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soziologie heute Juni 2011

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28 <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> <strong>Juni</strong> <strong>2011</strong><br />

„Wer schon hat, dem wird gegeben.”<br />

Der Matthäus-Effekt<br />

beim Evangelisten,<br />

im Lied und<br />

in der Soziologie<br />

von Richard Albrecht<br />

Britta<br />

„Wer wird Millionär?<br />

Wer geht putzen und wer wird Millionär?<br />

40-Euro-Frage, denn die Antwort fällt<br />

nicht schwer<br />

Wer lebt prima und wer eher prekär?<br />

Wer geht putzen und wer wird Millionär?<br />

Wer schon hat, dem wird gegeben<br />

Und für uns bleibt nur das schöne Leben<br />

Ja so läuft‘s, und so wird‘s weiter laufen<br />

Denn der Teufel scheißt auf den größten<br />

Haufen<br />

Besser wohnen, auch mal reisen, Champagner,<br />

Tanz und Kokain<br />

Das wär‘ ein schönes Leben, das kriegen<br />

nur die anderen hin<br />

Für uns heißt es weiter rechnen, krebsen,<br />

wursteln, durchschlagen<br />

Nur ganz selten kommt‘s da mal zu<br />

Champagner, Kokain<br />

Ich zähle täglich meine Sorgen<br />

Und dabei denk ich noch nicht einmal an<br />

morgen<br />

Ich hab ja keine Angst, nur manchmal<br />

frag‘ ich mich:<br />

Ist das noch Bohème oder schon die Unterschicht?<br />

Und all´ unsere Geistesgaben kommen gar<br />

nicht mehr zum Tragen<br />

Weil wir schon seit jungen Tagen so gar<br />

keinen Ehrgeiz haben<br />

Unsere Haut zu Markt zu tragen, da kommen<br />

die Geistesgaben<br />

Leider gar nicht mehr zum Tragen<br />

Die reichen Leute, die gewinnt<br />

Man nur durch platte Schmeichelei<br />

Das Geld ist platt, mein liebes Kind<br />

Das Geld ist platt und will auch platt geschmeichelt<br />

sein<br />

Und wer schon hat, dem wird gegeben<br />

Und für uns bleibt nur das schöne Leben<br />

Ja so läuft‘s und so wird‘s weiter laufen<br />

Denn der Teufel scheißt auf den größten<br />

Haufen<br />

Das Geld ist platt und will auch platt geschmeichelt<br />

sein“[1]<br />

Diesen Text von Christiane Rösinger<br />

(*1961) spielt die 1997 aus der<br />

Berlin/Hamburger Frauenszenegruppe<br />

Lassie Singers (1988-1998) hervorgegangene<br />

Berliner Rockband<br />

Britta seit 2006[1]: Das Lied kommt<br />

im herkömmlichen Hardrock daher<br />

und wird akkordisch-einfach<br />

und dröhnig-monoton gespielt. Der<br />

Schlichtbeat-Rhythmus erlaubt (und<br />

erfordert) die Konzentration auf den<br />

Text, der formal eine selbst-vergewissernd-fragende<br />

Autothematisierung<br />

darstellt: In der Tradition des<br />

poeta doctus Harry Heine[2] fragte der<br />

Jazzer und Liedermacher Knut Kiesewetter,<br />

einer der frühen Hamburger<br />

Szenesänger der 1960er und 1970er<br />

Jahre, als aus damaliger sozialdemokratisch-gewerkschaftlicher<br />

Sicht<br />

verfrühter Atomkraftgegner und Naturschützer<br />

Ende 1978 autoreflexiv<br />

auf einer öffentlichen Veranstaltung<br />

der SPD Schleswig-Holsteins Bin ich<br />

denn schon konservativ?[3]<br />

Der Britta-Liedtext spielt erkennbar<br />

an auf die Anfang des vergangenen<br />

Jahrzehnts auch in Deutschland diskutierte<br />

weitere Auflösung des sogenannten<br />

Normalarbeitsverhältnisses<br />

als sozialdominantem Erwerbs- und<br />

Lebenszusammenhang und die sich<br />

daraus ergebende Debatte um und<br />

gegen gesellschaftliche Präkarisierung<br />

(„contre la précarité“ im Sinne<br />

Pierre Bourdieus) von abhängiger<br />

Erwerbsarbeit. Über das abstrakt-allgemeine<br />

hinaus wird hier in doppelter<br />

Weise versucht, eine öffentliche<br />

Debatte produktiv aufzunehmen und<br />

weiterzuführen: Zum einen geht es<br />

um die soziale Verortung empirisch<br />

realexistierender vor allem metropolisch-randständig-unsteter<br />

(Unter-)<br />

Schichten[4], die es – so übereinstimmend<br />

eine britische Regierungschefin<br />

und ein CSU-bayrischer<br />

Bundesminister – als „Erfindung von<br />

Soziologen“ weder als solche noch<br />

in ihrer besonderen Ausprägung zwischen<br />

diesen und als „Uschis“ geben<br />

soll.<br />

Gegen diese Palmström-Logik und<br />

ihre Morgenstern-Empirie agitiert<br />

Britta-Sängerin Rösinger. Sie weiß<br />

(wie der Sozialforscher G. Günther<br />

Voß) im Gegensatz zum mainstream<br />

mit dem „creative class“-Modesoziologen<br />

Richard L. Florida[5] an der<br />

Spitze, wovon sie singt wie diese (in<br />

der Berliner Tageszeitung 2003 erschiene)<br />

längere Zitatpassage veranschaulicht:<br />

„Der Bohemist von <strong>heute</strong> hält sich mit<br />

einem komplexen Jobcocktail über<br />

Wasser. Manchmal aber wünscht er<br />

sich etwas Erholung von der ständigen<br />

Zwangskreativität […] Es gibt<br />

immer mehr Unbeschäftigte, Unterbeschäftige,<br />

Nicht-Arbeitsuchende,<br />

nicht arbeitende Zeithaber. Das sind<br />

wir. Wir gehören nicht zu den glücklichen<br />

Arbeitslosen, denn wir sind<br />

ja nicht arbeitslos im eigentlichen<br />

Sinne. Wir haben keine Erwerbsbiografie,<br />

waren fast nie irgendwo angemeldet,<br />

haben keinen Anspruch auf<br />

Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe,<br />

Umschulungen, Weiterbildungsmaßnahmen,<br />

ABM, kommen in keiner<br />

Statistik vor. Auf wundersame Weise<br />

schlagen wir uns seit vielen Jahren<br />

als Freelance-Proletarier irgendwie<br />

durchs Leben und gehören nun einer<br />

Art niedrigschwelliger, leicht<br />

SOZIOLOGIEHEUTE_JUNIausgabe<strong>2011</strong>a.indd 28 26.05.<strong>2011</strong> 13:35:41

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