soziologie heute Juni 2016
Das erste und einzige illustrierte soziologische Fachmagazin im deutschen Sprachraum. Wollen Sie mehr über Soziologie erfahren? www.soziologie-heute.at
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als „Organ des Denkens“ verstand.<br />
Sie wird für ihn das eigentliche Medium,<br />
durch das sich die Welt erschließt.<br />
Sprache ist für Humboldt Weltansicht.<br />
Erst in der Verwandlung der<br />
Gegenstände in Sprache werden<br />
diese und damit die Welt zu einem<br />
Zusammenhang, über den man<br />
nachdenken kann, der besprechbar<br />
ist. In der Sprache fi ndet eine Verwandlung<br />
all der sinnlichen Eindrücke<br />
und Empfi ndungen statt, womit<br />
die weltlichen Zusammenhänge<br />
auf einer anderen Ebene anschaubar<br />
und objektivierbar werden. Das<br />
Empfi nden und Handeln der Menschen<br />
hängen zutiefst von ihren<br />
sprachlich erzeugten und gewachsenen<br />
Vorstellungen ab, das Leben<br />
mit den Gegensständen wird selbst<br />
sprachlich gestaltet. Der Mensch<br />
erzeugt sich im Medium Sprache<br />
eine Ansicht der Welt, und je länger<br />
er darin lebt, desto weniger bemerkt<br />
er diese. Erst wenn er sich in<br />
der Sprache auf diese richtet, wird<br />
erkennbar, wie sehr die Sprache<br />
schon immer unser Bild und unsere<br />
Wahrnehmung der Wirklichkeit mitbestimmt.<br />
Dabei ist für Humboldt die Sprache<br />
nicht als bloßer Abdruck der Gegenstände<br />
zu denken, vielmehr sieht er,<br />
dass sie aus dem Zusammenwirken<br />
von objektiven und subjektiven Anteilen<br />
als ein Mittleres zwischen Objektivität<br />
und Subjektivität entsteht.<br />
In der Sprache als einem Zwischenbereich<br />
von Welt und Mensch bilden<br />
sich die Welt, die anderen Menschen<br />
und der Einzelne auf eigene Weise.<br />
In der Bildung und im Gebrauch der<br />
Sprache unterscheidet Humboldt<br />
drei Hauptmomente: der Eindruck<br />
des Gegenstandes, die Art der Aufnahme<br />
im Subjekt und die Wirkung<br />
des Wortes in einer Sprache. Zwischen<br />
den ersten beiden Polen sieht<br />
er einen eigenen Bereich der Wirkungen<br />
sich entfalten, der sich mit<br />
sprachlichen Äußerungen verbindet.<br />
Es sind die Wirkungen der Wörter,<br />
die innerhalb einer Sprache in „Analogie“<br />
(also weder völlig gleich noch<br />
völlig verschieden) zueinander stehen.<br />
Die Wirkungen der Wörter sind<br />
bei den verschiedenen Menschen<br />
nie ganz identlisch, weil sie stets in<br />
Verbindung mit der Subjektivität des<br />
Einzelnen entstehen. Einerseits gehört<br />
mir die Sprache ganz an, insofern<br />
ich sie immer in mir hervorbringen<br />
muss, anderseits aber gehört sie<br />
mir nicht alleine an, weil ich mit anderen<br />
Menschen gemeinsam in einer<br />
Sprache lebe und also auch andere<br />
Menschen und Dinge am Hervorbringen<br />
der Sprache beteiligt sind. So<br />
wird jeder Mensch schon früh in die<br />
Weltansicht einer bestimmten Sprache<br />
hineingezogen. Je mehr aber ein<br />
Mensch die betreffende Sprache beherrscht,<br />
desto freier wird er in ihrem<br />
Gebrauch, der sich dadurch verändert<br />
und erneuert.<br />
Das Hervorbringen und das Leben<br />
einer Sprache ist nie nur Sache einzelner.<br />
Ständig wird sie immer wieder<br />
neu am Leben erhalten und dabei<br />
erweitert und verändert.<br />
Für Humboldt ist eine Sprache nicht<br />
„Werk“, sondern Tätigkeit, er blickt<br />
also zurück auf den Akt der Hervorbringung<br />
und das Entstehen von<br />
Sprache. „Sprache als Weltansicht“<br />
meint demnach kein Gefängnis, aus<br />
dem der Mensch nicht ausbrechen<br />
kann, sondern einen erkenntnistheoretischen<br />
Vorgang, durch den sich<br />
im Rahmen des Sprachgebrauchs<br />
Welt in eigener Weise erschließt.<br />
Dabei ist die Welterschließung wie<br />
die Sprache als nie still stehende<br />
Tätigkeit gedacht. Dieser Prozess<br />
fi ndet immer in einer bestimmten<br />
Sprachform und Sprache statt und<br />
eröffnet so eine Vielfalt von Wirklichkeitserschließungen.<br />
So ist jedem<br />
Sprachgebrauch eine dynamische<br />
Form von Wirklichkeitserschließung<br />
eigen. Ein Verstehen zwischen verschiedenen<br />
Sprachen ist zwar nicht<br />
unmöglich, aber eben nur im Rahmen<br />
der eigenen Grenzen.<br />
Mit Humboldt im Rücken lässt sich<br />
das Verstehen besser verstehen. Es<br />
wird deutlich, dass sich im Gespräch<br />
der Gebrauch von Wörtern nicht wie<br />
ein bloßer Mechanismus verhält, der<br />
verlässlich beim anderen Menschen<br />
in jeder Hinsicht die gleiche Wirkung<br />
hervorruft. Der Bedeutungsrahmen<br />
der einzelnen Wörter unterscheidet<br />
sich ja von Mensch zu Mensch.<br />
Und bei näherer Betrachtung löst<br />
sich zunächst für unstrittig Angesehenes<br />
schnell in verschiedene Verstehensmöglichkeiten<br />
auf. Jedes<br />
Verstehen ist also auch ein „Nicht-<br />
Verstehen“. Hier wird einerseits die<br />
eigene Endlichkeit, anderseits aber<br />
ein unerhörter Reichtum an Möglichkeiten<br />
von Welterschließung<br />
deutlich. Hinzu kommt eine weitere<br />
Erkenntnis: immer, wenn man<br />
über Sprache spricht, so tut man<br />
dies wiederum in einer bestimmten<br />
Sprache. Auch eine formale Sprache<br />
kann einen absoluten, unbedingten<br />
Blick auf alle anderen Sprachen<br />
nicht eröffnen. Diesbezüglich erinnert<br />
Humboldt stark an Kant, der<br />
allerdings die Endlichkeit des Erkennens<br />
im Rahmen einer reinen, also<br />
sprachunabhängigen, Erkenntniskritik<br />
entwickelt hat.<br />
Ein weiterer zentraler Gedanke<br />
Humboldts zeigt auf, dass durch die<br />
Anlage und Möglichkeit von Sprache<br />
im Menschen eine Analogie<br />
zwischen allen Sprachen besteht.<br />
Demzufolge gibt es eine Ebene, auf<br />
der Sprache in aller Allgemeinheit<br />
(allerdings doch auch nur wieder in<br />
einer bestimmten Sprache) betrachtet<br />
werden kann. Sobald jemand<br />
eine fremde Sprache erlernt, tritt<br />
diese Ebene der Allgemeinheit von<br />
Sprache derart in den Vordergrund,<br />
dass Verstehen möglich wird. Dies<br />
legt den Gedanken einer Universalsprache<br />
nahe, deren Strukturen zu<br />
fi nden aber bei Humboldt (anders<br />
bei Bacon, Leibniz und Chomsky)<br />
nicht forciert wird – zu stark ist er<br />
beeindruckt von dem weitaus größeren<br />
Teil der Sprachinhalte, die<br />
jeweils von der einzelnen Sprache<br />
abzuhängen scheinen.<br />
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<strong>Juni</strong> <strong>2016</strong> <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> 45