soziologie heute Juni 2016
Das erste und einzige illustrierte soziologische Fachmagazin im deutschen Sprachraum. Wollen Sie mehr über Soziologie erfahren? www.soziologie-heute.at
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Es ist ein Kampf. Doch einer, der<br />
sich lohnen könnte. Etwa 3000<br />
Menschen im Jahr bekomme man<br />
so in Arbeit, sagt Michael Steffen.<br />
Es könnten noch mehr sein: Dorit<br />
Adler, Arbeitsagenturchefi n in<br />
Schwedt, wartet mit der größten<br />
Überraschung auf. Sie spricht von<br />
Fachkräftemangel, ganz im Ernst.<br />
„Der komplette Pfl egebereich, auch<br />
Elektroinstallateure und Friseure,<br />
da schlagen sich die Arbeitgeber<br />
drum“, weiß sie. Denn es sind vor<br />
allem die abgewandertem Jungen,<br />
die der Region nun fehlen. Den<br />
Kampf um die Älteren, den hat man<br />
hingegen faktisch aufgegeben. Dies<br />
sagt niemand direkt, doch es klingt<br />
immer wieder durch. Etwa dann,<br />
wenn Landrat Schulze von „echten<br />
Schicksalen“ spricht, als er auf das<br />
Zehntel der Bevölkerung zu sprechen<br />
kommt, den Abgehängten, die<br />
bis <strong>heute</strong> nie im kapitalistischen<br />
System angekommen sind. Immerhin<br />
können diese sich als Opfer der<br />
gesellschaftlichen Umstände sehen.<br />
„Die Statistik schützt den<br />
Einzelnen nicht“, sagt der<br />
Schuldnerberater<br />
In Eichstätt ist das anders: „Der<br />
Stellenverlust ist bei uns nach wie<br />
vor ein Stigma“, meint Klaus Henning<br />
Eggert, Berater im Arbeitsamt.<br />
Wer sich auf den Weg zu ihm machen<br />
muss, will ungern dabei gesehen<br />
werden. Hier, in Oberbayern, ist<br />
man kein Opfer der Umstände, hier<br />
scheitert man individuell. Das weiß<br />
auch Hans Wiesner. Er ist Schuldnerberater<br />
bei der Caritas und hat<br />
überraschend gut zu tun. Eine Erklärung<br />
sind die im Zuge des wirtschaftlichen<br />
Aufstiegs enorm gestiegenen<br />
Lebenshaltungskosten in der<br />
Region.<br />
Foto: Graf<br />
Wiesner holt die Zeitung vom Wochenende<br />
und sucht nach den Immobilienanzeigen.<br />
„Sehen Sie“,<br />
ruft er aus. „330 000 Euro für eine<br />
100-Quadratmeter-Neubauwohnung<br />
im Zentrum von Eichstätt.“<br />
Das seien beinahe Großstadtverhältnisse.<br />
Für viele Normalverdiener,<br />
da ist er sich sicher, sei das gar<br />
nicht mehr zu stemmen. Geschieht<br />
dann noch Unvorhergesehenes,<br />
Scheidung, Krankheit oder Unfall,<br />
wird es nicht selten eng. „Die Statistik“,<br />
sagt Wiesner, „schützt den Einzelnen<br />
nicht.“<br />
Am frühen Abend ist die Dorfstraße<br />
wie ausgestorben<br />
Das ältere Ehepaar aus dem brandenburgischen<br />
Dorf, auf halbem Weg<br />
zwischen Angermünde und Schwedt,<br />
weiß, wie sich Finanznot anfühlt. Er<br />
ist teilerwerbsunfähig, sie hat einen<br />
100-Euro-Job, die fünf Kinder sind aus<br />
dem Haus. Ansonsten leben beide seit<br />
Jahren von Hartz IV und ihrer kleinen<br />
Landwirtschaft. Ein paar Schweine,<br />
Hühner und Enten, „für den Eigenbedarf“,<br />
wie sie sagen. Es ist ein nicht<br />
untypisches Modell in der Gegend.<br />
Als sie 1984 hier angekommen seien,<br />
hätte jeder Arbeit gehabt, erinnert sie<br />
sich. „Die meisten in der Landwirtschaft.“<br />
Nach der Wende sei ein holländischer<br />
Investor gekommen, habe<br />
den größten Hof der LPG gekauft,<br />
Fördermittel kassiert und nichts investiert,<br />
behauptet ihr Mann. Jetzt<br />
würden die meisten Flächen von einer<br />
einzigen Agrar-GmbH betrieben. Wer<br />
dort Arbeit gefunden hat? Die beiden<br />
schütteln nur den Kopf. Sie wissen es<br />
nicht – und es ist ihnen auch egal. „Wir<br />
fühlen uns hängengelassen“, sagt sie,<br />
guckt die Straße entlang. Es ist kurz<br />
vor sieben am Abend und niemand zu<br />
sehen. Viele Häuser im Dorf stehen<br />
schon lange leer; einen Steinwurf entfernt<br />
verfällt ein Bauernhof. Eine Kneipe,<br />
einen Laden, sucht man hier vergeblich.<br />
Kein Zweifel, für das Ehepaar<br />
hat ihre Heimat, die Uckermark, ihre<br />
Zukunft längst hinter sich.<br />
<strong>Juni</strong> <strong>2016</strong> <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> 9