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ZESO_4-2017_ganz

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SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

ZeSo<br />

Zeitschrift für Sozialhilfe<br />

04/17<br />

Interview<br />

SODK-Präsident<br />

Martin Klöti im<br />

Gespräch<br />

Sozialdienste<br />

Fallbelastung senkt<br />

Ablösequote und<br />

erhöht Kosten<br />

Botza<br />

Asylbewerber lernen<br />

zusammen mit<br />

Sozialhilfeempfängern<br />

Bildung statt<br />

Beschäftigung<br />

Keine Chance auf Rückkehr in den ersten Arbeitsmarkt<br />

ohne Berufsausbildung


SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

Nationale Tagung<br />

Ermessen in der Sozialhilfe – Spielräume sinnvoll nutzen<br />

Neue Analysen und Ansätze zum Thema Ermessen<br />

Donnerstag, 22. März 2018, Kongresshaus Biel<br />

Das Leitprinzip der Individualisierung verlangt, dass Hilfeleistungen jedem einzelnen Fall angepasst sind<br />

und sowohl den Zielen der Sozialhilfe im Allgemeinen als auch den Bedürfnissen der betroffenen Person im<br />

Besonderen entsprechen. Der Entscheid über die Hilfeleistung und über die Art der Hilfe richtet sich nach der<br />

jeweiligen Gesetzgebung, die in der Regel einer professionellen Beurteilung einen gewissen Handlungsspielraum<br />

einräumt. Dieses Prinzip wird im Recht «Ermessen» genannt. Die Anwendung des Handlungsspielraums<br />

bzw. Ermessens erfordert im Alltag ein hohe Professionalität und ein berufliches Selbstverständnis.<br />

Die nationale Tagung in Biel bietet eine Plattform zur Präsentation und Diskussion von<br />

Handlungsmöglichkeiten sowie Best-Practice-Ansätzen.<br />

Programm und Anmeldung unter www.skos.ch Veranstaltungen<br />

«Wir brauchen<br />

mehr Master-<br />

Absolventinnen<br />

und -Absolventen,<br />

die Konzepte<br />

entwickeln und<br />

umsetzen.»<br />

Andrea Lübberstedt<br />

Leiterin des Amtes für Soziales,<br />

Kanton St. Gallen<br />

Absolventen und Arbeitgeber innen<br />

erzählen über Arbeitsalltag und<br />

Berufschancen. Jetzt reinklicken!<br />

www.masterinsozialerarbeit.ch<br />

MSA_Inserat_<strong>ZESO</strong>_170x130_170508.indd 4 08.05.17 14:18


Regine Gerber<br />

Redaktorin<br />

EDITORIAL<br />

Ohne Bildung keine<br />

Arbeitsmarktintegration<br />

Eine alleinerziehende Mutter holt trotz langer Abwesenheit vom<br />

Arbeitsmarkt einen Berufsabschluss im Detailhandel nach.<br />

Eine Sozialhilfebezügerin arbeitet sich zur Filialleiterin hoch.<br />

Und ein Küchenangestellter fühlt sich dank Abschluss fachlich<br />

sicherer und respektierter in seiner Tätigkeit. Diese Personen –<br />

Beispiele aus unseren Artikeln – haben dank Weiter- und Nachholbildung<br />

den Weg in ein erfolgreiches Berufsleben einschlagen<br />

können. Viele Geringqualifizierten haben diese Chancen<br />

nicht und tragen ein grosses Risiko, früher oder später in der<br />

Sozialhilfe zu landen – und lange dort zu verbleiben. Bildung<br />

ist daher zentral, um Armut zu verhindern. Nur: Das Prinzip<br />

«Wer hat, dem wird gegeben» gilt leider auch hier. Es bilden<br />

sich vorwiegend diejenigen Personen weiter, die bereits eine<br />

gute Ausbildung haben, und nicht jene, die es am meisten nötig<br />

hätten. Warum die Sozialhilfe umdenken und Bildung mehr<br />

fördern muss, lesen Sie im aktuellen Schwerpunkt (ab S.12).<br />

Umgedacht hat auch Bernhard Jungen. Als ihn seine Stelle als<br />

Pfarrer nicht mehr befriedigte, suchte er sich hinter dem Bierzapfhahn<br />

einer dreirädrigen Bar eine neue Aufgabe (S.36).<br />

Auch Martin Klöti hat von der Rinderzucht bis zur Lachsräucherei<br />

in seinem Leben schon einiges ausprobiert. Wo der seit dem<br />

1. August <strong>2017</strong> amtende Präsident der SODK die grossen<br />

sozialpolitischen Herausforderungen sieht, sagt er im Interview<br />

(S.8). Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre!<br />

4/17 ZeSo<br />

1


SCHWERPUNKT<br />

Ohne Bildung<br />

keine Chance<br />

Ohne Bildung haben<br />

Sozialhilfebeziehende<br />

kaum berufliche Chancen.<br />

Sie benötigen eine auf den<br />

ersten Arbeitsmarkt ausgerichtete<br />

Qualifizierung.<br />

50 Prozent der Sozialhilfebeziehenden<br />

haben keinen Berufsabschluss. Der Erwerb<br />

von Grundkompetenzen, Nachholbildung<br />

und Weiterbildung ist für ihre Integration<br />

zentral, denn Geringqualifizierte haben es<br />

in der Schweiz schwer auf dem Arbeitsmarkt.<br />

Ihre Chancen haben in den letzten<br />

Jahren noch deutlich abgenommen. Erfolgreiche<br />

Pilotprojekte gibt es beispielsweise<br />

in den Kantonen Basel-Stadt und Bern. Darüber<br />

hinaus ist aber ein Umdenken in der<br />

Sozialhilfe und im Bildungssystem nötig.<br />

12–23<br />

12–25<br />

17 23<br />

<strong>ZESO</strong><br />

zeitschrift für sozialhilfe Herausgeberin Schweizerische konferenz für Sozialhilfe SKOS, www.skos.ch Redaktionsadresse<br />

© SKOS. Nachdruck nur mit genehmigung der Herausgeberin.<br />

Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />

ISSN 1422-0636 / 114. Jahrgang<br />

Erscheinungsdatum: 4. Dezember <strong>2017</strong><br />

Die nächste Ausgabe erscheint im März 2018<br />

Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS, Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch, Tel. 031 326 19 19<br />

Redaktion Ingrid Hess, Regine Gerber Autorinnen und Autoren in dieser Ausgabe Catherine Arber,<br />

Liliane Blurtschi, Miryam Eser Davolio, Milena Gehrig, Miriam Götz, Claudia Hänzi, Danièle Héritier, Michael<br />

Peier, Daniel Röthlisberger, Ronald Schenkel, Bettina Seebeck, Isabelle Steiner, Rahel Strohmeier Navarro<br />

Smith, Silvan Surber, Rebecca Widmer, Felix Wolffers, Heinrich Zwicky Titelbild Magali Girardin layout<br />

Marco Bernet, mbdesign Zürich Korrektorat Karin Meier Druck und Aboverwaltung Rub Media,<br />

Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 preise Jahresabonnement CHF 82.– (SKOS-<br />

Mitglieder CHF 69.–), Jahresabonnement Ausland CHF 120.–, Einzelnummer CHF 25.–.<br />

2 ZeSo 4/17


inhalt<br />

8<br />

5 Kommentar<br />

radikalisierung – Thema für die Sozialhilfe<br />

– Kommentar von Felix Wolffers<br />

6 PRAXIS<br />

ermöglicht Sozialhilfe jungen Erwachsenen<br />

eine eigene Wohnung?<br />

7 SKOS<br />

regula Unteregger und Ruedi Hofstetter<br />

– ein Blick zurück<br />

8 INTERVIEW<br />

«Diese wenigen Fälle kann eine Gesellschaft<br />

mittragen», sagt SODK-Präsident<br />

Martin Klöti<br />

12–25 schwerpunkt<br />

Bildung statt Beschäftigung<br />

14 Mit Bildung die Chancen von Sozialhilfebeziehenden<br />

erhöhen<br />

17 Von der Sozialhilfe in die Ausbildung –<br />

das Projekt «Enter»<br />

27<br />

19 Die Stanley Thomas Johnson Stiftung<br />

verhilft zu einer zweiten Chance<br />

20 Sozialdienst Dietikon: Bildungsmassnahmen<br />

auf den ersten Arbeitsmarkt<br />

ausrichten<br />

22 «Sozialarbeitende sind wichtig in der<br />

Grundkompetenzförderung», sagt Brigitte<br />

Aschwanden.<br />

24 Wie Betriebe Mitarbeitende ohne Berufsabschluss<br />

fördern können<br />

32<br />

28<br />

36<br />

32<br />

26 Fachbeitrag<br />

Fallbelastung – wenn Sozialarbeitende<br />

zu viele Fälle bearbeiten müssen, steigen<br />

die Kosten<br />

28 Fachbeitrag<br />

Armutsbetroffene sind oft nicht ausreichend<br />

mit Wohnraum versorgt<br />

31 Plattform<br />

Heilsarmee: Nicht nur Singen und Suppe<br />

verteilen<br />

32 Reportage<br />

im Wallis sollen Flüchtlinge zusammen<br />

mit Sozialhilfeempfängern ausgebildet<br />

werden<br />

34 Lesetipps und Veranstaltungen<br />

36 Porträt<br />

der ehemalige Pfarrer Bernhard Jungen<br />

mit seiner Bar auf drei Rädern<br />

4/17 ZeSo<br />

3


www.staedteinitiative.ch<br />

NACHRICHTEN<br />

Kennzahlenvergleich zur Sozialhilfe<br />

in Schweizer Städten<br />

Berichtsjahr 2016,<br />

14 Städte im Vergleich<br />

Michelle Beyeler, Renate Salzgeber, Claudia Schuwey<br />

Berner Fachhochschule, Fachbereich Soziale Arbeit<br />

Kinder sind ein<br />

Armutsrisiko<br />

Beat Schmocker, Herausgeber<br />

Bereichsleiter Soziales, Stadt Schaffhausen<br />

Die Zahl der Sozialhilfefälle ist in den<br />

Schweizer Städten 2016 durchschnittlich<br />

um 5,2 Prozent gestiegen; das ist mehr<br />

als in den vergangenen Jahren (Anstieg<br />

jeweils unter 3 Prozent). Eine deutliche<br />

Zunahme verzeichneten besonders mittelgrosse<br />

Städte und Agglomerationen, wie<br />

der neue Kennzahlenvergleich zur Sozialhilfe<br />

in Schweizer Städten 2016 zeigt. Das<br />

grösste Armutsrisiko haben in den Städten<br />

junge alleinerziehende Mütter zwischen 18<br />

und 25 Jahren. Über 80 Prozent von ihnen<br />

beziehen Sozialhilfe. Generell bestätigt der<br />

Bericht, dass Haushalte mit Kindern ein<br />

grösseres Armutsrisiko tragen. Um dem<br />

entgegenzuwirken, braucht es spezifische<br />

Programme für Alleinerziehende, ein bezahlbares<br />

Angebot an familienergänzender<br />

Betreuung und Ergänzungsleistungen für<br />

Familien.<br />

www.staedteinitiative.ch<br />

Neue Strategie zur beruflichen und<br />

sozialen Integration<br />

Immer mehr schlecht ausgebildete Menschen<br />

finden auf dem Arbeitsmarkt keinen<br />

Platz mehr und benötigen in der Folge Sozialhilfe.<br />

Mit dem «Fokus Arbeitsmarkt<br />

2025» und einer neuen Strategie zur beruflichen<br />

und sozialen Integration reagiert<br />

das Sozialdepartement der Stadt Zürich<br />

auf die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt<br />

und vollzieht einen Paradigmenwechsel<br />

in der Sozialhilfe. «Wollen wir die<br />

Chancen von Geringqualifizierten auf dem<br />

ersten Arbeitsmarkt nachhaltig verbessern,<br />

so müssen wir ihre Qualifikation verbessern<br />

– innerhalb wie ausserhalb der Sozialhilfe.<br />

Ansonsten laufen unsere Bemühungen<br />

Gefahr, zum Nullsummenspiel zu verkommen»,<br />

sagte der städtische Sozialvorsteher<br />

Raphael Golta Ende Oktober vor<br />

den Medien.<br />

Der «Fokus Arbeitsmarkt 2025» bildet<br />

das Dach, unter welchem das Sozialdepartement<br />

all seine Massnahmen zur<br />

Arbeitsmarktintegration bündelt. Mit der<br />

neuen Strategie zur beruflichen und sozialen<br />

Integration werden die für eine Arbeitsintegration<br />

in Frage kommenden Sozialhilfebeziehenden<br />

anhand ihrer Chancen<br />

für eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt und<br />

anhand ihrer Motivation, eine Stelle auf<br />

dem ersten Arbeitsmarkt anzustreben, neu<br />

in vier Zielgruppen eingeteilt, erklärte die<br />

Direktorin der Sozialen Dienste, Mirjam<br />

Schlup. Wer nahe am ersten Arbeitsmarkt<br />

dran ist und eine hohe Motivation zeigt,<br />

soll künftig gezielter gefördert, begleitet<br />

und qualifiziert werden.<br />

«Qualifikation ist nur mit Eigenmotivation<br />

möglich», sagte Raphael Golta. Sanktionen<br />

könnten die vorhandene Motivation<br />

beeinträchtigen. Ebenfalls auf Freiwilligkeit<br />

setzt das Sozialdepartement bei jenen,<br />

die aktuell kaum eine Chance haben für<br />

eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt und<br />

auch eine entsprechend tiefe Motivation<br />

zeigen, eine solche anzustreben. Bei ihnen<br />

steht die soziale Teilhabe mittels Beschäftigung<br />

im Vordergrund. «Wir akzeptieren,<br />

dass nicht alle einen Platz im Arbeitsmarkt<br />

finden. Wir geben die Betroffenen aber<br />

nicht auf», sagte Golta.<br />

Sanktionen bleiben möglich bei Sozialhilfebeziehenden,<br />

die zwar gute Chancen<br />

für den ersten Arbeitsmarkt aufweisen,<br />

aber keine Motivation zeigen, eine Stelle<br />

anzutreten. Rund 70 Prozent der Sozialhilfebeziehenden<br />

kommen für eine Arbeitsintegration<br />

gar nicht in Frage. Rund<br />

20 Prozent der Sozialhilfebeziehenden<br />

sind zudem Kinder unter 16 Jahren.<br />

(MM) <br />

•<br />

Neues SKOS-<br />

Weiterbildungsangebot<br />

Das Weiterbildungsangebot der SKOS ist<br />

neu gestaltet. Weiterhin bietet die SKOS<br />

darin eine Einführung in die öffentliche<br />

Sozialhilfe. Daneben sollen aber auch die<br />

vielfältigen Themen stärker beleuchtet werden,<br />

welche die SKOS und ihre Mitglieder beschäftigen.<br />

Neu werden die Weiterbildungen<br />

ab 2018 zweimal pro Jahr angeboten: An<br />

der Veranstaltung im November in Olten<br />

wird festgehalten (19. November 2018). Im<br />

Juni wird eine zusätzliche Veranstaltung für<br />

die Ostschweiz in Winterthur durchgeführt<br />

(26. Juni 2018). Neu werden pro Nachmittag<br />

nicht mehr nur drei, sondern vier Module<br />

angeboten. Wie bisher kann man an zwei<br />

Modulen pro Veranstaltung teilnehmen. Wer<br />

beide Weiterbildungskurse besuchen möchte,<br />

um dabei alle vier Module absolvieren zu<br />

können, profitiert von einem Rabatt bei den<br />

Teilnahmegebühren. (Red.)<br />

Zürcher Sozialamt mit neuer Chefin<br />

Andrea Lübberstedt heisst die neue Chefin<br />

des Zürcher Sozialamts. Sie tritt auf Anfang<br />

2018 die Nachfolge von Ruedi Hofstetter,<br />

langjähriges Mitglied der SKOS-Geschäftsleitung,<br />

an. Andrea Lübberstedt wechselt<br />

von der St. Galler in die Zürcher Verwaltung.<br />

Lübberstedt leitet derzeit das Amt für<br />

Soziales des Kantons St. Gallen. Sie absolvierte<br />

an der Universität Zürich ein Studium<br />

der Psychologie, Psychopathologie und<br />

Kriminologie. 2004 trat sie ins St. Galler<br />

Amt für Soziales ein, das sie seit 2012 leitet.<br />

Unter ihrer Leitung hat das Amt vielfältige<br />

Reformen im Sozialwesen ausgearbeitet,<br />

Entwicklungen angestossen und umgesetzt.<br />

Dazu zählt insbesondere die<br />

kinder- und jugendpolitische Strategie<br />

2015-2020, aber auch die Integration<br />

von Menschen mit Behinderung. •<br />

Andrea Lübberstedt.<br />

Bild: zvg<br />

4 ZeSo 4/17


KOMMENTAR<br />

Radikalisierung – Thema für die Sozialhilfe<br />

Spätestens seit dem Fall des Nidauer<br />

Imams, welcher mit seinen Hasspredigten<br />

das Zusammenleben vergiftet<br />

und zugleich in bedeutendem Umfang<br />

Sozialhilfeleis-tungen bezogen hat, ist klar:<br />

Radikalisierung ist auch für die Sozialhilfe<br />

ein wichtiges Thema. Die Öffentlichkeit<br />

reagiert zu Recht empört, wenn unterstützte<br />

Personen mit religiös oder politisch<br />

motivierten Kampfbotschaften Hass<br />

schüren. So weit ist alles klar. Was aber<br />

kann die Sozialhilfe hier tun? Wo hört das<br />

Recht auf freie Meinungsäusserung auf, wo<br />

liegen die Grenzen der Religionsfreiheit? Es<br />

stellen sich in diesem Zusammenhang viele<br />

Fragen, welche schwierig zu beantworten<br />

sind. Hilfreich erscheint es, das Thema<br />

von den Grundprinzipien des Staates<br />

und der Sozialhilfe her anzugehen. Es ist<br />

Aufgabe des liberalen Staates, Meinungen<br />

und religiöse Überzeugungen jeder Art zu<br />

dulden, solange sich diese nicht gegen das<br />

geltende Recht richten. Anspruch auf Sozialhilfe<br />

hat, wer bedürftig ist. Die politische<br />

oder religiöse Überzeugung einer Person<br />

spielt dabei keine Rolle und geht die Sozialdienste<br />

grundsätzlich nichts an. Andererseits<br />

haben unterstützte Personen aber die<br />

Pflicht zur Integration in die Gesellschaft.<br />

Das gilt in besonderem Masse für Flüchtlinge<br />

und vorläufig Aufgenommene, welche<br />

in der Schweiz Schutz suchen und erhalten<br />

und ihre Position in der Arbeitswelt und im<br />

sozialen Leben erst finden müssen.<br />

Wenn radikalisierte Personen zu Gewalt<br />

aufrufen, ist es primär Sache der Strafverfolgungsbehörden<br />

und der Fremdenpolizei,<br />

aktiv zu werden. Aufgabe der Sozialdienste<br />

ist es, wachsam zu sein. Wo immer sich<br />

Anhaltspunkte für Radikalisierung und<br />

Aufrufe zu Gewalt ergeben, müssen die<br />

Sozialdienste die unterstützten Personen<br />

mit Nachdruck auf die Respektierung der<br />

gesellschaftlichen Grundwerte und die<br />

Pflicht zur Integration hinweisen. Nicht<br />

zu übersehen ist aber, dass die Grenze<br />

zwischen erlaubtem und verbotenem Verhalten<br />

hier besonders schwer zu ziehen ist.<br />

Sinnvoll erscheint deshalb, in Verdachtsfällen<br />

eng mit Polizei und Justiz zusammenzuarbeiten.<br />

Auf Bundesebene soll noch im laufenden<br />

Jahr ein Nationaler Aktionsplan zur Verhinderung<br />

und Bekämpfung von Radikalisierung<br />

verabschiedet werden. Darin gibt<br />

es verschiedene Berührungspunkte zur<br />

Sozialhilfe. Ergänzend zum Aktionsplan auf<br />

Bundesebene ist die SKOS aktiv geworden<br />

und hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt,<br />

welche Massnahmen zur Unterstützung<br />

der Sozialdienste bei der Erkennung und<br />

Bekämpfung von Radikalisierung erarbeiten<br />

wird. Es braucht Antworten auf eine<br />

Reihe von Fragen: Welche präventiven<br />

Massnahmen gegen<br />

Radikalisierung gilt<br />

es zu ergreifen?<br />

Inwieweit sollen die<br />

Sozialdienste religiöse<br />

Vorschriften bei<br />

der Arbeitsintegration<br />

berücksichtigen?<br />

Unter welchen Bedingungen<br />

müssen sie<br />

sich an die Polizei<br />

oder Fremdenpolizei<br />

wenden und ist der<br />

Datenaustausch mit<br />

diesen erlaubt? Die<br />

richtigen Antworten<br />

auf diese Fragen zu<br />

finden ist schwierig,<br />

aber wichtig.<br />

Felix Wolffers<br />

Co-Präsident SKOS<br />

4/17 ZeSo<br />

5


Ermöglicht die Sozialhilfe jungen<br />

Erwachsenen eigenes Wohnen?<br />

PRAXIS Herr Lersch ist 21 Jahre alt und im letzten Lehrjahr. Wegen Konflikten mit seinen Eltern will<br />

er ausziehen. Ob ihm die Sozialhilfe eine andere Wohnform ermöglicht, ist abhängig davon, ob es als<br />

zumutbar erachtet wird, dass Herr Lersch im elterlichen Haushalt wohnen bleibt.<br />

Der 21-jährige Joel Lersch ist nach einem<br />

heftigen Streit mit seinen Eltern bei einem<br />

Freund untergekommen. Er hat die obligatorische<br />

Schule abgeschlossen und absolviert<br />

das letzte Lehrjahr zum Spengler EFZ.<br />

Sein Lehrlingsgehalt beträgt monatlich<br />

1000 Franken brutto. Die Eltern sind<br />

nicht in der Lage, gegenüber ihrem Sohn<br />

Unterhalt zu leisten, und der Antrag auf ein<br />

Stipendium wurde kürzlich abgelehnt.<br />

Herr Lersch meldet sich deshalb auf dem<br />

regionalen Sozialdienst und beantragt materielle<br />

Unterstützung. Er möchte nicht<br />

mehr bei seinen Eltern wohnen, weil die<br />

Konflikte mit ihnen nicht mehr auszuhalten<br />

seien. Er wolle erfolgreich seine Lehre<br />

abschliessen und brauche Distanz zur<br />

schwierigen Situation. Er erzählt von Alkoholproblemen<br />

der Mutter und von der Gewalttätigkeit<br />

des Vaters.<br />

Frage<br />

Kann von Joel Lersch verlangt werden, dass<br />

er weiterhin bei seinen Eltern wohnt, oder<br />

soll ihm die Sozialhilfe eine andere Wohnform<br />

ermöglichen? Wenn ja, welche Kosten<br />

werden übernommen?<br />

PRAXIS<br />

In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />

der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />

und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />

Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />

Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />

(einloggen) SKOS-Line.<br />

Grundlagen<br />

Per 1. Januar 2016 sind die SKOS-Richtlinien<br />

angepasst worden. Seither gelten für<br />

junge Erwachsene, also Personen zwischen<br />

dem vollendeten 18. und dem vollendeten<br />

25. Altersjahr, besondere Empfehlungen<br />

bei den Wohnkosten (SKOS-Richtlinien,<br />

Kapitel B.4).<br />

Von jungen Erwachsenen ohne abgeschlossene<br />

Erstausbildung wird erwartet,<br />

dass sie bei ihren Eltern wohnen. Ist dies<br />

nicht möglich, beispielsweise wegen Vorfällen<br />

häuslicher Gewalt, hocheskalierten<br />

Konflikten, psychischer Erkrankung oder<br />

Verwahrlosung der Eltern, soll der Bezug<br />

einer anderen günstigen Wohngelegenheit<br />

(z.B. einer Wohngemeinschaft) ermöglicht<br />

werden. Ein eigener Haushalt wird nur in<br />

Ausnahmefällen gewährt. Solche sind beispielsweise<br />

bei bestimmten psychischen<br />

Erkrankungen (Angststörungen) gegeben<br />

oder wenn die Betroffenen schon eigene<br />

Kinder haben.<br />

Liegen die Voraussetzungen für einen<br />

eigenen Haushalt beziehungsweise das Leben<br />

in einer Wohngemeinschaft nicht vor,<br />

kann vor einem Auszug aus dem Elternhaus<br />

die Übernahme der Wohnkosten verweigert<br />

werden, womit die betroffene Person<br />

faktisch gezwungen ist, im elterlichen<br />

Haushalt wohnen zu bleiben.<br />

Antwort<br />

In der vorliegenden Situation ist zu prüfen,<br />

ob eine Rückkehr in den elterlichen Haushalt<br />

zumutbar ist. Der von Herrn Lersch<br />

geschilderte Konflikt und die sich daraus<br />

ergebende Lage sind genau zu klären und<br />

zu beurteilen. Mit Einverständnis des Betroffenen<br />

kann zu diesem Zweck auch ein<br />

klärendes Gespräch mit den Eltern oder<br />

dem Lehrbetrieb geführt werden. Falls bei<br />

Joel Lersch Anzeichen bestehen, dass die<br />

schwierige Situation seine Gesundheit beeinträchtigt,<br />

kann eine ärztliche Beurteilung<br />

(z.B. durch einen Psychiater) eingeholt<br />

werden.<br />

Eine Rückkehr zu den Eltern erscheint<br />

eher unwahrscheinlich. Die Gewalttätigkeit<br />

des Vaters und die Suchterkrankung<br />

der Mutter belasten Herrn Lersch erheblich<br />

und gefährden damit kurzfristig den<br />

Lehrabschluss, langfristig aber auch seine<br />

psychische Gesundheit. Beide Verläufe widersprechen<br />

den Zielsetzungen der Sozialhilfe<br />

und sind deshalb zu vermeiden.<br />

Wird die Rückkehr zu den Eltern als<br />

nicht zumutbar eingestuft, ist Joel Lersch<br />

schriftlich mitzuteilen, dass die Kosten für<br />

eine günstige Wohngelegenheit in einer<br />

Wohngemeinschaft übernommen werden<br />

und er eine solche suchen darf. Auch ein<br />

Wohnheim für Lernende kommt in Frage.<br />

Gleichzeitig ist auszuführen, welcher verbindliche<br />

Kostenrahmen für die Wohnkosten<br />

gilt. Es empfiehlt sich, Herrn Lersch<br />

bei der Wohnungssuche aktiv zu unterstützen,<br />

beispielsweise durch den Hinweis auf<br />

passende Wohngelegenheiten. Das Ausstellen<br />

einer Mietzinsbestätigung kann je<br />

nach Situation hilfreich sein.<br />

Für den vorläufigen Aufenthalt beim<br />

Kollegen ist ein Budget zu erstellen und<br />

zu klären, welche Kosten für die Mitbenützung<br />

der Wohnung übernommen werden.<br />

Der Lehrlingslohn (netto) sowie die Ausbildungszulage<br />

sind als Einnahmen anzurechnen.<br />

•<br />

Claudia Hänzi<br />

Präsidentin Kommission Richtlinien<br />

und Praxis der SKOS<br />

6 ZeSo 4/17


«Den Menschen eine Stimme geben»<br />

SKOS Die Leiterin des Berner Sozialamts Regula Unteregger und der Leiter des Zürcher Sozialamts<br />

Ruedi Hofstetter wurden im Mai 2004 in die Geschäftsleitung der SKOS gewählt. Nun treten sie nach<br />

über 13 Jahren gleichzeitig zurück. Beide haben die Arbeit der SKOS und die Entwicklung der SKOS-<br />

Richtlinien massgeblich mitgeprägt. Wir bedanken uns <strong>ganz</strong> herzlich für ihr grosses Engagement für<br />

die Sozialhilfe.<br />

<strong>ZESO</strong>: Sie haben beide seit vielen<br />

Jahren die Entwicklungen in der Sozialhilfe<br />

mitverfolgt und mitgestaltet.<br />

Welche positive Veränderung war für<br />

Sie die wichtigste ?<br />

Regula Unteregger: Entscheidend für<br />

die Finanzierung der Sozialwerke und der<br />

Sozialhilfe ist die Integration der Erwerbsfähigen<br />

in den Arbeitsmarkt. Die engere<br />

Zusammenarbeit von Sozialversicherungen,<br />

Bildung, Migration und Sozialhilfe<br />

(IIZ) war ein Meilenstein. Im Kanton<br />

Bern sind dank der IIZ zahlreiche Integrations-<br />

und Bildungsangebote entstanden.<br />

Ruedi Hofstetter: Vielleicht ist die<br />

wichtigste Veränderung gar keine Veränderung?<br />

Ich erachte es als grossen Erfolg,<br />

dass die SKOS-Richtlinien trotz massiver<br />

Angriffe weiterhin als Grundlage für die<br />

Bemessung der wirtschaftlichen und persönlichen<br />

Hilfe für sozial benachteiligte<br />

Menschen gelten.<br />

Welche war die schwierigste?<br />

Unteregger: Die aktuelle Entwicklung<br />

in der Sozialhilfe im Kanton Bern macht<br />

mir Sorgen. Ich habe in den letzten Jahren<br />

mehrere kritische Diskussionen im Kanton<br />

erlebt. Das Ziel war aber immer – direkt<br />

oder indirekt – innerhalb der SKOS<br />

Veränderungen zu bewirken. Bern hat die<br />

geltenden Richtlinien auch massgeblich<br />

mitgeprägt. Jetzt sucht man weitgehend<br />

den Alleingang.<br />

Hofstetter: Die überzeugende Argumentation<br />

auf die pauschalen und undifferenzierten<br />

Angriffe auf die Sozialhilfe und<br />

letztlich auf Menschen, denen es im Leben<br />

nicht so gut geht, erachte ich als herausfordernde<br />

und anspruchsvolle Aufgabe.<br />

Gab es so etwas wie einen persönlichen<br />

Leitgedanken, den Sie<br />

verfolgten und zu realisieren versuchten?<br />

Regula Unteregger<br />

«Die aktuelle Entwicklung<br />

in der Sozialhilfe im<br />

Kanton Bern macht mir<br />

Sorgen.»<br />

Ruedi Hofstetter<br />

«Ich wünsche mir eine<br />

lebendige, aktive Schweizerische<br />

Konferenz.»<br />

Unteregger: Wir brauchen ein tragfähiges<br />

unterstes soziales Netz, das von den<br />

Betroffenen je nach Möglichkeit eine angemessene<br />

Gegenleistung einfordert und<br />

finanzierbar ist. Die Politik soll über die<br />

langfristig sinnvolle Balance aufgrund von<br />

Zahlen und Fakten sowie im Wissen um<br />

die Lebensrealität der unter der Armutsgrenze<br />

lebenden Menschen entscheiden.<br />

Das war mein Ziel.<br />

Hofstetter: Ich habe mich, wenn immer<br />

möglich, für Menschen eingesetzt,<br />

die am Rand oder <strong>ganz</strong> unten in der gesellschaftlichen<br />

Hierarchie stehen. Es sind<br />

Menschen, die wegen ihrer Einschränkungen<br />

nicht oder nur ungenügend am<br />

gesellschaftlichen und sozialen Leben<br />

teilnehmen können. Es war mir immer ein<br />

wichtiges Anliegen, diesen Menschen eine<br />

Stimme zu geben und mit guten Rahmenbedingungen<br />

dafür zu sorgen, dass ihnen<br />

ein Leben in Würde und mit einem möglichst<br />

hohen Mass an Eigenverantwortung<br />

und Selbständigkeit möglich ist.<br />

Was wünschen Sie sich für die Zukunft<br />

in der Sozialhilfepolitik?<br />

Unteregger: Unsere Gesundheitskosten<br />

sind hoch und steigen immer weiter.<br />

Dieses Kostenrisiko ist für unsere Gesellschaft<br />

ungleich grösser als die Entwicklung<br />

der Sozialhilfekosten. Auch im Gesundheitswesen<br />

berappt vieles der Steuerzahler.<br />

Die Existenzsicherung hätte eine ebenso<br />

starke Lobby verdient. Jeder kann eines<br />

Tages auf Unterstützung angewiesen sein.<br />

Hofstetter: Ich wünsche mir eine lebendige,<br />

aktive Schweizerische Konferenz<br />

für Sozialhilfe, die sich der Diskussion um<br />

die Ausgestaltung der Sozialhilfe stellt und<br />

gemeinsam mit Kantonen und Gemeinden<br />

überzeugende Antworten für die Besserstellung<br />

von armutsbetroffenen Menschen<br />

findet. <br />

•<br />

4/17 ZeSo<br />

7


«Diese wenigen Fälle kann eine<br />

Gesellschaft mittragen.»<br />

INTERVIEW Der St. Galler Regierungspräsident und Vorsteher des Departements des Innern Martin<br />

Klöti ist seit 1. August Präsident der Sozialdirektoren. Bei der nächsten Reform der SKOS-Richtlinien<br />

wird er in dieser Funktion eine wichtige Rolle spielen.<br />

«<strong>ZESO</strong>»: Herr Klöti, Sie sind seit 1. August<br />

Präsident der SODK. Worin sehen<br />

Sie Ihre Hauptaufgabe der nächsten<br />

Jahre?<br />

Martin Klöti: Es stehen eine <strong>ganz</strong>e<br />

Reihe von Reformen an. Die Revision der<br />

Ergänzungsleistungen, die Weiterentwicklung<br />

der IV und die Neuaufgleisung der<br />

Altersvorsorge. Das sind zwar Bundesgesetzgebungen,<br />

aber mit grossen Implikationen<br />

auf die Kantone. Und es scheint mir<br />

auch von grosser Wichtigkeit, dass wir die<br />

Solidarität in der Bevölkerung und zwischen<br />

den Generationen stärken.<br />

Die SODK repräsentiert 26 sehr<br />

verschiedene Kantone und auch die<br />

Sozialdirektoren vertreten politisch<br />

ein breites Spektrum. Wie geht ein<br />

Präsident da vor?<br />

Es ist vor allem wichtig, dass man gut<br />

informiert und die Prozesse zeitlich sorgfältig<br />

plant. Man muss wissen, wann ein<br />

Geschäft reif ist und alle Fragen beantwortet<br />

sind. Am Schluss stimmen die 26<br />

Sozialdirektorinnen und -direktoren in der<br />

Plenarversammlung per Mehrheitsentscheid<br />

ab.<br />

Wo sehen Sie die grossen sozialpolitischen<br />

Herausforderungen für die<br />

SODK?<br />

Der Spardruck darf nicht auf dem Buckel<br />

von Personen in schwierigen Lebenslagen<br />

erfolgen. Leistungskürzungen bei<br />

den Sozialversicherungen können dazu<br />

führen, dass die betroffenen Menschen<br />

in die Sozialhilfe als letztes Auffangnetz<br />

fallen. Dies wiederum hat für die Kantone<br />

und Gemeinden Mehrkosten zur Folge.<br />

Das bestehende soziale Sicherungssystem<br />

gilt es zu bewahren. Es ist ein zentraler<br />

Pfeiler unserer Wohlfahrt. Auch die Wirtschaft<br />

profitiert massgeblich davon. Wir<br />

müssen aber die demografische Entwicklung<br />

abfedern, ohne das Leistungsniveau<br />

im sozialen Sicherungssystem zu gefährden.<br />

Weiter müssen wir den Kostendruck<br />

auf die Bedarfsleistungen dämpfen. Stichworte<br />

dazu sind: Alterung, Vereinbarkeit<br />

von Familie und Beruf, unbezahlte Care-<br />

Arbeit. Ein sehr wichtiges Thema bleibt<br />

die Frage der Integration von vorläufig<br />

Aufgenommenen und Flüchtlingen. Wir<br />

haben also viel zu tun.<br />

Die Ergänzungsleistungen zur AHV<br />

und IV sind zentrale Pfeiler der sozialen<br />

Sicherheit. Wie können diese<br />

langfristig gesichert werden?<br />

Dies ist ein zentrales Thema für die<br />

SODK. Denn der Kostendruck ist für die<br />

Kantone immens. Das vorliegende Reformpaket<br />

muss aus unserer Sicht nun<br />

rasch durchgebracht werden und darf<br />

nicht zusätzlich beschwert werden. Weitere<br />

Schritte sind sicher nötig, bedürften<br />

aber einer eingehenden Prüfung.<br />

Welche Schritte meinen Sie?<br />

Zum Beispiel die Entflechtung von EL<br />

und individueller Prämienverbilligung<br />

oder Fragen der Langzeitpflege. Grundsätzlich<br />

möchten wir Einsparungen erzielen,<br />

ohne das Niveau der Leistung für die<br />

Individuen senken zu müssen. Das ist gewiss<br />

keine einfache Aufgabe.<br />

Bundesrat Alain Berset hat die Diskussion<br />

des Neuanlaufs in der Altersvorsorge<br />

eröffnet. Welche Anliegen hat<br />

die SODK an die nächste Vorlage?<br />

Ich möchte unserer bevorstehenden<br />

Diskussion nicht vorgreifen. Nur soviel:<br />

Die SODK hatte die Vorlage Altersvorsorge<br />

2020 im Wissen unterstützt, dass es sich<br />

um einen Kompromiss handelt; für uns ist<br />

die Reform der Altersvorsorge respektive<br />

der Erhalt des Vorsorgesystems fundamental.<br />

Und die Reform muss schnell kommen.<br />

Es wäre fatal, jahrelang zu warten, bis<br />

der politische Druck immens wird.<br />

Ein wichtiges Thema der SODK ist die<br />

Kinder- und Jugendpolitik. 2016 wurden<br />

dazu Empfehlungen verabschiedet.<br />

Wo werden Sie Akzente setzen?<br />

Im Fokus steht sicher die UNO-Kinderrechtskonvention.<br />

Den Kindern und Jugendlichen<br />

gehört die Zukunft. Wir setzen<br />

uns dafür ein, dass sie gute und möglichst<br />

gleiche Startchancen bekommen und wir<br />

ihnen, wo nötig, zielgerichtet unter die<br />

Arme greifen.<br />

Die Behindertenpolitik ist ein weiteres<br />

zentrales Dossier der SODK: Welche<br />

Herausforderungen gibt es in diesem<br />

Bereich?<br />

Auch hier steht die Umsetzung einer<br />

UNO-Konvention im Vordergrund. Die<br />

knappen Ressourcen der Kantone und<br />

Gemeinden stellen dabei eine Herausforderung<br />

dar. Wir haben aber in diesem<br />

Jahr bereits Strukturen geschaffen, um die<br />

Behindertenpolitik gemeinsam mit dem<br />

Bund weiterzuentwickeln. Dabei geht es<br />

vor allem darum, Möglichkeiten zu schaffen,<br />

damit Menschen mit Behinderungen<br />

so wohnen können, wie sie sich das wünschen.<br />

Auch für Menschen mit Behinderung<br />

ist meist die Arbeitsintegration vorrangiges<br />

Ziel.<br />

Die Integration in den ersten Arbeitsmarkt<br />

von Menschen mit Behinderungen<br />

bleibt eine Hauptaufgabe. Dabei beobachten<br />

wir auch eine wachsende Zahl an Leuten<br />

mit psychischen Beeinträchtigungen.<br />

Sie sind zwar häufig sehr leistungsfähig,<br />

aber nicht zu jeder Zeit. Es ist mir wichtig,<br />

dass man für sie besondere Arbeitsbedingungen<br />

schafft. Es gibt in einigen<br />

Kantonen gute Projekte, die es auf andere<br />

8 ZeSo 4/17


Martin Klöti<br />

Der 63-jährige Martin Klöti ist seit 2012 in der<br />

St. Galler Regierung und steht dem Departement<br />

des Innern vor. Voraussichtlich bis 2020 wird er<br />

die SODK präsidieren. Klöti ist ein Politiker, der<br />

auch Tabus anpackt . Er sucht und findet dabei<br />

Lösungen auf der Grundlage eines reichen beruflichen<br />

und persönlichen Erfahrungsschatzes.<br />

So will Klöti in St. Gallen das Zusammenleben<br />

verschiedener Kulturen und Religionen stärken,<br />

indem Religionsgemeinschaften – auch die muslimische<br />

– eine kantonale Anerkennung erhalten.<br />

Auf diese Art, verspricht sich der FDP-Politiker,<br />

können diese näher an den Staat herangeholt<br />

werden. Er erhält bisher allerdings noch wenig<br />

politische Unterstützung.<br />

<br />

Bilder: Palma Fiacco<br />

Kantone zu übertragen gilt. Zentral ist eine<br />

enge Zusammenarbeit mit der Wirtschaft.<br />

Allerdings gilt dasselbe auch für Personen<br />

aus der Sozialhilfe und oder mit Migrationshintergrund.<br />

In Anbetracht der sinkenden<br />

Zahl an niederschwelligen Arbeitsplätzen<br />

akzentuiert sich hier eine gewisse<br />

Konkurrenzsituation.<br />

Die SODK hat sich in den letzten Jahren<br />

mit dem Bund im Nationalen Pro-<br />

gramm Armut engagiert. Welches sind<br />

für Sie die wichtigsten Erkenntnisse<br />

daraus und wie soll es weitergehen?<br />

Dank dem Armutsprogramm konnten<br />

neue Erkenntnisse gewonnen und zahlreiche<br />

Hilfsinstrumente für Fachpersonen<br />

geschaffen werden. Gewonnen ist damit<br />

natürlich noch nicht viel, insbesondere für<br />

die Betroffenen nicht. Die Arbeiten haben<br />

jedoch gezeigt, dass ein grosses Engagement<br />

auf vielen Ebenen vorhanden ist und<br />

das Zusammenwirken der politischen Ebenen<br />

und der Fachebenen gut funktioniert<br />

und gewinnbringend ist. Armutsprävention<br />

und -bekämpfung ist eine Querschnittsaufgabe<br />

und muss eine Hauptaufgabe aller<br />

staatlichen Ebenen bleiben.<br />

2015 /2016 hat die SODK zum ersten<br />

Mal die SKOS-Richtlinien formal<br />

genehmigt. Welche Bedeutung kommt<br />

diesem Schritt zu?<br />

Die SKOS-Richtlinien haben einen hohen<br />

Stellenwert für die Kantone. Mit dem<br />

neu aufgegleisten Prozess und der Verabschiedung<br />

der politisch relevanten Punkte<br />

durch die SODK haben sie nochmals an<br />

Akzeptanz und Verbindlichkeit gewonnen.<br />

Was bedeutet es, wenn einzelne Kantone<br />

von den Richtlinien abweichen?<br />

Aktuelles Beispiel ist die Vorlage im<br />

Kanton Bern.<br />

Mit der 1. und 2. Etappe der SKOS-<br />

Richtlinienreform hat man gezielt Verbesserungen<br />

bzw. Kürzungen angesetzt,<br />

dort wo sie sozialpolitisch vertretbar sind.<br />

Die grosse Mehrheit der Kantone wendet<br />

die SKOS-Richtlinien an und setzt auch<br />

die beiden Revisionsschritte um, was zur<br />

Harmonisierung des Systems beiträgt. Darüber<br />

sind wir froh. Zur Sozialhilfegesetzgebung<br />

oder Entwicklungen in einzelnen<br />

Kantonen äussert sich die SODK nicht. Es<br />

werden wohl nie alle Kantone genau das<br />

gleiche machen.<br />

Was würde ein Bundesrahmengesetz<br />

in der Sozialhilfe bringen?<br />

Die Sozialhilfe ist historisch am wenigsten<br />

reguliert; eine höhere Regulierung<br />

würde die Verbindlichkeit stärken und die <br />

4/17 ZeSo<br />

9


«Zentral ist eine frühzeitige Erfassung und Begleitung von<br />

Personen, bei denen die Gefahr besteht, dass sie keinen Zugang<br />

zum Arbeitsmarkt finden bzw. den Anschluss verlieren.»<br />

<br />

Harmonisierung verbessern. Es gäbe eine<br />

einheitliche Anwendung von Minimalstandards.<br />

Die SODK hat sich in den letzten<br />

Jahren aber klar gegen ein Rahmengesetz<br />

ausgesprochen. Aus politischer Sicht<br />

kommt es für uns momentan nicht in Frage.<br />

Denn es geht nicht, dass der Bund ohne<br />

Mitfinanzierung neu eine Kernaufgabe der<br />

Kantone steuern würde; es würden zudem<br />

nur Minimalstandards festgelegt – folglich<br />

bestünde nur eine eingeschränkte Harmonisierung.<br />

Es bestünde die Gefahr einer<br />

Nivellierung gegen unten. Und schliesslich<br />

wären Anpassungen nur über einen schwerfälligen<br />

und langwierigen Prozess möglich.<br />

Sehen Sie bei der Sozialhilfe Reformbedarf?<br />

Die Sozialhilfe ist ein <strong>ganz</strong> entscheidendes<br />

Element der sozialen Sicherheit.<br />

Längst geht sie über ihren eigentlichen<br />

Wirkungskreis hinaus, nämlich Personen<br />

in Notlagen vorübergehend zu unterstützen.<br />

Dies bedingt eine stete Weiterentwicklung<br />

und Stärkung der Sozialhilfe und<br />

damit der SKOS-Richtlinien. Ich möchte<br />

in der Sozialhilfe aber nicht nur über<br />

Geld reden. Absolut zentral ist die Sozialberatung.<br />

Das ist für mich überhaupt die<br />

wichtigste Arbeit, die auf den Gemeinden<br />

gemacht wird. Wir brauchen dort Leute,<br />

die besondere Wege finden können, um<br />

die Betroffenen zu unterstützen. Ich habe<br />

in den Gemeinden viele Sozialarbeiter<br />

kennengelernt, die absolut hervorragende<br />

Arbeit leisten.<br />

Integration ist ein allgegenwärtiges<br />

Thema. Tun Gemeinden und Kantone<br />

genug?<br />

Die Integrationsbestrebungen der<br />

Kantone und Gemeinden sind enorm.<br />

Die Wirtschaft braucht qualifizierte Arbeitskräfte,<br />

die Anzahl der Arbeitsplätze<br />

für Schlechtqualifizierte sinkt dagegen<br />

tendenziell. Zentral ist eine frühzeitige Erfassung<br />

und Begleitung von Personen, bei<br />

denen die Gefahr besteht, dass sie keinen<br />

Zugang zum Arbeitsmarkt finden bzw. den<br />

Anschluss verlieren. Dies ist erkannt und<br />

wird von Kantonen und Gemeinden umgesetzt.<br />

Ohne gezielte Integrationsmassnahmen<br />

und die dazu nötigen Mittel beispielsweise<br />

für Nachholbildung wird dies aber<br />

nicht gelingen. Entscheidend wird sein,<br />

wie viel Geld für konkrete Integrationsprojekte<br />

bereitgestellt wird. Zudem muss<br />

man sich bewusst sein, dass nur ein Teil<br />

der Sozialhilfebeziehenden überhaupt integriert<br />

werden kann. Viele – zum Beispiel<br />

ältere oder traumatisierte Personen – sind<br />

nur partiell oder auf langwierigem Weg<br />

integrierbar. Diese Personen können an<br />

Beschäftigungsprogrammen teilnehmen,<br />

um die soziale Integration zu begünstigen,<br />

denn die Teilhabe am gesellschaftlichen<br />

Leben ist wesentlich. Diese wenigen Fälle<br />

kann eine Gesellschaft mittragen. Früher<br />

waren eben manche Unternehmen bereit,<br />

solche Angestellten mitzutragen. Heute ist<br />

das nicht mehr so. Diese Stellen wurden<br />

gestrichen. Eine Folge des Effizienzwahns.<br />

10 ZeSo 4/17


Wie sieht es bei der Integration von<br />

Migrantinnen und Migranten in den<br />

Arbeitsmarkt aus? Werden die bisher<br />

unternommenen Schritte ausreichen?<br />

Das Problem ist auch hier, dass viele<br />

niedrigqualifizierte Arbeitsplätze ins Ausland<br />

wandern. Es braucht also Investitionen<br />

in die Bildung. Die Integrationspauschalen<br />

des Bundes belaufen sich zur Zeit<br />

auf 6000 Franken. Wir verhandeln nun<br />

mit Bundesrätin Sommaruga über die<br />

Höhe, denn wir wollen, dass die Pauschale<br />

auf 18000 erhöht wird. Dazu brauchen<br />

wir zunächst eine Integrationsagenda,<br />

denn der Bund will Klarheit darüber, wofür<br />

die Kantone die Integrationspauschalen<br />

einsetzen werden. Wichtig ist aber immer<br />

auch, dass Unternehmer Unterstützung<br />

leisten, dass Arbeitgeber ihre Angestellten<br />

fördern und sie ermutigen, Sprachkurse zu<br />

machen und sie dafür freistellen. Ein sehr<br />

einfaches positives Beispiel ist für mich<br />

Tibits. Die Angestellten aus 80 Nationen,<br />

die bei der Restaurantkette angestellt sind,<br />

müssen untereinander Deutsch und nicht<br />

Englisch oder Spanisch sprechen. Solche<br />

Ansätze finde ich interessant. Generell<br />

lohnen sich Massnahmen zur Bildung und<br />

Prävention immer.<br />

Welchen Bezug haben Sie zum Thema<br />

Armut?<br />

Ich bin froh, nie von Armut betroffen<br />

gewesen zu sein. Ich habe aber vor allem<br />

ein sehr reiches Leben an Erfahrungen<br />

und an Menschen, die ich kennengelernt<br />

habe.<br />

Wenn man Ihren Werdegang liest,<br />

kommt man aus dem Staunen nicht<br />

mehr raus. Sie sind Lehrer, studierter<br />

Landwirtschaftsarchitekt, züchteten<br />

Angusrinder, waren Miteigentümer einer<br />

lukrativen Lachsräucherei, haben<br />

ein Hotel geführt und sind Präsident<br />

der Aidshilfe Schweiz, um nur ein paar<br />

Stichworte zu nennen. Wie prägt dieser<br />

vielfältige Hintergrund Ihren Blick<br />

auf die Sozialpolitik?<br />

Ich schätze mich glücklich, dass ich immer<br />

die Gelegenheit und die Freiheit hatte,<br />

Dinge zu tun, die mich interessiert und die<br />

der Zeit entsprochen haben. In der Schweiz<br />

ist verdächtig, wer keiner klar erkennbaren<br />

Karriere folgt. Dabei glaubt man mit viel<br />

Wissen und Ausbildung könne man Erfahrung<br />

kompensieren. Das stimmt aber<br />

nicht. Ich hatte mit Landwirten, Hotelangestellten<br />

etc. zu tun und habe Menschen<br />

aus aller Herren Länder kennengelernt. Als<br />

Politiker habe ich so die Möglichkeit, näher<br />

an die Menschen heranzukommen, nicht<br />

um ihnen nach dem Mund zu reden, sondern<br />

um zu hören, was sie denken.<br />

Wie kommt man als junger Lehrer von<br />

der Goldküste dazu, Angusrinder zu<br />

züchten?<br />

Das war der Traum der 70er Jahre, autonom<br />

zu sein, zu wissen, was es braucht,<br />

bis ein Stück Fleisch auf dem Teller liegt.<br />

Wir kauften den Bauernhof nicht wegen<br />

der schönen Wohnlage, sondern weil wir<br />

es schaffen wollten, ihn erfolgreich zu bewirtschaften<br />

mit unseren Angus-Rindern,<br />

Freiland-Hühnern und Lämmern. Ich besorgte<br />

morgens die Ställe und ging dann<br />

unterrichten, an einer Mehrklassenschule.<br />

Als Lehrer hatte ich auch Kontakt mit Familien,<br />

denen es nicht gut ging. Wir hatten<br />

auch auf dem Bauernhof eine Hilfskraft,<br />

die Alkoholiker war, die keine Mittel hatte<br />

und die wir stützen mussten. Unser Bewirtschaftungskonzept<br />

führte aber nicht zu<br />

einem «break even» und so sind wir in die<br />

Lachsräucherei eingestiegen. Dabei habe<br />

ich wieder sehr viel gelernt, gearbeitet,<br />

wieder dazu gelernt und wieder gearbeitet.<br />

Ich hätte mich nach dem Verkauf meiner<br />

Anteile an der Lachsräucherei aufs Whiskeytasting<br />

und Golfspielen beschränken<br />

können, aber ich beschloss, mit 40 noch<br />

Landschaftsarchitektur zu studieren. Ich<br />

habe einfach immer wieder Lust, etwas zu<br />

tun, auch in der Politik – und dies auch,<br />

wenn mich meine Partei nicht immer trägt.<br />

Sie haben mal gesagt, Sie bestellen<br />

gerne neue Felder, Sie arbeiten hart,<br />

bis der Erfolg sich einstellt – beides ist<br />

in der Sozialpolitik eher schwierig. Die<br />

Sozialpolitik ist ein sehr intensiv bearbeitetes<br />

Feld, auf dem Erfolge eher<br />

selten geerntet werden können.<br />

Ich denke schon, dass man in der Sozialpolitik<br />

etwas bewirken kann. Wenn das Klima<br />

unter den Kantonen und mit dem Bund<br />

gut ist, dann kann man etwas bewegen.<br />

Und ich denke, ein gutes Klima zu schaffen,<br />

das ist etwas, was ich gut kann. •<br />

Das Gespräch führte<br />

Ingrid Hess<br />

4/17 ZeSo<br />

11


12 ZeSo 4/17 SCHWERPUNKT<br />

Bild: Keystone


Bildung Statt beschäftigung<br />

Bildung statt Beschäftigung<br />

in der Sozialhilfe<br />

50 Prozent der Sozialhilfebeziehenden haben keinen<br />

Berufsabschluss. Der Erwerb von Grundkompetenzen,<br />

Nachholbildung und Weiterbildung ist für ihre Integration zentral,<br />

denn Geringqualifizierte haben es in der Schweiz schwer auf<br />

dem Arbeitsmarkt. Ihre Chancen haben in den letzten Jahren<br />

noch deutlich abgenommen. Erfolgreiche Pilotprojekte gibt<br />

es beispielsweise in den Kantonen Basel-Stadt und Bern.<br />

Darüber hinaus ist aber ein Umdenken in der Sozialhilfe und im<br />

Bildungssystem nötig, wie die Beiträge des Schwerpunktes zeigen.<br />

SCHWERPUNKT<br />

14 Mit Bildung die Chancen von Sozialhilfebeziehenden erhöhen<br />

17 Von der Sozialhilfe in die Ausbildung<br />

19 Zweite Chance auf Erstausbildung – unabhängig vom Alter<br />

20 Bildungsmassnahmen auf den ersten Arbeitsmarkt ausrichten<br />

22 Die Betroffenen finden den Weg in einen Kurs meistens nicht selbst – nachgefragt bei Brigitte Aschwanden<br />

24 Wie Betriebe Mitarbeitende ohne Berufsabschluss fördern können<br />

SCHWERPUNKT 4/17 ZeSo<br />


Mit Bildung die Chancen von<br />

Sozialhilfebeziehenden erhöhen<br />

Bildung ist in der Schweiz der entscheidende Faktor für die berufliche Integration. Um die Chancen<br />

von Sozialhilfebeziehenden zu erhöhen, muss daher vermehrt in ihre Bildung investiert werden.<br />

Notwendig sind Weiterbildungsmassnahmen nahe am regulären Arbeitsmarkt sowie Anpassungen<br />

im Bildungssystem und Stipendienwesen.<br />

Das Ausbildungsniveau der Gesamtbevölkerung der Schweiz ist in<br />

den letzten Jahren deutlich gestiegen und der Anteil der Personen<br />

ohne Bildungsabschluss gesunken. Bei Personen in der Sozialhilfe<br />

stagniert das Ausbildungsniveau jedoch auf tiefem Niveau. Insbesondere<br />

der Anteil der Sozialhilfebeziehenden ohne Berufsbildung<br />

verharrt bei 50 Prozent. Eine Integration von Personen mit<br />

geringen Qualifikationen in den Arbeitsmarkt ist zunehmend problematisch.<br />

Bereits in den 90er Jahren lag die Erwerbslosenquote<br />

von Niedrigqualifizierten klar über dem Durchschnitt. Seit 2011<br />

steigt sie bei Niedrigqualifizierten jedoch deutlich stärker an als<br />

bei Personen mit Berufsbildung. 2016 war die Erwerbslosenquote<br />

von Niedrigqualifizierten mit knapp 9 Prozent mehr als doppelt<br />

so hoch wie die entsprechende Quote von Personen mit einem Abschluss<br />

auf der Sekundarstufe II oder der Tertiärstufe.<br />

Diese Entwicklung ist eine Folge des strukturellen Wandels<br />

des Arbeitsmarktes. Durch den technischen Fortschritt und die<br />

Tertiarisierung der Wirtschaft haben Personen mit geringen Qualifikationen<br />

immer mehr Mühe, sich im Erwerbsleben zu behaupten<br />

und bei einem Verlust der Arbeitsstelle innert nützlicher Frist<br />

eine neue Anstellung zu finden. Auch wenn im Bereich der individuellen<br />

Dienstleistungen (z.B. Pflege, Reinigung, Lieferdienste)<br />

zusätzliche Arbeitsplätze für Personen ohne Berufsbildung entstehen,<br />

lässt die Nachfrage nach Ungelernten insgesamt stark<br />

nach. Zudem steigen auch in diesen Stellen die Anforderungen<br />

bezüglich IKT-Kompetenzen und Kenntnisse der Schriftsprache.<br />

Dies bestätigt eine Umfrage des Schweizerischen Dachverbandes<br />

für Lesen und Schreiben. Der Anteil der Kursteilnehmenden, die<br />

angeben, dass ihre Lese- und Schreibkompetenz im beruflichen<br />

Alltag nicht genügen, ist zwischen 2007 und 2015 von 30 auf<br />

62 Prozent gestiegen.<br />

Die SKOS unterscheidet drei verschiedene Kompetenzen, die<br />

mit Blick auf die berufliche und soziale Integration von entscheidender<br />

Bedeutung sind:<br />

• Grundkompetenzen umfassen das Lesen und Schreiben sowie<br />

die mündliche Ausdrucksfähigkeit in einer lokalen Landessprache,<br />

Alltagsmathematik und das Beherrschen von Informations-<br />

und Kommunikationstechnologien. Grundkompetenzen<br />

bilden die Grundlage für den Aufbau aller weiteren Kompetenzen<br />

und sind daher eine zwingende Voraussetzung für eine<br />

weiterführende Qualifikation.<br />

• Alltagskompetenzen sind erforderlich für die Bewältigung des<br />

persönlichen Alltags. Dazu zählen beispielsweise die Erledigung<br />

administrativer Aufgaben, der Umgang mit Geld oder das<br />

Führen eines eigenen Haushalts.<br />

• Arbeitsmarktliche Schlüsselkompetenzen sind zentral zur Bewältigung<br />

der allgemeinen Herausforderungen des beruflichen<br />

Alltags. Darunter fallen beispielsweise Planungs- und Organisationsfähigkeit,<br />

Lösungs- und Entscheidungsfähigkeit. Aus-<br />

In drei Stufen zur berufliche Qualifizierung<br />

Um die Arbeitsmarktchancen von Sozialhilfebeziehenden zu erhöhen<br />

und auch um die gesellschaftliche Teilhabe zu verbessern,<br />

muss in ihre Bildung investiert werden. Die bisherigen Anstrengungen<br />

reichen nicht aus. Eine Umfrage, die die SKOS bei 660<br />

Sozialdiensten durchgeführt hat, zeigt, dass es heute vor allem an<br />

Angeboten zur Förderung von Grund-, Alltags- und arbeitsmarktlichen<br />

Schlüsselkompetenzen und solchen zur beruflichen Qualifizierung<br />

fehlt. Diese sind jedoch Voraussetzung, um sich weitebilden<br />

zu können.<br />

Qualifizierung beginnt mit Grundkompetenzen.<br />

Bild: Daniel Desborough<br />

14 ZeSo 4/17 SCHWERPUNKT


Bildung statt Beschäftigung<br />

dauer, Belastbarkeit, Kreativität, Konfliktfähigkeit, Höflichkeit<br />

oder Toleranz.<br />

Das Weiterbildungsgesetz hat eine neue Förderstruktur im Bereich<br />

Grundkompetenzen geschaffen. Diese überlässt es jedoch<br />

der Initiative der Kantone, ob und wie viel sie in die Förderung<br />

der Grundkompetenzen investieren. Der Kantonsbetrag wird vom<br />

Bund verdoppelt. Der in der Periode <strong>2017</strong>-2020 im Rahmen des<br />

Bundeskredits für Bildung, Forschung und Innovation vorgesehene<br />

Betrag ist äusserst bescheiden und wird dem eigentlichen<br />

Förderbedarf nicht gerecht.<br />

Es ist nötig, dass Sozialhilfebeziehende, ausgehend von ihren<br />

individuellen Kompetenzen und Möglichkeiten, fokussiert weitergebildet<br />

werden.<br />

Die Förderung muss auf einem dreistufigen Modell der Qualifizierung<br />

beruhen:<br />

1) Sozialhilfebeziehende erwerben umfassende Grund-, Schlüssel-<br />

und Alltagskompetenzen. Damit fördern sie ihre Teilhabe<br />

an der Gesellschaft und legen die Basis für die weitere Qualifizierung.<br />

2) Sie erwerben niederschwellige berufliche Qualifikationen.<br />

Damit verbessern sie ihre Chance auf dem Arbeitsmarkt und<br />

legen die Basis für die berufliche Grundbildung.<br />

3) Sie durchlaufen eine berufliche Grundbildung (EBA oder<br />

EFZ). Damit erhöhen sie ihre Chance auf dem Arbeitsmarkt<br />

erheblich und sie erlangen die Grundlage, mit Veränderungen<br />

im Berufsleben Schritt halten zu können.<br />

Die Bildungskosten müssen vom Bildungswesen getragen und<br />

die Lebenshaltungskosten über Stipendien finanziert werden.<br />

Die Sozialhilfe soll lediglich die nicht anderweitig finanzierbare<br />

Lebenshaltung übernehmen. Dies hat auch zur Folge, dass die<br />

betroffenen Personen auf ihrem Qualifizierungsweg nicht primär<br />

Sozialhilfebeziehende, sondern Lernende sind. Die Sozialdienste<br />

und Sozialämter stellen ihren Bildungsbedarf fest, suchen mit ihnen<br />

geeignete Angebote und sind Begleiter auf dem Bildungsweg.<br />

Die Bildungsarbeit findet jedoch im Bildungswesen statt. Dies<br />

bedingt sowohl einen Paradigmenwechsel in der Sozialhilfe wie<br />

auch im Bildungssystem.<br />

Paradigmenwechsel in der Sozialhilfe<br />

Die Sozialhilfe hat neben der Existenzsicherung den Auftrag, die<br />

berufliche und soziale Integration bedürftiger Menschen zu gewährleisten.<br />

Dies ist insbesondere für Menschen zentral, die über<br />

längere Zeit auf Sozialhilfe angewiesen sind. Wenn sich die berufliche<br />

Integration in den regulären Arbeitsmarkt als unmittelbar<br />

schwierig erweist, werden Sozialhilfebeziehende oft in Angebote<br />

des zweiten Arbeitsmarktes gewiesen. Theoretisch dienen diese als<br />

Sprungbrett für den regulären Arbeitsmarkt. In Wirklichkeit erweisen<br />

sie sich oft als langfristige Lösung ohne Perspektive, weil<br />

die Massnahmen nicht in ein individuell zugeschnittenes Bildungsprogramm<br />

mit entsprechender Begleitung (Coaching) eingebettet<br />

sind.<br />

Daher ist in der Sozialhilfe ein Paradigmenwechsel notwendig.<br />

Mit «Bildung statt Beschäftigung» ist gemeint, dass die Sozialhilfebeziehenden<br />

nahe am regulären Arbeitsmarkt weitergebildet<br />

statt im zweiten Arbeitsmarkt beschäftigt werden müssen. Dies<br />

gilt nicht erst für die berufliche Qualifizierung oder Berufsbildung,<br />

sondern bereits für das Erlernen der Grund-, Schlüsselund<br />

Alltagskompetenzen. Eine solch zielgerichtete und begleitete<br />

Bildung ist die Voraussetzung für die berufliche und gesellschaftliche<br />

Integration.<br />

SCHWERPUNKT 4/17 ZeSo<br />

15<br />


Künftig soll die Stärkung der Bildung von ungenügend qualifizierten<br />

Bezügerinnen und Bezügern in vier Schritten erfolgen:<br />

1) Am Anfang steht eine fundierte Abklärung der individuellen<br />

Fähigkeiten und Fertigkeiten einschliesslich der Grund-,<br />

Schlüssel- und Alltagskompetenzen (Assessment).<br />

Finanzierung von Aus- und Weiterbildung<br />

durch die Sozialhilfe<br />

Die Sozialhilfe dient der Existenzsicherung und kann daher – subsidiär<br />

zu anderen Finanzierungsquellen – den Lebensunterhalt<br />

während einer Aus- oder Weiterbildung sichern. Eine umfassende<br />

Förderung ist jedoch aufgrund der aktuellen SKOS-Richtlinien nicht<br />

vorgesehen.<br />

Erstausbildung bei Volljährigen (H.6)<br />

Eine Erstausbildung fällt grundsätzlich in die Unterhaltspflicht<br />

der Eltern. Diese Unterhaltspflicht besteht auch dann, wenn eine<br />

volljährige Person ohne angemessene Ausbildung ist (Art. 277 Abs.2<br />

ZGB). Kann den Eltern nicht zugemutet werden, für Unterhalt und<br />

Ausbildung ihres volljährigen Kindes aufzukommen, und reichen die<br />

Einnahmen (Lohn, Stipendien, Beiträge aus Fonds und Stiftungen<br />

usw.) nicht aus, um den Unterhalt und die ausbildungsspezifischen<br />

Auslagen zu decken, kann die Sozialbehörde eine ergänzende Unterstützung<br />

ausrichten.<br />

Zweitausbildung und Umschulung (H.6)<br />

Beiträge an eine Zweitausbildung oder Umschulung können nur geleistet<br />

werden, wenn mit der Erstausbildung kein existenzsicherndes<br />

Einkommen erzielt werden kann und wenn dieses Ziel voraussichtlich<br />

mit der Zweitausbildung oder Umschulung erreicht wird. Ebenso<br />

ist eine Zweitausbildung oder Umschulung zu unterstützen, sofern<br />

damit die Vermittlungsfähigkeit der betroffenen Person steigt.<br />

Fort- und Weiterbildung (H.6)<br />

Die Kosten von beruflichen Fort- und Weiterbildungsmassnahmen<br />

sowie von persönlichkeitsbildenden Kursen können im individuellen<br />

Unterstützungsbudget berücksichtigt werden, wenn diese zur<br />

Erhaltung bzw. zur Förderung der beruflichen Qualifikation oder der<br />

sozialen Kompetenzen beitragen.<br />

Situationsbedingte Leistungen (C.1.2.)<br />

Die im Zusammenhang mit Schul-, Kurs- oder Ausbildungsbesuch<br />

entstehenden Kosten werden nach SKOS-Richtlinien über die SIL<br />

finanziert, soweit sie nicht im Grundbedarf enthalten sind oder über<br />

Stipendien gedeckt werden können.<br />

Kantonale Programme<br />

Derzeit ist es nur in wenigen Kantonen möglich, einen Berufsabschluss<br />

über die Sozialhilfe nachzuholen. Eine Vorreiterrolle nimmt<br />

der Kanton Waadt mit seinen Programmen FORJAD und FORMAD<br />

ein, die erwachsenen Sozialhilfebeziehenden ermöglichen, eine<br />

berufliche Grundbildung zu erlangen. Dabei werden sie bei ihrer Ausbildung<br />

jedoch nicht durch die Sozialhilfe, sondern durch Stipendien<br />

unterstützt. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt der Kanton Basel-Stadt<br />

mit dem Projekt «Enter» (vgl. <strong>ZESO</strong>-Artikel S.17-18).<br />

2) Aufgrund der Abklärung bestimmen die Betroffenen, von Fachleuten<br />

beraten und begleitet, ihr eigenes Bildungsziel. Dieses<br />

kann über mehrere Stufen zu erreichen sein. Zielbezogen wird<br />

so ein individueller Bildungsplan erstellt.<br />

3) Anhand des Bildungsplans suchen die Betroffenen mit Unterstützung<br />

von Fachpersonen das geeignete Bildungsangebot.<br />

Der zuständige Sozialdienst hilft beim Aufstellen des Budgets<br />

und der Absprache mit der Stipendien-Stelle.<br />

4) Die betroffene Person wird auf dem gesamten Bildungsweg begleitet,<br />

gecoacht und gefördert. Die Verantwortung bleibt bei<br />

der Sozialhilfe, bis das Bildungsziel erreicht ist und ein Einstieg<br />

in die Arbeitswelt erfolgt.<br />

Paradigmenwechsel im Bildungssystem<br />

Das Bildungssystem ist heute auf Personen ausgerichtet, welche<br />

die obligatorische Schule erfolgreich absolvieren, anschliessend in<br />

jungen Jahren eine Berufsausbildung abschliessen und im Verlauf<br />

des Berufslebens allenfalls berufsbegleitende Weiterbildungen besuchen.<br />

Sie erwerben in der Volksschule die Grundkompetenzen,<br />

in der beruflichen Grundbildung die nötigen Fähigkeiten und Fertigkeiten<br />

für die Arbeitswelt und damit die Voraussetzungen, mit<br />

deren laufenden Veränderungen Schritt zu halten.<br />

Das Bildungssystem ist in der Sekundarstufe II und auf der<br />

Tertiärstufe hochgradig durchlässig sowie verflochten. Es weist jedoch<br />

zwei Mängel auf: Ohne Grund-, Schlüssel- und Alltagskompetenzen<br />

– die in der Regel im Alter von 16 Jahren erworben sein<br />

sollten – fehlen elementare Voraussetzungen für den Weg in die<br />

Arbeitswelt, aber auch in weitere Bildungsbereiche. Und je älter jemand<br />

ist, desto schwieriger wird es, offene Bildungswege zu gehen.<br />

Für immer mehr Personen verläuft die Lern- und Erwerbsbiografie<br />

nicht mehr linear. Diese Personen haben es im heutigen System<br />

schwer, sich im Erwachsenenalter beruflich zu qualifizieren<br />

oder gar einen Lehrabschluss (EFZ) nachzuholen.<br />

Dies muss sich ändern:<br />

• Es braucht mehr Weiterbildungsangebote zum Erwerb der<br />

Grund-, Alltags- und arbeitsmarktlichen Schlüsselkompetenzen.<br />

• Anerkannte Bildungsmöglichkeiten unterhalb des EBA und<br />

EFZ-Niveaus müssen erweitert und die bestehenden Wege der<br />

Berufsbildung durch modular aufgebaute berufsbegleitende<br />

Qualifizierungskurse ergänzt werden.<br />

• Die Anspruchskriterien für Stipendien müssen angepasst werden.<br />

Auch Absolventen von Lehrgängen unterhalb des EFZund<br />

EBA-Niveaus müssen ohne Altersgrenze Anspruch auf bedarfsgerechte<br />

und existenzsichernde Beihilfen haben.<br />

Wichtig ist, dass die neu aufzubauenden oder auszuweitenden<br />

Bildungsangebote aller Art örtlich zusammengefasst, einer bestehenden<br />

Bildungseinrichtung eingegliedert oder angeschlossen<br />

werden und sichtbar sind. Es ist keine Strafe und keine Schande,<br />

sich zu bilden, egal in welchem Alter und auf welchem Niveau –<br />

es ist eine Leistung, für das Individuum, die Gesellschaft und die<br />

Wirtschaft. <br />

•<br />

Bettina Seebeck<br />

Fachbereich Grundlagen der SKOS<br />

16 ZeSo 4/17 SCHWERPUNKT


Bildung statt beschäftigung<br />

«Enter» unterstützt Erwachsene bei der Suche nach einem geeigneten Ausbildungsplatz. <br />

Von der Sozialhilfe in die Ausbildung<br />

Bild: Keystone<br />

Das Projekt «Enter» verhilft Sozialhilfebeziehende im Alter von 25 bis 40 Jahren im Kanton Basel-<br />

Stadt zu einer Berufsausbildung und führt sie zurück in den Arbeitsmarkt. Die Begleitung, Beratung<br />

und Organisation der materiellen Sicherung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer übernimmt dabei<br />

das Bildungssystem.<br />

Erwachsene Menschen ohne nachobligatorischen Abschluss arbeiten<br />

sehr oft in Tieflohnstellen und instabilen Arbeitssituationen.<br />

Ihre Integration in den Arbeitsmarkt ist prekärer und sie werden<br />

häufiger erwerbslos und sind deshalb auf Sozialleistungen angewiesen.<br />

Hinzu kommt, dass Personen ohne Berufsabschluss nur<br />

begrenzt Anschluss an Weiterbildungsmöglichkeiten haben und<br />

deshalb oft nicht mit den sich verändernden Anforderungen des<br />

Arbeitsmarktes Schritt halten können. Im Kanton Basel-Stadt besteht<br />

seit längerem ein grosses Engagement, um Jugendliche und<br />

junge Erwachsene beim Erlangen eines Berufsabschlusses zu unterstützen<br />

und die Jugendarbeitslosigkeit zu verringern. 2013 erarbeitete<br />

eine interdepartementale Projektgruppe mit Vertretern<br />

der Wirtschaft ein Konzept für Erwachsene ohne Bildungsabschluss<br />

aus, das auf eine Win-win-Strategie abzielt. Bildungspolitisch<br />

wird das Ziel verfolgt, die Anzahl Menschen mit einer nachobligatorischen<br />

Ausbildung im Sekundarbereich II zu erhöhen.<br />

Sozialpolitisch wird das Paradigma «Arbeit vor Bildung» der Sozialhilfe<br />

teilweise aufgebrochen und Menschen aus der Sozialhilfe<br />

eine weiterführende Perspektive geboten. Der Regierungsrat des<br />

Kantons Basel-Stadt beschloss 2014 das Pilotprojekt «Enter» umzusetzen.<br />

Die Innovation von «Enter» besteht aus dem Transfer der Teilnehmenden<br />

von der Sozialhilfe in das Bildungssystem. Das Projekt<br />

fokussiert auf Menschen der Sozialhilfe im Alter zwischen 25 und<br />

40 Jahre, die über keinen anerkannten Berufsabschluss verfügen<br />

und motiviert sind, diesen nachzuholen. Damit sollen Sie nachhaltig<br />

in den Arbeitsmarkt integriert werden. Es wurde ein Phasenmodell<br />

entwickelt, das primär von der Nutzung der bestehenden<br />

kantonalen Berufsbildungsstrukturen ausgeht. In einer ersten<br />

Phase wird die Zielgruppe systematisch aus der Sozialhilfe selektioniert<br />

und an die Berufsberatung zur Entwicklung einer individuellen<br />

Berufsbildungsstrategie weitergeleitet. Danach wird mit Unterstützung<br />

der Ausbildungsvermittlung des Gewerbeverbandes<br />

ein entsprechender Ausbildungsplatz gesucht. Nach erfolgter Akquisition<br />

der Lehrstellen und Beginn der Ausbildungen findet der<br />

Transfer der Teilnehmenden vom Sozial- in das Bildungssystem<br />

statt. Die psychosoziale Betreuung sowie die Sicherung der materiellen<br />

Existenz werden vom Bildungssystem geführt und verantwortet.<br />

Die Sozialhilfe trägt lediglich die Kosten für den Lebensunterhalt<br />

subsidiär zu Stipendien und Einkommen. Im Hintergrund<br />

des Projekts steht der Vorstoss der Schweizerischen Konferenz für<br />

Sozialhilfe (SKOS) aus dem Jahr 2011, der den Kantonen emp-<br />

SCHWERPUNKT 4/17 ZeSo<br />

<br />

17<br />


Der Zugang zur beruflichen<br />

Grundbildung ist anspuchsvoll<br />

und marktgesteuert.<br />

fiehlt, das Zusammenwirken von Sozialhilfe und Stipendienwesen<br />

zu überprüfen und den Grundsatz «Stipendien vor Sozialhilfe»<br />

umzusetzen. Nach erfolgter Ausbildung integrieren sich die Teilnehmenden<br />

in den Arbeitsmarkt und lösen sich von den Unterstützungsstrukturen<br />

und den Transferzahlungen. «Enter» steuert<br />

und unterstützt die Personen im Gesamtprozess.<br />

Hierzu ein kurzes Fallbeispiel: Frau D. wurde im September<br />

2014 durch die Sozialhilfe Basel-Stadt dem Projekt «Enter» zugewiesen.<br />

Ihre familiäre Situation mit zwei Kindern im Vorschulalter,<br />

die sie als alleinerziehende Mutter fast ausschliesslich selber<br />

betreut, hat dazu geführt, dass sie kaum qualifizierte Arbeit fand<br />

und bis jetzt keine Ausbildung abschliessen konnte. Mit der Begleitung<br />

durch das Projekt «Enter» konnten wichtige Schritte organisiert<br />

werden: Betreuung der Kinder in Tagesstrukturen, Erstellen<br />

eines umfassenden Bewerbungsdossiers. Nach erfolgreicher<br />

beruflicher Orientierung durch die Berufsberatung Basel-Stadt<br />

wurde Frau D. in ihrem Bewerbungsprozess zusätzlich durch die<br />

Partner-institutionen von «Enter», der Lehrstellenvermittlung des<br />

Gewerbeverbands Basel-Stadt sowie der Lehraufsicht Basel-Stadt,<br />

in ihrer Suche nach einem Praxisbetrieb unterstützt. Trotz dem<br />

Bemühen wollte sich vorerst kein Erfolg einstellen. Dank der Beharrlichkeit<br />

von Frau D. und den Bemühungen der Mitarbeitenden<br />

von «Enter» gelang es, trotz ihrer langen Abwesenheit vom<br />

Arbeitsmarkt eine geeignete Stelle im Verkauf für den Start ihrer<br />

Nachholbildung zu finden. Nach schwierigem Beginn verbesserte<br />

sie ihre Noten an der Berufsfachschule stetig und sie wurde sogar<br />

zur Klassensprecherin ernannt. Knapp zwei Jahre nach der Anmeldung<br />

bei Enter hat Frau D. ihre Abschlussprüfung als Detailhandelsfachfrau<br />

im Sommer 2016 erfolgreich abgelegt und konnte<br />

an ihrer Stelle direkt weiter arbeiten. Dank ihres verbesserten Einkommens<br />

konnte sie sich von der Sozialhilfe ablösen und führt<br />

nun ein finanziell unabhängiges und selbstbestimmtes Leben.<br />

Vom Phasen- zum Modulsystem<br />

Organisatorisch ist «Enter» bei Gap – Case Management Berufsbildung<br />

im Erziehungsdepartement angesiedelt. Am Projekt beteiligt<br />

sind zudem die Sozialhilfe, das Arbeitsintegrationszentrum<br />

Basel, die Sozialhilfe Riehen, die Berufsberatung Basel-Stadt, die<br />

Ausbildungsvermittlung des Gewerbeverbandes Basel-Stadt sowie<br />

das Amt für Ausbildungsbeiträge Basel-Stadt.<br />

Um die erste Wirkung von «Enter» zu überprüfen, hat das Büro<br />

für Arbeits- und sozialpolitische Studien BASS AG eine Evaluation<br />

über das Projekt erstellt. Aufgrund der positiven Ergebnisse<br />

und den bisherigen Erfahrungen beschloss der Regierungsrat<br />

des Kantons Basel-Stadt im Oktober 2016, «Enter» von der Pilot-<br />

in eine fünfjährige Projektphase zu überführen. Gleichzeitig<br />

wurden auch inhaltliche Anpassungen beschlossen sowie eine<br />

Ausweitung der Zielgruppe ins Konzept aufgenommen. So ist es<br />

möglich, bei ausgewiesener Zulassung und Eignung eine Ausbildung<br />

im tertiären Bereich zu absolvieren. Zudem können auch<br />

Personen ohne Sozialhilfebezug die Dienstleistung von «Enter»<br />

zwecks Absolvierung einer Nachholbildung in Anspruch nehmen,<br />

sofern eine Mehrfachproblematik vorliegt. Konzeptionell<br />

wurde verankert, dass «Enter» das bisherige Phasenmodell in<br />

ein Modulsystem abändert. Dies, um individueller auf die Bedürfnisse<br />

der einzelnen Teilnehmenden eingehen zu können.<br />

Es gibt verschiedene Wege, einen Berufsabschluss nachzuholen.<br />

Nebst der klassischen Berufslehre mit eidgenössischem<br />

Fähigkeitszeugnis (EFZ) und eidgenössischem Berufsattest<br />

(EBA), gibt es auch das Validierungsverfahren nach Artikel<br />

31 des Berufsbildungsgesetzes (BBV) sowie die Nachholbildung<br />

nach Artikel 32 (BBV). Im Konzept sind alle<br />

möglichen Wege vorgesehen, welche abgestimmt auf die individuelle<br />

Situation der teilnehmenden Person ausgewählt werden.<br />

Kein Massenprodukt<br />

Zurzeit absolvieren 52 Personen eine Ausbildung. Bisher sind 77<br />

Personen in eine Ausbildung eingestiegen, 13 haben diese bereits<br />

erfolgreich abgeschlossen und 12 haben ihre Ausbildung abgebrochen.<br />

Mehr als die Hälfte der Ausbildungsabbrechenden konnten<br />

jedoch von der Sozialhilfe abgelöst werden konnten, da sie über<br />

«Enter» eine Arbeitsstelle fanden. Die Mehrheit von gut zwei Dritteln<br />

der «Enter»-Teilnehmenden in Ausbildung absolvieren eine<br />

Lehre auf Niveau EFZ. Per Sommer 2018 suchen bereits mehr als<br />

35 eine Lehrstelle.<br />

Mit 48 Prozent hat der grösste Teil der angemeldeten Personen<br />

bei «Enter» das gesamte Schulsystem in der Schweiz durchlaufen.<br />

Die meisten von ihnen wurden in der Schweiz geboren. Die<br />

zweitgrösste Gruppe (38 Prozent) umfassen die spät eingereisten<br />

Personen, welche erst nach Abschluss der Schulzeit in die Schweiz<br />

migriert sind beziehungsweise in den letzten fünf Jahren in die<br />

Schweiz einreisten. Im Vergleich mit den übrigen Personen findet<br />

aber auch diese Personengruppe im gleichen Masse eine Lehrstelle<br />

wie diejenigen, welche die gesamte Schulzeit in der Schweiz<br />

durchlaufen haben. Die übrigen sind während der obligatorischen<br />

Schulzeit in die Schweiz gezogen.<br />

«Enter» ist kein Massenprodukt, das belegen die Zahlen. Dies<br />

hat verschiedene Gründe: Der Zugang in die berufliche Grundbildung<br />

ist anspruchsvoll und marktgesteuert. Personen aus der Sozialhilfe<br />

sind diesem Markt ausgesetzt und stehen in direkter Konkurrenz<br />

mit Jugendlichen und weiteren Marktteilnehmenden. Sie<br />

haben erschwerte Voraussetzungen; später Zuzug in die Schweiz,<br />

dysfunktionale Bildungsbiografien sowie belastete psychosoziale<br />

Lebenslagen sind nur einige Gründe dafür. Weitere Gründe sind<br />

das fehlende Betreuungsangebot für Alleinerziehende, die fehlende<br />

Passung zwischen Angebot und Nachfrage bei den Lehrstellen<br />

sowie die langfristige Bindung an eine Ausbildung von bis zu<br />

vier Jahren. Hinzu kommt, dass die mangelnde Sprachkompetenz<br />

oftmals eine zu hohe Hürde darstellt. In diesem Kontext ist «Enter»<br />

als äusserst erfolgreich zu werten, aber als eines von vielen Instrumenten<br />

für eine nachhaltige Arbeitsintegration zu verstehen. •<br />

Silvan Surber<br />

Erziehungsdepartement Basel-Stadt, Projektleiter «Enter»<br />

18 ZeSo 4/17 SCHWERPUNKT


Zweite Chance auf Erstausbildung –<br />

unabhängig vom Alter<br />

bildung statt beschäftigung<br />

Im Januar 2018 schreibt die Stanley Thomas Johnson Stiftung zusammen mit einer breitangelegten<br />

Trägerschaft des Kantons Bern den zweiten Durchgang des Projekts «2. Chance auf eine 1.<br />

Ausbildung» aus. Das Projekt finanziert motivierten Personen, die nicht über genügend eigene Mittel<br />

verfügen, einen Berufsabschluss.<br />

In der Schweiz haben über 400 000 Menschen im Alter von 25<br />

bis 54 Jahren keine abgeschlossene erste Berufsausbildung. Unausgebildete<br />

Erwachsene sind häufiger arbeitslos und überdurchschnittlich<br />

viele arbeiten in Tieflohnstellen. Die gesellschaftliche<br />

Entwicklung und der gestiegene Anteil von Personen ausländischer<br />

Herkunft führen zunehmend zu heterogenen Berufs- und<br />

Bildungslaufbahnen. Die Aus- und Weiterbildung von Erwachsenen<br />

ist deshalb aus wirtschafts-, gesellschafts- und sozialpolitischer<br />

Sicht von immenser Bedeutung. Dies bewog die Stanley Thomas<br />

Johnson Stiftung dazu, das Projekt «2. Chance auf eine 1. Ausbildung»<br />

ins Leben zu rufen, das Erwachsenen ermöglicht, eine Berufsbildung<br />

nachzuholen. Das Projekt, das als Kooperation zwischen<br />

der Stiftung und dem Kanton Bern funktioniert, hat<br />

schweizweit Pioniercharakter.<br />

Auf die Ausschreibung des Pilotprojekts im Frühling 2016<br />

bewarben sich 200 Personen. Voraussetzungen für eine Teilnahme<br />

waren unter anderem ungenügende finanzielle Mittel gemäss<br />

SKOS-Richtlinien, Wohnsitz im Kanton Bern und ein Mindestalter<br />

von 25 Jahren. Die regionalen Berufs- und Informationszentren<br />

(BIZ) wählten 130 Personen für ein Erstgespräch aus. 34<br />

Personen schafften es ins Programm. Gut drei Viertel der selektionierten<br />

Personen starteten diesen Herbst mit der Ausbildung. Für<br />

die restlichen Projektteilnehmenden werden noch individuelle<br />

Lösungen gesucht. Der meist gewählte Ausbildungsweg ist eine<br />

Lehre auf Sekundarstufe II (eidgenössisches Fähigkeitszeugnis<br />

EFZ oder eidgenössisches Berufsattest). In Ausnahmefällen finanziert<br />

das Projekt den Teilnehmenden ein von der Berufsbranche<br />

anerkannter Abschluss oder gar ein Abschluss auf Tertiärstufe. Zu<br />

den vom Projekt übernommenen Leistungen gehören neben den<br />

Ausbildungs- auch die Lebenshaltungskosten. Im Januar 2018<br />

wird der zweite Durchgang des Projektes ausgeschrieben.<br />

Coaching und Empowerment als A und O<br />

Während der Lehrstellensuche und der Ausbildungsphase betreuen<br />

erfahrene Coaches bei Bedarf die Projektbeteiligten. Dieses Setting<br />

hilft den Teilnehmenden bei der Lehrstellensuche, gibt ihnen<br />

während der Ausbildung einen Rückhalt und bietet bei allfälligen<br />

Schwierigkeiten und Problemen eine Beratung. Das Coaching findet<br />

meistens in Gruppen statt. Die Gruppe dient als zusätzliche<br />

Motivationsquelle und zum Informations- und Erfahrungsaustausch.<br />

Bei Bedarf kann auch die Arbeitgeberin mit dem Coach in<br />

Kontakt treten. Durch die Einführung eines «2.-Chance-Vorkurses»<br />

im Nachfolgeprojekt können künftig die Projektteilnehmenden<br />

ihre Schulbildung und ihre Lern- und Stresskompetenz<br />

ausbauen. Der Kurs möchte zudem die Familien der Projektteil-<br />

Das Coaching erhöht die Erfolgschancen der Ausbildung.<br />

nehmenden in den Prozess einbeziehen und auf die Ausbildungszeit<br />

vorbereiten. Der Vorkurs ergänzt das Coaching-Setting und erhöht<br />

die Chancen auf einen Ausbildungserfolg. Dieser neue Kurs<br />

in französischer und deutscher Sprache wird von der Erziehungsdirektion<br />

finanziert und in Partnerschaft mit einem Berufsbildungszentrum<br />

realisiert.<br />

Die breitangelegte kantonale Trägerschaft hat den volkswirtschaftlichen<br />

Nutzen des Projekts erkannt und untermauert die<br />

Einmaligkeit des Projekts. Dank der neuen finanziellen Partnerschaft<br />

mit der Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) kann<br />

das Nachfolgeprojekt eine grössere Teilnehmerzahl aufnehmen,<br />

denn die GEF übernimmt die Lebenshaltungs- und Ausbildungskosten<br />

der Hälfte der Projektteilnehmenden (d.h. von 25 der 50<br />

Teilnehmenden). Zudem wird sich die GEF zu 50 Prozent an den<br />

Projektkoordinations- und Betriebskosten beteiligen. Auch die<br />

Partnerschaft mit dem BIZ ist unverzichtbar: Ohne sie hätte keine<br />

so professionelle und effiziente Vorselektion der Teilnehmenden<br />

stattfinden können. Im Nachfolgeprojekt wird diese Kooperation<br />

noch ausgebaut und professionalisiert. <br />

•<br />

SCHWERPUNKT 4/17 ZeSo<br />

Bild: Keystone<br />

Danièle Héritier<br />

Projektkoordination «2. Chance auf eine 1. Ausbildung»<br />


Bildungsmassnahmen auf den ersten<br />

Arbeitsmarkt ausrichten<br />

Der Sozialdienst der Stadt Dietikon legt den Fokus auf die rasche Integration in den ersten<br />

Arbeitsmarkt. Auch die Bildungs- und Beschäftigungsmassnahmen für die Klientinnen und Klienten<br />

werden auf dieses Ziel ausgerichtet. In der 2016 geschaffenen Fachstelle Arbeitsintegration sind<br />

dafür spezialisierte Fachkräfte angestellt.<br />

Zum Zeitpunkt des Intakes sind die Antragstellenden der Sozialhilfe<br />

oft noch nicht lange aus dem ersten Arbeitsmarkt ausgeschieden<br />

und ihre Motivation und Chancen noch intakt. Die Situationsklärung,<br />

die Abklärung des Anspruchs auf Sozialhilfe sowie die<br />

Geltendmachung von subsidiären Leistungen beanspruchen jedoch<br />

viel Zeit und Ressourcen. Das Thema Arbeitsintegration<br />

kommt häufig zu kurz. Zudem liegen die Kernkompetenzen der<br />

Sozialarbeitenden nicht in diesem Bereich. Bis zur Einführung einer<br />

spezifischen Fachstelle stand die Arbeitsintegration auch im<br />

Sozialdienst Dietikon nicht im Vordergrund. Das Thema wurde<br />

erst in einem zweiten Schritt mit verschiedenen externen Anbietern<br />

(meist aus dem zweiten Arbeitsmarkt) angegangen.<br />

Der erste Arbeitsmarkt muss aber in der Sozialhilfe präsenter<br />

werden und das oberste Ziel der Integration sein. Deshalb wurden<br />

in Dietikon die bestehenden internen Angebote reorganisiert und<br />

der Entscheid gefällt, dass es für das komplexe Feld der Arbeitsintegration<br />

zwingend spezialisierte Fachkräfte braucht. Per 1.<br />

Januar 2016 ist die Fachstelle Arbeitsintegration geschaffen und<br />

in den Büroräumlichkeiten der Sozialhilfe eingegliedert worden.<br />

Die Mitarbeitenden der Fachstelle stammen beruflich aus der<br />

Personalvermittlung im ersten Arbeitsmarkt und der klassischen<br />

Arbeitsintegration. Es sind bewusst keine Sozialarbeitenden für<br />

diese Funktion eingestellt worden, um den Fokus auf das Thema<br />

Arbeit zu richten.<br />

Bildungsbedarf abklären<br />

Heute werden alle Antragstellenden unmittelbar nach dem ersten<br />

Kontakt im Intake mit der Fachstelle Arbeitsintegration vernetzt.<br />

Die Fachstelle plant mit den Antragstellenden anschliessend die<br />

notwendigen Schritte für die Arbeitsintegration. Zur Visualisierung<br />

werden Integrationspläne eingesetzt, die das berufliche Ziel<br />

wie auch die notwendigen Zwischenschritte aufzeigen. Es wird<br />

eruiert, welche Weiterbildungen oder Nachholbildungen für eine<br />

rasche und nachhaltige Integration notwendig sind. Diese Abklärung<br />

wird unter der Berücksichtigung des Grundsatzes der Subsidiarität,<br />

Wirtschaftlichkeit und Zweckmässigkeit durchgeführt. Es<br />

wird darauf geachtet, dass die Personen in der Sozialhilfe nicht<br />

besser gestellt werden als Arbeitslose auf dem freien Markt. Die<br />

Prüfung und die Umsetzung der Massnahmen erfolgt jeweils im<br />

Austausch mit den zuständigen Sozialarbeitenden und erfordern<br />

oft einen regen Kontakt mit potenziellen Arbeitgebern und anderen<br />

Partnern, beispielsweise mit dem BIZ (Berufs- und Informationszentrum).<br />

Um Doppelspurigkeiten zu vermeiden und eine<br />

noch zeitnähere Bearbeitung zu ermöglichen, ist vorgesehen, dass<br />

die Antragstellenden künftig bereits das erste Gespräch gemeinsam<br />

mit einem Sozialarbeitenden und einem Mitarbeitenden der<br />

Fachstelle Arbeitsintegration führen (vgl. Abbildung: Aktueller<br />

Prozess & Abbildung 2: Geplanter Prozess).<br />

Bei jungen Personen werden häufig Integrationspläne mit<br />

einem Lehrstellenziel erarbeitet. Klienten mit ausländischen Diplomen<br />

werden angeleitet, wie sie eine schweizerische Anerkennung<br />

erreichen können. Weiter kann ein Bildungsbedarf entstehen,<br />

wenn eine Klientin oder ein Klient aus gesundheitlichen<br />

Gründen seinem erlernten oder langjährig ausgeübten Beruf nicht<br />

mehr nachkommen kann. Im Falle eines negativen Entscheids der<br />

IV wird eine gesundheitlich angepasste Umschulung aufgegleist.<br />

Manchmal ist eine Beratung durch die Fachstelle zu alternativen<br />

Jobprofilen bereits ausreichend.<br />

Abbildung 1: Aktueller Prozess Intake und Arbeitsintegration<br />

Intake<br />

04.10.<strong>2017</strong><br />

Erster Kontakt<br />

Intake<br />

Antragsstellung<br />

Schalter<br />

Abgabe Antragsformular<br />

Abgabe Gesprächstermin<br />

11.10.<strong>2017</strong> 17.10.<strong>2017</strong> 27.10.<strong>2017</strong> 02.11.<strong>2017</strong> 10.11.<strong>2017</strong> 15.11.<strong>2017</strong> 15.12.<strong>2017</strong><br />

Zweiter Kontakt<br />

Intake<br />

Gespräch bei Sozialarbeitenden<br />

Beurteilung<br />

weiterer Verlauf<br />

Triage Arbeitsintegration<br />

Dritter Kontakt Intake<br />

bei Anspruch<br />

auf Sozialhilfe<br />

Berücksichtigung<br />

Erkenntnisse<br />

Fachstelle<br />

Erläuterung<br />

Rechte / Pflichten,<br />

Auszahlung<br />

Weitere Kontakte<br />

Intake bei Bedarf<br />

Kontrolle Auflage /<br />

Weisungen<br />

Auszahlung<br />

Unterstützung<br />

Übergabe Beratung<br />

Arbeitsintegration<br />

Erster Kontakt<br />

Fachstelle<br />

Planung Arbeitsintegration<br />

Lebenslauf überarbeiten<br />

Zweiter Kontakt<br />

Fachstelle<br />

Weiterbearbeitung<br />

Weitere Kontakte<br />

Fachstelle<br />

Weiterbearbeitung<br />

Weitere Kontakte<br />

Fachstelle<br />

Weiterbearbeitung<br />

20 ZeSo 4/17 SCHWERPUNKT


«Betroffene finden den Weg in<br />

einen Kurs meistens nicht selbst»<br />

NACHGEFRAGT Sozialarbeitende spielen als Vermittlerpersonen eine wichtige Rolle in der<br />

Förderung von Grundkompetenzen, sagt Brigitte Aschwanden, Geschäftsführerin des<br />

Vereins Lesen und Schreiben Deutsche Schweiz. Oft sei es aber nicht einfach, das Problem zu<br />

erkennen und bei den Klienten anzusprechen.<br />

<strong>ZESO</strong>: Frau Aschwanden, in der Schweiz haben schätzungsweise<br />

rund 800 000 Menschen eine Lese- und Schreibschwäche. Andere<br />

haben Schwierigkeiten Rechenaufgaben zu lösen oder mit dem<br />

Computer umgehen. Warum fehlt es so vielen Menschen an<br />

Grundkompetenzen?<br />

Brigitte Aschwanden: Die Ursachen dafür sind vielfältig und<br />

reichen von zu wenig Förderung in der Schule über visuelle und<br />

auditive Probleme und schwierige Lebensverhältnisse bis zu<br />

genetischen Gründen.<br />

Welche Menschen sind betroffen?<br />

Man hört immer wieder, dass vor allem junge Leute nicht<br />

mehr richtig lesen und schreiben können. Das Gegenteil ist<br />

der Fall: Die grössten Lücken haben Personen zwischen 55<br />

bis 65 Jahren oder noch ältere. Bei ihnen ist die Schulzeit und<br />

Ausbildung lange her und sie haben viele Kompetenzen wieder<br />

verlernt. Weiter sind eine geringe Ausbildung und ein bildungsferner<br />

familiärer Hintergrund Risikofaktoren. Tatsache ist, dass<br />

Lesen und Schreiben enorm komplexe Prozesse sind und die<br />

Anforderungen im Arbeitsalltag in den letzten Jahren gestiegen<br />

sind.<br />

Ihr Verein führt Sensibilisierungsveranstaltungen zu<br />

Grundkompetenzen für Fachpersonen aus Sozialen Diensten, RAV,<br />

Bildungsinstitutionen etc. durch. Warum ist das nötig?<br />

Personen mit mangelnden Grundkompetenzen finden den<br />

Weg in einen Kurs meistens nicht selbst, sondern durch Unterstützung<br />

von Drittpersonen. Sogenannte Vermittlerpersonen<br />

spielen deshalb eine grosse Rolle in der Grundkompetenzförderung.<br />

In den genannten Institutionen arbeiten Personen,<br />

die regelmässig in direktem Kontakt mit Betroffenen stehen.<br />

Unser Kernanliegen ist, Vermittlerpersonen zu informieren und<br />

mit falschen Vorstellungen aufzuräumen: Etwa, dass Illetrismus<br />

dasselbe sei wie Analphabetismus oder dass das Problem<br />

nur Migranten betreffe. Die Veranstaltungen sollen die Fachpersonen<br />

zudem befähigen, Betroffene anzusprechen und zu<br />

unterstützen.<br />

Brigitte Aschwanden<br />

Brigitte Aschwanden ist seit neun Jahren Geschäftsführerin<br />

des Vereins Lesen und Schreiben<br />

Deutsche Schweiz. Die 53-Jährige hat einen<br />

Abschluss lic. phil I (Slavistik, Osteuropäische<br />

Geschichte und Völkerrecht) und unter anderem<br />

Weiterbildungen im Bereich Projektmanagement<br />

und Organisationsentwicklung absolviert.<br />

Wie ist Ihre Erfahrung – wird auf Sozialdiensten erkannt, wenn einem<br />

Klienten oder einer Klientin Grundkompetenzen fehlen?<br />

Es ist nicht immer einfach, das Problem zu erkennen. Oft<br />

wird es nur bei den <strong>ganz</strong> Schwachen erkannt, die beispielsweise<br />

auf der Buchstaben-Ebene Mühe haben. Aber die Bandbreite<br />

ist viel grösser: Es gibt Betroffene, die können relativ problemlos<br />

Texte lesen und verstehen, jedoch nur <strong>ganz</strong> einfache Sätze<br />

ohne Nebensätze schreiben. Es besteht aber auch nicht der<br />

Anspruch an die Sozialberatenden, dass sie das Ausmass der<br />

mangelnden Grundkompetenzen beurteilen müssen. Dafür<br />

gibt es Fachleute, an die man die Klienten weitervermitteln<br />

kann. Wichtig ist, dass bei gewissem Verhalten an ein potenzielles<br />

Problem in diesem Bereich gedacht wird. Will ein Klient<br />

beispielsweise die Formulare immer mit nach Hause nehmen,<br />

um sie auszufüllen? Sagt eine Klientin wiederholt, sie habe die<br />

Brille vergessen? Ein Anzeichen kann auch Widerstand bei administrativen<br />

Dingen oder Bildungsangeboten sein.<br />

Wenn man mangelnde Grundkompetenzen vermutet, was ist der<br />

nächste Schritt?<br />

Viele Personen haben Respekt davor, ihre Vermutung bei<br />

den Klienten anzusprechen. Denn es ist nach wie vor ein Tabuthema,<br />

hier zur Schule gegangen sein und mit Lesen oder<br />

Schreiben dennoch Probleme zu haben. Die Betroffenen leiden<br />

zum Teil massiv darunter und schämen sich dafür. Bei<br />

manchen weiss nicht mal die Partnerin oder der Partner vom<br />

Problem. Aber Fachleute in beratenden Funktionen haben ja<br />

auch sonst viele schwierige und persönliche Themen, die sie<br />

22 ZeSo 4/17 SCHWERPUNKT


ildung statt beschäftigung<br />

Verein Lesen und Schreiben<br />

Deutsche Schweiz<br />

Der Verein Lesen und Schreiben Deutsche Schweiz setzt sich dafür<br />

ein, dass alle Menschen einen sicheren Umgang mit der Schriftsprache<br />

erlangen können. Seit 2010 führt der Verein gezielte Informations-<br />

und Sensibilisierungsveranstaltungen für die Öffentlichkeit<br />

und Vermittlerpersonen durch. Die kostenlosen Veranstaltungen<br />

bieten Institutionen die Möglichkeit, sich mit dem Thema Illetrismus<br />

auseinanderzusetzen und konkrete Handlungsmöglichkeiten zu<br />

lernen.<br />

www.lesenschreiben-d.ch<br />

Lücken lassen sich im Arbeitsalltag häufig verstecken. Beim<br />

Lesen und Schreiben ist das fast unmöglich.<br />

Bild: Béatrice Devènes<br />

mit ihren Klientinnen und Klienten ansprechen müssen. Und<br />

nach dem Ansprechen muss das konkrete Handeln folgen. Sozialberatende<br />

sollen auf Kursangebote aufmerksam machen,<br />

Kontakte vermitteln und im Idealfall die Kosten für die Bildungsangebote<br />

übernehmen.<br />

Sieht die Sozialhilfe die Förderung von Grundkompetenzen denn<br />

überhaupt als ihre Aufgabe an?<br />

Viele Sozialarbeitende sagen, dass Ihnen das Problem bewusst<br />

ist. Aber es hängt immer vom jeweiligen Sozialdienst ab,<br />

welches Gewicht dem Thema gegeben wird. Erstaunlich finde<br />

ich, dass bei Migrantinnen und Migranten bei den Sprachkenntnissen<br />

sehr genau hingeschaut wird, während eine ähnliche<br />

Standortbestimmung bei anderen Personen oft nicht stattfindet.<br />

Aber die Klientel der Sozialhilfe hat oft verschiedene Probleme.<br />

Es ist verständlich, dass die Sozialarbeitenden sich zuerst<br />

darum kümmern müssen, dass jemand eine Wohnung hat<br />

oder psychisch stabilisiert werden kann etc. Dennoch müssen<br />

Grundkompetenzen ein wichtiges Thema für die Sozialdienste<br />

sein. Lücken in diesem Bereich erschweren die Arbeitsintegration<br />

ungemein. Und dieses Problem wird sich weiter verschärfen.<br />

Niedrigqualifizierte Personen werden zunehmend aus<br />

dem Arbeitsmarkt verdrängt und mit mangelnden Grundkompetenzen<br />

wird die Reintegration sehr schwierig. Anderweitige<br />

Die Digitalisierung der Arbeitswelt verlangt auch nach anderen<br />

Grundkompetenzen. Welche Herausforderungen ergeben sich<br />

daraus?<br />

Auch in einer digitalisierten Gesellschaft wird man immer<br />

lesen und schreiben müssen. Aber in der Tendenz werden Jobs<br />

sicher anspruchsvoller und es ist eine zusätzliche Medienkompetenz<br />

gefragt. Bei der Definition, welche Grundkompetenzen<br />

für die Digitalisierung notwendig sind, stehen wir noch am Anfang.<br />

Muss man ein Smartphone anstellen können? Geht es<br />

darum zu wissen, was ein Hypertext ist? Muss man lediglich<br />

die Veränderungen einschätzen können?<br />

Wo im Bereich Grundkompetenzen besteht Ihrer Meinung nach aktuell<br />

der grösste Handlungsbedarf?<br />

Grosse Priorität hat weiterhin die Sensibilisierung. In der<br />

Schweiz werden bisher schätzungsweise weniger als 1 Prozent<br />

der Betroffenen mit Angeboten erreicht. Das liegt einerseits<br />

daran, dass viele nicht wissen, dass es diese Angebote gibt.<br />

Andererseits gibt es diejenigen, die sich selber nicht als Betroffene<br />

wahrnehmen oder sich dafür schämen. Um das zu ändern,<br />

müssen wir weiterhin auf allen Ebenen und durch die verschiedensten<br />

Kanäle für das Thema sensibilisieren. Die Angebote<br />

müssen wir noch verstärkt auf IKT (Informations- und Kommunikationstechnologien)<br />

ausweiten. Grundsätzlich ist nach wie<br />

vor die Finanzierungsfrage aktuell. Der im Bundesgesetz über<br />

Weiterbildung für die Grundkompetenzen vorgesehene Teil von<br />

rund 25 Millionen Franken ist im Verhältnis zu den in der BFI-<br />

Botschaft gesprochenen 26 Milliarden bescheiden, wenn man<br />

sich vor Augen führt, wie viele Menschen betroffen sind. •<br />

SCHWERPUNKT 4/17 ZeSo<br />

Das Gespräch führte<br />

Regine Gerber<br />

23<br />


Wie Betriebe Mitarbeitende ohne<br />

Berufsabschluss fördern können<br />

Wer in der Schweiz ohne Berufsabschluss arbeitet, lebt gefährlich. Doch die Situation ist nicht aussichtslos.<br />

Die Studie «Chancengeber» des Schweizerischen Verbands für Weiterbildung zeigt erfolgreiche<br />

Beispiele der Nachholbildung und gibt Empfehlungen an die Akteure, wie sie gelingen kann.<br />

14 Prozent der Schweizer Erwerbsbevölkerung verfügen nicht<br />

über einen Berufsabschluss. 69 Prozent dieser Gruppe gehen jedoch<br />

einer festen Arbeit nach. Auf dem Arbeitsmarkt sind sie benachteiligt<br />

und tragen ein hohes Risiko, arbeitslos zu werden. Ein<br />

Wiedereinstieg ohne Berufsabschluss ist nachweislich schwierig.<br />

Neben den privaten Konsequenzen für die Betroffenen verursacht<br />

diese Situation auch hohe volkswirtschaftliche und gesellschaftliche<br />

Kosten. Die Studie «Betriebe als Chancengeber» des Schweizerischen<br />

Verbands für Weiterbildung (SVEB) untersuchte zwischen<br />

2015 und <strong>2017</strong>, wie der erwerbstätige Teil der Erwachsenen ohne<br />

Berufsabschluss über die Strukturen der Betriebe erreicht und<br />

zu einem Abschluss geführt werden kann.<br />

Das Ziel der Studie war es festzustellen, welche Faktoren in den<br />

Betrieben und welche überbetrieblichen Rahmenbedingungen<br />

dazu führen, dass dieser Bildungsweg wahrgenommen wird und<br />

erfolgreich verläuft. Dazu wurden in zehn Betrieben aus fünf verschiedenen<br />

Branchen und allen drei Sprachregionen Fallstudien<br />

durchgeführt. So beschreibt die Studie den Fall eines 34-jährigen<br />

Mitarbeiters eines Hotels mit drei Restaurants, der das Eidgenössische<br />

Fähigkeitszeugnis (EFZ) Restaurationsfachmann absolviert<br />

hat. Gleichzeitig stand ein 36-jähriger Mitarbeiter desselben Betriebs<br />

zum Zeitpunkt der Befragung kurz vor dem Abschluss eines<br />

Eidgenössischen Berufsattests (EBA) Küchenangestellter. Für<br />

beide Mitarbeiter hat sich bisher die Arbeit durch den Abschluss<br />

beziehungsweise den Weg dahin nicht verändert. Doch sie fühlen<br />

sich fachlich sicherer und mehr respektiert.<br />

Anders sieht dies bei einer Pflegeassistentin und einem Pflegeassistenten<br />

aus, die in einer Institution aus dem Gesundheitsbereich<br />

mit 6700 Beschäftigten aus 86 verschiedenen Ländern tätig<br />

sind. Sie haben im Rahmen eines Ausbildungsvertrages den Abschluss<br />

EFZ Fachfrau/-mann nachgeholt, nachdem sie bereits 13<br />

beziehungsweise 26 Jahre bei dem Betrieb gearbeitet hatten. Beide<br />

Mitarbeiter fühlen sich mit einem Berufsabschluss fachlich sicherer und mehr respektiert. <br />

Bild: Keystone<br />

24 ZeSo 4/17 SCHWERPUNKT


ildung statt beschäftigung<br />

konnten die Ausbildung dank abnehmender familiärer Verpflichtungen<br />

in Angriff nehmen. Ihnen stand während der Ausbildung<br />

eine Bezugsperson zur Seite, sie konnten die Berufsfachschule<br />

während der Arbeitszeit besuchen und teilweise auch während der<br />

Arbeitszeit lernen. Ihr Lohn wurde vollumfänglich weiter bezahlt.<br />

Durch den Abschluss haben sie eine höhere Lohnstufe erreicht.<br />

Dies entsprach auch ihrer ursprünglichen Motivation genauso wie<br />

dem Wunsch, mehr Verantwortung zu übernehmen.<br />

Betriebliche Ebene<br />

Die Gründe für die Betriebe, Mitarbeiter ohne Berufsabschluss zu<br />

fördern, sind durchaus verschieden. Das Hotel legt starken Wert<br />

darauf, als einer der besten Arbeitgeber der Branche zu gelten. Entsprechend<br />

investiert es in die Nachholbildung. Weniger entscheidend<br />

war hier der Fachkräftemangel. Der Pflegebetrieb wiederum<br />

lebt eine strukturierte Weiterbildungskultur. Es gibt ein Budget<br />

für die Nachholbildung, das für Mitarbeitende reserviert ist, die<br />

den Aufnahmeprozess dafür bestehen. Darüber werden sowohl die<br />

Ausbildung als auch der Lohn und Schulmaterialien bezahlt. Welche<br />

Mitarbeitenden so gefördert werden, hängt von den Mitarbeitergesprächen<br />

mit den Vorgesetzten und deren Empfehlungen ab.<br />

Obwohl Faktoren wie Prestige oder etablierte Strukturen für<br />

Nachholbildung entscheidend sein können, spielen auf der betrieblichen<br />

Ebene Arbeitsmarktengpässe eine wichtige Rolle, wenn<br />

es um die Förderung von Personen ohne Berufsabschluss geht. Die<br />

Studie hat gezeigt: Je ausgeprägter der Fachkräftemangel in einer<br />

Branche ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Beschäftigte<br />

die Chance bekommen, einen Abschluss nachzuholen.<br />

Auch die Bildungsinfrastruktur und die betriebliche Lernkultur<br />

sind massgeblich. Betriebe, die Lehrlinge ausbilden und über eine<br />

entsprechende Infrastruktur verfügen, haben eine gute Basis für<br />

die Förderung der Nachholbildung. Nur so können die Vorgesetzten<br />

die Mitarbeiter bei allen Abläufen und Formalitäten unterstützen.<br />

Und natürlich spielt die Beziehung zum Arbeitnehmden eine<br />

zentrale Rolle. Langfristige Bindungen sind ein entscheidender<br />

Faktor für eine Förderung, wie es exemplarisch im Gastrobetrieb<br />

beobachtet werden konnte.<br />

Zusammenspiel der Akteure<br />

Die Berufsbildung ist gemäss Berufsbildungsgesetz eine gemeinsame<br />

Aufgabe von Bund, Kantonen und Anbietern der Berufsbildung,<br />

den sogenannten Organisationen der Arbeitswelt (OdA).<br />

Den Kantonen obliegt die Umsetzung und Aufsicht über die Berufsbildung.<br />

Die OdA verantworten Bildungsinhalte, Ausbildungsplätze<br />

und Qualifikationsverfahren. Der Bund agiert subsidiär<br />

und übernimmt die strategische Steuerung sowie die<br />

Qualitätssicherung. In diesem Zusammenspiel tragen die drei Akteure<br />

die Verantwortung für die Entwicklung erwachsenengerechter<br />

Angebote und setzen die überbetrieblichen Rahmenbedingungen<br />

für die Nachholbildung.<br />

Die Unterstützung von OdA und Kantonen beim Erarbeiten<br />

und Bereitstellen von Informationen zum Berufsabschluss für<br />

Langfristige Bindungen<br />

sind ein entscheidender<br />

Faktor für eine Förderung.<br />

Erwachsene ist eine wichtige Voraussetzung für das Engagement<br />

der Betriebe. Sie senkt den Aufwand und erhöht so die Chancen,<br />

dass sich Unternehmen für das Thema einsetzen. Zusätzlich können<br />

Strukturen zur Beteiligung von Kantonen oder OdA an der<br />

Finanzierung der Nachholbildung die Kosten für Betriebe und für<br />

Kandidatinnen und Kandidaten abbauen und damit wichtige Anreize<br />

schaffen. Durch das Vorhandensein erwachsenengerechter<br />

Angebote können darüber hinaus die Motivation der Lernenden<br />

gefördert und organisatorische Hürden abgebaut werden.<br />

Ergänzend zu den Faktoren, die das Engagement für die Nachholbildung<br />

fördern, wurden auch Bedingungen für deren erfolgreiche<br />

Umsetzung festgehalten. Hier sind vor allem die Begleitung<br />

und Beratung der Kandidatinnen und Kandidaten durch eine<br />

Ansprechperson im Betrieb zu nennen sowie die Förderung der<br />

Sprachkenntnisse und Grundkompetenzen als Vorbereitung für<br />

Unterricht und Prüfungen.<br />

Handlungsempfehlungen<br />

Die Faktoren und Bedingungen, die aus der Praxis abgeleitet wurden,<br />

werden in der Studie in Handlungsempfehlungen und Massnahmen<br />

übersetzt. Sie bieten Anhaltspunkte dafür, was die zentralen<br />

Akteure – Betriebe, OdA und Kantone – tun können, um die<br />

Nachholbildung im Betrieb zu fördern und erfolgreich umzusetzen.<br />

Den Betrieben wird empfohlen, ein auf sie zugeschnittenes<br />

Konzept für die Nachholbildung zu erstellen. Anhand dessen<br />

können sie die Mitarbeitenden informieren, begleiten und ihnen<br />

Möglichkeiten schaffen, Lernen und Arbeiten ohne Lohneinbussen<br />

zu verbinden. Auch die Förderung von Grundkompetenzen,<br />

die eine Voraussetzung für den Berufsabschluss bilden, sollte dabei<br />

berücksichtigt werden.<br />

Den OdA und den Kantonen wird empfohlen, im Rahmen ihrer<br />

Kompetenzen dazu beizutragen, dass erwachsenengerechte Nachholbildungsangebote<br />

zur Verfügung stehen. Sie sind darüber hinaus<br />

aufgefordert, nicht nur den Kandidatinnen und Kandidaten,<br />

sondern insbesondere auch den Betrieben die nötigen Informationen<br />

zur Verfügung zu stellen, damit sich diese möglichst effizient<br />

engagieren können.<br />

•<br />

Ronald Schenkel<br />

SVEB<br />

Studie:<br />

www.alice.ch/de/grundkompetenzen/mehr-zum-thema/<br />


Reduktion der Falllast<br />

verbessert Ablösequote und senkt<br />

Unterstützungsdauer<br />

FACHBEITRAG In einem<br />

Pilotprojekt der Sozialberatung<br />

Winterthur konnten die<br />

Fallkosten gesenkt werden,<br />

indem die Sozialarbeitenden<br />

weniger Fälle bearbeiten. Nebst<br />

den kurzfristigen Einsparungen<br />

wurden höhere Ablösequoten<br />

und eine durchschnittlich<br />

kürzere Unterstützungsdauer<br />

erreicht, wie eine aktuelle<br />

Studie zeigt.<br />

In den letzten Jahren ist die Falllast bei der<br />

Sozialberatung der Stadt Winterthur stetig<br />

gewachsen. Pro Vollzeitstelle in der sozialarbeiterischen<br />

Fallführung lag die Anzahl<br />

Fälle 2008 noch bei rund 90 Fällen, im Januar<br />

2015 bereits bei 124 und im März<br />

<strong>2017</strong> bei 143 Fällen. Die durchschnittliche<br />

Falllast von 140 und mehr Fällen pro<br />

Vollzeitstelle in der Langzeitberatung ist<br />

als sehr hoch einzustufen Die höheren<br />

Fallzahlen entstehen nicht allein durch einen<br />

verstärkten Zulauf zur Sozialhilfe, sondern<br />

vor allem durch geringere Ablösungszahlen,<br />

das heisst, dass Klientinnen und<br />

Klienten länger in der Sozialhilfe verbleiben.<br />

Um zu überprüfen, welche Auswirkungen<br />

eine Fallreduktion auf die Fallkosten<br />

und Ablösequote hat, wurden vom Gemeinderat<br />

drei zusätzliche Vollzeitstellen<br />

bewilligt. Die Sozialen Dienste der Stadt<br />

Winterthur beauftragten das Departement<br />

Soziale Arbeit der ZHAW, das Pilotprojekt<br />

ab September 2015 während 18 Monaten<br />

wissenschaftlich zu begleiten. Vor<br />

Projektstart wurden drei bisherige Sozialarbeitende<br />

der Sozialberatung Winterthur<br />

ausgelost, welche die Experimentalgruppe<br />

bildeten. Diese drei Sozialarbeitenden<br />

hatten während der 18-monatigen Versuchsphase<br />

eine maximale Falllast von<br />

75 Fällen auf 100 Prozent, während die<br />

übrigen Sozialarbeitenden mit der vollen<br />

Falllast arbeiteten und die Kontrollgruppe<br />

bildeten. Die Experimentalgruppe gab einen<br />

Teil ihrer bisherigen Fälle nach Zufallsprinzip<br />

bei Versuchsstart an die Kontrollgruppe<br />

ab. Neue Fälle wurden ebenfalls<br />

nach einem Zufallsverfahren zugewiesen.<br />

Die Studie der ZHAW hat untersucht,<br />

ob mit einer tieferen Falllast Klientinnen<br />

und Klienten besser beraten und vermehrt<br />

integriert werden können und sich so der<br />

Einsatz von mehr sozialarbeiterischen<br />

Ressourcen auszahlt. Die Studie umfasst<br />

sowohl eine qualitative als auch eine<br />

quantitative Analyse. In der quantitativen<br />

Auswertung (statistische Berechnungen<br />

bzgl. Einsparungen und Ablösequote/Aktenanalyse/Online-Befragung)<br />

wurde die<br />

Experimental- mit der Kontrollgruppe verglichen.<br />

Im qualitativen Teil (regelmässige<br />

Einzel- und Gruppeninterviews mit der<br />

Experimentalgruppe) wurde vertieft analysiert,<br />

wie die zusätzlichen Zeitressourcen<br />

eingesetzt wurden.<br />

Mehr Einnahmen, kürzere<br />

Unterstützungsdauer<br />

Die Ergebnisse der quantitativen Analyse<br />

zeigen, dass die Klientinnen und Klienten<br />

der Experimentalgruppe im Vergleich zur<br />

Kontrollgruppe höhere Einnahmen durch<br />

höhere Einkommen im ersten Arbeitsmarkt<br />

sowie durch höhere Unterstützungsleistungen<br />

Dritter (subsidiäre Leistungen<br />

durch Unterhaltsbeiträge, Alimente, Stipendien,<br />

Sozialversicherungen etc). erzielten.<br />

Die Sozialhilfeausgaben bezüglich<br />

Grundbedarf, Wohnkosten und Gesundheitskosten<br />

lassen jedoch kaum Möglichkeiten<br />

für Einsparungen zu. Die qualitative<br />

Auswertung kam zum Schluss, dass insbesondere<br />

die kontinuierliche, zielgerichtete<br />

Fallarbeit zum positiven Resultat auf der<br />

Einnahmeseite führte: Die drei Sozialarbeitenden<br />

setzten die zusätzlichen Zeitres-<br />

sourcen für den Klientenkontakt ein, um<br />

die Betroffenen enger begleiten zu können.<br />

Unter der hohen Falllast hingegen war weniger<br />

Zeit pro Fall vorhanden. Dazu kamen<br />

ständige «Notfallübungen» bei dringenden<br />

Problemsituationen von Klientinnen und<br />

Klienten. Gemäss den Interviews mit den<br />

Sozialarbeitenden ging dies auf Kosten der<br />

kontinuierlichen Fallarbeit.<br />

Werden die durchschnittlichen Fallkosten<br />

in den beiden Vergleichsgruppen<br />

berechnet, wird ersichtlich, dass die Experimentalgruppe<br />

durchschnittliche Einsparungen<br />

von rund 1450 Franken pro Fall<br />

und Jahr ausweisen kann. Rechnet man<br />

diesen Betrag auf die Gesamtzahl von rund<br />

2900 Fällen der Langzeitberatung hoch,<br />

ergibt dies rund 4 Mio. Franken an jährlichem<br />

Fallkosten-Einsparungspotenzial,<br />

wenn alle Sozialarbeitenden mit maximal<br />

75 Fällen pro 100 Stellenprozente arbeiten<br />

könnten. Zu diesen kurzfristig realisierbaren<br />

Einsparungen kommt noch zusätzliches<br />

Einsparungspotenzial hinzu. Es<br />

ist aufgrund der deutlich höheren Ablösequoten<br />

und der kürzeren Unterstützungsdauer<br />

zu vermuten (Experimentalgruppe:<br />

21 Monate, Kontrollgruppe: 27 Monate),<br />

dass die Sozialhilfequote gegenüber dem<br />

Status quo auch längerfristig gesenkt werden<br />

kann.<br />

Neben diesen Einsparungen auf Ebene<br />

der Fallkosten zeichnen sich weitere<br />

positive Ergebnisse ab, die es in Folgeuntersuchungen<br />

genauer zu erfassen gilt: Da<br />

Klienten der Experimentalgruppe höhere<br />

Erwerbseinkommen im regulären Arbeitsmarkt<br />

erzielt haben, stellt sich die Frage,<br />

ob sie auch längerfristig ihre Chancen in<br />

der Arbeitswelt erhalten beziehungsweise<br />

verbessern und sich nachhaltig von der Sozialhilfe<br />

ablösen können.<br />

Besserer Klientenkontakt, mehr<br />

Berufszufriedenheit<br />

Die drei Sozialarbeitenden des Pilotprojekts<br />

verwendeten die zusätzlichen Zeitressourcen<br />

insbesondere um:<br />

26 ZeSo 4/17


Zeitnahe und passende Aktivierung sowie<br />

allenfalls intensivere Beratung führen<br />

zu höherer Ablösequote von Klienten der<br />

Sozialhilfe. <br />

Bild: Daniel Desborough<br />

Die qualitative<br />

Auswertung kam<br />

zum Schluss, dass<br />

insbesondere die<br />

kontinuierliche,<br />

zielgerichtete Fallarbeit<br />

zum positiven<br />

Resultat auf<br />

der Einnahmeseite<br />

führte.<br />

• Hindernisse zu identifizieren und Interventionsmöglichkeiten<br />

zu analysieren<br />

• proaktiv vorzugehen und schneller zu<br />

reagieren, beispielsweise in der Kooperation<br />

mit involvierten Fachstellen<br />

• gemeinsam mit Klientinnen und Klienten<br />

sowie involvierten Fachstellen<br />

nach passenden Lösungen zu suchen<br />

• eine längerfristige, nachhaltig orientierte<br />

Hilfeplanung aufzugleisen<br />

• bei Bedarf die Fallkenntnisse durch<br />

Hausbesuche zu vertiefen<br />

• ältere Fälle neu zu analysieren<br />

• laufende Integrationsprozesse (z.B.<br />

Teillohnprogramm) zu überprüfen<br />

Während des Pilotprojekts sprachen<br />

die drei Sozialarbeitenden ihrer Einschätzung<br />

nach weniger Auflagen und Sanktionen<br />

aus, als dies zuvor der Fall war. Sie<br />

hätten nun Zeit, die Prozesse gemeinsam<br />

mit den Klienten auszuhandeln und diese<br />

näher zu begleiten oder einen zweiten<br />

Anlauf zu nehmen, wenn etwas nicht auf<br />

Anhieb klappe. Umgekehrt vermittelten<br />

sie ihren Klientinnen und Klienten auch,<br />

dass sie bei Unklarheiten oder Problemen<br />

stets auf sie zukommen können. So fühlten<br />

sich diese besser informiert und mit ihren<br />

Anliegen ernstgenommen. Die Sozialar-<br />

beitenden konnten dadurch auch zeitnahe<br />

Informationen erwarten, was die gegenseitige<br />

Verbindlichkeit und Kooperation<br />

deutlich verbesserte.<br />

Insbesondere die zeitnahe, passende<br />

Aktivierung der Ressourcen sowie die<br />

nötigenfalls intensive Beratung und der<br />

vermehrte Kontakt mit den Klientinnen<br />

und Klienten führten zu einer höheren<br />

Ablösequote. Zudem stieg die Berufszufriedenheit<br />

der Sozialarbeitenden. Dies<br />

nicht nur, weil sie nicht mehr ständig unter<br />

Hochdruck standen, sondern weil sie<br />

ihre methodischen Kompetenzen wieder<br />

richtig nutzen sowie mehr Befriedigung<br />

aus der zielführenden sozialarbeiterischen<br />

Beratung ziehen konnten. <br />

•<br />

Miryam Eser Davolio, Isabelle Steiner, Rahel<br />

Strohmeier Navarro Smith, Heinrich Zwicky,<br />

Milena Gehrig<br />

Institut Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe,<br />

Departement Soziale Arbeit, ZHAW<br />

Studie:<br />

www.zhaw.ch/de/sozialearbeit/forschung/vielfalt-und-gesellschaftliche-teilhabe/communitydevelopment/auswirkung-der-fallbelastung-inder-sozialhilfe-auf-die-abloesequote/<br />

4/17 ZeSo<br />

27


Angebote zur Wohnversorgung von<br />

sozial benachteiligten Haushalten<br />

FACHBEITRAG Armutsbetroffene Menschen sind<br />

durchschnittlich schlechter wohnversorgt und benötigen<br />

Unterstützungsangebote. Die angemessene Wohnversorgung<br />

von sozial benachteiligten Haushalten gehört deshalb zu<br />

den Schwerpunkten des «Nationalen Programms gegen<br />

Armut» (2014 - 2018). Zum Abschluss der Arbeiten publiziert<br />

das Nationale Armutsprogramm im Februar 2018 eine<br />

Hilfestellung. Die Hilfestellung soll Kantonen, Städten und<br />

Gemeinden Anregungen zum Aufbau von Angeboten zur<br />

Wohnversorgung von armutsbetroffenen Haushalten geben.<br />

mässige Belastung durch zu hohe Wohnkosten.<br />

Die Wohnkosten übersteigen 30<br />

Prozent des Bruttoeinkommens, ein Erfahrungswert,<br />

der sich in der Praxis als sinnvoller<br />

Grenzwert für die Beurteilung von<br />

Wohnkosten durchgesetzt hat.<br />

Die Untersuchung ging auch der Frage<br />

nach, wie hoch in den Risikogruppen der<br />

Anteil derjenigen ist, die in ungenügenden<br />

Wohnverhältnissen leben. Bei den Alleinstehenden<br />

unter 65 Jahren sind 31,2<br />

Prozent, bei den Alleinerziehenden 37,4<br />

Prozent nicht angemessen wohnversorgt.<br />

Ausländische Haushalte aus Drittstaaten<br />

wiesen mit 42,8 Prozent mehr als doppelt<br />

so oft eine ungenügende Wohnversorgung<br />

auf wie Schweizer Haushalte (17,9): Je gut<br />

ein Fünftel der Unterversorgten litt unter<br />

beengten Wohnverhältnissen (23,0%)<br />

oder hohen Wohnkosten (20,2%). Ihr<br />

primäres Wohnversorgungsproblem liegt<br />

somit anders als bei Schweizer und EU-<br />

25-Haushalten nicht bei den Kosten, sondern<br />

bei der Wohnungsgrösse.<br />

Bedarf ist ausgewiesen<br />

Der Bedarf an Unterstützung sozial benachteiligter<br />

Haushalte durch Fachstellen<br />

der Wohnhilfe oder der Sozialhilfe ist demnach<br />

ausgewiesen, insbesondere solange<br />

sich der Wohnungsmarkt im Bereich des<br />

preiswerten Wohnraums nicht massgeblich<br />

entspannt. Um allen Haushalten mit<br />

Risikofaktoren eine (angemessene) Wohn-<br />

Wenig Wohnraum für sozial<br />

benachteiligte Haushalte. <br />

Bild: Béatrice Devènes<br />

Die Versorgung mit angemessenem Wohnraum<br />

ist ein zentraler Aspekt der Existenzsicherung<br />

und ein Sozialziel in der Bundesverfassung<br />

(Art. 108 BV). Doch ist<br />

dieses für alle Bevölkerungsgruppen erreicht?<br />

Und was müsste getan werden, um<br />

die Wohnsituation für Menschen in armutsbetroffenen<br />

Haushalten und prekären<br />

Lebenslagen zu verbessern? Zur Beantwortung<br />

dieser Fragen wurde im Rahmen der<br />

Studie «Wohnversorgung in der Schweiz»<br />

ein Modell für die Beurteilung der Wohnversorgung<br />

geschaffen, das die fünf Dimensionen<br />

Wohnkosten, Wohnungsgrösse,<br />

Wohnungsqualität, Wohnlage und<br />

Wohnsicherheit berücksichtigt. Die Operationalisierung<br />

erfolgte auf Basis der beiden<br />

Module zu den Wohnbedingungen, die<br />

das Bundesamt für Statistik 2007 und<br />

2012 im Rahmen der SILC (Statistics on<br />

Income and Living Conditions) zusätzlich<br />

zu den jährlich erhobenen Basisdaten ermittelt.<br />

Die Analyse der Wohnversorgung zeigt,<br />

dass 83,5 Prozent der armutsbetroffenen<br />

Haushalte und 57,1 Prozent der Haushalte<br />

in prekären Lebenslagen keine angemessene<br />

Gesamtwohnversorgung aufweisen.<br />

Damit sind armutsbetroffene Haushalte<br />

viermal und Haushalte in prekären Lebenslagen<br />

fast dreimal häufiger unangemessen<br />

wohnversorgt als der Durchschnitt<br />

der Bevölkerung. Hauptursache der ungenügenden<br />

Wohnversorgung ist die überversorgung<br />

zu ermöglichen, braucht es beispielsweise<br />

auch neue Lösungen für Haushalte<br />

mit Betreibungen, die auf verlässliche<br />

Mietzinsgarantien angewiesen sind, um<br />

die Wohnkostenbelastung nicht zu erhöhen.<br />

Das «Nationale Programm gegen Armut»<br />

liess weitere Studien im Bereich<br />

«Nicht monetärer Unterstützung Armutsbetroffener<br />

im Wohnen» sowie zu «Finanzielle<br />

Garantien zur Unterstützung beim<br />

Zugang zu Wohnraum» realisieren:<br />

28 ZeSo 4/17


Systematisierung des Angebotsspektrums<br />

nicht-staatlich<br />

staatlich<br />

Angebotsprofil 1:<br />

Beratung und Unterstützung<br />

bei der Wohnungssuche<br />

Angebotsspektrum<br />

Angebotsprofil 2:<br />

Wohnungsvermittlung und<br />

Wohnraumsicherung<br />

Angebotsprofil 3:<br />

Begleitung und Betreuung<br />

in eigenen/angemieteten<br />

Liegenschaften<br />

Casanostra Biel (Stadt Biel-Bienne)<br />

IG Wohnen Basel (Kanton Basel-Stadt)<br />

Fondation Apollo (Ville de Vevey, La Tour-de-Peilz, Montreux, Yverdon-les-Bains)<br />

Stiftung Domicil (Stadt Zürich)<br />

Wohnhilfe (Gemeinde Schlieren)<br />

Wohnen Bern (Stadt Bern)<br />

Unité logement, Service social (Ville de Lausanne)<br />

Wohnen und Obdach (Stadt Zürich)<br />

Wohncoaching (Stadt Luzern)<br />

SAS (Città di Lugano)<br />

SAS (Lugano)<br />

Quelle: Althaus et.al. (2016): Nicht-monitäre Dienstleistungen im Bereich Wohnen für armutsbetroffene und -gefährdete Menschen –<br />

Eine Untersuchung von staatlichen und nicht-staatlichen Angeboten, Bern, Beträge zur Sozialen Sicherheit, Forschungsbericht 2/16, S. 31.<br />

Mit der systematischen Prüfung der<br />

nicht-monetären Angebote liessen sich<br />

drei typische Angebotsprofile bei den<br />

derzeitigen Anbietenden herausfiltern:<br />

Beratung und Unterstützung bei der Wohnungssuche<br />

bzw. bei Wohnfragen (Profil<br />

1), Wohnungsvermittlung und Wohnraumsicherung<br />

(Profil 2), Begleitung und<br />

Betreuung in eigenen oder angemieteten<br />

Liegenschaften (Profil 3). Je nach Ausrichtung<br />

erstreckt sich das spezifische Angebotsspektrum<br />

eines Akteurs in der Praxis<br />

über ein, zwei oder gar alle drei Profile. Der<br />

Zugang für armutsbetroffene und -gefährdete<br />

Menschen zum Wohnungsmarkt wird<br />

erleichtert, wenn die Anbieter von Dienstleistungen<br />

sich mit Akteuren aus der Immobilienbranche<br />

vernetzen und verbindlich<br />

mit ihnen zusammenarbeiten.<br />

Die Studien brachten aber auch Versorgungslücken<br />

zutage: Differenzierte Dienstleistungen<br />

der Beratung, Vermittlung und<br />

Sicherung von angemessenen Wohnungen<br />

finden sich längst nicht in allen Städten<br />

und Gemeinden mit angespannten Wohnungsmärkten.<br />

Und bei den bestehenden<br />

Angeboten übersteigt die Nachfrage nach<br />

Unterstützung häufig die Kapazitätsgrenzen.<br />

Dabei sind die Angebote in Profil 3<br />

erfahrungsgemäss auch bei entspannten<br />

Wohnungsmärkten notwendig, da sich armutsbetroffene<br />

und -gefährdete Menschen<br />

in komplexen Lebenslagen auf der Suche<br />

oder bei der Sicherung von Wohnraum immer<br />

mit Diskriminierung und Exklusion<br />

konfrontiert sehen.<br />

Die nicht-monetäre Unterstützung armutsbetroffener<br />

und -gefährdeter Menschen<br />

in Wohnfragen ist kommunal sehr<br />

unterschiedlich geregelt. Während gewisse<br />

Gemeinden spezialisierte Beratungs- und<br />

Unterstützungsstellen eingerichtet haben,<br />

sind solche in anderen Gemeinden nur<br />

teilweise vorhanden oder inexistent. Wo<br />

Angebote bestehen, kann zwischen staatlichen<br />

und nicht-staatlichen Anbietern von<br />

Dienstleistungen unterschieden werden.<br />

Städtische Sozialämter und Sozialdienste<br />

bieten neben der gesetzlich verpflichteten<br />

Obdachlosenhilfe (Bereitstellung von Notunterkünften)<br />

teils auch Unterstützung<br />

<br />

4/17 ZeSo<br />

29


ei der Wohnungssuche oder gegen drohenden<br />

Wohnungsverlust an und sie helfen<br />

Sozialhilfebeziehenden zuweilen auch<br />

bei der Stabilisierung ihrer Wohnsituation.<br />

In vielen Städten ging die Initiative<br />

für solche Dienstleistungen von privaten<br />

Vereinen oder Stiftungen aus, die ihre<br />

Aufgaben heute in der Regel im Leistungsauftrag<br />

einer oder mehrerer Gemeinden<br />

wahrnehmen.<br />

Erst finanzielle Garantien geben<br />

Sicherheit<br />

Eine grundlegende Erkenntnis der Studien<br />

ist, dass nicht-monetäre Dienstleistungen<br />

die Bereitschaft, das Verständnis und<br />

die Handlungssicherheit der Vermietenden<br />

fördern; doch erst finanzielle Garantien<br />

geben ihnen die letztlich entscheidende<br />

ökonomische Sicherheit.<br />

Gegenwärtig bestehen in der Praxis<br />

drei finanzielle Garantiemodelle: (1) die<br />

Verbürgung der Mietkaution, (2) die Solidarhaftung<br />

sowie (3) die direkte Übernahme<br />

des Mietvertrags. Alle Garantiemodelle<br />

richten sich an einkommensschwache und<br />

sozial benachteiligte Haushalte, unabhängig<br />

davon, ob sie Sozialhilfe beziehen.<br />

Indem diese Modelle auch allfällige finanzielle<br />

Lücken überbrücken, die nach der<br />

Ablösung von der Sozialhilfe entstehen<br />

können, oder ein (erneutes) Abrutschen<br />

durch eine gezielte Unterstützung verhindern,<br />

und indem sie dazu beitragen, teure<br />

Folgekosten aufgrund eines Wohnungsverlustes<br />

zu vermeiden, weisen sie für Städte<br />

und Gemeinden sowohl einen sozialen als<br />

auch einen wirtschaftlichen Nutzen aus.<br />

Im Unterschied zur öffentlichen Hand,<br />

für welche die direkte Übernahme finanzieller<br />

Garantien mit aufwändigen bürokratischen<br />

Prozessen oder teilweise fehlenden<br />

gesetzlichen Grundlagen einhergeht, sind<br />

Drittanbietende von Garantiemodellen<br />

flexibel und in der Lage, sehr rasch zu<br />

handeln. Durch den Abschluss von Leistungsvereinbarungen<br />

und Subventionen<br />

an Drittanbietende können Kantone,<br />

Städte und Gemeinden die gewünschten<br />

Leistungen und die Zusammenarbeit klar<br />

regeln, überprüfen und den aktuellen Entwicklungen<br />

und Erfahrungen anpassen.<br />

Hilfestellung zu Angeboten der Wohnhilfe<br />

Die Arbeiten des «Nationalen Programms gegen Armut» im Bereich «Wohnen» wurden begleitet von<br />

einer Projektgruppe aus Vertretern der SODK, des Städte- und Gemeindeverbands, der SKOS, der Immobilienbranche,<br />

Akteuren der Wohnhilfe und dem Bundesamt für Wohnungswesen. Weitere Ergebnisse<br />

des Programms sind verfügbar unter www.gegenarmut.ch/studien/<br />

Angebote der Wohnhilfe für sozial<br />

benachteiligte Haushalte<br />

Eine Hilfestellung für Kantone, Städte und<br />

Gemeinden<br />

Ein Knackpunkt bei der Förderung von<br />

erschwinglichem Wohnraum für sozial<br />

Benachteiligte ist die Bereitschaft der Gemeinden,<br />

die Garantiemodelle für Mieter<br />

mit sehr tiefen Einkommen ausserhalb der<br />

Sozialhilfe zu fördern. Auch hier bietet sich<br />

die Kooperation mit Drittanbietenden an,<br />

da diese teilweise mit relativ geringem Aufwand<br />

viel erreichen können.<br />

Basierend auf diesen Erkenntnissen<br />

wurde jetzt eine Hilfestellung für Kantone,<br />

Städte und Gemeinden entwickelt, um die<br />

möglichen Angebote der Wohnhilfe aufzuzeigen<br />

sowie konkrete Handlungsempfehlungen<br />

zu geben. Eine Checkliste zeigt das<br />

Vorgehen beim Aufbau solcher Angebote<br />

auf und liefert die entsprechenden Argumentarien<br />

für Angebote in der eigenen<br />

Gemeinde. Die Hilfestellung informiert<br />

über die diversen Schnittstellen zwischen<br />

Wohn- und Sozialpolitik, Objekt- und<br />

Subjekthilfe sowie über die möglichen Zusammenarbeitsformen<br />

insbesondere mit<br />

der Immobilienbranche als Hauptakteur<br />

auf dem Wohnungsmarkt. Das Herzstück<br />

der Hilfestellung sind die Steckbriefe der<br />

• Wohnversorgung in der Schweiz – Bestandsaufnahme<br />

über Haushalte von Menschen in Armut und in prekären<br />

Lebenslagen, Bern, Beiträge zur Sozialen Sicherheit,<br />

Forschungsbericht 15/15, Bochsler et.al. (2015)<br />

• Nicht-monetäre Dienstleistungen im Bereich Wohnen<br />

für armutsbetroffene und -gefährdete Menschen – Eine<br />

Untersuchung von staatlichen und nicht-staatlichen Angeboten,<br />

Bern, Beiträge zur Sozialen Sicherheit, Forschungsbericht<br />

2/16, Althaus et.al. (2016)<br />

• Sicherung und verbesserter Zugang zu Wohnraum für<br />

sozial benachteiligte Haushalte – Finanzielle Garantiemodelle<br />

gegenüber Vermietenden, ETH Wohnforum – ETH<br />

CASE, Althaus et.al. (<strong>2017</strong>)<br />

• Angebote der Wohnhilfe für sozialbenachteiligte<br />

Haushalte – Eine Hilfestellung für Kantone, Städte und<br />

Gemeinden; Beck et.al. (voraussichtlich Februar 2018)<br />

Die Hilfestellung wird voraussichtlich im Februar 2018 auf Deutsch, Französisch und Italienisch<br />

erscheinen. Bestellungen unter www.bundespublikationen.admin.ch, Bestellnummer 318.870.3<br />

einzelnen Angebote. Abschliessend zeigen<br />

fünf Gemeinden ihr Engagement und ihre<br />

Erfahrungen im Bereich der Wohnhilfen<br />

auf. Sie illustrieren, dass je nach Situation<br />

vor Ort verschiedene Unterstützungsangebote<br />

kombiniert werden. Die Gemeinden<br />

machen gute Erfahrungen und stellen eine<br />

spürbare Verbesserung für armutsbetroffene<br />

Haushalte bei der Wohnungssuche<br />

und einer längerfristigen Integration am<br />

jeweiligen Wohnort fest.<br />

Dieser Artikel stützt sich auf die Artikel<br />

«Wohnversorgung armutsbetroffener<br />

und -gefährdeter Haushalte – CHSS Nr.<br />

2 ⁄ 06.2016», «Nicht monetäre Unterstützung<br />

Armutsbetroffener im Wohnen<br />

– CHSS Nr. 3 ⁄ 10.2016» und «Finanzielle<br />

Garantien unterstützen beim Zugang<br />

zu Wohnraum – CHSS Nr. 4 / 12. <strong>2017</strong>»<br />

der Zeitschrift «Soziale Sicherheit» CHSS<br />

des Bundesamts für Sozialversicherungen<br />

(BSV).<br />

•<br />

Miriam Götz<br />

Projektleiterin Nationales Programm gegen<br />

Armut, Bundesamt für Sozialversicherungen<br />

30 ZeSo 4/17


Suppe ist zu wenig<br />

PLATTFORM Die Heilsarmee, eine um 1865 gegründete christliche Bewegung, die in 128 Ländern<br />

vertreten ist, kennt man heutzutage insbesondere durch ihre Sängerinnen und Sänger in der<br />

Weihnachtszeit. Die Heilsarmee ist aber weit mehr. Sie ist Kirche und auch Sozialwerk. Beide arbeiten<br />

eng zusammen und sind unter dem Dach der Stiftung Heilsarmee Schweiz zusammengefasst.<br />

Das Sozialwerk der Heilsarmee Schweiz<br />

beschäftigt rund 1600 Mitarbeitende<br />

über die <strong>ganz</strong>e Schweiz verteilt. Die Arbeitsbereiche<br />

sind dabei sehr vielfältig. Es<br />

handelt sich zum Beispiel um sozialpädagogische<br />

Einrichtungen, die Kinder und<br />

Jugendliche von Geburt an bis ins junge<br />

Erwachsenenalter betreuen. Ferner gibt es<br />

diverse Institutionen mit einem Wohnund<br />

Arbeitsangebot. Diese richten sich<br />

meist an Menschen mit psychischen Problemen.<br />

Auch Notschlafstellen und begleitete<br />

Wohnformen werden angeboten. Zusätzlich<br />

werden Arbeitsintegrationsplätze<br />

in den Brockenstuben und Betrieben der<br />

Heilsarmee oder bei externen Partnern vermittelt.<br />

Die Flüchtlingsbetreuung ist ebenfalls<br />

ein grosser Bereich des Sozialwerks.<br />

Spezielle Angebote wie Beratung, Bildung,<br />

psychiatrische Spitex, Integrationsförderung,<br />

Entlastung für Familiensysteme und<br />

sogar ein Hotel runden den bunten Blumenstrauss<br />

ab.<br />

Viele dieser Angebote und Häuser blicken<br />

auf eine lange Historie zurück und<br />

haben sich über die Jahre den Bedürfnissen<br />

immer wieder angepasst. In manchen<br />

Bereichen ging und geht die Heilsarmee<br />

auch bewusst in die Pionierarbeit hinein.<br />

Sie versteht sich als Lückenfüller im sozialen<br />

Markt und investiert auch dort, wo der<br />

Bedarf schon ermittelt wurde, aber noch<br />

kein Kostenträger bereitsteht. Hier will sie<br />

innovativ und unbürokratisch Hilfe leisten.<br />

Selbstverständlich sind auch die bestehenden<br />

Angebote dem Markt unterworfen. Die<br />

Heilsarmee hat aber klare Kriterien, wie sie<br />

ihre Arbeit ausüben will, und sollten diese<br />

nicht (mehr) erfüllt werden können, weist<br />

sie einen Auftrag auch mal zurück.<br />

Ganzheitlicher Ansatz<br />

Die Heilsarmee leitet bei ihrer Arbeit ein<br />

<strong>ganz</strong>heitlicher Ansatz. Sicherheit, Selbstwert<br />

und Sinn sind Basis der Vision und somit<br />

Kern des Ansatzes.<br />

• Sicherheit verkörpert die existenziellen<br />

TEILHABE<br />

WOHNEN<br />

Bild: zvg<br />

Bedürfnisse des Menschen, die sich von<br />

der Nahrung bis hin zur Unversehrtheit<br />

erstrecken.<br />

• Selbstwert bezeichnet die Wiederherstellung<br />

von Würde und Achtung eines<br />

Menschen.<br />

• Sinn kommt als drittes Element dazu:<br />

Woher komme ich, was mache ich hier<br />

und wohin gehe ich? Diese universellen<br />

Fragen beeinflussen unser Handeln genauso<br />

wie alle anderen sozialen Handreichungen.<br />

Die aussenstehenden Quadrate bezeichnen<br />

die Bereiche, auf welche unsere<br />

Angebote fokussieren. Jeder einzelne ist<br />

für sich genommen wichtig, aber ihre volle<br />

Wirkung entfalten sie erst zusammen.<br />

• Teilhabe (oder auch Inklusion) fasst alle<br />

Bemühungen zusammen, sich gegen<br />

die Ausgrenzung von Menschen im sozialen<br />

oder kulturellen Kontext zu stemmen.<br />

Grundlage ist hier die UN-BRK,<br />

aber nicht nur. Ausgrenzung geschieht<br />

PLATTFORM<br />

SICHERHEIT<br />

SINN<br />

SELBSTWERT<br />

ARBEIT<br />

FÖRDERUNG<br />

Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />

diese Rubrik als Plattform an, auf der sie sich<br />

und ihre Tätigkeit vorstellen können: in dieser<br />

Ausgabe der weltweit tätigen Kirch- und Hilfsorganisation<br />

Heilsarmee.<br />

durch Menschen und kann sehr schnell<br />

entstehen. Selbst innerhalb der Heilsarmee<br />

ist man dagegen nicht gefeit. Die<br />

Heilsarmee hat einen Inklusionsbeauftragten,<br />

der die Standorte bezüglich<br />

dem offenen Inklusionspotenzial berät.<br />

• Arbeit ist ein weiteres Schlüsselelement<br />

bei der <strong>ganz</strong>heitlichen Betrachtung<br />

eines Lösungsansatzes. Neben den<br />

offensichtlichen finanziellen Konsequenzen<br />

hat Arbeit, selbst unbezahlte,<br />

viel mit Würde und Angenommensein<br />

zu tun.<br />

• Förderung – man kann auch Bildung<br />

sagen – unterstützt Teilhabe und Arbeit<br />

direkt und indirekt. Jeder Mensch<br />

hat Ressourcen und es gilt, diese zu fördern.<br />

Auch kann es je nach Ausgangslage<br />

schon ein Erfolg sein, Ressourcen zu<br />

erhalten.<br />

• Wohnen, auch zu verstehen als Zuhause,<br />

war schon immer ein wichtiger Baustein<br />

im Angebot der Heilsarmee. Hier<br />

ist nicht nur das Dach über dem Kopf<br />

gemeint. Von Bedeutung ist auch das<br />

soziale Umfeld; dass jemand nachfragt,<br />

wenn eine Person vermisst wird.<br />

All diese Elemente werden in den einzelnen<br />

Institutionen in irgendwelcher<br />

Form berücksichtigt, etwa als konkrete Angebote.<br />

Wo dies nicht gegeben ist, werden<br />

sie von den Institutionen mithilfe interner<br />

oder externer Partner sichergestellt. Dank<br />

ihrer breiten Palette an Dienstleistungen<br />

ist es der Heilsarmee möglich, vieles vor<br />

Ort oder regional in sogenannten Dienstleistungsketten<br />

anzubieten. Somit ist ein<br />

übergeordnetes Casemanagement zumindest<br />

in der Theorie möglich.<br />

Eines ist sicher: Auch in Zukunft wird<br />

sich die Heilsarmee nicht damit zufriedengeben,<br />

nur zu singen und Suppe abzugeben.<br />

Der Mensch braucht mehr! •<br />

Daniel Röthlisberger<br />

Direktor Sozialwerk<br />

4/17 ZeSo<br />

31


Flüchtlinge und Sozialhilfeempfänger<br />

lernen gemeinsam<br />

REPORTAGE Asylbewerber sollen sich möglichst rasch Kompetenzen aneignen, die es ihnen<br />

ermöglichen, Arbeit zu finden. Da dasselbe auch für Sozialhilfeempfänger gilt, sollen beide<br />

Personengruppen im Wallis Ausbildungsprogramme gemeinsam absolvieren. Ziel ist, dass die<br />

Betroffenen ein von der Branche anerkanntes Attest erhalten. Das Projekt befindet sich im Aufbau.<br />

In den Ateliers des Zentrums Le Botza in<br />

Vétroz im Kanton Wallis entstehen jedes<br />

Jahr besondere Dinge. Letztes Jahr war es<br />

eine Holzbrücke. Dieses Jahr sind es ein<br />

Paar Ski von fünf und ein Paar Skistöcke<br />

von drei Metern Länge. Die Sport-Ausrüstung<br />

war ein Geschenk an einen besonderen<br />

Gast, der Ende September nach Genf<br />

kam – die kleine Riesin. Die kleine Riesin<br />

ist eine Marionette von stattlicher Grösse:<br />

sie ist 5,5 Meter gross und 800 kg schwer<br />

und Mitglied der Strassentheatergruppe<br />

XXL «Royal de Luxe», deren Spaziergang<br />

durch die Genfer Innenstadt mehrere hunderttausend<br />

Menschen anzog.<br />

Le Botza ist ein Ausbildungszentrum,<br />

das mit grossem Engagement des Leiters<br />

des Amtes für Asylwesen Roger Fontannaz<br />

weiterentwickelt wird. Für Fontannaz<br />

ist schon lange klar, dass die Asylsuchenden<br />

möglichst rasch damit beginnen sollen,<br />

sich die für eine Integration nötigen<br />

Kenntnisse zu erwerben. Dazu gehören<br />

zunächst Kenntnisse einer Landessprache,<br />

aber auch soziale und berufliche Fertigkeiten.<br />

Während es früher vor allem darum<br />

ging, die Rückkehr der Flüchtling vorzubereiten,<br />

versucht man heute beides: Kenntnisse<br />

zu vermitteln, die Perspektiven für<br />

die Rückkehr bieten, aber auch den Weg<br />

in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft<br />

in der Schweiz ebnen. Dies schlicht aus der<br />

Erkenntnis heraus, dass die Mehrheit der<br />

Flüchtlinge bleiben wird.<br />

Sprachliche und berufliche<br />

Basiskompetenzen<br />

Das Ausbildungszentrum Botza sammelt<br />

bereits seit 17 Jahren Erfahrungen mit der<br />

beruflichen Integration von Flüchtlingen<br />

in den Arbeitsmarkt. Es ist eines von drei<br />

Ausbildungszentren im Kanton Wallis. Etwa<br />

100 Asylbewerber erwerben in Botza jeweils<br />

sprachliche und erste berufliche Basiskompetenzen.<br />

Die Ausbildungs- und<br />

Beschäftigungsprogramme finden in Ateliers<br />

statt. So gibt es in Botza ein Holzatelier,<br />

ein Bau-Atelier, ein Näh- und ein Coiffeur-Atelier,<br />

eines für die Landwirtschaft<br />

und den Weinbau. Im Restaurant des Zentrums<br />

Le Botza werden Kenntnisse der<br />

Gastronomie vermittelt. Die Ateliers sind<br />

auch für den Unterhalt des Zentrums zuständig,<br />

für Renovation, Reparaturen, Einrichtung<br />

etc. «Es ist uns sehr wichtig, dass<br />

das Zentrum gut unterhalten und bewohnbar<br />

ist», sagt Fontannaz. Die Appartements<br />

werden immer frisch gestrichen, wenn Bewohner<br />

ausziehen und neue kommen.<br />

Auch Vorhänge für die Appartements werden<br />

hier genäht und das eine oder andere<br />

Möbelstück gefertigt. Und sogar das neue<br />

Gebäude des Ausbildungszentrums wurde<br />

von den Flüchtlingen errichtet.<br />

Tätigkeitsnachweis für Absolventen<br />

Neu sollen die Absolventen der Programme<br />

eine Art Tätigkeitsnachweis erhalten,<br />

um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt<br />

zusätzlich zu verbessern. Mit der Hotellerie<br />

Valaisanne ist das für die Ausbildung in<br />

der Gastronomie bereits gelungen. Zunächst<br />

wird bei jedem Interessenten das<br />

Ziel der Ausbildung definiert. Die Ausbildung<br />

selbst kann einige Monate dauern<br />

oder ein <strong>ganz</strong>es Jahr. Die Teilnehmenden<br />

erwerben sowohl soziale und allgemeine<br />

berufliche Kenntnisse als auch spezifische,<br />

technische für einen bestimmten Beruf.<br />

Am Schluss werden die Kompetenzen der<br />

Teilnehmenden von einem Experten des<br />

Bundes geprüft. Dem Absolventen werden<br />

sowohl die spezifischen technischen Fähigkeiten<br />

bescheinigt; beispielsweise die Bedienung<br />

der Grossküchen-Spülmaschine,<br />

der Unterhalt der Küche, die Kenntnisse<br />

der Hygiene und Sicherheitserfordernisse,<br />

der täglichen Abläufe im Restaurant, etc.<br />

Bescheinigt wird aber auch Pünktlichkeit,<br />

Erscheinung, Auftreten, Beachtung der gegebenen<br />

Anweisungen oder kommunikative<br />

Fähigkeiten.<br />

Neu ist ferner, dass die Ausbildungen<br />

auch für Sozialhilfebeziehende angeboten<br />

32 ZeSo 4/17


werden. Ziel ist laut Fontannaz, dass in<br />

den Gruppen je zur Hälfte Sozialhilfebeziehende<br />

und Personen aus dem Flüchtlingsbereich<br />

teilnehmen. Im Grunde sei<br />

für Sozialhilfebeziehende eine Ausbildung<br />

genauso wichtig. Es sei gleichzeitig für<br />

In Ateliers werden<br />

erste Kenntnisse<br />

verschiedener Berufe<br />

vermittelt.<br />

Bilder: zvg<br />

Asylbewerber eine Gelegenheit, Einheimische<br />

kennenzulernen – und zu erfahren,<br />

dass es auch nicht allen Bewohnern der<br />

Schweiz gut gehe. Das Gastronomie-Team<br />

ist jetzt bereits gemischt. In anderen Bereichen<br />

ist man noch weniger weit. Denn<br />

nicht jede der angebotenen Ausbildungen<br />

betreffen Branchen, in der echter Arbeitskräfte-Bedarf<br />

besteht. «Die niederschwelligen<br />

Berufe herauszufinden, in denen Arbeitskräfte<br />

gesucht sind, ist eine Aufgabe,<br />

die wir jetzt zusammen mit dem Amt für<br />

Berufsausbildung in Angriff nehmen», wie<br />

Fontannaz sagt.<br />

Nach der Ausbildung im Zentrum-<br />

Restaurant können Interessierte anschliessend<br />

im Restaurant «Le temps de vivre in<br />

Les Mayens de Chamoson» praktische<br />

Erfahrungen sammeln. Das Restaurant<br />

zwischen der Rhône und dem Berg Haut<br />

de Cry wird von Trip advisor als exzellent<br />

ausgezeichnet und als das beste Restaurant<br />

von Ovronnaz empfohlen. Donnerstag,<br />

Freitag und am Wochenende ist das Restaurant<br />

meist voll. Auch viele Touristen<br />

kommen hier vorbei. Die Bedienung ist<br />

etwas schüchtern, aber freundlich. Sie ist<br />

Asylbewerberin und kommt aus Eritrea.<br />

Sie arbeitet seit einem Monat zusammen<br />

mit 18 Asylbewerbern und einigen Sozialhilfeempfangenden<br />

hier oben in den Bergen<br />

und wird noch fünf Monate bleiben.<br />

Laut Roger Fontannaz bietet das Restaurant<br />

den Teilnehmenden nicht nur die<br />

Möglichkeit praktische Berufserfahrungen<br />

zu sammeln, sondern ist auch eine gute<br />

Gelegenheit, mit Einheimischen in Kontakt<br />

zu treten und damit beidseitig Verständnis<br />

und Akzeptanz zu fördern.<br />

Ein Schritt auf dem Weg der<br />

Integration<br />

Die Beschäftigung und Tätigkeiten in den<br />

Ateliers ist für die in Botza Anwesenden ein<br />

wichtiges Element im Hinblick auf die Integration<br />

in Beruf und Gesellschaft. Sie ist<br />

aber für viele nach den oft traumatisierenden<br />

Erlebnissen der Flucht auch eine sehr<br />

wichtige seelische Unterstützung. Einen<br />

selbst gefertigten Gegenstand in der Hand<br />

zu halten, sei für sie ein Erfolgserlebnis.<br />

«Für uns ist es sehr bewegend, traumatisierte<br />

Menschen zu sehen, die wieder lächeln»,<br />

sagt Frédéric Moix, Verantwortlicher<br />

für Integration und berufliche<br />

Entwicklung im «Le Botza». Es ist ein<br />

Schritt auf dem Weg der Integration. Ob<br />

diese dank den Ausbildungen auf Dauer<br />

gelingt, wissen Fontannaz und Moix noch<br />

nicht. <br />

•<br />

Ingrid Hess<br />

4/17 ZeSo<br />

33


Soziale Ungleichheit<br />

Ein Prozent der Weltbevölkerung besitzt über<br />

50 Prozent des Weltvermögens. 99 Prozent der<br />

Weltbevölkerung diskutieren darüber, handeln<br />

aber nicht. Soziale Ungleichheit ist für Anthony<br />

Atkinson, den weltweit führenden Experten,<br />

<strong>ganz</strong> oben auf der «Agenda der Weltprobleme».<br />

Man kann fast alle tagespolitischen Konflikte,<br />

die Flüchtlings- und Eurokrise, den Terrorismus<br />

und die Kriege im Nahen Osten auf sie zurückführen. Gegen die<br />

lähmende Untätigkeit legt der britische Ökonom ein Programm für den<br />

Wandel vor und empfiehlt 15 konkrete Massnahmen für die Bereiche<br />

Technologie, Arbeit, soziale Sicherheit sowie Kapital und Steuern.<br />

Atkinson Anthony B., Ungleichheit, Was wir dagegen tun können, Klett-Cotta, <strong>2017</strong>,<br />

474 Seiten, CHF 40.−, ISBN: 978-3-608-94905-6<br />

Familienkosten im Griff<br />

Eltern stellen im ersten Moment kaum finanzielle<br />

Überlegungen an, wenn sie eine Familie<br />

gründen. Doch es lässt sich nicht wegdiskutieren,<br />

dass Kinder eine Menge Geld kosten – je<br />

älter sie werden, desto höher sind ihre Kosten.<br />

Sie brauchen nicht nur ein Dach über dem Kopf,<br />

Essen und Kleider. Wenn Eltern beispielsweise<br />

ihre Berufstätigkeit reduzieren müssen, sind<br />

das indirekte Kinderkosten. Der Beobachter-Ratgeber hilft bei Fragen<br />

zur Finanzplanung des Familienlebens von der Schwangerschaft über<br />

die Taschengeld-Regelungen bis zu Versicherungs- und Steuerfragen.<br />

Döbeli Cornelia, Familienbudget richtig planen, Die Finanzen im Überblick – durch alle<br />

Familienphasen, Beobachter Verlag, <strong>2017</strong>, 216 Seiten, CHF 32.−,<br />

ISBN 978-3-03875-060-4<br />

Umgang mit Flüchtlingen<br />

In dem Buch werden neue Anforderungen in<br />

unterschiedlichen Handlungsfeldern beschrieben<br />

und diskutiert, die sich im Umgang mit<br />

Geflüchteten ergeben: Menschen mit traumatisierenden<br />

Erfahrungen benötigen konkrete<br />

Hilfen, minderjährige Geflüchtete müssen in Angeboten<br />

der Kinder- und Jugendhilfe aufgenommen<br />

werden, Rassismus und Diskriminierungen<br />

muss gerade von professioneller Seite reflektiert begegnet werden.<br />

Neben theoretischen Einordnungen zum Flüchtlingsdiskurs liefern die<br />

Beiträge Antworten auf aktuelle Fragen und entwickeln praxisrelevante<br />

Zugänge zum Thema.<br />

Bröse Johanna, Faas Stefan, Stauber Barbara (Hrsg.), Flucht, Herausforderungen<br />

für die Soziale Arbeit, Springer VS, <strong>2017</strong>, 234 Seiten, CHF 44.−,<br />

ISBN 978-3-658-17091-2<br />

Neue Beiträge zur<br />

Sozialgeschichte<br />

Sozialgeschichte ist kein neues Forschungsfeld<br />

– sondern eines, dessen weitere Existenz auch<br />

schon mal als bedroht gilt. Zugleich ist das Soziale<br />

unbestreitbar im Gespräch. Dass sich Geschichte<br />

und Gegenwart der sozialen Ungleichheit<br />

nicht in ein lineares Fortschrittsnarrativ<br />

fügen, gehört zu den grossen politischen und<br />

intellektuellen Herausforderungen unserer Zeit. Das Buch erkundet, was<br />

heute als Sozialgeschichte betrieben wird, wo Traditionen und klassische<br />

Konzepte sich als ungebrochen tragfähig erweisen und wo sich neue<br />

Impulse und transdisziplinäre Konzepttransfers abzeichnen.<br />

Arni Caroline, Leimgruber Matthieu, Teuscher Simon (Hrsg.), Neue Beiträge zur<br />

Sozialgeschichte, Chronos Verlag, <strong>2017</strong>, 176 Seiten, CHF 38.−,<br />

ISBN 978-3-0340-1389-5<br />

Innovative Modelle für<br />

berufliche Integration<br />

Der Arbeitsmarkt wandelt sich und mit ihm die<br />

Anforderungen an die Arbeitsmarktintegration.<br />

Gleichzeitig erleben Sozialfirmen angesichts strikter<br />

Rahmenbedingungen einen Innovationsstau.<br />

Was bedeutet das für die Entwicklung der Arbeitsmarktintegration?<br />

Die Drosos-Stiftung führte das<br />

Ausschreibungsverfahren «Neue Wege in den<br />

Arbeitsmarkt – Innovative Modelle für berufliche<br />

Integration» mit Unterstützung der Hochschule<br />

für Soziale Arbeit FHNW durch. Die Abschlussveranstaltung<br />

umfasst Projekt-Präsentationen,<br />

Referate und Diskussionen.<br />

Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Olten<br />

Donnerstag, 11. Januar 2018<br />

www.fhnw.ch<br />

(Dis-)Kontinuitäten in der<br />

Fremdplatzierung<br />

Lebensläufe von fremdplatzierten Kindern und<br />

Jugendlichen sind oft stark geprägt durch Beziehungsabbrüche<br />

und Diskontinuitäten. Entsprechend<br />

ist es eine grosse Herausforderung für die<br />

Professionellen der Kinder- und Jugendhilfe, diesen<br />

Mangel an Sicherheits- und Geborgenheitsgefühl<br />

zu «kompensieren». Die Tagungsteilnehmer<br />

erwarten Beiträge aus Forschung und Praxis aus<br />

dem In- und Ausland. Der Fokus richtet sich dabei<br />

auf den Aspekt der Kontinuität und Diskontinuität<br />

von Lebenswegen und -verläufen.<br />

Hotel Bern, Bern<br />

Dienstag, 23. Januar 2018<br />

www.integras.ch<br />

Arbeit, Beschäftigung und Eingliederungsmanagement<br />

Die Konferenz bietet ein internationales Forum<br />

für die Diskussion der aktuellen Veränderungen<br />

der Arbeitsgesellschaft und deren Folgen für<br />

Beschäftigung und Eingliederungsmanagement.<br />

Der Fokus liegt dabei auf den Herausforderungen,<br />

die sich daraus für die (inter-)professionelle<br />

Koordination und Kooperation der verschiedenen<br />

Akteure in Unternehmen, Organisationen der<br />

Arbeitsintegration und Sozialversicherungen<br />

ergeben.<br />

Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Olten<br />

Donnerstag bis Freitag, 25./26. Januar 2018<br />

www.fhnw.ch<br />

34 ZeSo 4/17


ls strukturiereiständinnen<br />

inem ersigen.<br />

Dabei<br />

tsführung<br />

achsenensensbausteidie<br />

praktische<br />

dargestellt.<br />

21.07.17 10:55<br />

3<br />

Leitfaden für Berufsbeiständinnen<br />

und Berufsbeistände<br />

Rosch<br />

Daniel Rosch<br />

Leitfaden für Berufsbeiständinnen<br />

und Berufsbeistände<br />

Leitfaden für Berufsbeistände<br />

Bisher findet sich kein Leitfaden, der die<br />

Systematik und Wissensbausteine für<br />

die Mandatsführung<br />

Mandatsführung als strukturierten Prozess<br />

aufzeigt. Diese Lücke will dieser Leitfaden für<br />

Berufsbeiständinnen und Berufsbeistände<br />

schliessen. Er zeigt in einem ersten Teil die<br />

Systematik der Tätigkeit eines Beistandes auf.<br />

Band 3<br />

Schriften zum Kindes- und Erwachsenenschutz<br />

herausgegeben von Daniel Rosch<br />

Dabei werden die Aufgaben der Mandatsführung<br />

umschrieben und in den Kontext, etwa zur<br />

und Luca Maranta<br />

Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB), gestellt. Der zweite<br />

Teil informiert zu Mandatsführung im Praxisalltag.<br />

Rosch Daniel, Maranta Luca (Hrsg.), Leitfaden für Berufsbeiständinnen und Berufsbeistände,<br />

Systematik und Wissensbausteine für die Mandatsführung, hep Verlag, <strong>2017</strong>,<br />

176 Seiten, CHF 48.−, ISBN 978-3-0355-0914-4<br />

lesetipps<br />

Zukunft des Sozialstaats<br />

Der Sozialstaat ist bedroht: Demografischer und<br />

kultureller Wandel, Arbeit 4.0 und die Auflösung<br />

der Familienverhältnisse entziehen ihm<br />

seine Grundlagen. Aus diesem Szenario heraus<br />

entwirft der Autor Lösungen für eine Sozialpolitik<br />

des 21. Jahrhunderts, die einem Programm<br />

«Sozialer Nachhaltigkeit» verpflichtet ist. Er<br />

diskutiert die Idee des Grundeinkommens im<br />

Lichte unterschiedlicher Gerechtigkeitsprinzipien und Wohlfahrtsregimes<br />

und zeigt die Rolle der Sozialen Arbeit und die Bedeutung von<br />

Partizipation bei der künftigen Gestaltung des Sozialstaats auf.<br />

Opielka Michael, Welche Zukunft hat der Sozialstaat?, Lambertus-Verlag, <strong>2017</strong>,<br />

64 Seiten, CHF 12.−, ISBN 978-3-7841-3001-9<br />

Sprache in der Sozialen<br />

Arbeit<br />

Caritas Sozialalmanach:<br />

Nationalismus<br />

Die Beiträge in diesem Buch analysieren Sprache<br />

im Rahmen des professionellen Handelns<br />

der Sozialen Arbeit und der Gesundheit. Die<br />

Autorinnen und Autoren machen auf die vielschichtige<br />

Komplexität und Subtilität sprachlicher<br />

Praktiken aufmerksam und ermitteln, in<br />

welcher Beziehung Kommunikation zum professionellen<br />

Können steht. Sie nehmen konkrete Handlungssequenzen<br />

in den Blick, um das Können von Professionellen zu untersuchen, und<br />

beschreiben Sprache als wesentliches Instrument institutioneller Aktivitäten<br />

und damit als Werkzeug der Professionalität.<br />

Messmer Heinz, Stroumza Kim, Sprechen und Können – Sprache als Werkzeug im<br />

Feld der Sozialen Arbeit und Gesundheit, interact Verlag, <strong>2017</strong>, 212 Seiten, CHF 43−,<br />

ISBN 978-3-906036-25-0<br />

Nationalismus: Sozialpolitische<br />

Zugänge<br />

Der Rückgriff auf die Nation und die eigene Volksgemeinschaft,<br />

Autoritarismus, Abwehr gegen das<br />

«Fremde» bis hin zu xenophoben Impulsen, all<br />

diese Merkmale nationalistischer Positionen sind<br />

Ausdruck des Misstrauens, dass demokratische<br />

Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse<br />

adäquate Antworten auf die aktuellen gesellschaftlichen<br />

und politischen Probleme bereitstellen.<br />

Das Forum 2018, die sozialpolitische Tagung<br />

der Caritas Schweiz widmet sich dem Nationalismus<br />

und seinen heutigen Erscheinungsformen.<br />

Eventforum, Fabrikstrasse 12, Bern<br />

Freitag, 26. Januar 2018<br />

www.caritas.ch<br />

«Strategien und Praxis für<br />

bezahlbares Wohnen»<br />

Der aktuelle Wohnungsmarkt bietet immer<br />

weniger günstigen Wohnraum. Immer mehr<br />

Gesellschaftsgruppen können sich angemessenes<br />

Wohnen nicht mehr leisten. Der Kongress<br />

in München ist die erste Veranstaltung der<br />

Fachgruppe «Sozialplanung International» des<br />

Vereins der Sozialplanerinnen und Sozialplaner in<br />

dieser Form. Gemeinsam mit allen Interessierten<br />

soll an drei Tagen der länderübergreifende Dialog<br />

gepflegt sowie der Austausch von Know-how,<br />

Erfahrung und Good-Practice gefördert werden.<br />

Katholische Stiftungshochschule München<br />

Mittwoch bis Freitag, 21.- 23. Februar 2018<br />

www.vsop.de<br />

Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst in der<br />

Schweiz. Dabei verschärft sich die Lage sozial<br />

schwacher Gruppen sowohl in finanzieller als<br />

auch in sozialer Hinsicht. Welches sind die Folgen<br />

der sozialen Polarisierung? Mit dieser Frage<br />

beschäftigt der diesjährige Sozialalmanach<br />

der Caritas im Schwerpunkt. Die Autorinnen und<br />

Autoren untersuchen die wachsende Popularität rechtspopulistischer<br />

Positionen aus verschiedenen Perspektiven. Ihr besonderes Augenmerk<br />

gilt dem Zusammenhang zwischen dem Nationalismus sowie wirtschaftlichen<br />

und sozialen Entwicklungen.<br />

Caritas Schweiz (Hrsg.), Sozialalmanach 2018, Wir und die Anderen: Nationalismus,<br />

Caritas-Verlag, <strong>2017</strong>, 256 Seiten, CHF 36.−, ISBN: 978-3-85592-153-9<br />

veranstaltungen<br />

Ermessen in der Sozialhilfe –<br />

Spielräume sinnvoll nutzen<br />

Das Leitprinzip der Individualisierung verlangt,<br />

dass Hilfsleistungen jedem einzelnen Fall angepasst<br />

sind und sowohl den Zielen der Sozialhilfe<br />

im Allgemeinen als auch den Bedürfnissen der<br />

betroffenen Person im Besonderen entsprechen.<br />

Die Anwendung des Handlungsspielraums bzw.<br />

Ermessens erfordert im Alltag ein hohe Professionalität<br />

und ein berufliches Selbstverständnis. Die<br />

nationale Tagung in Biel bietet eine Plattform zur<br />

Präsentation und Diskussion von Handlungsmöglichkeiten<br />

sowie Best-Practice-Ansätzen.<br />

Kongresshaus Biel<br />

Donnerstag, 22. März 2018<br />

www.skos.ch<br />

4/17 ZeSo<br />

35


An der dreirädrigen «Unfassbar» vertrauen die Barbesuchenden Bernhard Jungen ihre Geschichten an. Bild: Béatrice Devènes<br />

Von der Kanzel an die Bar<br />

PORTRÄT Bernhard Jungen kündigte mit fast 60 Jahren seine Stelle als Pfarrer und betreibt seither<br />

eine Bar auf drei Rädern. Beim Bierausschank an Quartierfesten und anderen Veranstaltungen kommt<br />

es zu spontanen Gesprächen und spannenden Begegnungen.<br />

Fast 32 Jahre lang war Bernhard Jungen<br />

Pfarrer in der Kirchgemeinde Ittigen im<br />

Kanton Bern. «Eine innovative Kirchgemeinde»,<br />

betont er. Die Kirchbänke waren<br />

meist gut besetzt, an Arbeit fehlte es ihm<br />

nicht, er konnte mit dem neuen Wohnund<br />

Kirchenhaus Casappella in Worblaufen<br />

einen grossen Wurf mitrealisieren.<br />

Doch auf einmal beschlich ihn immer häufiger<br />

das Gefühl, abbiegen zu wollen.<br />

Wenn er mit dem Velo auf dem Weg zu einem<br />

Trauungs- oder Taufgespräch war,<br />

hätte er am liebsten einen anderen Weg<br />

eingeschlagen. Er hätte gern bei den Jugendlichen<br />

am Strassenrand angehalten<br />

und sich mit ihnen unterhalten oder sich in<br />

der Dorfbeiz an den Stammtisch gesetzt.<br />

Zwar habe er durch seine Arbeit viele Gespräche<br />

führen können, doch seien diese<br />

einem institutionalisierten Muster gefolgt.<br />

Ihn aber reizte das Spontane, Begegnungen,<br />

die sich aus dem Moment heraus ergeben.<br />

Eines Morgens begab er sich in das<br />

der Casappella gegenüberliegende,<br />

14-stöckige Wohnhaus und klingelte an<br />

verschiedenen Haustüren. «Die Menschen<br />

reagierten total positiv. Sie sagten: Schön,<br />

dass jemand zu uns kommt.»<br />

Zeichen in der Stille<br />

Bernhard Jungens innere Unruhe wuchs.<br />

Er spürte: Etwas wird sich ändern müssen.<br />

«Ich sagte mir: Entweder ich realisiere in<br />

meiner Kirchgemeinde noch einmal einen<br />

grossen Wurf – oder aber, ich wage etwas<br />

Neues.» Im Sommer 2015 zog er sich für<br />

eine Woche lang in die Stille zurück, meditierte.<br />

Schon in der ersten Nacht hatte er einen<br />

Traum, dessen Klarheit ihn verblüffte.<br />

In dieser Woche ereilten ihn noch weitere<br />

Signale. Alle deuteten in die eine Richtung.<br />

Wieder zu Hause, eröffnete Jungen seiner<br />

Frau: «Unsere Zeit in Ittigen ist abgelaufen.<br />

Wir werden die Pfarrwohnung verlassen.»<br />

Seine pragmatisch verlangte Frau sagte:<br />

«Gut, denn lass uns zum Finanzberater gehen<br />

und schauen, was das bedeutet.» Der<br />

fast 60-jährige Pfarrer kündigte nach 32<br />

Jahren die Stelle, um seine Idee zu verwirklichen:<br />

die Idee der «Unfassbar», einer Bar<br />

auf drei Rädern, mit der er dort abbiegen<br />

kann, wo das Leben stattfindet und mit den<br />

Menschen ins Gespräch kommen kann.<br />

Ein Bier und ein offenes Ohr<br />

Eines aber stellt Bernhard Jungen sofort<br />

klar: «Ich bin kein subversiver Pfarrer.»<br />

Ihm sei es wichtig gewesen, dass die Bernische<br />

reformierte Kirche hinter dem Projekt<br />

steht. Das tat sie, und sie unterstützt das<br />

Projekt auch finanziell, zusammen mit<br />

Kirchgemeinden und Freunden. Seit diesem<br />

Sommer nun fahren Bernhard Jungen<br />

und sein Pfarrkollege Tobias Rentsch mit<br />

dem Dreirad zu Quartierfesten oder anderen<br />

öffentlichen Veranstaltungen und<br />

schenken ihr Bier aus, das sinnigerweise<br />

«Pfaff» heisst. Bibeltraktate werden keine<br />

verteilt. Vielmehr geht es den beiden Pfarrern<br />

um die Begegnungen, die sich rund<br />

ums Bier ergeben. «Einige erzählen von<br />

sich, vertrauen uns ihre Geschichten an –<br />

und sind dankbar, dass wir einfach ansprechbar<br />

sind», beschreibt Jungen die Begegnungen<br />

an der «Unfassbar». Er<br />

beobachtet auch, dass viele Barbesuchende<br />

von sich aus auf den Glauben zu sprechen<br />

kommen. Nicht selten beschäftigen sie<br />

Scheidungen oder Beziehungen und immer<br />

wieder ist der Tod ein Thema. Dadurch,<br />

dass sein Kollege und er Pfarrer seien,<br />

vertrauen ihm viele Menschen von<br />

Anfang an, stellt Bernhard Jungen fest. «In<br />

unserer Gesellschaft ist ein Pfarrer auch<br />

Garant für Verschwiegenheit.»<br />

Auch die dreirädrige «Unfassbar» liefert<br />

immer wieder Gesprächsstoff. So sass Jungen<br />

diesen Sommer einmal auf einer Treppe,<br />

neben ihm junge Männer in Arbeitskleidern<br />

am Rauchen. «Geiles Velo», entfuhr<br />

es einem, als er ein Dreirad erblickte. «So<br />

eines hab ich auch», mischte sich der Pfarrer<br />

ins Gespräch – und ein Gespräch über<br />

Gott und die Welt entwickelte sich. •<br />

Catherine Arber<br />

36 ZeSo 4/17


«Die Weiterbildungen<br />

der FHS St.Gallen sind<br />

sehr praxisorientiert.<br />

Das gefällt mir.»<br />

Weiterbildungen in<br />

Sozialer Arbeit<br />

Roman Bernhard<br />

Leiter Eingliederungsteam<br />

IV-Stelle Thurgau, Absolvent<br />

CAS Case Management<br />

und Supported Employment<br />

www.fhsg.ch/weiterbildung-sozialearbeit<br />

FHO Fachhochschule Ostschweiz<br />

Master of Arts in Sozialer Arbeit mit Schwerpunkt Soziale Innovation<br />

Ihr Berufsziel?<br />

Verspüren Sie die Motivation, Angebote der Sozialen Arbeit aktiv zu gestalten, weiterzuentwickeln und<br />

voranzutreiben?<br />

Unser Studium<br />

Wir bieten Ihnen mit unserem flexibel gestaltbaren Master-Studium die notwendige Ausbildung dafür.<br />

Nächster Beginn<br />

Frühlingssemester: 19. Februar 2018<br />

www.masterstudium-sozialearbeit.ch


20 Jahre<br />

HOCHSCHULE<br />

LUZERN<br />

BFH UND<br />

HOCHSCHULE<br />

LUZERN<br />

Kooperation für Ihre Weiterbildung im Bereich Soziale Sicherheit<br />

Certificate of Advanced Studies<br />

CAS Sozialberatung<br />

CAS Sozialhilferecht<br />

CAS Soziale Sicherheit<br />

Fachkurs<br />

Sozialberatung<br />

Sozialhilfeverfahren<br />

Fachseminare<br />

Anrechnung von Einkommen und<br />

Vermögen in der Sozialhilfe<br />

Einführung Sozialhilfe<br />

Einführung Sozialversicherungsrecht<br />

Finanzierung von zivilrechtlichen<br />

Kindesschutzmassnahmen<br />

Unrechtmässiger Leistungsbezug und<br />

Sanktionierung in der Sozialhilfe<br />

Zuständigkeit und Unterstützungsvoraussetzungen<br />

Weitere Informationen unter www.hslu.ch/wb-sozialesicherheit

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