soziologie heute Juni 2016
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Public Observer<br />
Dritte Republik – woher nehmen,<br />
wenn nicht stehlen?<br />
von Bernhard Martin<br />
Die österreichische Demokratie wird<br />
läppisch und einer demokratischen Republik<br />
unwürdig repräsentiert. Der beschämende<br />
Abgang des vormaligen Bundeskanzlers<br />
– wie hieß der bloß noch…?<br />
– unterstreicht diese für politische Beobachter<br />
evidente soziale Tatsache. Das<br />
mit Verweis auf die Schweiz geforderte<br />
Allheilmittel „mehr direkte Demokratie“<br />
(verstärkt durch einen autoritativ amtierenden<br />
Bundespräsidenten) käme um<br />
das Personalproblem in der nach jahrzehntelangem<br />
SPÖVP-Proporz intellektuell<br />
verwässerten Politikfunktionärskaste<br />
nicht herum. Die österreichische politische<br />
Kultur beschränkt sich seit dem<br />
EU-Beitritt 1995 vermehrt darauf, für<br />
unpopuläre Maßnahmen und Reformen<br />
Brüssel verantwortlich zu machen. – Und<br />
der mittels Regierungsinseraten aus<br />
Steuergeld angefütterte Medienboulevard<br />
verstärkt diese faule Ausrede nur.<br />
Ein Heilmittel bestünde in einer Volksabstimmung<br />
über eine Verfassungsreform,<br />
welche zum Ziel hat, den provinziellen<br />
Föderalismus abzuschaffen. Und<br />
den Kammerstaat, der Wirtschaft und<br />
Gesellschaft in Zwangsmitgliedschaften<br />
erstickt, gleich mit. Ein solcher Akt<br />
der Selbstbefreiung durch das (Wahl-)<br />
Volk bleibt angesichts der herrschenden<br />
Machtverhältnisse jedoch – bis auf Weiteres<br />
– unrealistisch.<br />
Der Begriff „Dritte Republik“ ist hierzulande<br />
verpönt, weil eine solche von Jörg<br />
Haider, dem „Gottseibeiuns“ der österreichischen<br />
Innenpolitik, gefordert wurde.<br />
Da Haider schon vor acht Jahren das Zeitliche<br />
gesegnet hat, sollte dieser zur Zeit<br />
in den diversen Leitartikeln herbei zitierte<br />
Topos also wieder gesellschaftsfähig sein<br />
– und politisch aufgegriffen werden. Doch<br />
die heimischen Polit-Funktionäre inklusive<br />
parlamentarischer Opposition wollen<br />
von einem solchen Reformprozess nichts<br />
wissen. Denn eine an Haupt und Gliedern<br />
auf einen europäischen Kleinstaat und<br />
ein EU-Mitglied angemessen um Tausende<br />
Polit- und Zigtausende Beamten-Jobs<br />
zusammengestutzte repräsentative Demokratie<br />
würde das Ende für den herrschenden<br />
Parteienstaat und seine Günstlingswirtschaft<br />
bedeuten. Genau das<br />
aber ist notwendig und unvermeidlich,<br />
soll der bereits höchst verschuldete Staat<br />
sowie das von zu viel Bürokratie gegängelte<br />
öffentliche und private Leben nicht<br />
wie in Griechenland von einer saturierten<br />
politischen Elite gegen die Wand gefahren<br />
werden.<br />
Das Ergebnis der jüngsten Bundespräsidentenwahl<br />
in Österreich hat eines deutlich<br />
gemacht: Die beiden seit Jahr und Tag<br />
ihre politischen Pfründen konservierenden<br />
Parteien SPÖ und ÖVP erreichten mit<br />
ihren jeweiligen Kandidaten nicht einmal<br />
die Stichwahl. Diese deutliche Absage an<br />
das seit 1955 das Land in zwei „Reichshälften“<br />
teilende und beherrschende<br />
System von Rot und Schwarz wird wohl in<br />
längstens zwei Jahren endgültig zu Grabe<br />
getragen werden müssen, wenn nach<br />
den kommenden Nationalratswahlen die<br />
FPÖ eine relative Mehrheit erzielt hat.<br />
Landesregierungen abschaffen<br />
Es sind seit Bestehen der Zweiten Republik<br />
und spätestens mit Österreichs Beitritt<br />
zur Europäischen Union die sogenannten<br />
„Landesfürsten“ welche mittels ihrer<br />
provinziellen Machtapparate jegliche Reform,<br />
die in beträchtlichem Maße in der<br />
öffentlichen Verwaltung möglichen Einsparungen<br />
verhindern. Der Landeshauptmann,<br />
ein Relikt aus längst obsoleten<br />
Zeiten, stellt im politischen System der<br />
Republik Österreich ein Figur (neunfach)<br />
dar, an deren verfassungswidriger Institution<br />
– der sogenannten Landeshauptleutekonferenz<br />
– sich noch jede Bundesregierung<br />
die Zähne ausgebissen hat.<br />
Desgleichen gilt für die in parteipolitischem<br />
Proporz besetzten gesetzlichen<br />
Kammern, welche von den Machtverhältnissen<br />
in ihren Parteien bestimmten Regierungsspitzen<br />
in den Verfassungsrang<br />
gehoben wurden, um im legislativen<br />
Wege praktisch nicht abgeschafft werden<br />
zu können. Die Zange aus Ländern und<br />
Kammern, die noch jede Reform wegen<br />
regional- und standespolitischen Interessen<br />
verwässerte – Pars pro toto für den<br />
allgemeinen Reformstau steht das Thema<br />
Bildungspolitik – verantwortet einen<br />
schöngefärbten Notstand, der dem fi nanziellen<br />
Kollaps immer näher driftet.<br />
Verfassung aus Expertenhand<br />
Für die noch zwei Jahre amtierende, an<br />
ihrer Spitze neu besetzte rot-schwarze<br />
Koalition – unter einem Bundespräsidenten,<br />
der nicht aus den eigenen Reihen<br />
stammt – gilt einhellig eine „letzte Chance“.<br />
Es muss allerdings davon ausgegangen<br />
werden, dass das handelnde Personal<br />
die dringend gebotene Reform des<br />
Systems in der verbleibenden Legislaturperiode<br />
nicht schaffen kann. Daher lässt<br />
sich einigermaßen gesichert prognostizieren,<br />
dass nach der wirtschaftlichen<br />
und gesellschaftlichen Stagnation seit<br />
der letzten Finanzkrise 2008 für die Republik<br />
Österreich nun eine längere Phase<br />
der politischen Instabilität anbricht.<br />
Es wäre nur verantwortungsvoll, wenn in<br />
der kurzen verbleibenden Zeit ein paar<br />
wenige vernünftig und unabhängig denkende<br />
Köpfe zusammen treten und für<br />
Österreich eine neue Verfassung entwerfen.<br />
Der brillante ehemalige Präsident<br />
des Rechnungshofs und des Österreich-<br />
Konvents, Franz Fiedler, wäre für eine solche<br />
Aufgabe prädestiniert. Am Vorabend<br />
der für Österreich absehbar drohenden<br />
Staatskrise müsste ein Modus operandi<br />
defi niert werden, der das politische System<br />
im Wege der legislativen Neufassung<br />
der österreichischen Bundesverfassung<br />
reformiert.<br />
„Am Ende des Tages“ – so die vielzitierte<br />
Lieblingsphrase des neuen Bundeskanzlers<br />
– könnten etwa die Gebietskörperschaft<br />
Landesregierung und die<br />
Verwaltungsbehörde Bezirkshauptmannschaft<br />
ersatzlos gestrichen und deren<br />
Kompetenzen auf Gemeinden und Bund<br />
aufgeteilt werden. Alle Kammer-Zwangsmitgliedschaften<br />
wären durch freiwillige<br />
Interessensverbände zu ersetzen. Derlei<br />
Effi zienzgewinne sollten sich dem Volk<br />
doch vor der erforderlichen Abstimmung<br />
schmackhaft machen lassen? Vor einem<br />
solchen Akt der politischen Emanzipation<br />
wird der Souverän jedoch seit Jahr und<br />
Tag von seinen Repräsentanten alleruntertänigst<br />
geschützt.<br />
Dr. Bernhard M a r t i n ist freischaffender<br />
Mediensoziologe in Wien<br />
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