der Hilfestellung sind die Steckbriefe der<br />
• Wohnversorgung in der Schweiz – Bestandsaufnahme<br />
über Haushalte von Menschen in Armut und in prekären<br />
Lebenslagen, Bern, Beiträge zur Sozialen Sicherheit,<br />
Forschungsbericht 15/15, Bochsler et.al. (2015)<br />
• Nicht-monetäre Dienstleistungen im Bereich Wohnen<br />
für armutsbetroffene und -gefährdete Menschen – Eine<br />
Untersuchung von staatlichen und nicht-staatlichen Angeboten,<br />
Bern, Beiträge zur Sozialen Sicherheit, Forschungsbericht<br />
2/16, Althaus et.al. (2016)<br />
• Sicherung und verbesserter Zugang zu Wohnraum für<br />
sozial benachteiligte Haushalte – Finanzielle Garantiemodelle<br />
gegenüber Vermietenden, ETH Wohnforum – ETH<br />
CASE, Althaus et.al. (<strong>2017</strong>)<br />
• Angebote der Wohnhilfe für sozialbenachteiligte<br />
Haushalte – Eine Hilfestellung für Kantone, Städte und<br />
Gemeinden; Beck et.al. (voraussichtlich Februar 2018)<br />
Die Hilfestellung wird voraussichtlich im Februar 2018 auf Deutsch, Französisch und Italienisch<br />
erscheinen. Bestellungen unter www.bundespublikationen.admin.ch, Bestellnummer 318.870.3<br />
einzelnen Angebote. Abschliessend zeigen<br />
fünf Gemeinden ihr Engagement und ihre<br />
Erfahrungen im Bereich der Wohnhilfen<br />
auf. Sie illustrieren, dass je nach Situation<br />
vor Ort verschiedene Unterstützungsangebote<br />
kombiniert werden. Die Gemeinden<br />
machen gute Erfahrungen und stellen eine<br />
spürbare Verbesserung für armutsbetroffene<br />
Haushalte bei der Wohnungssuche<br />
und einer längerfristigen Integration am<br />
jeweiligen Wohnort fest.<br />
Dieser Artikel stützt sich auf die Artikel<br />
«Wohnversorgung armutsbetroffener<br />
und -gefährdeter Haushalte – CHSS Nr.<br />
2 ⁄ 06.2016», «Nicht monetäre Unterstützung<br />
Armutsbetroffener im Wohnen<br />
– CHSS Nr. 3 ⁄ 10.2016» und «Finanzielle<br />
Garantien unterstützen beim Zugang<br />
zu Wohnraum – CHSS Nr. 4 / 12. <strong>2017</strong>»<br />
der Zeitschrift «Soziale Sicherheit» CHSS<br />
des Bundesamts für Sozialversicherungen<br />
(BSV).<br />
•<br />
Miriam Götz<br />
Projektleiterin Nationales Programm gegen<br />
Armut, Bundesamt für Sozialversicherungen<br />
30 ZeSo 4/17
Suppe ist zu wenig<br />
PLATTFORM Die Heilsarmee, eine um 1865 gegründete christliche Bewegung, die in 128 Ländern<br />
vertreten ist, kennt man heutzutage insbesondere durch ihre Sängerinnen und Sänger in der<br />
Weihnachtszeit. Die Heilsarmee ist aber weit mehr. Sie ist Kirche und auch Sozialwerk. Beide arbeiten<br />
eng zusammen und sind unter dem Dach der Stiftung Heilsarmee Schweiz zusammengefasst.<br />
Das Sozialwerk der Heilsarmee Schweiz<br />
beschäftigt rund 1600 Mitarbeitende<br />
über die <strong>ganz</strong>e Schweiz verteilt. Die Arbeitsbereiche<br />
sind dabei sehr vielfältig. Es<br />
handelt sich zum Beispiel um sozialpädagogische<br />
Einrichtungen, die Kinder und<br />
Jugendliche von Geburt an bis ins junge<br />
Erwachsenenalter betreuen. Ferner gibt es<br />
diverse Institutionen mit einem Wohnund<br />
Arbeitsangebot. Diese richten sich<br />
meist an Menschen mit psychischen Problemen.<br />
Auch Notschlafstellen und begleitete<br />
Wohnformen werden angeboten. Zusätzlich<br />
werden Arbeitsintegrationsplätze<br />
in den Brockenstuben und Betrieben der<br />
Heilsarmee oder bei externen Partnern vermittelt.<br />
Die Flüchtlingsbetreuung ist ebenfalls<br />
ein grosser Bereich des Sozialwerks.<br />
Spezielle Angebote wie Beratung, Bildung,<br />
psychiatrische Spitex, Integrationsförderung,<br />
Entlastung für Familiensysteme und<br />
sogar ein Hotel runden den bunten Blumenstrauss<br />
ab.<br />
Viele dieser Angebote und Häuser blicken<br />
auf eine lange Historie zurück und<br />
haben sich über die Jahre den Bedürfnissen<br />
immer wieder angepasst. In manchen<br />
Bereichen ging und geht die Heilsarmee<br />
auch bewusst in die Pionierarbeit hinein.<br />
Sie versteht sich als Lückenfüller im sozialen<br />
Markt und investiert auch dort, wo der<br />
Bedarf schon ermittelt wurde, aber noch<br />
kein Kostenträger bereitsteht. Hier will sie<br />
innovativ und unbürokratisch Hilfe leisten.<br />
Selbstverständlich sind auch die bestehenden<br />
Angebote dem Markt unterworfen. Die<br />
Heilsarmee hat aber klare Kriterien, wie sie<br />
ihre Arbeit ausüben will, und sollten diese<br />
nicht (mehr) erfüllt werden können, weist<br />
sie einen Auftrag auch mal zurück.<br />
Ganzheitlicher Ansatz<br />
Die Heilsarmee leitet bei ihrer Arbeit ein<br />
<strong>ganz</strong>heitlicher Ansatz. Sicherheit, Selbstwert<br />
und Sinn sind Basis der Vision und somit<br />
Kern des Ansatzes.<br />
• Sicherheit verkörpert die existenziellen<br />
TEILHABE<br />
WOHNEN<br />
Bild: zvg<br />
Bedürfnisse des Menschen, die sich von<br />
der Nahrung bis hin zur Unversehrtheit<br />
erstrecken.<br />
• Selbstwert bezeichnet die Wiederherstellung<br />
von Würde und Achtung eines<br />
Menschen.<br />
• Sinn kommt als drittes Element dazu:<br />
Woher komme ich, was mache ich hier<br />
und wohin gehe ich? Diese universellen<br />
Fragen beeinflussen unser Handeln genauso<br />
wie alle anderen sozialen Handreichungen.<br />
Die aussenstehenden Quadrate bezeichnen<br />
die Bereiche, auf welche unsere<br />
Angebote fokussieren. Jeder einzelne ist<br />
für sich genommen wichtig, aber ihre volle<br />
Wirkung entfalten sie erst zusammen.<br />
• Teilhabe (oder auch Inklusion) fasst alle<br />
Bemühungen zusammen, sich gegen<br />
die Ausgrenzung von Menschen im sozialen<br />
oder kulturellen Kontext zu stemmen.<br />
Grundlage ist hier die UN-BRK,<br />
aber nicht nur. Ausgrenzung geschieht<br />
PLATTFORM<br />
SICHERHEIT<br />
SINN<br />
SELBSTWERT<br />
ARBEIT<br />
FÖRDERUNG<br />
Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />
diese Rubrik als Plattform an, auf der sie sich<br />
und ihre Tätigkeit vorstellen können: in dieser<br />
Ausgabe der weltweit tätigen Kirch- und Hilfsorganisation<br />
Heilsarmee.<br />
durch Menschen und kann sehr schnell<br />
entstehen. Selbst innerhalb der Heilsarmee<br />
ist man dagegen nicht gefeit. Die<br />
Heilsarmee hat einen Inklusionsbeauftragten,<br />
der die Standorte bezüglich<br />
dem offenen Inklusionspotenzial berät.<br />
• Arbeit ist ein weiteres Schlüsselelement<br />
bei der <strong>ganz</strong>heitlichen Betrachtung<br />
eines Lösungsansatzes. Neben den<br />
offensichtlichen finanziellen Konsequenzen<br />
hat Arbeit, selbst unbezahlte,<br />
viel mit Würde und Angenommensein<br />
zu tun.<br />
• Förderung – man kann auch Bildung<br />
sagen – unterstützt Teilhabe und Arbeit<br />
direkt und indirekt. Jeder Mensch<br />
hat Ressourcen und es gilt, diese zu fördern.<br />
Auch kann es je nach Ausgangslage<br />
schon ein Erfolg sein, Ressourcen zu<br />
erhalten.<br />
• Wohnen, auch zu verstehen als Zuhause,<br />
war schon immer ein wichtiger Baustein<br />
im Angebot der Heilsarmee. Hier<br />
ist nicht nur das Dach über dem Kopf<br />
gemeint. Von Bedeutung ist auch das<br />
soziale Umfeld; dass jemand nachfragt,<br />
wenn eine Person vermisst wird.<br />
All diese Elemente werden in den einzelnen<br />
Institutionen in irgendwelcher<br />
Form berücksichtigt, etwa als konkrete Angebote.<br />
Wo dies nicht gegeben ist, werden<br />
sie von den Institutionen mithilfe interner<br />
oder externer Partner sichergestellt. Dank<br />
ihrer breiten Palette an Dienstleistungen<br />
ist es der Heilsarmee möglich, vieles vor<br />
Ort oder regional in sogenannten Dienstleistungsketten<br />
anzubieten. Somit ist ein<br />
übergeordnetes Casemanagement zumindest<br />
in der Theorie möglich.<br />
Eines ist sicher: Auch in Zukunft wird<br />
sich die Heilsarmee nicht damit zufriedengeben,<br />
nur zu singen und Suppe abzugeben.<br />
Der Mensch braucht mehr! •<br />
Daniel Röthlisberger<br />
Direktor Sozialwerk<br />
4/17 ZeSo<br />
31
Flüchtlinge und Sozialhilfeempfänger<br />
lernen gemeinsam<br />
REPORTAGE Asylbewerber sollen sich möglichst rasch Kompetenzen aneignen, die es ihnen<br />
ermöglichen, Arbeit zu finden. Da dasselbe auch für Sozialhilfeempfänger gilt, sollen beide<br />
Personengruppen im Wallis Ausbildungsprogramme gemeinsam absolvieren. Ziel ist, dass die<br />
Betroffenen ein von der Branche anerkanntes Attest erhalten. Das Projekt befindet sich im Aufbau.<br />
In den Ateliers des Zentrums Le Botza in<br />
Vétroz im Kanton Wallis entstehen jedes<br />
Jahr besondere Dinge. Letztes Jahr war es<br />
eine Holzbrücke. Dieses Jahr sind es ein<br />
Paar Ski von fünf und ein Paar Skistöcke<br />
von drei Metern Länge. Die Sport-Ausrüstung<br />
war ein Geschenk an einen besonderen<br />
Gast, der Ende September nach Genf<br />
kam – die kleine Riesin. Die kleine Riesin<br />
ist eine Marionette von stattlicher Grösse:<br />
sie ist 5,5 Meter gross und 800 kg schwer<br />
und Mitglied der Strassentheatergruppe<br />
XXL «Royal de Luxe», deren Spaziergang<br />
durch die Genfer Innenstadt mehrere hunderttausend<br />
Menschen anzog.<br />
Le Botza ist ein Ausbildungszentrum,<br />
das mit grossem Engagement des Leiters<br />
des Amtes für Asylwesen Roger Fontannaz<br />
weiterentwickelt wird. Für Fontannaz<br />
ist schon lange klar, dass die Asylsuchenden<br />
möglichst rasch damit beginnen sollen,<br />
sich die für eine Integration nötigen<br />
Kenntnisse zu erwerben. Dazu gehören<br />
zunächst Kenntnisse einer Landessprache,<br />
aber auch soziale und berufliche Fertigkeiten.<br />
Während es früher vor allem darum<br />
ging, die Rückkehr der Flüchtling vorzubereiten,<br />
versucht man heute beides: Kenntnisse<br />
zu vermitteln, die Perspektiven für<br />
die Rückkehr bieten, aber auch den Weg<br />
in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft<br />
in der Schweiz ebnen. Dies schlicht aus der<br />
Erkenntnis heraus, dass die Mehrheit der<br />
Flüchtlinge bleiben wird.<br />
Sprachliche und berufliche<br />
Basiskompetenzen<br />
Das Ausbildungszentrum Botza sammelt<br />
bereits seit 17 Jahren Erfahrungen mit der<br />
beruflichen Integration von Flüchtlingen<br />
in den Arbeitsmarkt. Es ist eines von drei<br />
Ausbildungszentren im Kanton Wallis. Etwa<br />
100 Asylbewerber erwerben in Botza jeweils<br />
sprachliche und erste berufliche Basiskompetenzen.<br />
Die Ausbildungs- und<br />
Beschäftigungsprogramme finden in Ateliers<br />
statt. So gibt es in Botza ein Holzatelier,<br />
ein Bau-Atelier, ein Näh- und ein Coiffeur-Atelier,<br />
eines für die Landwirtschaft<br />
und den Weinbau. Im Restaurant des Zentrums<br />
Le Botza werden Kenntnisse der<br />
Gastronomie vermittelt. Die Ateliers sind<br />
auch für den Unterhalt des Zentrums zuständig,<br />
für Renovation, Reparaturen, Einrichtung<br />
etc. «Es ist uns sehr wichtig, dass<br />
das Zentrum gut unterhalten und bewohnbar<br />
ist», sagt Fontannaz. Die Appartements<br />
werden immer frisch gestrichen, wenn Bewohner<br />
ausziehen und neue kommen.<br />
Auch Vorhänge für die Appartements werden<br />
hier genäht und das eine oder andere<br />
Möbelstück gefertigt. Und sogar das neue<br />
Gebäude des Ausbildungszentrums wurde<br />
von den Flüchtlingen errichtet.<br />
Tätigkeitsnachweis für Absolventen<br />
Neu sollen die Absolventen der Programme<br />
eine Art Tätigkeitsnachweis erhalten,<br />
um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt<br />
zusätzlich zu verbessern. Mit der Hotellerie<br />
Valaisanne ist das für die Ausbildung in<br />
der Gastronomie bereits gelungen. Zunächst<br />
wird bei jedem Interessenten das<br />
Ziel der Ausbildung definiert. Die Ausbildung<br />
selbst kann einige Monate dauern<br />
oder ein <strong>ganz</strong>es Jahr. Die Teilnehmenden<br />
erwerben sowohl soziale und allgemeine<br />
berufliche Kenntnisse als auch spezifische,<br />
technische für einen bestimmten Beruf.<br />
Am Schluss werden die Kompetenzen der<br />
Teilnehmenden von einem Experten des<br />
Bundes geprüft. Dem Absolventen werden<br />
sowohl die spezifischen technischen Fähigkeiten<br />
bescheinigt; beispielsweise die Bedienung<br />
der Grossküchen-Spülmaschine,<br />
der Unterhalt der Küche, die Kenntnisse<br />
der Hygiene und Sicherheitserfordernisse,<br />
der täglichen Abläufe im Restaurant, etc.<br />
Bescheinigt wird aber auch Pünktlichkeit,<br />
Erscheinung, Auftreten, Beachtung der gegebenen<br />
Anweisungen oder kommunikative<br />
Fähigkeiten.<br />
Neu ist ferner, dass die Ausbildungen<br />
auch für Sozialhilfebeziehende angeboten<br />
32 ZeSo 4/17
werden. Ziel ist laut Fontannaz, dass in<br />
den Gruppen je zur Hälfte Sozialhilfebeziehende<br />
und Personen aus dem Flüchtlingsbereich<br />
teilnehmen. Im Grunde sei<br />
für Sozialhilfebeziehende eine Ausbildung<br />
genauso wichtig. Es sei gleichzeitig für<br />
In Ateliers werden<br />
erste Kenntnisse<br />
verschiedener Berufe<br />
vermittelt.<br />
Bilder: zvg<br />
Asylbewerber eine Gelegenheit, Einheimische<br />
kennenzulernen – und zu erfahren,<br />
dass es auch nicht allen Bewohnern der<br />
Schweiz gut gehe. Das Gastronomie-Team<br />
ist jetzt bereits gemischt. In anderen Bereichen<br />
ist man noch weniger weit. Denn<br />
nicht jede der angebotenen Ausbildungen<br />
betreffen Branchen, in der echter Arbeitskräfte-Bedarf<br />
besteht. «Die niederschwelligen<br />
Berufe herauszufinden, in denen Arbeitskräfte<br />
gesucht sind, ist eine Aufgabe,<br />
die wir jetzt zusammen mit dem Amt für<br />
Berufsausbildung in Angriff nehmen», wie<br />
Fontannaz sagt.<br />
Nach der Ausbildung im Zentrum-<br />
Restaurant können Interessierte anschliessend<br />
im Restaurant «Le temps de vivre in<br />
Les Mayens de Chamoson» praktische<br />
Erfahrungen sammeln. Das Restaurant<br />
zwischen der Rhône und dem Berg Haut<br />
de Cry wird von Trip advisor als exzellent<br />
ausgezeichnet und als das beste Restaurant<br />
von Ovronnaz empfohlen. Donnerstag,<br />
Freitag und am Wochenende ist das Restaurant<br />
meist voll. Auch viele Touristen<br />
kommen hier vorbei. Die Bedienung ist<br />
etwas schüchtern, aber freundlich. Sie ist<br />
Asylbewerberin und kommt aus Eritrea.<br />
Sie arbeitet seit einem Monat zusammen<br />
mit 18 Asylbewerbern und einigen Sozialhilfeempfangenden<br />
hier oben in den Bergen<br />
und wird noch fünf Monate bleiben.<br />
Laut Roger Fontannaz bietet das Restaurant<br />
den Teilnehmenden nicht nur die<br />
Möglichkeit praktische Berufserfahrungen<br />
zu sammeln, sondern ist auch eine gute<br />
Gelegenheit, mit Einheimischen in Kontakt<br />
zu treten und damit beidseitig Verständnis<br />
und Akzeptanz zu fördern.<br />
Ein Schritt auf dem Weg der<br />
Integration<br />
Die Beschäftigung und Tätigkeiten in den<br />
Ateliers ist für die in Botza Anwesenden ein<br />
wichtiges Element im Hinblick auf die Integration<br />
in Beruf und Gesellschaft. Sie ist<br />
aber für viele nach den oft traumatisierenden<br />
Erlebnissen der Flucht auch eine sehr<br />
wichtige seelische Unterstützung. Einen<br />
selbst gefertigten Gegenstand in der Hand<br />
zu halten, sei für sie ein Erfolgserlebnis.<br />
«Für uns ist es sehr bewegend, traumatisierte<br />
Menschen zu sehen, die wieder lächeln»,<br />
sagt Frédéric Moix, Verantwortlicher<br />
für Integration und berufliche<br />
Entwicklung im «Le Botza». Es ist ein<br />
Schritt auf dem Weg der Integration. Ob<br />
diese dank den Ausbildungen auf Dauer<br />
gelingt, wissen Fontannaz und Moix noch<br />
nicht. <br />
•<br />
Ingrid Hess<br />
4/17 ZeSo<br />
33
Soziale Ungleichheit<br />
Ein Prozent der Weltbevölkerung besitzt über<br />
50 Prozent des Weltvermögens. 99 Prozent der<br />
Weltbevölkerung diskutieren darüber, handeln<br />
aber nicht. Soziale Ungleichheit ist für Anthony<br />
Atkinson, den weltweit führenden Experten,<br />
<strong>ganz</strong> oben auf der «Agenda der Weltprobleme».<br />
Man kann fast alle tagespolitischen Konflikte,<br />
die Flüchtlings- und Eurokrise, den Terrorismus<br />
und die Kriege im Nahen Osten auf sie zurückführen. Gegen die<br />
lähmende Untätigkeit legt der britische Ökonom ein Programm für den<br />
Wandel vor und empfiehlt 15 konkrete Massnahmen für die Bereiche<br />
Technologie, Arbeit, soziale Sicherheit sowie Kapital und Steuern.<br />
Atkinson Anthony B., Ungleichheit, Was wir dagegen tun können, Klett-Cotta, <strong>2017</strong>,<br />
474 Seiten, CHF 40.−, ISBN: 978-3-608-94905-6<br />
Familienkosten im Griff<br />
Eltern stellen im ersten Moment kaum finanzielle<br />
Überlegungen an, wenn sie eine Familie<br />
gründen. Doch es lässt sich nicht wegdiskutieren,<br />
dass Kinder eine Menge Geld kosten – je<br />
älter sie werden, desto höher sind ihre Kosten.<br />
Sie brauchen nicht nur ein Dach über dem Kopf,<br />
Essen und Kleider. Wenn Eltern beispielsweise<br />
ihre Berufstätigkeit reduzieren müssen, sind<br />
das indirekte Kinderkosten. Der Beobachter-Ratgeber hilft bei Fragen<br />
zur Finanzplanung des Familienlebens von der Schwangerschaft über<br />
die Taschengeld-Regelungen bis zu Versicherungs- und Steuerfragen.<br />
Döbeli Cornelia, Familienbudget richtig planen, Die Finanzen im Überblick – durch alle<br />
Familienphasen, Beobachter Verlag, <strong>2017</strong>, 216 Seiten, CHF 32.−,<br />
ISBN 978-3-03875-060-4<br />
Umgang mit Flüchtlingen<br />
In dem Buch werden neue Anforderungen in<br />
unterschiedlichen Handlungsfeldern beschrieben<br />
und diskutiert, die sich im Umgang mit<br />
Geflüchteten ergeben: Menschen mit traumatisierenden<br />
Erfahrungen benötigen konkrete<br />
Hilfen, minderjährige Geflüchtete müssen in Angeboten<br />
der Kinder- und Jugendhilfe aufgenommen<br />
werden, Rassismus und Diskriminierungen<br />
muss gerade von professioneller Seite reflektiert begegnet werden.<br />
Neben theoretischen Einordnungen zum Flüchtlingsdiskurs liefern die<br />
Beiträge Antworten auf aktuelle Fragen und entwickeln praxisrelevante<br />
Zugänge zum Thema.<br />
Bröse Johanna, Faas Stefan, Stauber Barbara (Hrsg.), Flucht, Herausforderungen<br />
für die Soziale Arbeit, Springer VS, <strong>2017</strong>, 234 Seiten, CHF 44.−,<br />
ISBN 978-3-658-17091-2<br />
Neue Beiträge zur<br />
Sozialgeschichte<br />
Sozialgeschichte ist kein neues Forschungsfeld<br />
– sondern eines, dessen weitere Existenz auch<br />
schon mal als bedroht gilt. Zugleich ist das Soziale<br />
unbestreitbar im Gespräch. Dass sich Geschichte<br />
und Gegenwart der sozialen Ungleichheit<br />
nicht in ein lineares Fortschrittsnarrativ<br />
fügen, gehört zu den grossen politischen und<br />
intellektuellen Herausforderungen unserer Zeit. Das Buch erkundet, was<br />
heute als Sozialgeschichte betrieben wird, wo Traditionen und klassische<br />
Konzepte sich als ungebrochen tragfähig erweisen und wo sich neue<br />
Impulse und transdisziplinäre Konzepttransfers abzeichnen.<br />
Arni Caroline, Leimgruber Matthieu, Teuscher Simon (Hrsg.), Neue Beiträge zur<br />
Sozialgeschichte, Chronos Verlag, <strong>2017</strong>, 176 Seiten, CHF 38.−,<br />
ISBN 978-3-0340-1389-5<br />
Innovative Modelle für<br />
berufliche Integration<br />
Der Arbeitsmarkt wandelt sich und mit ihm die<br />
Anforderungen an die Arbeitsmarktintegration.<br />
Gleichzeitig erleben Sozialfirmen angesichts strikter<br />
Rahmenbedingungen einen Innovationsstau.<br />
Was bedeutet das für die Entwicklung der Arbeitsmarktintegration?<br />
Die Drosos-Stiftung führte das<br />
Ausschreibungsverfahren «Neue Wege in den<br />
Arbeitsmarkt – Innovative Modelle für berufliche<br />
Integration» mit Unterstützung der Hochschule<br />
für Soziale Arbeit FHNW durch. Die Abschlussveranstaltung<br />
umfasst Projekt-Präsentationen,<br />
Referate und Diskussionen.<br />
Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Olten<br />
Donnerstag, 11. Januar 2018<br />
www.fhnw.ch<br />
(Dis-)Kontinuitäten in der<br />
Fremdplatzierung<br />
Lebensläufe von fremdplatzierten Kindern und<br />
Jugendlichen sind oft stark geprägt durch Beziehungsabbrüche<br />
und Diskontinuitäten. Entsprechend<br />
ist es eine grosse Herausforderung für die<br />
Professionellen der Kinder- und Jugendhilfe, diesen<br />
Mangel an Sicherheits- und Geborgenheitsgefühl<br />
zu «kompensieren». Die Tagungsteilnehmer<br />
erwarten Beiträge aus Forschung und Praxis aus<br />
dem In- und Ausland. Der Fokus richtet sich dabei<br />
auf den Aspekt der Kontinuität und Diskontinuität<br />
von Lebenswegen und -verläufen.<br />
Hotel Bern, Bern<br />
Dienstag, 23. Januar 2018<br />
www.integras.ch<br />
Arbeit, Beschäftigung und Eingliederungsmanagement<br />
Die Konferenz bietet ein internationales Forum<br />
für die Diskussion der aktuellen Veränderungen<br />
der Arbeitsgesellschaft und deren Folgen für<br />
Beschäftigung und Eingliederungsmanagement.<br />
Der Fokus liegt dabei auf den Herausforderungen,<br />
die sich daraus für die (inter-)professionelle<br />
Koordination und Kooperation der verschiedenen<br />
Akteure in Unternehmen, Organisationen der<br />
Arbeitsintegration und Sozialversicherungen<br />
ergeben.<br />
Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Olten<br />
Donnerstag bis Freitag, 25./26. Januar 2018<br />
www.fhnw.ch<br />
34 ZeSo 4/17
ls strukturiereiständinnen<br />
inem ersigen.<br />
Dabei<br />
tsführung<br />
achsenensensbausteidie<br />
praktische<br />
dargestellt.<br />
21.07.17 10:55<br />
3<br />
Leitfaden für Berufsbeiständinnen<br />
und Berufsbeistände<br />
Rosch<br />
Daniel Rosch<br />
Leitfaden für Berufsbeiständinnen<br />
und Berufsbeistände<br />
Leitfaden für Berufsbeistände<br />
Bisher findet sich kein Leitfaden, der die<br />
Systematik und Wissensbausteine für<br />
die Mandatsführung<br />
Mandatsführung als strukturierten Prozess<br />
aufzeigt. Diese Lücke will dieser Leitfaden für<br />
Berufsbeiständinnen und Berufsbeistände<br />
schliessen. Er zeigt in einem ersten Teil die<br />
Systematik der Tätigkeit eines Beistandes auf.<br />
Band 3<br />
Schriften zum Kindes- und Erwachsenenschutz<br />
herausgegeben von Daniel Rosch<br />
Dabei werden die Aufgaben der Mandatsführung<br />
umschrieben und in den Kontext, etwa zur<br />
und Luca Maranta<br />
Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB), gestellt. Der zweite<br />
Teil informiert zu Mandatsführung im Praxisalltag.<br />
Rosch Daniel, Maranta Luca (Hrsg.), Leitfaden für Berufsbeiständinnen und Berufsbeistände,<br />
Systematik und Wissensbausteine für die Mandatsführung, hep Verlag, <strong>2017</strong>,<br />
176 Seiten, CHF 48.−, ISBN 978-3-0355-0914-4<br />
lesetipps<br />
Zukunft des Sozialstaats<br />
Der Sozialstaat ist bedroht: Demografischer und<br />
kultureller Wandel, Arbeit 4.0 und die Auflösung<br />
der Familienverhältnisse entziehen ihm<br />
seine Grundlagen. Aus diesem Szenario heraus<br />
entwirft der Autor Lösungen für eine Sozialpolitik<br />
des 21. Jahrhunderts, die einem Programm<br />
«Sozialer Nachhaltigkeit» verpflichtet ist. Er<br />
diskutiert die Idee des Grundeinkommens im<br />
Lichte unterschiedlicher Gerechtigkeitsprinzipien und Wohlfahrtsregimes<br />
und zeigt die Rolle der Sozialen Arbeit und die Bedeutung von<br />
Partizipation bei der künftigen Gestaltung des Sozialstaats auf.<br />
Opielka Michael, Welche Zukunft hat der Sozialstaat?, Lambertus-Verlag, <strong>2017</strong>,<br />
64 Seiten, CHF 12.−, ISBN 978-3-7841-3001-9<br />
Sprache in der Sozialen<br />
Arbeit<br />
Caritas Sozialalmanach:<br />
Nationalismus<br />
Die Beiträge in diesem Buch analysieren Sprache<br />
im Rahmen des professionellen Handelns<br />
der Sozialen Arbeit und der Gesundheit. Die<br />
Autorinnen und Autoren machen auf die vielschichtige<br />
Komplexität und Subtilität sprachlicher<br />
Praktiken aufmerksam und ermitteln, in<br />
welcher Beziehung Kommunikation zum professionellen<br />
Können steht. Sie nehmen konkrete Handlungssequenzen<br />
in den Blick, um das Können von Professionellen zu untersuchen, und<br />
beschreiben Sprache als wesentliches Instrument institutioneller Aktivitäten<br />
und damit als Werkzeug der Professionalität.<br />
Messmer Heinz, Stroumza Kim, Sprechen und Können – Sprache als Werkzeug im<br />
Feld der Sozialen Arbeit und Gesundheit, interact Verlag, <strong>2017</strong>, 212 Seiten, CHF 43−,<br />
ISBN 978-3-906036-25-0<br />
Nationalismus: Sozialpolitische<br />
Zugänge<br />
Der Rückgriff auf die Nation und die eigene Volksgemeinschaft,<br />
Autoritarismus, Abwehr gegen das<br />
«Fremde» bis hin zu xenophoben Impulsen, all<br />
diese Merkmale nationalistischer Positionen sind<br />
Ausdruck des Misstrauens, dass demokratische<br />
Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse<br />
adäquate Antworten auf die aktuellen gesellschaftlichen<br />
und politischen Probleme bereitstellen.<br />
Das Forum 2018, die sozialpolitische Tagung<br />
der Caritas Schweiz widmet sich dem Nationalismus<br />
und seinen heutigen Erscheinungsformen.<br />
Eventforum, Fabrikstrasse 12, Bern<br />
Freitag, 26. Januar 2018<br />
www.caritas.ch<br />
«Strategien und Praxis für<br />
bezahlbares Wohnen»<br />
Der aktuelle Wohnungsmarkt bietet immer<br />
weniger günstigen Wohnraum. Immer mehr<br />
Gesellschaftsgruppen können sich angemessenes<br />
Wohnen nicht mehr leisten. Der Kongress<br />
in München ist die erste Veranstaltung der<br />
Fachgruppe «Sozialplanung International» des<br />
Vereins der Sozialplanerinnen und Sozialplaner in<br />
dieser Form. Gemeinsam mit allen Interessierten<br />
soll an drei Tagen der länderübergreifende Dialog<br />
gepflegt sowie der Austausch von Know-how,<br />
Erfahrung und Good-Practice gefördert werden.<br />
Katholische Stiftungshochschule München<br />
Mittwoch bis Freitag, 21.- 23. Februar 2018<br />
www.vsop.de<br />
Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst in der<br />
Schweiz. Dabei verschärft sich die Lage sozial<br />
schwacher Gruppen sowohl in finanzieller als<br />
auch in sozialer Hinsicht. Welches sind die Folgen<br />
der sozialen Polarisierung? Mit dieser Frage<br />
beschäftigt der diesjährige Sozialalmanach<br />
der Caritas im Schwerpunkt. Die Autorinnen und<br />
Autoren untersuchen die wachsende Popularität rechtspopulistischer<br />
Positionen aus verschiedenen Perspektiven. Ihr besonderes Augenmerk<br />
gilt dem Zusammenhang zwischen dem Nationalismus sowie wirtschaftlichen<br />
und sozialen Entwicklungen.<br />
Caritas Schweiz (Hrsg.), Sozialalmanach 2018, Wir und die Anderen: Nationalismus,<br />
Caritas-Verlag, <strong>2017</strong>, 256 Seiten, CHF 36.−, ISBN: 978-3-85592-153-9<br />
veranstaltungen<br />
Ermessen in der Sozialhilfe –<br />
Spielräume sinnvoll nutzen<br />
Das Leitprinzip der Individualisierung verlangt,<br />
dass Hilfsleistungen jedem einzelnen Fall angepasst<br />
sind und sowohl den Zielen der Sozialhilfe<br />
im Allgemeinen als auch den Bedürfnissen der<br />
betroffenen Person im Besonderen entsprechen.<br />
Die Anwendung des Handlungsspielraums bzw.<br />
Ermessens erfordert im Alltag ein hohe Professionalität<br />
und ein berufliches Selbstverständnis. Die<br />
nationale Tagung in Biel bietet eine Plattform zur<br />
Präsentation und Diskussion von Handlungsmöglichkeiten<br />
sowie Best-Practice-Ansätzen.<br />
Kongresshaus Biel<br />
Donnerstag, 22. März 2018<br />
www.skos.ch<br />
4/17 ZeSo<br />
35
An der dreirädrigen «Unfassbar» vertrauen die Barbesuchenden Bernhard Jungen ihre Geschichten an. Bild: Béatrice Devènes<br />
Von der Kanzel an die Bar<br />
PORTRÄT Bernhard Jungen kündigte mit fast 60 Jahren seine Stelle als Pfarrer und betreibt seither<br />
eine Bar auf drei Rädern. Beim Bierausschank an Quartierfesten und anderen Veranstaltungen kommt<br />
es zu spontanen Gesprächen und spannenden Begegnungen.<br />
Fast 32 Jahre lang war Bernhard Jungen<br />
Pfarrer in der Kirchgemeinde Ittigen im<br />
Kanton Bern. «Eine innovative Kirchgemeinde»,<br />
betont er. Die Kirchbänke waren<br />
meist gut besetzt, an Arbeit fehlte es ihm<br />
nicht, er konnte mit dem neuen Wohnund<br />
Kirchenhaus Casappella in Worblaufen<br />
einen grossen Wurf mitrealisieren.<br />
Doch auf einmal beschlich ihn immer häufiger<br />
das Gefühl, abbiegen zu wollen.<br />
Wenn er mit dem Velo auf dem Weg zu einem<br />
Trauungs- oder Taufgespräch war,<br />
hätte er am liebsten einen anderen Weg<br />
eingeschlagen. Er hätte gern bei den Jugendlichen<br />
am Strassenrand angehalten<br />
und sich mit ihnen unterhalten oder sich in<br />
der Dorfbeiz an den Stammtisch gesetzt.<br />
Zwar habe er durch seine Arbeit viele Gespräche<br />
führen können, doch seien diese<br />
einem institutionalisierten Muster gefolgt.<br />
Ihn aber reizte das Spontane, Begegnungen,<br />
die sich aus dem Moment heraus ergeben.<br />
Eines Morgens begab er sich in das<br />
der Casappella gegenüberliegende,<br />
14-stöckige Wohnhaus und klingelte an<br />
verschiedenen Haustüren. «Die Menschen<br />
reagierten total positiv. Sie sagten: Schön,<br />
dass jemand zu uns kommt.»<br />
Zeichen in der Stille<br />
Bernhard Jungens innere Unruhe wuchs.<br />
Er spürte: Etwas wird sich ändern müssen.<br />
«Ich sagte mir: Entweder ich realisiere in<br />
meiner Kirchgemeinde noch einmal einen<br />
grossen Wurf – oder aber, ich wage etwas<br />
Neues.» Im Sommer 2015 zog er sich für<br />
eine Woche lang in die Stille zurück, meditierte.<br />
Schon in der ersten Nacht hatte er einen<br />
Traum, dessen Klarheit ihn verblüffte.<br />
In dieser Woche ereilten ihn noch weitere<br />
Signale. Alle deuteten in die eine Richtung.<br />
Wieder zu Hause, eröffnete Jungen seiner<br />
Frau: «Unsere Zeit in Ittigen ist abgelaufen.<br />
Wir werden die Pfarrwohnung verlassen.»<br />
Seine pragmatisch verlangte Frau sagte:<br />
«Gut, denn lass uns zum Finanzberater gehen<br />
und schauen, was das bedeutet.» Der<br />
fast 60-jährige Pfarrer kündigte nach 32<br />
Jahren die Stelle, um seine Idee zu verwirklichen:<br />
die Idee der «Unfassbar», einer Bar<br />
auf drei Rädern, mit der er dort abbiegen<br />
kann, wo das Leben stattfindet und mit den<br />
Menschen ins Gespräch kommen kann.<br />
Ein Bier und ein offenes Ohr<br />
Eines aber stellt Bernhard Jungen sofort<br />
klar: «Ich bin kein subversiver Pfarrer.»<br />
Ihm sei es wichtig gewesen, dass die Bernische<br />
reformierte Kirche hinter dem Projekt<br />
steht. Das tat sie, und sie unterstützt das<br />
Projekt auch finanziell, zusammen mit<br />
Kirchgemeinden und Freunden. Seit diesem<br />
Sommer nun fahren Bernhard Jungen<br />
und sein Pfarrkollege Tobias Rentsch mit<br />
dem Dreirad zu Quartierfesten oder anderen<br />
öffentlichen Veranstaltungen und<br />
schenken ihr Bier aus, das sinnigerweise<br />
«Pfaff» heisst. Bibeltraktate werden keine<br />
verteilt. Vielmehr geht es den beiden Pfarrern<br />
um die Begegnungen, die sich rund<br />
ums Bier ergeben. «Einige erzählen von<br />
sich, vertrauen uns ihre Geschichten an –<br />
und sind dankbar, dass wir einfach ansprechbar<br />
sind», beschreibt Jungen die Begegnungen<br />
an der «Unfassbar». Er<br />
beobachtet auch, dass viele Barbesuchende<br />
von sich aus auf den Glauben zu sprechen<br />
kommen. Nicht selten beschäftigen sie<br />
Scheidungen oder Beziehungen und immer<br />
wieder ist der Tod ein Thema. Dadurch,<br />
dass sein Kollege und er Pfarrer seien,<br />
vertrauen ihm viele Menschen von<br />
Anfang an, stellt Bernhard Jungen fest. «In<br />
unserer Gesellschaft ist ein Pfarrer auch<br />
Garant für Verschwiegenheit.»<br />
Auch die dreirädrige «Unfassbar» liefert<br />
immer wieder Gesprächsstoff. So sass Jungen<br />
diesen Sommer einmal auf einer Treppe,<br />
neben ihm junge Männer in Arbeitskleidern<br />
am Rauchen. «Geiles Velo», entfuhr<br />
es einem, als er ein Dreirad erblickte. «So<br />
eines hab ich auch», mischte sich der Pfarrer<br />
ins Gespräch – und ein Gespräch über<br />
Gott und die Welt entwickelte sich. •<br />
Catherine Arber<br />
36 ZeSo 4/17
«Die Weiterbildungen<br />
der FHS St.Gallen sind<br />
sehr praxisorientiert.<br />
Das gefällt mir.»<br />
Weiterbildungen in<br />
Sozialer Arbeit<br />
Roman Bernhard<br />
Leiter Eingliederungsteam<br />
IV-Stelle Thurgau, Absolvent<br />
CAS Case Management<br />
und Supported Employment<br />
www.fhsg.ch/weiterbildung-sozialearbeit<br />
FHO Fachhochschule Ostschweiz<br />
Master of Arts in Sozialer Arbeit mit Schwerpunkt Soziale Innovation<br />
Ihr Berufsziel?<br />
Verspüren Sie die Motivation, Angebote der Sozialen Arbeit aktiv zu gestalten, weiterzuentwickeln und<br />
voranzutreiben?<br />
Unser Studium<br />
Wir bieten Ihnen mit unserem flexibel gestaltbaren Master-Studium die notwendige Ausbildung dafür.<br />
Nächster Beginn<br />
Frühlingssemester: 19. Februar 2018<br />
www.masterstudium-sozialearbeit.ch
20 Jahre<br />
HOCHSCHULE<br />
LUZERN<br />
BFH UND<br />
HOCHSCHULE<br />
LUZERN<br />
Kooperation für Ihre Weiterbildung im Bereich Soziale Sicherheit<br />
Certificate of Advanced Studies<br />
CAS Sozialberatung<br />
CAS Sozialhilferecht<br />
CAS Soziale Sicherheit<br />
Fachkurs<br />
Sozialberatung<br />
Sozialhilfeverfahren<br />
Fachseminare<br />
Anrechnung von Einkommen und<br />
Vermögen in der Sozialhilfe<br />
Einführung Sozialhilfe<br />
Einführung Sozialversicherungsrecht<br />
Finanzierung von zivilrechtlichen<br />
Kindesschutzmassnahmen<br />
Unrechtmässiger Leistungsbezug und<br />
Sanktionierung in der Sozialhilfe<br />
Zuständigkeit und Unterstützungsvoraussetzungen<br />
Weitere Informationen unter www.hslu.ch/wb-sozialesicherheit