E_1940_Zeitung_Nr.011
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N° 11 — DIENSTAG, 12. MÄRZ <strong>1940</strong> AUTOMOBIL-REVUE SB<br />
Die Entstehung der Maginotlinie<br />
politisch gesehen<br />
Werke wie die Maginotlinie, die nicht nur in<br />
ihrer materiellen Ausdehnung, sondern ebensosehr<br />
in der Neuartigkeit ihrer grundlegenden<br />
Gedanken als gigantisch bezeichnet werden<br />
dürfen, verdanken ihre Entstehung in den seltensten<br />
Fällen der Initiative und Schöpferkraft<br />
eines einzelnen. Die Hindernisse sind meist<br />
nicht nur zu zahlreich, sondern vor allem auch<br />
Andre Maginot ist, trotzdem er in Paris gebo<br />
ren wurde (1877), lothringischer Herkunft. Nach<br />
einem längeren Aufenthalt in Afrika als Generalsekretär<br />
der algerischen Regierung wurde er 1910<br />
als Vertreter des Departements Meuse in die<br />
Kammer gewählt. Bei Ausbruch des Weltkrieges<br />
trat er im 44. Territorial-Regiment als gewöhnlicher<br />
Soldat in den Aktivdienst und zeichnete sich<br />
bald durch einen hervorragenden Mut und ständige<br />
freiwillige Einsatzbereitschaft aus. Am 9. November<br />
1914 zerschlugen ihm zwei feindliche Kugeln<br />
die rechte Kniescheibe und das Kniegelenk, so<br />
dass das Bein für den Rest seines Lebens gelähmt<br />
blieb. Während des Krieges übernahm er vorübergehend<br />
das Ministerium der Kolonien und Anfang<br />
1922 noch dasjenige der Pensionen, welchen beiden<br />
er bis Juni 1924 vorstand. 1928/29 wurde er<br />
unter Poincare wiederum Kolonial- und am 3. November<br />
1929 unter Tardieu Kriegsminister. Dieses<br />
Portefeuille behielt er bis zu seinem Tod am<br />
14. Januar 1932 inne.<br />
III III \<br />
zu vielfältig, als dass ein einzelner mit ihnen<br />
fertig werden könnte.<br />
Der Bau aus Stahl und Beton, der sich bis<br />
zu fünfzig Meter tief durch den Boden des östlichen<br />
Frankreich zieht, trägt den Namen<br />
« Maginot-Linie ». An Andre Maginot denkt<br />
die Welt, wenn sie davon spricht, welch ungeheure<br />
Blutopfer ihr seit Ausbruch des gegenwärtigen<br />
Krieges erspart geblieben sind, weil<br />
die Stärke der befestigten Zone bis in die<br />
höchsten Militärkreise aller Länder hinein anerkannt<br />
wird. Darüber vergisst sie vielleicht<br />
jene Männer und Faktoren, die bei der Verwirklichung<br />
des ganzen ebenfalls entscheidend<br />
mitgewirkt haben: Painleve, Petain, Debeney,<br />
Belhague, Alby, Tardieu; Verdun, den Geburtenrückgang,<br />
die Rheinlandräumung, verschiedene<br />
aussenpolitische Vorgänge.<br />
Damit soll das Verdienst Maginots Keineswegs<br />
in irgendeiner Weise geschmälert werden.<br />
Wenn die fertigen Pläne nicht in der Schublade<br />
irgendeiner Kommission verstaut und vergilbt<br />
sind, wenn sie heute als Panzertürme und<br />
Kasematten, als Maschinengewehrnester und<br />
unterirdische Gänge verwirklicht dastehen,<br />
dann ist dies das besondere Verdienst des<br />
kriegsinvaliden Sergeanten, der in den entscheidenden<br />
Jahren den Posten des Kriegsministers<br />
bekleidete. Darum lassen die Franzosen<br />
allen immer wieder auftauchenden Erwägungen<br />
zum Trotz an der jetzigen Bezeichnung<br />
nicht rütteln.<br />
Es ist praktisch überhaupt unmöglich, einen<br />
Punkt, ein Datum oder einen Menschen zu bestimmen,<br />
von dem sie ihren Ausgang genommen<br />
hätte. Soll man sich für den Rapport entscheiden,<br />
den der Chef des Armeestabes, General<br />
Alby, im Februar 1919 an Clemenceau<br />
gerichtet und in welchem er die Schaffung<br />
einer starken Verteidigungslinie im Osten gefordert<br />
hat? Soll man an Verdun denken, das<br />
den immer wieder verbesserten Angriffswaffen<br />
jahrelang standgehalten hat, was zur logischen<br />
Folgerung führte, dass der Ausbau der Festungen<br />
auch einem weiteren Fortschritt der<br />
Ballistik gewachsen wäre? Oder soll man<br />
sogar noch weiter zurückgreifen auf die Tatsache,<br />
dass Frankreich innert sechs Jahrhunderten<br />
über ein dutzendmal von Osten her<br />
durch gegnerische Truppen überschwemmt<br />
worden ist und sich nie sicherer gefühlt hatte<br />
als im 17. Jahrhundert, nachdem durch Vauban<br />
die erste Reihe der Befestigungen geschaffen<br />
war und nach dem 70er Krieg als Se>e de<br />
Riviere den Gürtel auf die Höhe der damaligen<br />
Ansprüche ausgebaut hatte?<br />
Die französischen Militärkreise, allen voran<br />
der Generalissimus Foch, waren mit dem Friedensvertrag<br />
von Versailles nicht einverstanden<br />
gewesen. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit<br />
hatten sie den Rhein als Verteidigungslinie<br />
verlangt; Rheinland und Pfalz blieben jedoch<br />
beim Deutschen Reich. Die neue Grenze ging<br />
quer durch die Vogesen, der Saar und anderen<br />
strategisch weniger günstigen Flüssen entlang.<br />
Allerdings hatte sich Frankreich (las Recht<br />
vorbehalten, die Rheinlande bis zum Jahre<br />
1935 besetzt zu halten.<br />
Militärs denken nicht in politischen Formeln,<br />
sondern einzig in strategischen Möglichkeiten.<br />
Für den Tag, an dem sich die französischen<br />
Truppen auf die eigene Grenze zurückzögen,<br />
mussten sie um jeden Preis bereit sein.<br />
Foch und Pelain, als Lenker der militärischen<br />
Geschicke Frankreichs, Painlevd als<br />
Kriegsminister und Maginot als Präsident der<br />
Armee-Kommission, der Generalinspektor des<br />
Genie Belhague und manche andere beginnen<br />
bereits im Jahre 1922 mit der Vorbereitung,<br />
die vorerst auf eingehende Studien beschränkt<br />
blieben. Da Elsass und Lothringen französisch<br />
geworden sind und in kriegswirtschaftlicher<br />
Hinsicht eine grosse Bedeutung besitzen, kann<br />
die alte, fünfzigjährige Linie Verdun - Nancy -<br />
Epinal - Beifort nur noch als Reservestellung<br />
dienen.<br />
Es wird 1927, bis über die prinzipiellen Fragen<br />
Klarheit geschaffen ist und die eigentlichen<br />
Studien im Terrain beginnen können. Die<br />
Zeit drängt. Eingeweihte Kreise wissen, dass<br />
die Besetzung der Rheinlande unter dem Druck<br />
der damaligen Abrüstungs- und Ausgleichbestrebungen<br />
bedeutend früher zu Ende gehen<br />
wird als ursprünglich vorgesehen war; sie wissen<br />
auch, dass die Geburtsziffern während des<br />
Weltkrieges bedenklich zurückgegangen sind<br />
und dass auf die Jahre 1935—1939 hin das<br />
Rekrutierungsergebnis besorgniserregende Ausfälle<br />
zeigen wird. Um keine langwierige Kammerdebatte<br />
notwendig zu machen, werden aus<br />
dem Verkauf von veralteten Kasernen und entbehrlich<br />
gewordenen militärischen Grundstükken<br />
450 Millionen Franken flüssig gemacht<br />
und für praktische Versuche verwendet. Painleve,<br />
der nach links orientierte Politiker, unterstützt<br />
die Bestrebungen, wo immer er dazu<br />
Gelegenheit hat, trotzdem fast alle Befürworter<br />
der Linie im Lager der politischen Gegner<br />
stehen. Am 17. Februar 1928 werden die praktischen<br />
Arbeiten begonnen.<br />
Am 3. Februar 1929 wird Maginot Kriegsminister<br />
im Kabinett Tardieu, nachdem er den<br />
Posten bereits 1922—1924 bekleidet hatte. Die<br />
Verhältnisse drängen immer mehr. Noch hält<br />
Frankreich Mainz besetzt, doch auch dieses<br />
soll geräumt werden. Was tut Maginot? Er,<br />
der mütterlicherseits von einer englischen Familie<br />
mit der Devise «no words but deeds» —<br />
keine Worte, sondern Taten — abstammt, entschliesst<br />
sich, die Kreditgewährung durch das<br />
Parlament zu- brüskieren, ohne dabei jene<br />
Mässigung zu verlassen, die im politischen Leben<br />
so viel eher zum Ziele führt als kraftstrotzendes<br />
Auftreten. Bereits kurze Zeit nach<br />
dem Amtsantritt entschliesst sich Maginot,<br />
dem Abzug der Truppen aus Mainz, einem der<br />
seit Jahrhunderten wichtigsten Brückenköpfe<br />
am Rhein, zuzustimmen. Er weiss, dass die<br />
Durchführung dieser Massnahme für die Beratung<br />
vor der Kammer ein wichtiges Argument<br />
für den Bau der Befestigungslinie bildet.<br />
Das Budget 1930 wird behandelt. Maginot<br />
verlangt für den Ausbau der Befestigungen im<br />
Nordwesten drei Milliarden Franken. So sehr<br />
die Lage dazu reizt, alle Register der parlamentarischen<br />
Beredsamkeit spielen zu lassen,<br />
verzichtet er darauf, leistet aber, der sich nur<br />
noch mit zwei Stöcken fortbewegen kann, eine<br />
ungeheure Arbeit der persönlichen Ueberzeugung.<br />
In der Kammer-Sitzung vom 10. Dezember<br />
1929 weist er in schlichten Worten auf die<br />
Notwendigkeit einer starken und beweglichen<br />
Verteidigungslinie hin, betont, dass es sich nur<br />
um die Fortsetzung der Arbeit seines Vorgängers<br />
Painleve handelt und dass du ganze<br />
Werk im Jahre 1935 beendigt sein muss. Die<br />
NÄCHSTEN<br />
SEVA<br />
ZIEHUNG<br />
WORINGER<br />
Paul Painleve, bereits im Alter von 32 Jahren<br />
Mathematikprofessor an der Sorbonne, war von<br />
April bis November 1925 Ministerpräsident, darauf<br />
Kriegsminister bis 1929, nachdem er diesen Posten<br />
schon während des Weltkrieges vorübergehend<br />
bekleidet hatte. Trotzdem er dem Lager der republikanischen<br />
Sozialisten entstammte und deswegen<br />
auf Seiten der entschlossenen Abrüstungsfreunde<br />
stand, ist die Schaffung der Maginot-Linie zu<br />
einem grossen Teil sein Verdienst, vor allem soweit<br />
dies die Vorarbeiten anbetrifft.<br />
Er starb 1933 siebzigjährig, etwa anderthalb<br />
Jahre nach Maginot. Keiner der hauptsächlichsten<br />
Initianten der « Linie » hat somit deren Vollendung<br />
erlebt.<br />
Diskussion wird kaum benützt, der Kredit von<br />
3300 Millionen Franken in offener Abstimmung<br />
gewährt. Auch der Senat stimmt in überwältigendem<br />
Mehr zu, nachdem der jetzige<br />
Präsident der französischen Republik, Albert<br />
Lebrun, dafür noch eine Lanze gebrochen<br />
hatte. Wie waren alle erstaunt, als sie nachher<br />
vernahmen, dass die Arbeiten, die durch den<br />
Kredit finanziert werden sollten, bereits seit<br />
drei Monaten im Gange waren!<br />
Maginot hat die Vollendung des Werkes,<br />
das seinen Namen trägt, nicht mehr erlebt; er<br />
ist am 7. Januar 1932 an den Folgen einer<br />
Austernvergiftung gestorben. Doch was er und<br />
seine Mitarbeiter geschafft haben, ist als bahnbrechende<br />
Neuerung in die Geschichte eingegangen.<br />
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