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soziologie heute Juni 2011

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<strong>Juni</strong> <strong>2011</strong> <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> 13<br />

These 1: Angst gibt es immer (unabhängig<br />

von Kultur und Wissen), aber<br />

die Angstauslöser ändern sich.<br />

Mehrebenenanalyse der Angst<br />

Fritz Riemann (1902-1979) drückt dies<br />

in seinem Buch „Grundformen der<br />

Angst“ aus wie folgt: „Angst gehört unvermeidlich<br />

zu unserem Leben.“<br />

Ulrich Beck (geb. 1944) weist bereits<br />

1986 in seiner „Risikogesellschaft“ und<br />

erneut 2007 in seiner Weltrisikogesellschaft<br />

auf die spezifischen Risken der<br />

spätindustriellen Gesellschaft hin, denen<br />

wir (relativ) schutzlos ausgeliefert<br />

scheinen.<br />

These 2: Alles kann Angst machen.<br />

Sigmund Freud (1856-1939) hat in seinem<br />

Alterswerk „Das Unbehagen in der<br />

Kultur“ die Frage gestellt: „Warum ist<br />

es für die Menschen so schwer glücklich<br />

zu werden?“ und in seiner Antwort<br />

drei Hauptgründe für das Unglücklich-<br />

Sein der Menschen benannt:<br />

1) Die Übermacht der Natur (Angst vor<br />

Naturgewalten)<br />

2) Die Hinfälligkeit unseres Körpers<br />

(Angst vor Krankheit und Tod)<br />

3) Die Unzulänglichkeit der Einrichtungen,<br />

die das Zusammenleben der Menschen<br />

in Familie, Gesellschaft und Staat<br />

regeln. (Angst vor uns selber und unseren<br />

[technischen und institutionellen]<br />

Möglichkeiten)<br />

Wir streben zwar alle nach Vollkommenheit<br />

und Vollständigkeit, aber wir<br />

müssen es lernen, damit zu leben, dass<br />

wir beides auf keiner Ebene und in keinem<br />

Bereich voll erreichen können,<br />

d.h. wir müssen mit Unvollkommenheit<br />

und Bruchstückhaftigkeit leben lernen.<br />

These 3: Um die Gesamtwirkung möglicher<br />

Ängste (einigermaßen) erfassen<br />

zu können, ist eine Mehrebenenanalyse<br />

der Ängste notwendig, wobei<br />

die Grundformen der Angst und ihre<br />

Bewältigungen eine besondere Rolle<br />

spielen.<br />

Bisher wurden und werden die Grundformen<br />

der Angst vor allem auf der individuellen<br />

Ebenen betrachtet. Heute<br />

müssen wir uns auch mit den anderen<br />

Ebenen, vor allem der Gesellschaftsund<br />

Staatsebene, vermehrt beschäftigen<br />

und uns mit den Möglichkeiten,<br />

auf Lebenssituationen mit Ängsten zu<br />

antworten, systematisch auseinandersetzen.<br />

Diese Grundformen der Angst müssen<br />

auf allen Ebenen der Angst und<br />

unter Beachtung der Rahmenbedingungen<br />

systematisch erforscht<br />

und entsprechend gestaltet werden,<br />

wobei durch die Globalisierung der<br />

Weltebene wachsende Bedeutung<br />

zukommt.<br />

Im Folgenden wollen wir uns auf die<br />

individuelle Ebene und die Gesellschafts-Ebene<br />

beschränken.<br />

These 4: Riemann unterscheidet vier<br />

Grundformen der Angst auf individueller<br />

Ebene<br />

1. Die Angst vor der Selbsthingabe,<br />

vor dem Identitätsverlust,<br />

2. die Angst vor der Selbstwerdung,<br />

vor der Isolierung,<br />

3. die Angst vor dem Wandel, vor der<br />

Unsicherheit und<br />

4. die Angst vor der Notwendigkeit,<br />

vor der Endgültigkeit.<br />

Dabei ist zu beachten, dass auf allen<br />

Ebenen der Ängste vom Individuum<br />

bis zur Weltgesellschaft die Angst<br />

vor der Selbsthingabe und vor dem<br />

Ich-Verlust mit der Angst vor der Ich-<br />

Werdung und vor der Isolierung korrespondiert<br />

und in ähnlicher Weise die<br />

Angst vor dem Wandel und vor der<br />

Unsicherheit mit der Angst vor der<br />

Notwendigkeit und vor der Endgültigkeit<br />

und Unfreiheit verknüpft ist.<br />

These 5: Ängste haben eine ambivalente<br />

Wirkung: Sie können uns<br />

lähmen, aber sie können uns auch<br />

anspornen, gegen wahrgenommene<br />

Gefahren entsprechend und auf<br />

allen Ebenen anzukämpfen.<br />

Angewandt auf die Grundformen der<br />

Angst könnte das (im Anschluss an<br />

Riemann) bedeuten:<br />

1. Der Angst vor der Selbsthingabe,<br />

vor dem Ich-Verlust und vor der Abhängigkeit<br />

können wir begegnen bzw.<br />

sie kann für uns Ansporn sein (wie<br />

Fritz Riemann gezeigt hat)<br />

- uns selbst treu zu bleiben<br />

- unsere Individualität zu bewahren<br />

- Abhängigkeiten zu vermeiden<br />

- durch Erkenntnis die Welt zu verstehen<br />

und<br />

- furchtlos unser Eigensein zu leben.<br />

2. Die Angst vor der Selbstwerdung,<br />

vor der Ungeborgenheit und vor der<br />

Isolierung kann uns dazu anspornen,<br />

vom uns einengenden Ich dadurch<br />

freizukommen, dass wir uns einüben<br />

- in mitmenschliche Verbundenheit,<br />

- in einfühlende Liebe und Selbstlosigkeit,<br />

- in grenzenüberschreitende, transzendierende<br />

Hingabe und Selbstaufgabe.<br />

3. Die Angst vor der Wandlung, vor<br />

der Vergänglichkeit und vor der Unsicherheit<br />

kann uns helfen,<br />

- uns für das, was wahr, gut und schön<br />

erscheint, als für etwas ewig Gültiges<br />

einzusetzen und es als solches anzuerkennen,<br />

- uns dafür einzusetzen, dass dieses<br />

gültige Dauer habe und es (gegen<br />

kurzfristig wechselnde Einflüsse, die<br />

es erschüttern und zerstören wollen)<br />

SOZIOLOGIEHEUTE_JUNIausgabe<strong>2011</strong>a.indd 13 26.05.<strong>2011</strong> 13:35:13

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