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soziologie heute Juni 2011

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<strong>Juni</strong> <strong>2011</strong> <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> 23<br />

Unterlegenheit zu entrinnen, und oft<br />

verschwimmt dabei der Blick auf den<br />

sozialen Gesamtzusammenhang, denn<br />

appelliert wird üblicherweise schließlich<br />

an die Fähigkeit des Einzelnen zur<br />

inneren „Transformation“ und nicht<br />

etwa an die politische Organisation<br />

der Individuen oder auch nur an eine<br />

Bereitschaft zur offenen sozialen Problematisierung.<br />

In letzter Konsequenz<br />

bedeutet das: Das Individuum wird<br />

vollständig auf sich selbst zurückgeworfen.<br />

Wenn der Erfolg ausbleibt,<br />

sieht der Einzelne folglich in erster Linie<br />

das eigene Versagen und übersieht<br />

die starren sozialen Hindernisse, die<br />

womöglich in der Tat für sein individuelles<br />

Scheitern verantwortlich waren.<br />

Als „dauerhafte Empfindung eigener<br />

Unzulänglichkeit“ charakterisiert der<br />

Wiener Soziologe Sighard Neckel die<br />

Depression, jene psychische Verfassung<br />

also, die aufgrund ihrer Besorgnis<br />

erregenden Verbreitung vielerorts<br />

längst als „Volkskrankheit“ bezeichnet<br />

wird. Wer sich in Erwartung von Aufstieg<br />

und Teilhabe an der Transformation<br />

des eigenen Innenlebens abarbeitet,<br />

ohne den erwarteten Erfolg<br />

einzustreichen, der läuft demzufolge<br />

Gefahr, in einen dauerhaften Zustand<br />

von Trübsinn und Erschöpfung zu gelangen,<br />

wenn immer wieder der gefährliche<br />

Schluss gezogen wird: Wer auf<br />

der Strecke bleibt, der hat es nicht anders<br />

gewollt, und wem der Erfolg verwehrt<br />

bleibt, dem fehlt der Wille zur<br />

Veränderung, dem fehlt das positive<br />

Denken. Laut Neckel soll den Gefühlen<br />

persönlicher Unzulänglichkeit in unserer<br />

gegenwärtigen Gesellschaft mit<br />

Foto: <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong><br />

der „Selbstinzenierung eines stoischen<br />

Optimismus“ begegnet werden.<br />

Das „soziale Bedürfnis“ zur Selbstoptimierung<br />

Was aber bringt uns dazu, eine solche<br />

Sicht auf unser Leben einzunehmen?<br />

Aus der soziologischen Perspektive<br />

muss man dahinter Bedürfnisse vermuten,<br />

die gesellschaftlich regelrecht<br />

„produziert“ werden. Natürlich gibt<br />

es Grundbedürfnisse, die höchstwahrscheinlich<br />

dem einzelnen Menschen<br />

und seiner Biologie entspringen: das<br />

Bedürfnis zu essen oder das Bedürfnis<br />

zu schlafen beispielsweise. Doch ebenso<br />

gibt es Bedürfnisse, die erst durch<br />

unser Zusammenleben entstehen und<br />

die deshalb in Hinsicht auf ihren sozialen<br />

Sinn betrachtet werden müssen:<br />

Das Bedürfnis nach ökonomischem<br />

Erfolg beispielsweise ergibt sich im<br />

Rahmen einer bestimmten zivilisierten<br />

und kapitalistischen Lebensweise und<br />

wäre in anderen Gesellschaftsformen<br />

womöglich irrelevant oder zumindest<br />

von geringerer Bedeutung. Auch sozial<br />

„produzierte“ Bedürfnisse werden<br />

jedoch in der gegenwärtigen Ratgeber-<br />

und Optimierungskultur mitunter<br />

an den Mann gebracht, als wären sie<br />

ebenso dringend, natürlich und selbstverständlich<br />

wie das unmittelbare Bedürfnis<br />

nach Nahrungsaufnahme oder<br />

Schlaf. Die Warnung davor, sich einem<br />

solchen Bedürfnis zu verschließen,<br />

folgt auf dem Fuße, wenn etwa in einem<br />

Ratgeber davon die Rede ist, dass Bedürfnisse,<br />

die über längere Zeiträume<br />

hinweg vernachlässigt werden, einen<br />

überaus negativen Einfluss auf unser<br />

persönliches Wohlbefinden und unsere<br />

Leistungsfähigkeit haben . Diese Beschreibung<br />

von Ursache und Wirkung<br />

lässt die sozialen Bedingungen und<br />

Begleitumstände außen vor und greift<br />

direkt in das emotionale Innenleben<br />

ein, das im Rahmen der Selbstoptimierung<br />

im Folgenden bearbeitet werden<br />

soll. Die Legitimation des Bedürfnisses<br />

wirkt somit ganz natürlich und selbstverständlich.<br />

Die Möglichkeit zur Problematisierung<br />

wiederum gerät ins<br />

Hintertreffen.<br />

Aspekte von Herrschaft und Zwang<br />

begreifen<br />

Nach Norbert Elias zieht sich ein soziales<br />

Streben nach oben durch nahezu<br />

alle Gesellschaftsschichten. Die Ausbreitung<br />

der Selbstmanipulation im<br />

Namen der Vitalität, der Teilhabe und<br />

der Lebensoptimierung ist also groß,<br />

Die Beschäftigung mit der Optimierung des<br />

eigenen Innenlebens führt zum Ressourcenver-<br />

brauch, der dem Einzelnen oftmals das Gefühl<br />

persönlicher Unzulänglichkeit beschert.<br />

und dementsprechend umfassend und<br />

dauerhaft greift die Beschäftigung mit<br />

dem eigenen Innenleben und dessen<br />

Optimierung um sich. So verbrauchen<br />

die Gesellschaftsmitglieder bis in die<br />

hoch qualifizierten, gebildeten Schichten<br />

hinein ihre Ressourcen – wie Zeit,<br />

Aufmerksamkeit und Energie – zunehmend<br />

in einem Prozess, der dem<br />

Individuum nicht selten seelisches<br />

Ungemach wie das beschriebene Gefühl<br />

persönlicher Unzulänglichkeit beschert.<br />

Im Alltagsverständnis mag uns die<br />

Selbst- und Lebensoptimierung als<br />

eine durchweg freiwillige, harmlose,<br />

nützliche Maßnahme erscheinen. Die<br />

soziologische Perspektive dagegen<br />

gestattet, dass wir auch die Rückseite<br />

der Medaille betrachten und die<br />

Aspekte von Herrschaft und Zwang<br />

begreifen, die mit dem Streben nach<br />

Vitalität und Teilhabe Hand in Hand gehen.<br />

In Zukunft wird es notwendig sein,<br />

diese Zusammenhänge klar zu benennen,<br />

sofern uns daran gelegen ist, die<br />

Verbreitung psychischer Gebrechen<br />

aufzuhalten und den Weg für eine tatsächliche<br />

Chancengleichheit zu ebnen.<br />

Ausgewählte Grundlagen zum Thema:<br />

Ehrenberg, Alain (2004): Das erschöpfte Selbst. Depression<br />

und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt am Main,<br />

Campus Verlag GmbH<br />

Elias, Norbert (1969): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische<br />

und psychogenetische Untersuchungen. Bern/<br />

München, Francke<br />

Foucault, Michel (1986): Sexualität und Wahrheit, Erster<br />

Band: Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main, Suhrkamp<br />

Verlag<br />

Neckel, Sighard (2005): Emotion by Design. Das Selbstmanagement<br />

der Gefühle als kulturelles Programm. In: Berliner<br />

Journal für Soziologie, Heft 3/2005<br />

Kai Ginkel<br />

Diplom-Soziologe, Jahrgang 1981, wohnhaft in<br />

Darmstadt.<br />

Diplomarbeit zum Thema „Zwang in der Moderne.<br />

Zu den Selbstzwängen des zivilisierten Menschen vor<br />

dem Hintergrund der Lebensoptimierung“<br />

Interessensschwerpunkte: Prozess der Zivilisation,<br />

Soziologie der Emotionen, Bio-Macht, die Soziologie<br />

Pierre Bourdieus<br />

SOZIOLOGIEHEUTE_JUNIausgabe<strong>2011</strong>a.indd 23 26.05.<strong>2011</strong> 13:35:28

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