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soziologie heute Juni 2016

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Bindungen der Menschen untereinander,<br />

sie untersucht bestimmte<br />

Gruppen (z.B. Krankenhaus, Altenheim,<br />

Familien), sie geht davon aus,<br />

dass die Gesellschaft (mehr oder weniger)<br />

durch eine Kraft zusammengehalten<br />

werde und die Defi nition<br />

dieser Kraft helfen könnte, politische<br />

Zusammenhänge zu verstehen und<br />

Zukunft zu gestalten. Bruno Latour<br />

bringt es auf den Punkt: Soziales<br />

klärt das Soziale.<br />

II. Auf einen weiteren Aspekt macht<br />

Latour aufmerksam: Der Begriff „sozial“<br />

wird häufi g auch dann eingesetzt<br />

wird, wenn eine Erklärung für<br />

etwas gegeben werden muss, „das<br />

die anderen Bereiche nicht erklären<br />

konnte.“ So gibt es z.B. den Begriff<br />

der Sozial-Psychologie, der zeigen<br />

soll, dass es bestimmte „soziale Faktoren“<br />

gibt, die die Psychologie offenbar<br />

nicht selbst erklären kann. Latour<br />

bezeichnet diese Art der Verwendung<br />

des Begriffes „sozial“ „ (…) (als) eine<br />

spezifi sche Art von Ingredienz („Klebstoff,<br />

mit dem sich alle möglichen<br />

Sichtweisen verbinden“ lassen), von<br />

der man annimmt, dass sie sich von<br />

anderen Materialien unterscheidet.“<br />

Doch Latour geht deutlich weiter bzw.<br />

setzt der „Wissenschaft vom Sozialen“<br />

(Soziales Nr. 1) das „Nachzeichnen<br />

von Assoziationen“ (Soziales Nr.<br />

2) gegenüber. In den Überlegungen<br />

zu „Soziales Nr. 2“ geht es um Verknüpfungen<br />

„zwischen Dingen, die<br />

selbst nicht sozial sind.“ Diese Verknüpfungen<br />

führen letztlich – so Latour<br />

– zum Sozialen, denn das „Soziale<br />

(wird) (…) nur sichtbar in den<br />

Spuren, die es hinterlässt, wenn eine<br />

neue Assoziation zwischen Elementen<br />

hervorgebracht wird, die selbst<br />

keineswegs ‚sozial‘ sind.“ Latour<br />

bringt als Beispiel dieser durch neue<br />

Assoziationen sich entwickelnde soziale<br />

Ordnungen den SARS-Virus, der<br />

dazu führt, dass „unter Quarantäne<br />

gestellte Menschen (…) (lernen müssen),<br />

dass sie nicht länger auf die<br />

selber Weise mit ihren Verwandten<br />

und Partnern ‚assoziieren‘ (können)<br />

(…)“<br />

Im oben geschilderten Fall werden<br />

diese Assoziationen sehr praktisch:<br />

erst die Anordnung von Waschlappen,<br />

Kaffeebecher und Kopfkissen führen<br />

zu einer neuen „sozialen Situation“.<br />

Latour sprach von der „Soziologie der<br />

Assoziationen“ und beschreibt damit<br />

die Idee, dass die Gesellschaft eben<br />

nicht nur aus „sozialen Beziehungen“<br />

(i.S. von Soziales Nr. 1) besteht, sondern<br />

das diese selbst „durch materielle,<br />

nichtsoziale Dinge gestützt und<br />

gefestigt werden“ (Peukert 2010:<br />

326)<br />

Akzeptiert man diesen (hier stark<br />

verkürzt dargestellten) Latour‘schen<br />

Ansatz in seiner Komplexität, wird<br />

deutlich, dass „erst durch die Verbindung<br />

der Pfl egeperson mit den<br />

vorhandenen Pfl egedingen (…) Pfl ege<br />

realisiert werden (kann).“ (Heitmann-<br />

Möller 2015) Pfl egende müssen lernen,<br />

sich auf diese „Assoziationen“<br />

einzulassen und sie zu akzeptieren,<br />

nicht, weil sie ob der Durchsetzungsfähigkeit<br />

der Mutter resignieren („na,<br />

dann mache ich es eben so, wenn<br />

die Alte es so will!“), sondern weil sie<br />

verstehen, dass auch Waschlappen,<br />

Kaffeebecher und Kopfkissen Teil<br />

(Aktant) der sozialen Beziehung sind<br />

bzw. – um es mit Latour genauer zu<br />

formulieren – diese „Akteure“ diese<br />

soziale Beziehung erst ermöglichen.<br />

Erst „durch die Analyse der Dinge<br />

hinsichtlich ihrer Materialität, ihrer<br />

Bedeutungen, ihrer Einbindungen in<br />

Diskurse sowie der Interaktionen zwischen<br />

Menschen und Dingen wird die<br />

Komplexität von Pfl ege (be-)greifbar.<br />

(Artner, Atzel & Kollewe <strong>2016</strong>: 52).<br />

In der Fallbesprechung mit den Mitarbeiter/innen,<br />

die den o.g. Klienten<br />

betreuten, wurde der soziologische<br />

Ansatz von Latour vorgestellt. Nach<br />

anfänglicher Irritation konnten die<br />

Kolleginnen aus eigenen Überlegungen<br />

und Erfahrungen nachvollziehen,<br />

dass er helfen kann, die Situation positiv<br />

zu akzeptieren. Sie waren in der<br />

Lage, eigene Beispiele für „Aktanten“<br />

zu bringen, die in Interaktion mit ihnen<br />

treten: z.B. der eigene Lieblingssessel,<br />

das Poster an der Wand.<br />

Literatur:<br />

Artner, L., Atzl, I., Kollewe, C. (<strong>2016</strong>): Über<br />

die Notwendigkeit einer „Pfl ege der Dinge“.<br />

Sozial Extra 40 (1): 51 - 53<br />

Heitmann-Möller, A. (2015): Bedeutung und<br />

Einfl uss dinglicher Gegenstände auf die Pfl e-<br />

ge – Kulturwissenschaftliche Ansätze für<br />

Pfl egewissenschaft und Praxis. Posterpräsentation<br />

am 16.10.2015, ENDA & WANS<br />

Kongress Hannover 2015 (https://www.<br />

researchgate.net/publication/283290461_<br />

Bedeutung_und_Einfluss_dinglicher_Gegenstande_auf_die_Pflege_Kulturwissenschaftliche_Ansatze_fur_Pflegewissenschaft_und_Pfl<br />

egepraxis) (aufgerufen am<br />

09.03.<strong>2016</strong>)<br />

Latour, B. (2000): Die<br />

Hoffnung der Pandora.<br />

Untersuchungen zur Wirklichkeit<br />

der Wissenschaft.<br />

Frankfurt/M.: Suhrkamp<br />

Ders. (2014): Eine neue<br />

Soziologie für eine neue<br />

Gesellschaft. Frankfurt/M.:<br />

Suhrkamp<br />

Peukert, B. (2010): Akteur-<br />

Netzwerk-Theorie (ATN), in:<br />

Stegbauer, C. & Häußling,<br />

R. (Hrsg.) (2010): Handbuch<br />

Netzwerkforschung.<br />

Wiesbaden: VS - Verlag für<br />

Sozialwissenschaften<br />

Klaus-Dieter Neander<br />

newsneander@gmx.de<br />

Pfl egedienstleiter,<br />

leitet einen ambulanten<br />

Intensivpfl egedienst in<br />

Hamburg<br />

www.pfl egedienst-bit.de<br />

22 <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> <strong>Juni</strong> <strong>2016</strong>

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