ZESO_1-2018
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SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
ZeSo<br />
Zeitschrift für Sozialhilfe<br />
01/18<br />
Interview<br />
Andreas Hediger berät<br />
Sozialhilfebezüger<br />
– ein Einblick<br />
Kundenkonferenz<br />
Die Basler Sozialhilfe<br />
trifft sich regelmässig<br />
mit Armutsbetroffenen<br />
ÜberSchuldung<br />
Mit dem betreuten<br />
Konto das Budget im<br />
Griff behalten<br />
der zweite<br />
arbeitsmarkt<br />
Beschäftigungsprogramme und Sozialfirmen –<br />
für wen und mit welchem Ziel?
Existenzsicherung für Personen über 50<br />
Mitgliederversammlung, 24. Mai <strong>2018</strong><br />
Seit einigen Jahren scheiden immer häufiger ältere Arbeitnehmende aus<br />
dem Erwerbsleben aus und bleiben auf Dauer stellenlos. Immer mehr sind<br />
in der Folge auf die Unterstützung der Sozialhilfe angewiesen. Zwischen<br />
2010 und 2016 ist die Zahl der Betroffenen um über 50 % gestiegen.<br />
Diese Entwicklung führt zu einem wachsenden und ungelösten sozialen<br />
Problem. Die Sozialhilfe kann dieses Problem nicht allein bewältigen.<br />
Diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe können nur Politik und Wirtschaft<br />
gemeinsam und mit verbindlichen Massnahmen lösen. Die Mitgliederversammlung<br />
der SKOS befasst sich dieses Jahr in Liestal mit möglichen<br />
Handlungsansätzen und Lösungen für ältere Arbeitslose in der<br />
Sozialhilfe.<br />
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Inserat_<strong>ZESO</strong>_01_Allg.indd 1 01.02.<strong>2018</strong> 14:11:53
Markus Kaufmann<br />
Geschäftsführer<br />
EDITORIAL<br />
Differenziert hinschauen<br />
Rund 50 000 Menschen arbeiten in unserem Land im zweiten<br />
Arbeitsmarkt. Für viele ist dies die einzige Chance auf Arbeit, da<br />
die Anforderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt unerreichbar<br />
geworden sind. «Die meisten Menschen wollen arbeiten», sagt<br />
Lynn Blattman, Leiterin der Dock-Gruppe (S. 21). «So wird der<br />
Druck von diesen Menschen genommen, ohne sie aufzugeben»,<br />
hält der Zürcher Sozialvorsteher Raphael Golta fest (S. 17).<br />
Der zweite Arbeitsmarkt kann aber auch zur Sackgasse werden,<br />
wenn die dort Angestellten das Etikett «zu wenig leistungsfähig»<br />
erhalten und keine Möglichkeiten haben, sich weiterzubilden,<br />
wie eine Forschergruppe von drei Fachhochschulen<br />
herausgefunden hat. (S.18-19). Immer wieder hört man<br />
auch den Vorwurf der Wettbewerbsverzerrung und des Lohndumpings.<br />
Kritisch wird auch der Zwang zur Teilnahme beurteilt<br />
in Situationen von Über- oder Unterforderung.<br />
Aus Sicht der SKOS gilt es, differenziert hinzuschauen. SKOS-<br />
Co-Präsident Felix Wolffers plädiert für klarere Regeln (S. 14-<br />
16). Die direkte Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt, wie<br />
vom Basler Unternehmen «impiega» angeboten (S. 20), soll<br />
für Sozialhilfebeziehende ebenso möglich sein wie der Erwerb<br />
zusätzlicher Qualifikationen, so wie dies die SKOS gemeinsam<br />
mit dem Schweizerischen Verband für Weiterbildung SVEB in ihrer<br />
im Januar lancierten Weiterbildungsoffensive gefordert hat.<br />
All das macht den zweiten Arbeitsmarkt aber nicht überflüssig.<br />
Die vorliegende Nummer der <strong>ZESO</strong> will einen Beitrag leisten zur<br />
Diskussion, wie dessen Angebote sinnvoll weiterentwickelt und<br />
den aktuellen Trends angepasst werden können.<br />
1/18 ZeSo<br />
1
SCHWERPUNKT<br />
Der zweite<br />
Arbeitsmarkt<br />
Anders als der reguläre –<br />
der erste – Arbeitsmarkt<br />
besteht der sogenannte<br />
zweite Arbeitsmarkt aus<br />
Arbeitsplätzen, die mithilfe<br />
von öffentlichen Geldern<br />
betrieben werden. Das<br />
wichtigste Ziel dieser Arbeitsstellen<br />
ist es, Menschen<br />
in der Sozialhilfe<br />
beim Wiedereinstieg in den<br />
regulären Arbeitsmarkt zu<br />
unterstützen. Doch ist dieses<br />
Ziel zu erreichen? Und<br />
wenn ja, unter welchen<br />
Voraussetzungen?<br />
12–23<br />
12–25<br />
18 24<br />
<strong>ZESO</strong><br />
zeitschrift für sozialhilfe Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS, www.skos.ch Redaktionsadresse<br />
Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS, Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch, Tel. 031 326 19 19<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN 1422-0636 / 114. Jahrgang<br />
Erscheinungsdatum: 5. März <strong>2018</strong><br />
Die nächste Ausgabe erscheint im Juni <strong>2018</strong><br />
Redaktion Ingrid Hess Autorinnen und Autoren in dieser Ausgabe Stefan Adam, Lynn Blattmann, Beni<br />
Brennwald, Nicole Dana-Classen, Marianne Dubach, Gesine Fuchs, Raphael Golta, Ingrid Hess, Rudolf Ilies, Michael<br />
Keogh, Alexander Maly, Anne Meier, Thomas Michel, Kurt Pärli, Esteban Piñeiro, Melanie Studer, Susanne<br />
Wenger, Felix Wolffers, Bernadette Wüthrich Titelbild Palma Fiacco layout Marco Bernet, mbdesign<br />
Zürich Korrektorat Karin Meier Druck und Aboverwaltung Rub Media, Postfach, 3001 Bern, zeso@<br />
rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 preise Jahresabonnement CHF 82.– (SKOS-Mitglieder CHF 69.–), Jahresabonnement<br />
ausland CHF 120.–, Einzelnummer CHF 25.–.<br />
2 ZeSo 1/18
04<br />
05<br />
inhalt<br />
5 Kommentar<br />
eine sozialpolitische Baustelle: das Wohnen<br />
– Kommentar von Thomas Michel<br />
6 PRAXIS<br />
haben selbständig Erwerbende Anrecht<br />
auf Sozialhilfe?<br />
7 Thema Sozialhilfe<br />
Die Sozialhilfe Basel führt regelmässig<br />
Kundenkonferenzen durch – mit Erfolg<br />
8 INTERVIEW<br />
«Bei der Sozialhilfe ist ein Wettlauf nach<br />
unten im Gang», stellt Andreas Hediger<br />
von der Fachstelle für Sozialhilferecht fest<br />
08<br />
12–25 der zweite arbeitsmarkt<br />
14 Der Beitrag der Sozialfirmen zur beruflichen<br />
und sozialen Integration<br />
17 Von der Verpflichtung zur Motivation:<br />
Kurswechsel in Zürich<br />
18 Staat, Sozialfirma, Klientin/Klient: im<br />
Dreieck der Akteure<br />
20 «Impiega» Basel: mit Job-Coaching<br />
direkt in den regulären Arbeitsmarkt<br />
21 Arbeit für Langzeiterwerbslose – die<br />
Erfahrungen der St. Galler Dock-Gruppe<br />
22 Integration: Beschäftigungsprogramme<br />
mit Regulierungslücken<br />
24 Wenn immer möglich in den ersten<br />
Arbeitsmarkt: wie das Berner Kompetenzzentrum<br />
Arbeit seinen Auftrag umsetzt<br />
26 32<br />
32<br />
36<br />
36<br />
26 Fachbeitrag<br />
Soziale Arbeit im Spagat zwischen Staat<br />
und Klienten<br />
28 Fachbeitrag<br />
in Wien hilft das betreute Konto, die<br />
Kontrolle über das Budget zu behalten<br />
30 Plattform<br />
Das «Grundlagenwerk» will mit «Social<br />
Franchising» Sozialfirmen optimieren<br />
32 Reportage<br />
Das Basler Projekt «Amie» hilft jungen<br />
Müttern aus der Armutsfalle<br />
34 Lesetipps und Veranstaltungen<br />
36 Porträt<br />
Zahnärztin Claire Aeschimann (80)<br />
behandelt freiwillig mittellose Patienten<br />
1/18 ZeSo<br />
3
KOMMENTAR<br />
Wohnen – eine sozialpolitische Baustelle<br />
Ein Perspektivenwechsel: In der wirtschaftlichen<br />
Sozialhilfe fliessen 40 Prozent in<br />
den Grundbedarf, wovon vor allem der<br />
Detailhandel und die Infrastrukturanbieter<br />
profitieren. Weitere 15 Prozent gehen<br />
an Krankenkassen, Spitäler, Ärzte und<br />
den Pharma-Bereich, für die damit das<br />
Verlustrisiko wegfällt. Noch einmal 15<br />
Prozent gehen an Heime, Schulen, Optiker,<br />
Zahnärzte, Vereine und so weiter sowie<br />
an situationsbedingte Leistungen. Die<br />
verbleibenden 30 Prozent gehen an die<br />
Vermieterinnen und Vermieter, die durch<br />
die Finanzierungssicherheit einen Anreiz<br />
haben, auch armutsgefährdete Menschen<br />
mit Wohnraum zu versorgen.<br />
Bei 2, 6 Milliarden Franken Sozialhilfe<br />
jährlich ergibt dies rund 900 Millionen Franken<br />
Steuergelder, die an Vermieter in der<br />
ganzen Schweiz gehen. Ein schöner Batzen<br />
für ein grosses Engagement. So weit, so gut<br />
und toll, dass dieses System bis heute an<br />
den meisten Orten recht gut funktioniert.<br />
Die Wohnversorgung, der Wohnbedarf<br />
und die Wohnkosten entwickeln sich<br />
nicht parallel. Finanzbranche und Pensionskassen<br />
suchen gewinnoptimierte<br />
Investitionsmöglichkeiten; Minimalmieten<br />
und kleine Wohnungen gehören bis heute<br />
nicht zum favorisierten Investitionsvolumen.<br />
Die Sozialhilfe und alle Menschen<br />
in prekären Lebenssituationen sind aber<br />
auf günstigen und ihrer Lebenssituation<br />
angemessenen Wohnraum angewiesen.<br />
Über die Hälfte sind Einzelpersonen. Doch<br />
kleine Wohnungen sind – gerade in den<br />
Ballungsräumen und verteilt auf Quartiere<br />
und Gemeinden – Mangelware. Auch die<br />
Kostenentwicklung ist problematisch, was<br />
politisch via Sozialhilfe lautstark kritisiert<br />
wird. Gegenüber den Kostentreibern gibt<br />
sich die Politik hilflos. Die Mieten steigen<br />
trotz Leerständen seit Jahren überproportional,<br />
genauso wie die Gesundheitskosten.<br />
Für die Sozialhilfe sowie für die Steuerzahlerinnen<br />
und -zahler ist es unabwendbar,<br />
diese Entwicklungen in Frage zu stellen. Die<br />
Wohnraumverknappung in vielen Ballungszentren<br />
sorgt für eine weitere Komponente.<br />
In gefragten Wohngegenden gehen die<br />
Sozialhilfezahlen zurück, während anderswo<br />
Ghettos drohen. Die Mietkosten steigen<br />
überproportional, und die Gemeinden<br />
müssen selbst in den sozialen Wohnungsbau<br />
investieren, um nicht von überrissenen<br />
Marktpreisen abhängig zu sein. Das sind<br />
politisch schwierige Prozesse, bei denen<br />
allzu oft die Direktbetroffenen die Leidtragenden<br />
sind – darunter viele Kinder in<br />
Familien, die auf Sozialhilfe angewiesen<br />
sind.<br />
Fazit: Die Sozialhilfe tut gut daran, sich mit<br />
den Wohnkosten vertieft auseinanderzusetzen.<br />
Als sozialpolitisch spezialisierte<br />
Fachkräfte müssen auch die Verantwortlichen<br />
der Sozialversicherungen und<br />
Fachverbände ihren Anspruchsgruppen<br />
Möglichkeiten und Wege aufzeigen, wie mit<br />
der äusserst komplexen Thematik sinnvoll<br />
umgegangen werden kann. Noch stehen<br />
hier allzu oft politische Überlegungen<br />
ersten zaghaften Hilfen und Lösungsansätzen<br />
im Weg. Mein Ansatz: Was kostet<br />
es eigentlich, Träume wahr<br />
werden zu lassen? Mut.<br />
Einfach nur Mut.<br />
Thomas Michel<br />
Mitglied der SKOS-<br />
Geschäftsleitung und<br />
Leiter der Abteilung<br />
Soziales in Biel/<br />
Bienne<br />
1/18 ZeSo<br />
5
Haben selbständig Erwerbstätige<br />
Anrecht auf Sozialhilfe?<br />
PRAXIS Frau Weber* ist als selbständige Coiffeuse erwerbstätig. Doch die Einkünfte genügen<br />
nach dem Auszug ihres Lebenspartners nicht, um ihre Lebenshaltungskosten zu decken. Soll die<br />
Sozialhilfe eine zeitlich befristete Überbrückungsleistung übernehmen, braucht es eine Vereinbarung.<br />
Frau Weber lebte mit ihrem Konkubinatspartner<br />
während mehreren Jahren zusammen.<br />
Sie ist als ausgebildete Coiffeuse<br />
seit zehn Jahren in ihrem eigenen Salon<br />
selbständig erwerbstätig und verdient ca.<br />
1800 Franken pro Monat. Ihr Konkubinatspartner<br />
trennte sich jedoch von ihr und<br />
zog nach fristgerechter Kündigung aus der<br />
gemeinsamen Wohnung aus. Frau Weber<br />
hingegen fand keine neue Wohnung. Da<br />
sie die erhöhten Lebenshaltungskosten<br />
(zum Beispiel die Gesamtmiete) vorerst<br />
nicht komplett bezahlen kann, meldete sie<br />
sich bei der Sozialhilfe an.<br />
Frage<br />
Ist Frau Weber aufzufordern, ihre selbständige<br />
Erwerbstätigkeit sofort aufzugeben<br />
und sich auf einen Job im Angestelltenverhältnis<br />
zu fokussieren?<br />
Grundlagen<br />
Bei der Unterstützung von selbständig erwerbstätigen<br />
Menschen unterscheiden die<br />
SKOS-Richtlinien grundsätzlich zwischen<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />
und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />
Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />
(einloggen) SKOS-Line.<br />
dem Ziel der wirtschaftlichen Unabhängigkeit<br />
und dem Ziel der Erhaltung einer<br />
Tagesstruktur (SKOS-Richtlinien, Kapitel<br />
H.7). Voraussetzung für Überbrückungshilfen<br />
ist die Bereitschaft, eine fachliche<br />
Überprüfung vornehmen zu lassen, die anzeigt,<br />
ob die Voraussetzungen für das wirtschaftliche<br />
Überleben des Betriebes gegeben<br />
sind.<br />
Da es hier um die wirtschaftliche Unabhängigkeit<br />
geht und nicht um den Erhalt<br />
einer Tagesstruktur, ist eine schriftliche<br />
Vereinbarung Voraussetzung für die Gewährung<br />
von Überbrückungshilfen. Darin<br />
zu regeln sind die Fristen für die fachliche<br />
Überprüfung sowie das Beibringen der<br />
hierfür notwendigen Unterlagen, die Zeitdauer<br />
der ergänzenden Unterstützung,<br />
Standorttermine zur Überprüfung der<br />
wirtschaftlichen Erfolge, Angaben zum zu<br />
erzielenden Lohn und die Form der Beendigung<br />
der finanziellen Leistung.<br />
Antwort<br />
Im konkreten Fall geht es nicht um die Erhaltung<br />
der Tagesstruktur, sondern eindeutig<br />
um die wirtschaftliche Unabhängigkeit.<br />
Frau Weber hat sich durch das erfolgreiche<br />
Führen ihres Salons über zehn<br />
Jahre finanzieren können. Nach dem Auszug<br />
des Konkubinatspartners muss die Sozialhilfe<br />
zunächst überprüfen, was für<br />
Überbrückungsleistungen sie Frau Weber<br />
anbieten kann.<br />
Bereits bei Unterstützungsbeginn ist<br />
Frau Weber aufzufordern, eine Einschätzung<br />
über ihren Geschäftserfolg abzugeben.<br />
Anhand verschiedener möglicher<br />
Indizien (zum Beispiel Erreichen eines<br />
vorgegebenen Stundenlohns, Erfüllung<br />
eines Geschäfts- respektive Businessplans,<br />
Beurteilung durch Beizug von Experten<br />
etc.) wird von der Sozialhilfe eventuell unter<br />
Einbezug von einer Fachstelle geprüft,<br />
ob eine Weiterführung der selbständigen<br />
Erwerbstätigkeit sinnvoll ist oder ob die<br />
Aufgabe verlangt werden soll.<br />
Mit Frau Weber wird eine Vereinbarung<br />
beschlossen mit den oben erwähnten Komponenten.<br />
Frau Weber muss jeden Monat<br />
eine Berechnung einreichen, in der sie<br />
den monatlichen Ertrag, Aufwand, Bruttogewinn<br />
sowie die geleistete Arbeitszeit<br />
belegt. Nach Beurteilung der Richtigkeit<br />
dieser Berechnung kann die Sozialhilfe<br />
prüfen, ob weitere zusätzliche Abzüge für<br />
die Betriebskosten möglich sind, etwa für<br />
Schreibwaren oder Versandmaterialien,<br />
nicht aber für grössere Ausgaben, etwa für<br />
Werkzeuge. Diese Praxis lehnt sich an die<br />
Regelung der Arbeitslosenversicherung an<br />
(vgl. Art. 41a Abs. 5 AVIV).<br />
Um eine Wettbewerbsverzerrung zu<br />
vermeiden, wird mit Frau Weber eine zeitlich<br />
befristete Zielvereinbarung (in der<br />
Regel sechs Monate, kann aber verlängert<br />
werden) abgeschlossen. Frau Weber hat<br />
also die Möglichkeit, innerhalb dieses Zeitfensters<br />
ihre selbständige Erwerbstätigkeit<br />
weiterzuführen und zeitlich begrenzt<br />
Überbrückungsleistungen zu beziehen.<br />
Festzuhalten ist jedoch, dass es keine Vermischung<br />
der Budgets geben soll, dass also<br />
das Geschäftsbudget klar vom Sozialhilfebudget<br />
zu trennen ist. Geschäftsverluste<br />
dürfen nicht durch Unterstützungsleistungen<br />
(aus dem Grundbedarf etc.) ausgeglichen<br />
werden.<br />
Nach Ablauf der Zielvereinbarung muss<br />
sich Frau Weber entweder von der Sozialhilfe<br />
ablösen können, oder aber es wird –<br />
unter Berücksichtigung von Kündigungsfristen<br />
(Räumlichkeiten, Strom, Telefon<br />
etc.) – eine Aufgabe der selbständigen Erwerbstätigkeit<br />
verlangt.<br />
•<br />
Michael Keogh<br />
Kommission Richtlinien und Praxis<br />
*Name von der Redaktion geändert<br />
6 ZeSo 1/18
Welchen Beitrag leisten Sozialfirmen zur<br />
sozialen und beruflichen Integration?<br />
Eine grosse Zahl von Sozialfirmen stellt Arbeitsmöglichkeiten und Beschäftigungsangebote für<br />
Klientinnen und Klienten der Sozialhilfe zur Verfügung. Die Einsatzplätze im zweiten Arbeitsmarkt<br />
tragen wesentlich zur beruflichen und sozialen Integration bei. Obwohl sich Sozialfirmen weitgehend<br />
durch Beiträge der öffentlichen Hand finanzieren, gibt es kaum staatliche Regelungen zu Löhnen<br />
und Arbeitsbedingungen im zweiten Arbeitsmarkt.<br />
In der Schweiz gibt es heute rund 400 Sozialfirmen, die über<br />
10 000 Mitarbeitende beschäftigen und Arbeitsmöglichkeiten<br />
und Beschäftigung für rund 50 000 Personen anbieten. Einsatzplätze<br />
in Sozialfirmen stehen Personen zur Verfügung, die von der<br />
IV, der Arbeitslosenversicherung oder der Sozialhilfe betreut werden.<br />
Während seit etwa 1920 viele Werkstätten für die Eingliederung<br />
von Menschen mit Behinderung entstanden, haben Sozialfirmen<br />
in der Schweizer Sozialhilfe eine vergleichsweise kurze<br />
Geschichte. Hier setzte die Sozialfirmenbewegung als Folge steigender<br />
Arbeitslosenquoten erst in den 1990er-Jahren ein.<br />
Erst mit der SKOS-Richtlinienversion 2005 wurden Sozialfirmen<br />
jedoch formell ins Instrumentarium der Sozialhilfe eingefügt.<br />
Die Revision verstärkte das Gegenleistungsprinzip in der<br />
Sozialhilfe und erweiterte die Möglichkeiten, bedürftige Personen<br />
zu Arbeitsleistungen zu verpflichten. Die Höhe der Sozialhilfeleistungen<br />
hängt seit der Einführung von Integrationszulagen und<br />
einem Einkommensfreibetrag auch von den Integrationsbemühungen<br />
der unterstützten Personen ab.<br />
beitsplätze für beruflich wenig qualifizierte Personen abgebaut.<br />
Immer mehr zeigt sich, dass der Schweizer Arbeitsmarkt eine<br />
wachsende Anzahl von Personen mit gesundheitlichen Problemen<br />
und Leistungseinschränkungen nicht mehr integrieren kann.<br />
Gleichzeitig erhöhte sich aber der gesellschaftliche Druck auf<br />
die Sozialhilfe, diese Personen zu aktivieren. Dabei wurden vor<br />
allem zwei Ziele verfolgt: Zum einen sollten stellenlose Personen<br />
durch Beschäftigungsprogramme wieder an den Arbeitsmarkt<br />
herangeführt werden. Zum anderen erhoffte man sich von diesen<br />
Programmen eine persönliche und soziale Stabilisierung der Bedürftigen.<br />
Arbeitseinsätze sollten somit die berufliche und soziale<br />
Arbeitslosigkeit als strukturelles Problem<br />
Seit den späten 1970er-Jahren wurde immer klarer, dass Arbeitslosigkeit<br />
nicht mehr nur ein individuelles und vorübergehendes,<br />
sondern immer mehr ein strukturelles und dauerndes Problem<br />
war. Es wurde nötig, «kompensierende Angebote zum sich verengenden<br />
Arbeitsmarkt bereitzustellen» (siehe SKOS-Richtlinien<br />
A.3-2). Mit speziellen Angeboten sollte der gesellschaftlichen Ausgrenzung<br />
von Arbeitslosen entgegengewirkt werden: «Um den<br />
wirtschaftlichen und sozialen Ausschluss von Stellenlosen zu verhindern,<br />
entwickelt die Sozialhilfe besondere Arbeits- und Integrationsangebote»,<br />
heisst es deshalb seit 2005 in den SKOS-Richtlinien.<br />
Zugleich erwähnen die Richtlinien nun «Einsatz- und<br />
Beschäftigungsprogramme» sowie «Angebote im zweiten Arbeitsmarkt»<br />
(D3-1) ausdrücklich als Instrumente der beruflichen und<br />
sozialen Integration.<br />
Wegen der zunehmenden Globalisierung der Wirtschaft und<br />
dem damit einhergehenden verschärften Konkurrenz- und Margendruck<br />
wurden in den letzten Jahrzehnten in grosser Zahl Ar-<br />
Die rund 400 Sozialfirmen in der Schweiz bieten<br />
50 000 Personen Arbeit und Beschäftigung.<br />
Bilder: Palma Fiacco<br />
14 ZeSo 1/18 SCHWERPUNKT
arbeitsmarkt<br />
Integration sicherstellen oder zumindest fördern. Vor diesem Hintergrund<br />
entwickelte sich auch in der Sozialhilfe ein eigentlicher<br />
zweiter Arbeitsmarkt, der von zahlreichen Sozialfirmen geprägt<br />
wird. Diese sind je etwa zur Hälfte im Industrie- und im Dienstleistungssektor<br />
tätig und verteilen sich auf die ganze Schweiz.<br />
Kaum geregelter Raum<br />
So wichtig die Sozialfirmen heute für die Integrationsarbeit der Sozialdienste<br />
sind, so unklar sind die konzeptionellen, betriebswirtschaftlichen<br />
und rechtlichen Grundlagen des zweiten Arbeitsmarkts.<br />
Während es für die Eingliederungseinrichtungen der<br />
Invalildenversicherung und die arbeitsmarktlichen Massnahmen<br />
der Arbeitslosenversicherung bundesrechtliche Vorgaben gibt,<br />
operieren die Sozialfirmen in der Sozialhilfe in einem kaum geregelten<br />
Raum.<br />
Wie der zweite Arbeitsmarkt funktioniert und was eine Sozialfirma<br />
ist, wird in der Sozialhilfe kaum durch staatliche Normen<br />
festgelegt, sondern vor allem durch das Selbstverständnis der<br />
Firmen und ihrer Fachverbände bestimmt. Beispielhaft hierfür<br />
ist die Begriffsumschreibung für den zweiten Arbeitsmarkt des<br />
Fachverbands unternehmerisch geführter Sozialfirmen (F.U.G.S):<br />
«Im zweiten Arbeitsmarkt erhalten langzeitarbeitslose Menschen,<br />
ausgesteuerte Personen, die von der Sozialhilfe leben, und weitere<br />
Personengruppen, die keine Chance auf eine Anstellung im ersten<br />
Arbeitsmarkt haben, eine Möglichkeit am Erwerbsleben teilzunehmen<br />
und/oder ihre Arbeitsmarktfähigkeit zurückzugewinnen».<br />
Staatliche Vorschriften für den zweiten Arbeitsmarkt im Sozialhilfebereich<br />
bezüglich Finanzierung, Entlöhnung, Arbeitsbedingungen,<br />
Weiterbildung oder Aufsicht des Gemeinwesens gibt<br />
es kaum. Das ist erstaunlich, weil der zweite Arbeitsmarkt ein von<br />
der öffentlichen Hand subventionierter Arbeitsmarkt ist, der nur<br />
dank den Zuschüssen von Kantonen und Gemeinden überhaupt<br />
Integrationsangebote bereitstellen kann.<br />
Fast jede Tätigkeit ist zumutbar<br />
Zumindest ansatzweise geregelt ist hingegen, ob und unter welchen<br />
Voraussetzungen eine unterstützte Person überhaupt zu einem<br />
Einsatz in einem Integrationsprogramm verpflichtet werden<br />
kann. So schreibt etwa das Sozialhilfegesetz des Kantons Bern vor,<br />
dass unterstützte Personen verpflichtet sind, «eine zumutbare Arbeit<br />
anzunehmen oder an einer geeigneten Integrationsmassnahme<br />
teilzunehmen». Als zumutbar gilt dabei jede Arbeit, «die dem<br />
Alter, dem Gesundheitszustand, den persönlichen Verhältnissen<br />
und den Fähigkeiten der bedürftigen Person angemessen ist».<br />
Trotz dieser auf die Lebenslage und die Ressourcen der unterstützen<br />
Person ausgerichteten Regelung gilt in der Praxis fast jede<br />
Arbeit oder Beschäftigung als zumutbar. Die bundesgerichtliche<br />
Rechtsprechung geht heute davon aus, dass auch Personen mit einer<br />
qualifizierten Ausbildung zu einfachsten Arbeiten verpflichtet<br />
werden dürfen. Eine Unterforderung, so die Rechtsprechung des<br />
Bundesgerichts, sei zulässig, nicht hingegen eine Überforderung.<br />
Ausgeschlossen ist hingegen ein Einsatz in einem Integrationsprogramm<br />
bei gesundheitlichen Problemen.<br />
<br />
SCHWERPUNKT 1/18 ZeSo<br />
15<br />
Ohne öffentliche Gelder geht es nicht<br />
In der Schweiz gibt es keine allgemein anerkannte Definition des<br />
Begriffs Sozialfirma. Den verschiedenen Begriffsumschreibungen<br />
ist jedoch gemeinsam, dass sie Sozialfirmen als Unternehmen mit<br />
einer zugleich sozialen und wirtschaftlichen Zielsetzung verstehen.<br />
Deren Hauptzweck liegt darin, Arbeitsplätze und Integrationsangebote<br />
für Menschen zu schaffen, die auf dem regulären Arbeitsmarkt<br />
benachteiligt sind. Darüber hinaus gibt es aber kaum<br />
klare Kriterien dafür, was eine Sozialfirma ausmacht. Sehr unterschiedlich<br />
sind beispielsweise die Zielgruppen der Einrichtungen,<br />
der Grad der Eigenwirtschaftlichkeit, die Höhe der staatlichen Beträge,<br />
die Dauer der Einsätze oder die Organisationsform.<br />
Weit verbreitet ist das folgende Geschäftsmodell: Eine Gemeinde<br />
kauft bei einer Sozialfirma einen Integrationsplatz für einen<br />
langzeitarbeitslosen Sozialhilfebezüger ein. Sie bezahlt dafür ungefähr<br />
jenen Betrag, der den bisher ausgerichteten Sozialhilfeleistungen<br />
entspricht. Die Sozialfirma schliesst mit dem Sozialhilfebezüger<br />
einen Arbeitsvertrag ab und zahlt den von der Gemeinde<br />
überwiesenen Betrag nun als Lohn aus, während zugleich die Sozialhilfe<br />
eingestellt oder um die Lohnsumme reduziert wird. Die<br />
Sozialfirma hat dank diesem Ansatz für die betreuten Personen<br />
praktisch keinen Besoldungsaufwand und muss nur die Löhne der<br />
Betreuungspersonen und der Betriebsinfrastruktur selbst erwirtschaften.<br />
Hierfür übernimmt sie Aufträge aus der Industrie oder<br />
erbringt Dienstleistungen.<br />
Lohndumping und Wettbewerbsverzerrung?<br />
Damit die Sozialfirma zu Aufträgen kommt, muss sie oft günstiger<br />
arbeiten als die kommerziell ausgerichtete Konkurrenz. So können<br />
Integrationsplätze geschaffen und die Abwanderung gewisser Arbeiten<br />
ins Ausland verhindert werden. Andererseits besteht so die<br />
Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen durch «staatlich subventionierte<br />
Billigarbeitskräfte», wie der St. Galler Soziologe Peter Schallberger<br />
kritisiert. In der Tat liegen die von den Sozialfirmen ausbezahlten<br />
Löhne deutlich unter dem sonst üblichen Niveau: Lediglich<br />
vier Prozent der Betriebe im zweiten Arbeitsmarkt entrichten branchenübliche<br />
Löhne – falls überhaupt Löhne ausbezahlt werden. In<br />
vielen Fällen erhalten Sozialhilfebeziehende, die in einem Integrationsprogramm<br />
mitarbeiten, weiterhin die bisherigen Sozialhilfeleistungen<br />
und zusätzlich eine Integrationszulage. Aus der Sicht<br />
der unterstützten Personen lohnt sich somit Arbeit nur bedingt<br />
und führt zu einer finanziellen Abgeltung, die nur unwesentlich<br />
höher liegt als die Sozialhilfeleistungen. Dass die Arbeit in einer<br />
Sozialfirma meist nicht freiwillig erfolgt, sondern von den Sozialdiensten<br />
verfügt wird, führt zu zusätzlicher Kritik am Modell der<br />
Sozialfirmen.<br />
Eine Tagesstruktur haben, Anschluss an den Arbeitsmarkt finden.<br />
Viele offene Fragen<br />
Einsätze im zweiten Arbeitsmarkt sind für Personen mit eingeschränkter<br />
Arbeitsmarktfähigkeit oft die einzige Chance, um beruflich<br />
wieder den Anschluss zu finden oder eine Tagesstruktur zu<br />
haben. Über den Integrationserfolg des zweiten Arbeitsmarkts als<br />
Ganzes ist jedoch nur wenig bekannt. Gesamtschweizerische Auswertungen<br />
und Statistiken über erfolgreiche und nachhaltige Vermittlungen<br />
in den ersten Arbeitsmarkt fehlen. Ebenso gibt es keine<br />
Statistiken darüber, ob die Zahl der Sozialfirmen und ihr<br />
Umsatz weiter steigen oder ob diese Firmen angesichts der fortschreitenden<br />
Rationalisierung und Digitalisierung der Wirtschaft<br />
selbst immer mehr unter wirtschaftlichen Druck geraten.<br />
Wegen der grossen und in den nächsten Jahren als Folge der<br />
Entwicklungen im Asylbereich vermutlich noch wachsenden Bedeutung<br />
des zweiten Arbeitsmarkts für die berufliche und soziale<br />
Integration erweist sich die schwach ausgeprägte Regulierung der<br />
Sozialfirmen zunehmend als Problem. Viele grundlegende und<br />
grundrechtliche Fragen sind ungeklärt und sollten durch die Gesetzgebung<br />
geregelt werden. Vor allem auch, weil die Sozialfirmen<br />
weitgehend durch staatliche Gelder finanziert werden – und der<br />
zweite Arbeitsmarkt eben gerade nicht zur freien Wirtschaft gehört<br />
– sind staatlich festgelegte Rahmenbedingungen für Sozialfirmen<br />
je länger je mehr angezeigt. <br />
•<br />
Felix Wolffers<br />
Co-Präsident der SKOS<br />
16 ZeSo 1/18 SCHWERPUNKT
arbeitsmarkt<br />
Von der Verpflichtung zur Motivation<br />
Die Stadt Zürich vollzieht in der Arbeitsintegration von Sozialhilfebezügerinnen und -bezügern einen<br />
Paradigmenwechsel. Bei Personen, die kaum Chancen auf eine Ablösung in den ersten Arbeitsmarkt<br />
haben, werden die Ziele angepasst.<br />
Menschen mit einem kleinen Bildungsrucksack haben es zunehmend<br />
schwer, einen Arbeitsplatz zu finden. Diese Entwicklung<br />
stellt die Sozialsysteme vor grosse Herausforderungen. Langfristig<br />
lassen sich die beruflichen Chancen für Geringqualifizierte nur<br />
über Qualifizierung erreichen – innerhalb wie ausserhalb der Sozialhilfe.<br />
Zürich vollzieht derzeit in der Sozialhilfe einen Paradigmenwechsel<br />
von der Sanktionierung und Verpflichtung hin zur<br />
Motivation und Befähigung. Basis dieser neuen Strategie ist die<br />
Erkenntnis, dass man Qualifizierungsmassnahmen nicht über<br />
Zwang verordnen kann. Lernerfolg und berufliche Weiterentwicklung<br />
sind ohne Motivation und Wille nicht möglich. So werden Sozialhilfebeziehende<br />
neu in vier verschiedene Gruppen eingeteilt.<br />
Die Zuteilung erfolgt nach der individuellen Ausprägung der beiden<br />
Dimensionen «Arbeitsmarktfähigkeit/-chancen» und «Veränderungswille/Motivation».<br />
Je nach Zielgruppe gibt es unterschiedliche<br />
Wirkungsziele. Die Einteilung in eine der vier Gruppen<br />
erfolgt nach der Absolvierung des vierwöchigen obligatorischen<br />
Arbeitseinsatzes in der Basisbeschäftigung der Sozialen Einrichtungen<br />
und Betriebe der Stadt Zürich.<br />
Veränderungswille / Motivation zur Integration 1. Arbeitsmarkt<br />
Zielgruppe 1<br />
Primäre Wirkungsziele:<br />
– Verbesserte Arbeitsmarktfähigkeit<br />
dank arbeitsmarktnaher<br />
Tätigkeit und (Fach-)<br />
bildung<br />
– Lücken zum Arbeitsmarkt<br />
sind geschlossen<br />
Zielgruppe 2<br />
Primäres Wirkungsziel:<br />
– Soziale Teilhabe dank Arbeit<br />
ist ermöglicht<br />
Zielgruppe 3<br />
Primäres Wirkungsziel:<br />
– Nachhaltiger Stellenantritt im<br />
ersten Arbeitsmarkt<br />
Zielgruppe 4<br />
Primäre Wirkungsziele:<br />
– Stellenantritt im ersten<br />
Arbeitsmarkt<br />
– Klientin, Klient kommt Schadenminderungspflicht<br />
nach<br />
Arbeitsmarktfähigkeit/-chancen (Bildung, Erfahrung, berufl. + soz. Kompetenz)<br />
Motivation und Arbeitsmarktchancen entscheiden über die<br />
Zuteilung zu den Zielgruppen.<br />
Wirkungsgrad der Mittel erhöhen<br />
Die Stadt kann auf ein vielfältiges Angebot im zweiten Arbeitsmarkt<br />
zurückgreifen. Das Sozialdepartement selber betreibt eine<br />
breite Palette an Beschäftigungsprogrammen in verschiedenen<br />
Branchen, die ihre Dienstleistungen und Produkte am Markt anbieten.<br />
Zudem werden Programme der Arbeitsintegration von privaten<br />
Drittanbietern über Kontraktvereinbarungen durch die<br />
Stadt mitfinanziert. Je nach Zielgruppen-Zuteilung kommen für<br />
die Klienten Angebote im Teillohn oder gemeinnützige Arbeitseinsätze<br />
bei externen Institutionen in Frage.<br />
Die Programme erfüllen unterschiedliche Aufgaben. Personen<br />
der Zielgruppen 1 und 2 – Menschen mit geringen oder fehlenden<br />
Arbeitsmarktchancen – erhalten durch die Beschäftigungsprogramme<br />
eine Tagesstruktur und erleben soziale Teilhabe. Dies<br />
ohne den in vielen Fällen unrealistischen Anspruch auf eine Ablösung<br />
in den regulären Arbeitsmarkt. So wird Druck von diesen<br />
Menschen genommen, ohne sie aufzugeben. Ein Anspruch auf<br />
Ablösung in den ersten Arbeitsmarkt besteht hingegen für die Zielgruppen<br />
3 und 4. Diese Klientinnen und Klienten erhöhen durch<br />
die Beschäftigung – die zwar im zweiten Arbeitsmarkt, aber unter<br />
realistischen Wettbewerbsbedingungen stattfindet – ihre Arbeitsmarktfähigkeit<br />
«on the job». In der Zielgruppe 3 – gute Chancen,<br />
hohe Motivation – lohnt es sich, in zusätzliche Qualifizierungsmassnahmen<br />
zu investieren. Durch Kurse in Grundkompetenzen<br />
sowie fachspezifische Aus- und Weiterbildungen erreichen Menschen<br />
in dieser Zielgruppe eine höhere Qualifikation. Sie verbessern<br />
so ihre Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Durch die Konzentration<br />
der Qualifizierungsmassnahmen auf jene Personen mit<br />
den besten Grundvoraussetzungen lässt sich der Wirkungsgrad<br />
Veränderungswille / Motivation zur Integration 1. Arbeitsmarkt<br />
Zielgruppe 1 Zielgruppe 3<br />
Teillohn<br />
Gemeinnützige<br />
Arbeit<br />
Zielgruppe 2 Zielgruppe 4<br />
Teillohn<br />
Gemeinnützige<br />
Arbeit<br />
Fachkurse<br />
Kurse<br />
Grundkompetenzen<br />
Arbeitsmarktfähigkeit/-chancen (Bildung, Erfahrung, berufl. + soz. Kompetenz)<br />
Je nach Zielgruppe haben die Teillohn-Angebote<br />
unterschiedliche Aufgaben: Tagesstruktur schaffen oder<br />
Qualifizierung «on the job».<br />
der eingesetzten Mittel erhöhen. Gleichzeitig werden die Lebensrealitäten<br />
von Menschen anerkannt, die ihre Existenz langfristig<br />
nicht mehr über Erwerbsarbeit sichern können. Dies, weil ihnen<br />
der Arbeitsmarkt keinen Platz mehr bietet.<br />
•<br />
Teillohn<br />
Teillohn<br />
Gemeinnützige<br />
Arbeit<br />
Fachkurse<br />
Raphael Golta<br />
Stadtrat, Vorsteher des Sozialdepartements der Stadt Zürich<br />
SCHWERPUNKT 1/18 ZeSo<br />
Kurse<br />
Grundkompetenzen<br />
Laufbahnberatung<br />
Kurse<br />
Grundkompetenzen<br />
Qualifikationsprogramm<br />
Bewerbungskurse<br />
Stellenvermittlung<br />
Stellensuche<br />
Stellensuche<br />
Job-<br />
Coaching<br />
1. Arbeitsmarkt<br />
Wenig Handlungsspielraum für<br />
Sozialdienste bei Überschuldung<br />
FACHBEITRAG Die Überschuldung armutsbetroffener Personen stellt Sozialdienste vor ein erhebliches<br />
Problem. Schuldenberatungsstellen sind spezialisiert auf die Entschuldung von Personen mit<br />
verlässlichem Einkommen. Entsprechende Angebote für Arbeitslose und ausgesteuerte Personen<br />
hingegen fehlen. Das betreute Konto in Wien ist eine mögliche Antwort.<br />
Die Schweiz ist das Land mit der grössten<br />
Verschuldungsrate der Bevölkerung. Während<br />
Verschuldung wegen Wohneigentum<br />
jedoch meist wenig Risiko birgt, wirft die<br />
Überschuldung von Haushalten mit geringem<br />
Einkommen erhebliche Probleme auf.<br />
Steuerschulden, Mietschulden, Zahlungsrückstand<br />
bei Krankenkassen-Prämien, Telekommunikation<br />
und Miet-Nebenkosten<br />
sind besonders bei Personen mit niedrigem<br />
Einkommen weit verbreitet, wie der Bericht<br />
SILC 2013 (Statistics on Income and Living<br />
Conditions) deutlich macht. Gemäss<br />
dem Bericht sind Bevölkerungsgruppen,<br />
die am häufigsten in einem Haushalt mit<br />
mindestens drei Schuldenarten leben, von<br />
materieller Entbehrung betroffene Personen<br />
(36,4%) und Arbeitslose (16,8%).<br />
Überschuldete Sozialhilfebeziehende<br />
stellen für die Sozialdienste insbesondere<br />
aufgrund fehlender Sanierungsmöglichkeiten<br />
eine grosse Herausforderung dar.<br />
Der geltende rechtliche Rahmen bietet keine<br />
Entschuldungsmöglichkeiten für stark<br />
überschuldete Menschen. Die Sozialhilfe<br />
fokussiert deshalb auf die Stabilisierung<br />
der Betroffenen und auf die Befähigung,<br />
mit den Schulden leben zu können. Dies<br />
ist nicht zufriedenstellend und primär auf<br />
den rechtlichen Rahmen zurückzuführen,<br />
in dem sich die Sozialdienste bewegen<br />
müssen. Dringlich wären auf nationaler<br />
Ebene weitere Handlungsmöglichkeiten<br />
für die Sozialhilfe im Umgang mit überschuldeten<br />
Sozialhilfebeziehenden.<br />
Ein Restschuldbefreiungsverfahren<br />
würde die gerichtliche Durchsetzung<br />
eines Sanierungsplans auch ohne Einverständnis<br />
der Gläubiger erlauben. Die Einführung<br />
eines solchen Verfahrens würde<br />
einen Beitrag dazu leisten, dass die Sozialhilfe<br />
auch in Überschuldungsfällen ihre<br />
Kernaufgaben wahrnehmen kann. Eine<br />
entsprechende Vorlage befindet sich in der<br />
Bundesverwaltung in Vorbereitung. Sinnvoll<br />
wäre auch eine bessere Abstimmung<br />
des Steuersystems und des Betreibungsrechts<br />
mit der Sozialhilfe. Sie könnte dazu<br />
beitragen, dass weniger Menschen in eine<br />
Schuldenspirale fallen, beziehungsweise<br />
dass mehr Menschen Zugänge erhalten,<br />
sich aus einer solchen Spirale wieder zu<br />
befreien. Für Menschen mit Lohnpfändungen<br />
kommen oft neue Steuerschulden<br />
Betreutes Konto – ein wirksames<br />
Instrument gegen Verschuldung<br />
Bankkunden werden seit geraumer Zeit massiv Richtung<br />
E-Banking gelotst. Für die einen Menschen ist es ein Vorteil,<br />
für andere ein Nachteil. Mit dem betreuten Konto und der<br />
Programmierung «kontoservice» wurde nun in Wien versucht,<br />
den Fortschritt in der Digitalisierung für Menschen nutzbar<br />
zu machen, die Schwierigkeiten haben, Zahlungsprioritäten<br />
einzuhalten.<br />
Die in manchen Fällen sinnvolle Betreuung<br />
finanzieller Angelegenheiten scheiterte<br />
bisher meist an drei Faktoren:<br />
• Die Hilfe bei der Finanzverwaltung<br />
bedeutet meist eine umfassende Kontrolle<br />
und stellt somit einen massiven<br />
Eingriff in die Persönlichkeitsrechte<br />
der Betroffenen dar.<br />
• Finanzverwaltung war bis jetzt nur<br />
mit deutlichem personellem Aufwand<br />
möglich, der häufig weder von den<br />
Betroffenen noch vom Sozialbereich<br />
erbracht werden konnte.<br />
• Wer immer Hilfe bei der Finanzverwaltung<br />
leistete, musste ausserdem<br />
zur Kenntnis nehmen, dass neben<br />
einer umfassenden Dokumentation<br />
dennoch eine hohe Haftung für etwaige<br />
Fehler übrig blieb.<br />
Wer mit Geld nicht umgehen kann<br />
und wichtige Zahlungen (z.B. Miete) vernachlässigt,<br />
dem versuchte man deshalb<br />
lange lediglich mit guten Ratschlägen<br />
zu helfen, die jedoch erfahrungsgemäss<br />
ohne die erwünschte Wirkung blieben.<br />
Nach zwanzig Jahren Schuldnerberatung<br />
und der Erfahrung mit rund 150 000<br />
Klienten unterschiedlichster Fähigkeiten<br />
begann man vor zehn Jahren deshalb, das<br />
betreute Konto und die EDV-Anwendung<br />
«kontoservice» zu entwickeln. Mittlerweile<br />
ist es in Wien fest etabliert und wird<br />
vor allem eingesetzt, um Wohnungspro-<br />
28 ZeSo 1/18
hinzu, weil die Steuern in der Bedarfsberechnung<br />
des betreibungsrechtlichen<br />
Existenzminimums nicht berücksichtigt<br />
werden. Eine Steuerbefreiung des Existenzminimums<br />
könnte dieses Problem<br />
entschärfen. Zudem kann es in der Praxis<br />
vorkommen, dass Sozialhilfebeziehende<br />
nach Betreibungsrecht ein pfändbares Einkommen<br />
aufweisen. In diesen Fällen wird<br />
die Anreizwirkung der Einkommensfreibeträge<br />
und Integrationszulagen von der einsetzenden<br />
Lohnpfändung unterminiert.<br />
SKOS-Richtlinien zum Umgang mit<br />
Schulden<br />
• Grundsätzlich werden Schulden nicht in<br />
der Budgetberechnung angerechnet. Die<br />
Sozialhilfe orientiert sich am Bedarfsdeckungsprinzip<br />
und erbringt nur Leistun-<br />
gen, die auf die konkrete und aktuelle<br />
Notlage bezogen sind. Sie richtet keine<br />
rückwirkenden Leistungen aus (A.4).<br />
• Die Richtlinien halten explizit fest,<br />
dass weder die laufenden Steuern<br />
noch Steuerrückstände bezahlt werden<br />
(C.1.5). Auch allfällige Alimentenverpflichtungen<br />
(F.3.1) werden nicht berücksichtigt,<br />
weil sie nicht der eigenen<br />
Existenzsicherung beziehungsweise<br />
derjenigen des eigenen Haushalts dienen.<br />
Ausnahmsweise soll die Sozialhilfe<br />
Schulden übernehmen, wenn dadurch<br />
eine drohende Notlage verhindert wird<br />
(beispielsweise Mietzinsausstände).<br />
• Ist eine gesetzliche kantonale Grundlage<br />
vorhanden, sind rechtmässig bezogene<br />
Sozialhilfeleistungen sowohl<br />
während als auch nach Ablösung der<br />
Sozialhilfe rückerstattungspflichtig<br />
(E.3). In diesen Fällen wird die zuständige<br />
Sozialhilfestelle selber zum Gläubiger<br />
und die bezogenen Sozialhilfeleistungen<br />
werden zur Schuld. Die SKOS<br />
empfiehlt, grosszügige Einkommensgrenzen<br />
zu gewähren und die zeitliche<br />
Dauer der Rückerstattung zu begrenzen,<br />
um eine erfolgreiche Ablösung aus<br />
der Sozialhilfe nicht zu gefährden.<br />
• Was die Sozialberatung betrifft, so soll<br />
die Sozialhilfe in jenen Fällen Beratungsleistungen<br />
von Schuldenberatungsstellen<br />
finanzieren, in denen die<br />
Sozialarbeitenden an ihre Grenzen stossen<br />
und spezifisches Fachwissen erforderlich<br />
ist (H.5).<br />
•<br />
Ingrid Hess<br />
gramme für ehemals Obdachlose nachhaltig<br />
abzusichern.<br />
Elemente des betreuten Kontos<br />
• Kernstück des betreuten Kontos ist die<br />
EDV-Programmierung «kontoservice»,<br />
entwickelt von der Schuldnerberatung<br />
Wien<br />
• eine Partnerbank, die ihre Konteninfrastruktur<br />
zu günstigen Preisen zur Verfügung<br />
stellt<br />
• Informationsbevollmächtigte, die bei<br />
Unregelmässigkeiten informiert werden<br />
Die Bank stellt pro Klient zwei Konten<br />
zur Verfügung, ein Einnahmen- und<br />
ein Ausgabenkonto. Nur auf dem Einnahmenkonto<br />
ist die Schuldnerberatung<br />
zeichnungsberechtigt, darf also von der<br />
Bank Informationen einholen und Überweisungen<br />
veranlassen. In einem Vertrag<br />
verpflichtet sich der Klient, seine Einnahmen<br />
auf das Einnahmenkonto zu lenken,<br />
aber nicht auf dieses Konto zuzugreifen.<br />
Die Schuldnerberatung verpflichtet sich,<br />
vom Einnahmenkonto die Miete und die<br />
Energierechnungen zu bezahlen und den<br />
Restbetrag sofort auf das Ausgabenkonto<br />
zu überweisen. Im Vertrag wird ausserdem<br />
geregelt, wer informiert werden darf,<br />
wenn es Unregelmässigkeiten gibt, wenn<br />
also z.B. kein Geld auf das Einnahmenkonto<br />
kommt und daher voraussichtlich<br />
die Miete nicht bezahlt werden kann.<br />
Mehrmals täglich werden alle Einnahmenkonten<br />
auf Kontobewegungen (Eingänge)<br />
abgefragt. Automatisch vergleicht<br />
das Programm, was mit den Eingängen zu<br />
tun ist und erteilt die Aufträge – natürlich<br />
elektronisch – an die Bank. Das heisst also:<br />
nicht die Bank hat einen Dauerauftrag,<br />
um etwa die Miete zu zahlen, sondern die<br />
Aufträge werden jeweils vom kontoservice<br />
generiert. Dadurch kann es zu keinen Stornokosten<br />
bei der Bank kommen. Jede erfolgreiche<br />
Durchführung eines Auftrages<br />
wird automatisch per SMS kommuniziert:<br />
«Heute wurde die Miete in der Höhe von<br />
xxx.- überwiesen.» Alle Transaktionen,<br />
Änderungen und Schriftverkehre werden<br />
automatisch und fälschungssicher aufgezeichnet.<br />
Kommen nun Unregelmässigkeiten<br />
vor – wenn zum Beispiel Einnahmen vom<br />
Sozialamt fehlen, weil der Klient einen<br />
Meldetermin versäumt hat – wird der «Informationsbevollmächtigte»<br />
automatisch<br />
per Mail oder SMS verständigt. Er kann<br />
sich nun überlegen, was am Sinnvollsten<br />
zu tun wäre, um die grösste Katastrophe –<br />
den Verlust der Wohnung – zu vermeiden.<br />
Finanzautonomie bleibt erhalten<br />
Beim Ausgabenkonto hingegen hat<br />
nur der Klient Einsicht. Er oder sie alleine<br />
kann darüber verfügen. So soll die Finanzautonomie<br />
des Klienten weitgehend erhalten<br />
bleiben. Die bisherigen Erfahrungen<br />
mit dem Betreuten Konto sind sehr positiv.<br />
Immer wieder gibt es von Klienten die<br />
Rückmeldung, dass sie sich sehr entlastet<br />
fühlen, weil sie wissen, dass das Geld auf<br />
dem Auszahlungskonto wirklich frei zur<br />
Verfügung steht und sie – trotz z.B. psychischer<br />
Erkrankung oder Suchproblematik<br />
– die Sicherheit haben, dass die Wohnung<br />
bezahlt ist.<br />
Beim betreuten Konto ist völlig unerheblich,<br />
ob Schulden bestehen oder<br />
nicht. Allerdings konnten manche Menschen<br />
durch die Ordnung der Finanzen,<br />
die zwangsläufig beim betreuten Konto<br />
stattfindet, eine Schuldenregulierung erfolgreich<br />
durchführen. Es gibt bereits ein<br />
Spin-off aus dem betreuten Konto: die<br />
Assistenz-App für pflegende/betreuende<br />
Berufe. Damit können – gut dokumentiert<br />
– kleine Geldgeschäfte etwa für bettlägerige<br />
Menschen von Personen in pflegenden<br />
Berufen gemacht werden.<br />
Als Folge des Erfolgs des betreuten<br />
Kontos wird dieses bereits weiter gedacht:<br />
Wenn der Umgang mit Geld verloren geht<br />
(etwa wegen einer Demenzerkrankung),<br />
dann kann das betreute Konto dazu beitragen,<br />
dass möglichst lange die Existenzsicherung<br />
gewahrt bleibt und eine Entmündigung<br />
hinausgeschoben werden kann.<br />
Das betreute Konto wird daher als ganz<br />
konkrete Massnahme im neuen Erwachsenenschutzgesetz<br />
erwähnt, das in Österreich<br />
Mitte des Jahres in Kraft tritt. •<br />
Alexander Maly<br />
Geschäftsführer Schuldnerberatung Wien<br />
1/18 ZeSo<br />
29
Claire Aeschimann ist längst pensioniert – doch sie leistet Freiwilligenarbeit für Menschen in prekären Verhältnissen. Bild: Guy Perrenoud<br />
Zahnärztin mit sozialer Ader<br />
PORTRÄT Claire Aeschimann behandelt im Lausanner Gesundheitszentrum Point d'Eau freiwillig<br />
mittellose Patientinnen und Patienten zu stark reduzierten Tarifen. Die 80-Jährige war immer schon<br />
vielseitig engagiert – über die Landesgrenzen hinaus.<br />
Im typischen Trubel der Gemeinschaftsorte<br />
öffnet sich eine Tür. Umrisse einer<br />
Silhouette in weisser Bluse. Claire Aeschimann<br />
kommt aus dem Behandlungszimmer.<br />
Sie will ihrer Patientin behilflich<br />
sein, um den nächsten Termin zu vereinbaren.<br />
Dann hat sie Zeit für die «<strong>ZESO</strong>».<br />
Die pensionierte Zahnärztin ist seit dem<br />
frühen Morgen an der Arbeit. Sie hat noch<br />
nichts gegessen, obwohl es schon 13 Uhr<br />
ist. Die 80-Jährige macht sich gut gelaunt<br />
bereit für das Gespräch. Sie ist direkt, wie<br />
das so ihre Art ist.<br />
Wir befinden uns im «Point d'Eau»,<br />
einem speziellen Gesundheitszentrum in<br />
der Stadt Lausanne. Es wird von Menschen<br />
besucht, die obdachlos oder dürftig untergebracht<br />
sind, arm, meist arbeitslos. Hier<br />
können sie duschen, ihre Kleider waschen,<br />
hier erhalten sie medizinische und seit fast<br />
zwanzig Jahren auch zahnärztliche Versorgung.<br />
Eine Konsultation beim Zahnarzt<br />
kostet 40 Franken, Zahnsteinentfernung<br />
durch die Dentalhygiene 20 Franken. Verglichen<br />
mit den üblichen Zahnarzttarifen<br />
ist das sehr günstig – kein Wunder, platzt<br />
das Terminbuch aus allen Nähten.<br />
Im Laufe der Jahre haben sich mehrere<br />
Praktizierende dem Vorhaben angeschlossen.<br />
Die Praxis wird von fünfzehn freiwilligen<br />
Zahnärztinnen und Zahnärzten<br />
abwechselnd geführt. Sie haben immer<br />
36 ZeSo 1/18<br />
mehr Menschen zu behandeln: Migrantinnen<br />
und Migranten, Studierende, alte<br />
Menschen mit knappem Budget. «Wir<br />
brauchen junge Zahnärzte, die bereit sind,<br />
das Ruder zu übernehmen», stellt Claire<br />
Aeschimann fest. Sie selbst war durch ihren<br />
Vater zum Beruf gekommen. Sie hatte<br />
ihm, selber Zahnarzt, geholfen, als er gesundheitliche<br />
Probleme hatte. Helfen –<br />
ein Schlüsselwort in Aeschimanns Leben.<br />
Als sie in den Ruhestand ging und ihre<br />
Privatpraxis verliess, fällte sie den Entscheid,<br />
sich freiwillig für die Menschen im<br />
«Point d'Eau» zu engagieren. Bereut hat<br />
sie es nie: «Ich bin sehr froh, Kontakt zu all<br />
diesen Leuten zu haben.» Zwei Vormittage<br />
in der Woche ist sie tätig, mit jeweils sechs<br />
bis sieben Patientinnen und Patienten. Die<br />
meisten haben akute Schmerzen, die be-<br />
«Es sind Menschen<br />
in prekären Situationen.<br />
Manche<br />
haben es einfach<br />
versäumt, jemals<br />
zum Zahnarzt zu<br />
gehen.»<br />
handelt werden müssen. Meist geht es um<br />
Wurzelbehandlungen mit anschliessender<br />
Kompositrekonstruktion. «Manchmal wissen<br />
wir fast nicht, wie wir den Zahn wieder<br />
aufbauen können. Dann ist es eine Kunst»,<br />
so die Zahnärztin: «Es sind Menschen in<br />
prekären Situationen. Manche haben es<br />
einfach versäumt, jemals zum Zahnarzt zu<br />
gehen.»<br />
Für Claire Aeschimann sind Altruismus<br />
und Menschlichkeit selbstverständlich. Sie<br />
arbeitete auch schon in Afrika. Im Kongo<br />
und in Südafrika organisierte sie Ausbildung<br />
und Aufbau von Zahnarztteams. Danach<br />
war sie Mitglied der medizinischen<br />
Einsatzgruppe einer Missionsabteilung.<br />
Heute setzt sich ihr Engagement auf elektronischem<br />
Weg und durch jährliche Besuche<br />
fort. Claire Aeschimann zuckt mit<br />
den Schultern, als ob sie sagen möchte:<br />
«Aber ja, das ist doch normal.»<br />
Sie lacht viel und ist in bester Verfassung.<br />
Woher nimmt sie eigentlich ihre<br />
Energie? Ihr ganzes Leben lang kletterte<br />
Claire Aeschimann auf Berge. Wenn diese<br />
«<strong>ZESO</strong>» erscheint, ist sie vermutlich in<br />
den Voralpen auf einer Skitour unterwegs.<br />
Oder sie macht etwas anderes. Sicher ist,<br />
dass sie etwas unternimmt. <br />
•<br />
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