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Bidonvilles & Bretteldörfer - Ein Jahrhundert informeller Stadtentwicklung in Europa, dérive –Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 71 (2/2018)

Der Fokus des dérive-Schwerpunkts Bidonvilles & Bretteldörfer liegt auf informellen Siedlungsstrukturen, die in Reaktion auf soziale und existentielle Not als Selbsthilfeprojekte entstanden sind. Informelle Siedlungen sind eine räumlich ausgreifende, bis heute vielfach präsente Realität auch der europäischen Stadt. In den Beiträgen des Schwerpunkts zeigt sich, dass Kontext, Strukturen und Muster von lokalen Entwicklungen in unterschiedlichen Städten viele Parallelen aufweisen und es deswegen wichtig ist, sich mit informellen Siedlungen nicht nur lokalhistorisch auseinanderzusetzen. dérive 71 bietet Artikel über Hamburg, Wien, Belgrad, Innsbruck und die aktuelle und historische Situation in Frankreich. Im Magazinteil berichtet Ernst Gruber über die Sanierung und Revitalisierung ihrer ursprünglichen Nutzung verlustig gegangener Gebäude durch junge Kreative im benachbarten Bratislava. Das Kunstinsert von Nicole Six und Paul Petritsch zeigt eine Arbeit über die Architektin Anna Lülja Praun. Das Heft kann hier https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/heft-71 bestellt werden.

Der Fokus des dérive-Schwerpunkts Bidonvilles & Bretteldörfer liegt auf informellen Siedlungsstrukturen, die in Reaktion auf soziale und existentielle Not als Selbsthilfeprojekte entstanden sind. Informelle Siedlungen sind eine räumlich ausgreifende, bis heute vielfach präsente Realität auch der europäischen Stadt. In den Beiträgen des Schwerpunkts zeigt sich, dass Kontext, Strukturen und Muster von lokalen Entwicklungen in unterschiedlichen Städten viele Parallelen aufweisen und es deswegen wichtig ist, sich mit informellen Siedlungen nicht nur lokalhistorisch auseinanderzusetzen. dérive 71 bietet Artikel über Hamburg, Wien, Belgrad, Innsbruck und die aktuelle und historische Situation in Frankreich. Im Magazinteil berichtet Ernst Gruber über die Sanierung und Revitalisierung ihrer ursprünglichen Nutzung verlustig gegangener Gebäude durch junge Kreative im benachbarten Bratislava. Das Kunstinsert von Nicole Six und Paul Petritsch zeigt eine Arbeit über die Architektin Anna Lülja Praun. Das Heft kann hier https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/heft-71 bestellt werden.

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Konzept der formellen Stadt relativiert und letztlich der bürgerliche<br />

Rechtsstaat <strong>in</strong> Frage gestellt. Da es sich nur <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en<br />

Teilen um Elendsurbanisierung handelt und es zudem regelmäßig<br />

um die Zersiedlung ökologisch sensibler und oft geschützter<br />

Gebiete und verbreitet um Immobilienspekulation geht (Biffi<br />

2014) 8 , erweist sich e<strong>in</strong>mal mehr: Informell und Bottom-up s<strong>in</strong>d<br />

weder gleichzusetzen noch a priori positive oder emanzipatorische<br />

Kategorien.<br />

Dubravka Sekulić zeichnet <strong>in</strong> ihrem Artikel <strong>für</strong> diesen<br />

Schwerpunkt die Entwicklung illegaler Landnahme und Bautätigkeit<br />

an der Belgrader Peripherie nach. Im damaligen<br />

Jugoslawien setzten die wilden SiedlerInnen der sozialistischen<br />

Logik geme<strong>in</strong>schaftlichen Eigentums und kommunaler Wohnraumversorgung<br />

– die <strong>in</strong> der ökonomischen Krise der 1970er<br />

und 80er Jahre nicht mehr Wohnraum <strong>für</strong> alle bereitstellen<br />

konnte – Eigen<strong>in</strong>itiative und die Logik e<strong>in</strong>er privaten Raumproduktion<br />

entgegen, die auch als Vorläufer der späteren, marktförmigen<br />

Entwicklung angesehen werden kann.<br />

In Mittel- und Nordeuropa stellt sich die europäische<br />

Stadt <strong>für</strong> ZuwanderInnen längst als e<strong>in</strong>e Ankunftsstadt, e<strong>in</strong>e<br />

weitere globale arrival city dar (Saunders 2013). Dort s<strong>in</strong>d sie –<br />

meist <strong>in</strong> peripheren Zonen –, um ihr Überleben sichern zu können,<br />

weitgehend auf <strong>in</strong>formelle räumliche und soziale<br />

Praktiken angewiesen. Informelle und halb-formelle Flüchtl<strong>in</strong>gslager,<br />

wie sie sich etwa <strong>in</strong> Frankreich herausgebildet haben –<br />

bezeichnenderweise wurde das bekannteste von ihnen <strong>in</strong><br />

post-viktorianischer Manier Calais Jungle benannt –, verweisen<br />

zudem auf die ungebrochene Aktualität des Themas. Zunehmend<br />

repressive Migrationsregime und Phantasmagorien e<strong>in</strong>er<br />

räumlichen Ausgrenzung gigantischen Ausmaßes, wie sie sich<br />

im hermetischen Bild der Festung <strong>Europa</strong> manifestieren, können<br />

daran wenig ändern.<br />

Informelle Stadtproduktion hat <strong>in</strong> der Vergangenheit<br />

entscheidend dazu beigetragen, Krisen- und Modernisierungsschübe<br />

zu bewältigen. Wie die Rezeption <strong>in</strong> neueren Arbeiten zu<br />

umkämpftem Grün und urban commons zeigt, besitzen die<br />

semi-subsistenten Modelle kollektiver Selbsthilfe <strong>in</strong> Wien nach<br />

1918 noch immer e<strong>in</strong>e gewisse Strahlkraft (Kumnig et al. 2017;<br />

Baldauf et al. 2016). Auch unser Beitrag <strong>für</strong> diesen Schwerpunkt<br />

zeigt: Das rote und das wilde Wien waren zwei Systeme,<br />

die nicht nur <strong>in</strong> der Zwischenkriegszeit ökonomisch und stadträumlich<br />

aufe<strong>in</strong>ander bezogen waren. Die wilden Siedlungen <strong>in</strong><br />

der Übergangszone zwischen Stadt und Land waren e<strong>in</strong> der<br />

Not entsprungenes Laboratorium e<strong>in</strong>er neuartigen bukolischen<br />

Urbanität, die noch zu erforschen wäre. Auch die gegenwärtige,<br />

zunehmend globalisierte Recht-auf-Stadt-Bewegung kann von<br />

historischen Formen e<strong>in</strong>er Stadt von unten etwas lernen und<br />

so die eigene Positionierung <strong>in</strong> der Geschichte sozial-räumlicher<br />

Selbstermächtigung und Emanzipation genauer verorten. 9<br />

Andre Krammer und Friedrich Hauer<br />

s<strong>in</strong>d Stadtforscher <strong>in</strong> Wien.<br />

Das Symposium Bretteldorf revisited (5.-6. 10. <strong>2018</strong> im AZW<br />

<strong>in</strong> Wien) widmet sich der Frage der <strong>in</strong>formellen Raumproduktion<br />

<strong>in</strong> Wien und darüber h<strong>in</strong>aus. Die Arbeit an diesem<br />

Schwerpunktheft ist Teil des Projekts Bretteldorf<br />

revisited (Hauer, Hollaus, Krammer). Dieses wurde vom<br />

Bundeskanzleramt der Republik Österreich und der<br />

Kulturabteilung der Stadt Wien (im Rahmen der Projektausschreibung<br />

100 Jahre Republik <strong>in</strong> Österreich gefördert.<br />

Die Verfasser danken Bett<strong>in</strong>a Büttner-Krammer,<br />

Judith Leitner und Anna Eberle.<br />

Literatur<br />

Altvater, Elmar (2005): Globalisierung und die<br />

Informalisierung des urbanen Raums. In: Brillembourg et al,<br />

S. 306-309.<br />

Baldauf, Anette; Gruber, Stefan; Hille, Moira; Krauss,<br />

Annette; Miller, Vladimir; Verlić, Mara; Wang, Hong-Kai &<br />

Wieger, Julia (2016): Spaces of Common<strong>in</strong>g. Artistic<br />

Research and the Utopia of the Everyday. Berl<strong>in</strong>, New York:<br />

Sternberg Press.<br />

Becker, Jochen; Burbaum, Claudia; Kaltwasser, Mart<strong>in</strong>;<br />

Köbberl<strong>in</strong>g, Fölke; Lanz, Stephan & Reichard, Katja (2003):<br />

Learn<strong>in</strong>g from. Städte von Welt, Phantasmen der<br />

Zivilgesellschaft, <strong>in</strong>formelle Organisation. Berl<strong>in</strong>: NGBK.<br />

Blum, Elisabeth & Neitzke Peter (Hrsg.) (2014):<br />

FavelaMetropolis. Berichte und Projekte aus Rio de Janeiro<br />

und Sao Paulo. Basel: Birkhäuser Verlag.<br />

Davis, Mike (2011): Planet der Slums. Berl<strong>in</strong>, Hamburg:<br />

Assoziation A Verlag.<br />

Brillembourg, Alfredo & Feireiss, Kirst<strong>in</strong> & Hubert Klumpner<br />

(2005): Informal City. Caracas Case. München: Prestel Verlag.<br />

Evans, Rob<strong>in</strong> (1996): Translation form draw<strong>in</strong>g to build<strong>in</strong>g.<br />

London: AA Documents.<br />

Hagemann, Anke (2012): Der Ma<strong>in</strong>stream des Informellen:<br />

Urbanistische Forschung zwischen Romantisierung und<br />

städtischer Realität. In: Krasny, Elke (Hrsg.) (2012):<br />

Hands-on Urbanism 1850–2012. Vom Recht auf Grün. Wien,<br />

Berl<strong>in</strong>: Turia + Kant.<br />

Harvey, David (1989): From managerialism to<br />

entrepreneurialism: the transformation of urban governance.<br />

In: Geografiska Annaler. Series B, Human Geography, Vol. <strong>71</strong>,<br />

No.1, The Roots of Geographical Change: 1973 to the<br />

Present. (1989), S. 3-17.<br />

Kumnig, Sarah; Rosol, Marit & Exner, Andreas (2017):<br />

Umkämpftes Grün. Bielefeld: Transcript Verlag.<br />

Krasny, Elke (Hrsg.) (2012): Hands-on Urbanism 1850–2012.<br />

Vom Recht auf Grün. Wien, Berl<strong>in</strong>: Turia + Kant.<br />

Marx, Karl & Engels, Friedrich (1848/2005): Manifest der<br />

Kommunistischen Partei. www.vulture-bookz.de<br />

Sassen, Saskia (2005): Fragmentierte urbane Topographien<br />

und die ihnen zugrunde liegenden gegenseitigen<br />

Verb<strong>in</strong>dungen. In: Brillembourg et al, S. 315-323.<br />

Saunders, Doug (2013): Arrival City. Die neue<br />

Völkerwanderung. München: Pantheon Verlag.<br />

Spiller (1911/2008): Slums. Erlebnisse <strong>in</strong> den<br />

Schlammvierteln moderner Großstädte. Wien: Czern<strong>in</strong> Verlag.<br />

Žižek, Slavoj (2009): Auf verlorenem Posten.<br />

Berl<strong>in</strong>: Insel Verlag.<br />

Zwoch, Felix (2005): Fünf Versionen des In/Formellen.<br />

In: Brillembourg et al, S. 304-306.<br />

8<br />

Siehe: www.legambiente.it/<br />

sites/default/files/docs/<br />

abusivismo_litalia_frana_<br />

il_parlamento_condona-<br />

_dossierfile.pdf<br />

9<br />

Siehe auch: <strong>dérive</strong> Nr. 60<br />

Henri Lefebvre und das Recht<br />

auf Stadt; <strong>dérive</strong> Nr. 61<br />

Perspektiven e<strong>in</strong>es<br />

kooperativen Urbanismus;<br />

<strong>dérive</strong> 49 Stadt selber machen<br />

bzw. Festival urbanize.<br />

2015: Do it together, etc.<br />

Andre Krammer widmet se<strong>in</strong>e Beiträge <strong>in</strong> diesem <strong>Heft</strong><br />

se<strong>in</strong>em jüngst verstorbenen Vater Re<strong>in</strong>hard Krammer<br />

(1949-2017), Historiker und Geschichtsdidaktiker an der<br />

Universität Salzburg.<br />

Andre Krammer, Friedrich Hauer — <strong>Bidonvilles</strong>, Fischkistensiedlungen, <strong>Bretteldörfer</strong><br />

07

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