E_1935_Zeitung_Nr.040
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2 AUTOMOBIL-REVUE<br />
Bei der Behandlung der Schuldfrage sind<br />
daher diese Begriffe wegleitend. Die unterschiedliche<br />
Beurteilung liegt also nicht primär<br />
beim objektiven Tatbestand und der<br />
Fahrlässigkeit generell, sondern in den beiden<br />
Fragen: War die Gefahr vorauszusehen<br />
oder musste mit dieser gerechnet werden?<br />
Und ferner: Hat der Lenker etwas getan<br />
was verboten, oder nicht getan, was vorgeschrieben<br />
war? Das Resultat der auf diese<br />
Fragen antwortenden Untersuchung wird<br />
immer für das Strafmass massgebend sein.<br />
Aus diesem Grunde lässt sich nie ein spezielles<br />
Strafmass für Verkehrsdelikte errechnen<br />
und es werden immer variierende Strafen<br />
festzustellen sein. Anderseits aber verlangt<br />
die Beantwortung der Fragen des subjektiven<br />
Verschuldens Fachleute in erster und Juristen<br />
in zweiter Linie. Dadurch würde, in<br />
Anwendung des heute geltenden MFG., das<br />
Maximum an Vereinheitlichung in der Beurteilung<br />
nahezu erreicht werden können.<br />
Dass damit gleichzeitig die beidseitig ungerechten,<br />
zu hohen oder zu niedrigen Strafen<br />
verschwinden könnten, würde durch die einheitliche<br />
Anwendung oder auch Verweigerung<br />
der bedingten Verurteilung erreicht.<br />
Aus diesen Ueberlegungen heraus würde<br />
sich eine Prüfung der nachfolgenden Anregungen<br />
bestimmt rechtfertigen.<br />
Der Grundgedanke hiebei ist folgender: Es<br />
wäre in jedem Fall von Verkehrsvergehen<br />
die bedingte Verurteilung prinzipiell abzulehnen.<br />
Als zweckdienlicher Ersatz hiefür<br />
wäre das Begnadigungsrecht einer schweizerischen<br />
Behörde (z. B. Nationalrat) aufzunehmen,<br />
und ferner wären die «Ehrenfolgen<br />
» einer Bestrafung, z. B. Verlust der<br />
Stelle usw., zu verunmöglichen.<br />
Massgebend für diesen Vorschlag sind folgende<br />
Ueberlegungen:<br />
Bei der Beurteilung eines Verkehrsdeliktes<br />
handelt es sich nicht darum, ob der Täte'<br />
die allgemeinen Vorschriften über die<br />
Gewährung der bedingten Verurteilung erfüllt.<br />
Er muss als Lenker eines Fahrzeuges<br />
wissen, dass jede Fahrlässigkeit sich rächt.<br />
Wenn er das riskiert, dann kann er die<br />
Gründe für einen Straferlass nicht vorbringen.<br />
Er hat einen Fehler gemacht und dafür<br />
wird er bestraft mit einer längeren oder kürzeren<br />
Freiheitsstrafe. Die Tatsache aber, dass<br />
sein Verschulden an und für sich nicht ehrenrührig<br />
zu sein braucht, müsste es ermöglichen,<br />
den also Bestraften, anders zu qualifizieren<br />
als den Verbrecher. Das Beispiel der<br />
Arreststrafe im Militärdienst vermag die<br />
Meinung sehr gut zu illustrieren. Man wird<br />
für einen Fehler bestraft und damit aber als<br />
Soldat nicht disqualifiziert.<br />
Die Gewissheit der unbedingten Strafe und<br />
die Angemessenheit in deren Dauer entsprechend<br />
dem Verschulden würde eine ganz<br />
bedeutende Sicherheitserhöhung auf der<br />
Strasse schaffen. Gleichzeitig aber würden die<br />
vielen Unzulänglichkeiten verschwinden, die<br />
von Kanton zu Kanton die krassesten Urteilswidersprüche,<br />
die Unzukömmlichkeiten<br />
in den Wahrsprüchen von Geschworenen hervorrufen<br />
und die dadurch der heute berechtigten<br />
Kritik immer neuen Stoff bieten, um<br />
dem Motorfahrzeugverkehr Schranken auf-1<br />
zuerlegen.<br />
Sicherheit erreicht man aber nur durch<br />
Konsequenz einerseits<br />
anderseits.<br />
und Verantwortung<br />
Fy.<br />
Weltstatistik des Motorfahrzeugverkehrs<br />
Fortsetzung von Seite 1.<br />
Betrachten wir die Weltbestände am Motorfahrzeugen<br />
während der letzten Jahre, so<br />
ist das Maximum von 35,7 Mill. Einheiten im<br />
Jahre 1930 erreicht worden, um bis 1932 auf<br />
33,3 Mill. zurückzugehen. Von diesem Zeitpunkt<br />
an setzte wieder eine Aufwärtsbewegung<br />
ein, die als ein untrügliches Anzeichen<br />
der grossen Widerstandsfähigkeit des Weltkraftverkehrs<br />
der herrschenden Wirtschaftskrise<br />
gegenüber bezeichnet werden darf.<br />
Diese Entwicklung hat naturgemäss eine<br />
ähnliche Bewegung auf dem Gebiet der<br />
Autoproduktion ausgelöst, die in den hauptsächlichsten<br />
Produktionsstaaten folgende Daten<br />
aufzuweisen hat:<br />
1932 1933 1934<br />
Ver. Staaten ron<br />
Amerika u. Kanada 1.431.494 1.958.981 2.895.629<br />
Grossbritannien 244.434 280.526 346.230<br />
Frankreich 170.955 191.929 176.344<br />
Deutsehland 50.417 105.832 145.000<br />
Italien ... 29.100 42.000 43.000<br />
Russland 26.849 49.743 72.000<br />
Europa 545.469 689.666 803.654<br />
Weltproduktion 1.976.963 2.675.687 3.699.283<br />
Schon diese Ziffern geben einen Hinweis<br />
auf die überragende Bedeutung des motorisierten<br />
Strassenverkehrs und der damit verbundenen<br />
industriellen Tätigkeit in der Autoindustrie<br />
im engern Sinne wie auch in den<br />
weitverzweigten Hilfs- und Nebenbetrieben.<br />
Wenn man bedenkt, dass rund 40% derWeltölförderung<br />
auf Benzin und Benzol verarbeitet<br />
wird und dass pro Kopf der Weltbevölkerung<br />
der Benzinverbrauch etwas mehr als<br />
40 1 ausmacht, wobei die Vereinigten Staaten<br />
von Amerika mit 525 1 an der Spitze<br />
marschieren, so kann man sich auch darüber<br />
einen Begriff von der Bedeutung dieses Verkehrszweiges<br />
machen. Rund 5 Milliarden Fr.<br />
wirft zudem die fiskalische Belastung des<br />
Benzins ab, eine Ziffer, die man den seitens<br />
der Eisenbahnen aufgebrachten Steuerbeträgen<br />
kaum gegenüberzustellen wagt. In den<br />
meisten Ländern, die Schweiz als Reiseland<br />
par excellence ausgenommen, hat man die<br />
Bedeutung einer starken Motorisierung des<br />
Strassenverkehrs für alle Zweige wirtschaftlicher<br />
Tätigkeit eingesehen. Rings um unsere<br />
Grenzen wird der Automobilismus gefördert.<br />
Wann beginnt sich bei uns eine freizügigere<br />
Einstellung des Fiskus durchzusetzen? Wy.<br />
sfischer<br />
Amerikas Autoindustrie.<br />
Die anhaltend gute Nachfrage sorgt für<br />
eine stets starke. Beschäftigung in der Automobilindustrie.<br />
In der dritten Aprilwoche ist<br />
Es ist schon lange her, dass man ein in<br />
seinem Ablauf so abwechslungsreiches Rennen,<br />
wie es der Grosse Preis von Tripolis<br />
vom letzten Sonntag war, gesehen hat. Sowohl<br />
in der Spitzengruppe, wie auch im Mittelfeld<br />
traten ständig Aenderungen in der<br />
Führung ein und bis kurz vor dem Schluss<br />
war der Ausgang des Kampfes ungewiss.<br />
Vorn waren es Varzi, Caracciola, Fagioli und<br />
Stuck, die sich um den Sieg stritten, und jeder<br />
von ihnen vermochte für kürzere oder<br />
längere Zeit die Spitze zu halten, und zwar<br />
Varzi während 25, Caracciola während 9,<br />
Fagioli während 5 Runden und endlich Stuck<br />
während zwei Runden, nach welchen sein<br />
Wagen in Flammen aufging. Auch in der<br />
Schlusskolonne wurde verbissen gekämpft.<br />
Dort waren es hauptsächlich Farina, Dreyfus<br />
und Zehender, die sich mit ihren verhältnismässig<br />
schwachen Maschinen ganz ausgezeichnet<br />
schlugen. Besonders die Leistung<br />
von Dreyfus ist hier zu würdigen, der nur über<br />
einen 3,2-Liter-Alfa Romeo verfügte und sich<br />
dennoch zeitweise bis auf den dritten Platz<br />
vorzuschieben vermochte und im Endklassement<br />
nur mit einer Sekunde Rückstand<br />
hinter Chiron zu liegen kam. Man muss sich<br />
tatsächlich fragen, wo da eigentlich der<br />
Fortschritt in der Neukonstruktion von Alfa<br />
Romeo liegt. Selbstverständlich ist der zweimotorige<br />
Typ schneller als die alte Maschine<br />
mit nur. halb soviel Hubvolumen, aber seine<br />
Reifenabnützung ist doppelt so gross, so<br />
dass er die gewonnene Zeit immer wieder<br />
durch Anhalten an der Boxe einbüsste.<br />
Die Reifen. ..<br />
Die Reifen haben noch selten in einem<br />
Rennen eine so grosse Rolle gespielt, wie in<br />
Tripolis, und es hat sich deutlich gezeigt,<br />
dass sie den modernen Wagen mit ihren<br />
Spitzengeschwindigkeiten von über 300 km/<br />
St. noch nicht durchwegs gewachsen sind.<br />
Die Automobiltechnik ist der Reifentechnik<br />
vorausgeeilt und es braucht wiederum seine<br />
Zeit, bis letztere die erstere wieder einholt,<br />
wenn es ihr überhaupt gelingt. Wenigstens<br />
scheint dies bei der heute bestehenden<br />
Grand-Prix-Formel kaum der Fall zu sein,<br />
und in dieser Hinsicht ist die kürzlich neu<br />
geschaffene Formel unbedingt zu begrüssen;<br />
denn andernfalls 'kommen wir so weit, dass<br />
in einem Rennen derjenige siegen wird, der<br />
die 1,431,494 Einheiten betragende- Jahres-"übeproduktion von 1932 überschritten worden. verfügt. Zudem existieren heute ja kaum<br />
die grösste Fertigkeit im Pneuwechseln<br />
Im laufenden Jahr wurden bereits mehr Wa~ mehr wie drei Pisten, wo die jetzigen Rennwagen<br />
voll ausgefahren werden können.<br />
gen hergestellt als in den ersten 8 Monaten<br />
1933. Sofern die günstige Konjunktur anhält, Im Training zum Grossen Preis von Tripolis<br />
wurde 'hauptsächlich der Reifenfrage<br />
hofft man für die letzten 6 Jahre einen neuen<br />
Produktionsrekord empfehlen zu können. viel Beachtung geschenkt. Man machte Versuche,<br />
wie viele Runden eine .Reifengarnitur<br />
Mangelnde Betriebssicherheit.<br />
Dem Jahresbericht der Zürcher Kantonspolizei<br />
ist zu entnehmen, dass im abgelaufenen<br />
Jahre 33,318 Automobile und 3895 Motorräder<br />
kontrolliert wurden. Dabei kam es<br />
zu 7179 Beanstandungen. Es entsprachen also<br />
fast zwanzig Prozent der Fahrzeuge nicht<br />
den an sie gestellten gesetzlichen Anfordef<br />
rungen. Reichlich viel! . ;<br />
Verlängerte Steuerbefreiung in der Tschechoslowakei.<br />
Die durch Regierungsverordnung vom Juli<br />
1934 angeordnete, jedoch zeitlich begrenzte<br />
Befreiung der Automobile von der Verkehrssteuer<br />
ist nunmehr bis Ende des laufenden<br />
Jahres verlängert worden. Man scheint mit<br />
dieser Erleichterung des Automobilverkehrs<br />
keine schlechten Erfahrungen gemacht zu<br />
haben!<br />
Sportnachrichten<br />
Tripolis-Nachlese.<br />
No 4*<br />
aushielt. Dabei kamen Mercedes-Benz auf<br />
15, Auto-Union auf 13, und Alfa Romeo sogar<br />
nur auf 11 Runden. Doch im Rennen<br />
selbst kam es anders. Caraccjola, Varzi und<br />
Nuvolari wechselten je viermal, Fagioli,<br />
Stuck und Chiron je zweimal die Reifen.<br />
Hier fällt auf, dass Fagioli, der doch im Gesamtklassement<br />
an dritter Stelle steht, für<br />
seine, Fahrt nur halb so viel Reifen wie Caraccipla<br />
und ..'Varzi benötigte. Man ersieht<br />
däjtaus, dass nur eine, minuiie Geschwindigkeitserhöhung<br />
die Reifen somit gan,z gewaltig<br />
mehr beansprucht, und man fragt sich, ob<br />
maft heute nicht schon die oberste Grenze<br />
erreicht hat. Hat es eitlen Sinn, noch schnellere<br />
Maschinen zu bauen, so lange man nicht<br />
die geeigneten Pneus dazu zu fabrizieren<br />
weiss ? Angenommen, die beiden italienischen<br />
zweimotorigen Alfa Romeo würden<br />
spielend sogar 350 km/St, erreichen, so könnten<br />
sie trotzdem kaum eine Rennen gewinnen,<br />
weil sie an den Boxen die gewonnene<br />
Zeit durch Reifenwechsel wieder verlieren<br />
würden, und die weniger schnellen Maschinen<br />
inzwischen aufzuholen vermöchten. Hier<br />
stellt also der Rennsport der Zubehörindustrie<br />
neue Aufgaben, deren Lösung wiederum<br />
dem Gebrauchsfahrzeug zunutze kommen<br />
wird.<br />
Der Pneuverbrauch wurde durch ttiancherlei<br />
Faktoren so gewaltig gesteigert Neben<br />
den unerhörten Tempi spielte natürlich<br />
die sehr hohe Lufttemperatur mit. Dann setzten<br />
Flugsand und Nägel aller Art (die Strecke<br />
ist normalerweise dem Verkehr offen) den<br />
Reifen beträchtlich zu. So musste Stack<br />
zweimal wegen einer typischen Nagelpanne,<br />
anhalten und Reifen wechseln. Da die Rennleitungen<br />
schon auf Grund der Trainingserfahrungen<br />
einen besonders hohen Pneu«<br />
verschleiss voraussahen, wurde in vorsorg*<br />
licher Weise längs der Rennstrecke, etwa.<br />
auf halbem Wege, ein besonderes Pneudepot;.<br />
eingerichtet, das verschiedenen Fahrern; die<br />
unterwegs kritische Pannen erlitten, sehr za<br />
statten kam. Allerdings fehlte es dort an<br />
Mannschaft, indem das Gros des Personals<br />
doch in den Boxen selbst beansprucht wurde.<br />
Daher Hess der Boxendienst an diesem<br />
Pneudepot teilweise erheblich zu wünschen<br />
übrig und kostete den dort anlegenden Fahrern<br />
jeweilen beträchtliche Zeitverluste. Das<br />
Rennen hätte nicht mehr länger dauern dürfen,<br />
denn trotz des gewaltigen Vorrates an<br />
Bereifung, welche die verschiedenen Mannschaften<br />
mitgebracht hatten, war dieser am<br />
Schluss des Rennens auf einige wenige<br />
Pneus zusammengeschmolzen.<br />
Bei den Boxenhalten hat sich die fabelhafte<br />
Organisation der deutschen Fabrikmannschaften<br />
neuerdings im besten Licht<br />
gezeigt. Durchwegs benötigten die deutschen<br />
Fahrer die geringste Zeit für Tankhalte, und/j<br />
die Fixigkeit, sowie der geradezu militari-'<br />
sehe Schneid, welcher bei diesen Arbeiten<br />
an den Tag gelegt wurde, verfehlte nicht<br />
seinen Eindruck auf die gewaltige Zuschauermenge<br />
der Tribünen.<br />
Die Fahrer.<br />
Caracciola, der Sieger von Tripolis, hat<br />
vielleicht erst dort zum erstenmal wieder<br />
nach dem Unfall in Monte Carlo seine alte<br />
Form erreicht. Er fuhr ein meisterhaftes^ und<br />
kluges Rennen. Lag er doch in döf "10. Runde<br />
an zehnter Stelle, eine ganze Runde hinter<br />
Varzi. Niemand hätte damals an seinen Sieg<br />
geglaubt. Doch schon in der 30. Runde befand<br />
er sich als Verfolger gleich hinter Värzi<br />
an zweiter Stelle und rückte diesem immer<br />
mehr auf die Fersen. Dabei stellte er mit<br />
3 Min. 34 1/5 Sek. (Mittel 220,167 km/St.) die<br />
schnellste Runde des Tages auf.<br />
Varzi ist das Opfer eines taktischen Fehlers<br />
geworden. Er hätte unbedingt gewinnen<br />
können. Lag er doch noch in der 35. Runde<br />
zwei Minuten vor Caracciola, genügend Zeit,<br />
um nochmals die Reifen zu wechseln. Er<br />
hätte dabei vielleicht 1 1/2 Minuten verloren,<br />
hätte aber damit den Pneudefekt, der ihm<br />
wenige Minuten vor Torschluss zum Verhängnis<br />
wurde, ziemlich sicher vermieden.<br />
Fagioli, der von der 14. bis zur 19. Runde<br />
führte, verlor nachher beim Reifenwechseln<br />
viel Zeit, die er nicht mehr aufzuholen vermochte.<br />
Stuck musste die Führung des Feldes<br />
allzurasch wieder abgeben. Eine in der<br />
Nähe des Auspuffstutzens liegende Ölleitung<br />
schmolz durch und das Oel entzündete sich.<br />
Die herbeieilende Feuerwehr konnte die Maschine<br />
vor allzu grossem Schaden retten.<br />
Wäre Stuck durch diesen Zwischenfall flieht<br />
ausgeschieden, so hätte man bestimmt einen<br />
noch interessanteren Kampf um den Sieg<br />
als ob er draufgefallen wäre, nicht wahr?<br />
Reden Sie nicht weiter, kleine Dame. Sie<br />
setzen Ihren Fuss in die Schlinge, so oft Sie<br />
den Mund aufmachen. Bleiben Sie ruhig sitzen.<br />
Wir kommen auch so um Sie herum.»<br />
«Haben Sie nicht gehört», schrie Martin.<br />
Er ist daraufgefallen!»<br />
«Ja, ich habe gehört», sagte der Inspektor<br />
Gallagher. «Da, Sie, Steve, machen Sie eine<br />
Zeichnung von der Lage des Körpers. Nein,<br />
zeichnen Sie rund um den Körper herum.»<br />
«Er ist auf das Gesicht gefallen.» Martin<br />
konnte sich zu sich selbst schreien hören,<br />
aber er versuchte ruhig dazustehen und hielt<br />
Orchids Hand in seiner.<br />
«Martin, bin ich verrückt? Was Ist geschehen?<br />
Martin, ich habe es nicht getan.<br />
Ich habe es nicht...»<br />
«Ich weiss, dass du es nicht getan hast»,<br />
sagte Martin fortwährend und streichelte sie.<br />
«Ich weiss, dass du es nicht getan hast.»<br />
Und dann zu sich selbst durch den gellenden<br />
Lärm in seinem Kopf: Ich weiss, dass sie es<br />
nicht getan hat und wenn auch, was liegt<br />
mir daran, wenn sie es getan hat. Und —<br />
wenn auch — was liegt mir daran — wenn<br />
— sie es — getan hat. Nichts. Macht nichts.<br />
Sie gehört zu mir durch dick und dünn.<br />
Durch dick und dünn gehört sie zu mir.<br />
Aber der wahnsinnige Gedanke, der wie<br />
eine gefangene Ratte in seinem Gehirn tobte^<br />
war unerträglich.<br />
Er wollte wohin, irgendwohin, überallhin,<br />
um die Morgenausgaben der Sonntagsnummer<br />
des «Enquirer» einzusammeln. Sie zu<br />
vernichten! Die Morgenausgaben des «Enquirer»,<br />
die bereits in Hunderttausenden<br />
herausgegeben waren und deren jede Nummer<br />
in flammender . Schrift die Kopfzellen<br />
trug:<br />
GESCHLECHTLOSE JUSTIZ !<br />
GEBT MÖRDERINNEN GELEGENHEIT,<br />
FÜR IHR VERBRECHEN-EINZUSTEHEN!<br />
DRITTES BUCH<br />
Nach allem Schrecken, den man durchgemacht<br />
hat, erreicht man einen gewissen Zustand,<br />
jenseits dessen die Fähigkeit zu fühlen<br />
auszusetzen scheint. Man wird stumpf.<br />
Orchid war dankbar für diese Stumpfheit.<br />
In der unglaublichen Eingeschlossenheit einer<br />
Zelle schien es ihr, als könnte sie keinerlei<br />
Schmerz wahrnehmen, auch nicht, wenn man<br />
Nadeln in ihre Handgelenke stieSse.<br />
In der unglaublichen Abgeschlossenheit<br />
einer Zelle. Oh, man las bloss von Leuten in<br />
Zellen. Man dachte dabei irgendwie an die<br />
ersten Zeilen in <strong>Zeitung</strong>en und an politische<br />
Geschichte. In einem Schaufenster eines<br />
Kunsthändlers in ,#er : Fifth Avenue hing gewöhnlich<br />
ein Bild Oscar Wildes, in seiner<br />
Zelle mit aufgestütztem Kopfe sitzend. Aber<br />
das war. scliUessiich fern und wesenlos. Sogar<br />
unter dem Gesindel in der Prince Street<br />
waren nur die Väter der Spielkameradinnen<br />
in Schwierigkeiten geraten und ins Gefängnis<br />
geworfen worden. Aber niemals, dass<br />
man die Zellen sich hätte vorstellen können.<br />
Es wurde bloss unter den Haustoren über<br />
diese Väter im Gefängnis geredet und geschwätzt.<br />
Und niemals, soweit sich Orchid<br />
erinnern konnte, war eine Mutter je im Gefängnis<br />
gewesen.<br />
Dass sie nun selbst in einem war, mit seinem<br />
steinernen Fussboden, seinem Feldbett,<br />
Waschbecken und Eimer, lag absolut ausserhalb<br />
des Vorstellungsvermögens'. Die<br />
meiste Zeit über war man empfindungsunfähig<br />
vor Schrecken. Orchid sass manchmal<br />
da und fragte sich stumpf, ob Nadelstiche sie<br />
wohl schmerzen würden oder ob gar Blut<br />
fliessen könnte. Und die Tage stelzten vorbei.<br />
Einer nach dem anderen, nach dem anderen.<br />
So viele stelzende Zinnsoldaten»<br />
Manchmal kamen Leute. Zum Klirren der<br />
Schlüssel. Immer zum Klirren der Schlüssel.<br />
Wärter Hessen sie in die Zelle mit einem<br />
Klirren von Schlüsseln. Dieses Klirren von<br />
Schlüsseln war immer ein Stich in ihr Gehirn.<br />
Ein wahnsinnig machender Stich von<br />
klirrenden Schlüsseln. Der Zinnsoldat Martin,<br />
dessen Gesicht die Farbe des steinernen<br />
Fussbodens hatte, versuchte sie zum Reden<br />
zu bringen.<br />
'<br />
Und es gab doch niemals etwas zu. sagen.<br />
Manchmal stieg etwas Fremdes, Kaltes und<br />
Aergerliches in Orchid auf bei der Eifrigkeit<br />
und Nähe seines Gesichtes, das durch die<br />
unglaublichen Eisenstangen zwischen ihnen<br />
durchsah. Gegen Martin. Diese Streifen sein<br />
Gesicht hinunter, oh, diese Streifen waren<br />
Stangen zwischen ihnen.<br />
Es war ein Teil des Systems. Er lebte-in<br />
der Welt da draussen. Teil des Systems.<br />
Das grosse Rätsel. Das ungeheure granitfarbene<br />
System, das sie hier gefangen hielt,<br />
hinter Stangen, während die Tage wie Soldaten<br />
vorbeimarschieren. Die unveränderlichen<br />
Zinnsoldaten. Zum Klirren der Schlüssel.<br />
Klick, klack, zum Klirren der Schlüssel.<br />
Und noch jemanden gab es, der versuchte,<br />
sie reden zu machen, in derselben verzweifelten<br />
eifrigen Art wie Martin, und der war<br />
auch ein Zinnsoldat. Der Zinnsoldat Verteidiger.<br />
Wilder Deneen. Er war daran, etwas<br />
fertigzumachen. Den Fall zu bearbeiten.<br />
(Fortsetzung folgt)<br />
: