06.02.2018 Aufrufe

soziologie heute Juni 2016

Das erste und einzige illustrierte soziologische Fachmagazin im deutschen Sprachraum. Wollen Sie mehr über Soziologie erfahren? www.soziologie-heute.at

Das erste und einzige illustrierte soziologische Fachmagazin im deutschen Sprachraum.
Wollen Sie mehr über Soziologie erfahren? www.soziologie-heute.at

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Sozialphilosophische Praxis<br />

Die Vorläufer der Aufklärung<br />

von Peter Stiegnitz<br />

Als Grund- und „Moralprinzip der Stoiker“<br />

bezeichnet Ivo Frenzel („Mensch<br />

und Philosophie“, Heyne, München<br />

1974) den Satz des Stoiker-Gründers<br />

Xenon von Kition (336-264 v.Chr.):<br />

„Ein naturgemäßes Leben ist (…) ein<br />

vernunftgemäßes Leben.“ Dadurch<br />

wird die Vernunft für Xenon zum<br />

obersten Motiv aller unserer Handlungen<br />

erhoben. Neben der Vernunft<br />

schrieb Xenon auch noch die Wahrheit<br />

und die Gelassenheit auf seine<br />

sozialphilosophische Fahne. Deshalb<br />

sprechen wir <strong>heute</strong> noch von der stoischen<br />

Ruhe mancher Menschen.<br />

Die Stoiker, diese Vorläufer der Aufklärer,<br />

haben den Weg aus dem ideellen<br />

„Dschungel“ der Metaphysik befreit.<br />

Allerdings haben es die Stoiker auch<br />

übertrieben: Für sie war der Mensch<br />

eine lebendige „Vernunftmaschine“,<br />

die ihre Handlungen nur nach den Motiven<br />

der Vernunft, der Wahrheit und<br />

der Gelassenheit lenkt. Von Trieben<br />

und Gefühlen hielten sie herzlich wenig.<br />

Wahrscheinlich hat der nach außen<br />

stets ruhig (stoisch) wirkende Sigmund<br />

Freud die Stoiker studiert und<br />

als Gegenpol zu ihnen seine „Trieblehre“<br />

entwickelt. Meister Xenon verbot<br />

seinen Anhängern den Besitz privaten<br />

Eigentums, weil man es nicht auf den<br />

Weg zu Weisheit und Tugend mitnehmen<br />

kann. Neben Freud hat vielleicht<br />

auch Karl Marx („Eigentum ist Diebstahl“)<br />

die Stoiker gelesen.<br />

Auf dem Weg aus dem „ideellen<br />

Dschungel“ begaben sich auch die<br />

Epikureer und die Skeptiker. Epikur<br />

aus Samos (341-270) löste endgültig<br />

die Ketten der Metaphysik und lobte<br />

die individuellen Freuden des maßvollen<br />

Genusses. Er und seine Anhänger<br />

forderten die Menschen auf, ihr persönliches<br />

Glück nicht in den „idealen<br />

Staatsformen“ (Platon) zu suchen,<br />

sondern in der Lebensfreude. Epikur<br />

war, wie die meisten Philosophen, ein<br />

Kind seiner Zeit. Im zweiten Jahrhundert<br />

v.Chr., nicht zuletzt durch den<br />

römischen Einfl uss, waren die hellenistischen<br />

Stadtstaaten nur mehr organisatorische<br />

Einheiten; ein erfülltes<br />

Wunschbild, vor allem der hellenistischen<br />

Jugend, waren sie nicht mehr.<br />

Dieser Verlust des kollektiven Selbstbewusstseins<br />

– <strong>heute</strong> würden wir von<br />

„Nationalismus“ sprechen – zwang<br />

die meisten Hellenen, ihr Selbst zu<br />

suchen.<br />

Der Philosoph Pyrrohn (369-270<br />

v.Chr.) zweifelte nicht nur an der alleinselig-machenden<br />

„Vernunft“, sondern<br />

auch an den „Glückshormonen“ der<br />

Epikureer. Pyrrohn lehnt zwar beide<br />

sozialphilosophischen Praktiken nicht<br />

ab, empfi ehlt jedoch einen gewissen<br />

Skeptizismus. Trotzdem entfernt sich<br />

seine Lehre nicht von einer individuell<br />

gesteuerten Ethik. Pyrrohn verbindet<br />

die Gelassenheit der stoischen Ethik<br />

mit der Genussfreudigkeit der Epikureer,<br />

meidet jedoch konsequent Ehrgeiz<br />

und Radikalität und versieht sie<br />

mit der Tarnfarbe der „Lethargie“. Die<br />

Sozialphilosophie der Skeptiker pfl egt<br />

„ein Denken ohne radikalen Fragen,<br />

ohne ernsthafte Antworten und ohne<br />

ehrgeizige Ziele“. (Frenzel). Also „österreichischer“<br />

geht es nicht mehr.<br />

Diese und ähnliche (sozial-)philosophischen<br />

Schulen konnten das ewige<br />

Bedürfnis der Menschen nach dem<br />

„Absoluten“ nicht mehr befriedigen.<br />

Genau diese Lücke wollte als neue<br />

Form der Bedürfnisbefriedigung die<br />

Religion füllen. So drang das junge<br />

Christentum in die römisch-hellenistischen<br />

Welt ein. Dem aus Alexandria<br />

stammenden Philosophen Plotin<br />

(204-269) gelang die harmonische<br />

Verbindung zwischen Religion und<br />

Philosophie, in dem er Platons „Idee<br />

des Absoluten“, die er für eine „Beschäftigung<br />

mit Gott“ erklärte, mit<br />

dem Christentum zu verbinden. Die<br />

Deduktion Plotins – von Gott abwärts<br />

zur Materie – nennen wir auch in der<br />

sozialphilosophischen Praxis „Emanation“<br />

(das Hervorgehen aller Dinge<br />

aus dem göttlichen Einen). Allerdings<br />

hat Plotin – und auch das darf keineswegs<br />

verheimlicht werden – mit<br />

seiner „ekstatischen“ Lehre (seine<br />

mystische Gottessuche als „seelische<br />

Verzückung“) die Sozialphilosophie<br />

verlassen.<br />

Jetzt sollten wir allerdings nicht den<br />

Fehler machen, die antike Philosophie<br />

mit Athen gleich zu setzen. Es gab<br />

auch noch Rom, besser gesagt das<br />

Imperium Romanum, das wirkliche<br />

„Tausendjährige Reich“. Andererseits<br />

wissen wir, dass in der Kunst und in<br />

der Philosophie, in den Schatten der<br />

großen Genies kaum andere, zumindest<br />

nicht für die Ewigkeit überleben<br />

konnten. So rangierten die römischen<br />

Philosophen weiter hinter den griechischen.<br />

Vor allem wir Sozialphilosophen sollten<br />

zumindest auf den größten und<br />

bedeutendsten Denker des antiken<br />

Rom nicht vergessen: auf Cicero<br />

(106-43 v.Chr.), der eine doppelte<br />

Bedeutung hatte: Einerseits übersetzte<br />

er Sokrates und Platon vom Griechischen<br />

ins Lateinische und rettete<br />

diese beiden für die Philosophie des<br />

Abendlandes. Andererseits waren<br />

vor allem Cicero, aber auch Lukrez<br />

(95-55- v.Chr.) solche Denker, die wir<br />

<strong>heute</strong> „reine Sozialphilosophen“ nennen,<br />

da sie der Lebensweise der römischen<br />

Bürger, insbesondere der großstädtischen<br />

Aristokratie, einen festen<br />

Rückhalt gaben.<br />

In seinem De re publica machte Cicero<br />

die wesentlichen sozialphilosophischen<br />

Elemente – wie beispielsweise<br />

die „Nützlichkeit“ der Griechen - für<br />

die Römer bekannt. Ciceros großer sozialphilosophischer<br />

Verdienst war die<br />

stets wiederholte Bedeutung der Ethik<br />

als Konfl iktlösung auf dem Weg zur<br />

Sittlichkeit (honestum) und Nützlichkeit<br />

(utile). Für Cicero war das, was wir<br />

heue Sozialphilosophie nennen, der<br />

Religionsersatz der Eliten, die keinen<br />

seelischen Platz zwischen den vielen<br />

Göttern Roms mehr fanden.<br />

Prof. Dr. Peter Stiegnitz ist Soziologe und<br />

Philosoph in Wien<br />

46 <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> <strong>Juni</strong> <strong>2016</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!