Konzept der formellen Stadt relativiert und letztlich der bürgerliche Rechtsstaat <strong>in</strong> Frage gestellt. Da es sich nur <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Teilen um Elendsurbanisierung handelt und es zudem regelmäßig um die Zersiedlung ökologisch sensibler und oft geschützter Gebiete und verbreitet um Immobilienspekulation geht (Biffi 2014) 8 , erweist sich e<strong>in</strong>mal mehr: Informell und Bottom-up s<strong>in</strong>d weder gleichzusetzen noch a priori positive oder emanzipatorische Kategorien. Dubravka Sekulić zeichnet <strong>in</strong> ihrem Artikel <strong>für</strong> diesen Schwerpunkt die Entwicklung illegaler Landnahme und Bautätigkeit an der Belgrader Peripherie nach. Im damaligen Jugoslawien setzten die wilden SiedlerInnen der sozialistischen Logik geme<strong>in</strong>schaftlichen Eigentums und kommunaler Wohnraumversorgung – die <strong>in</strong> der ökonomischen Krise der 1970er und 80er Jahre nicht mehr Wohnraum <strong>für</strong> alle bereitstellen konnte – Eigen<strong>in</strong>itiative und die Logik e<strong>in</strong>er privaten Raumproduktion entgegen, die auch als Vorläufer der späteren, marktförmigen Entwicklung angesehen werden kann. In Mittel- und Nordeuropa stellt sich die europäische Stadt <strong>für</strong> ZuwanderInnen längst als e<strong>in</strong>e Ankunftsstadt, e<strong>in</strong>e weitere globale arrival city dar (Saunders 2013). Dort s<strong>in</strong>d sie – meist <strong>in</strong> peripheren Zonen –, um ihr Überleben sichern zu können, weitgehend auf <strong>in</strong>formelle räumliche und soziale Praktiken angewiesen. Informelle und halb-formelle Flüchtl<strong>in</strong>gslager, wie sie sich etwa <strong>in</strong> Frankreich herausgebildet haben – bezeichnenderweise wurde das bekannteste von ihnen <strong>in</strong> post-viktorianischer Manier Calais Jungle benannt –, verweisen zudem auf die ungebrochene Aktualität des Themas. Zunehmend repressive Migrationsregime und Phantasmagorien e<strong>in</strong>er räumlichen Ausgrenzung gigantischen Ausmaßes, wie sie sich im hermetischen Bild der Festung <strong>Europa</strong> manifestieren, können daran wenig ändern. Informelle Stadtproduktion hat <strong>in</strong> der Vergangenheit entscheidend dazu beigetragen, Krisen- und Modernisierungsschübe zu bewältigen. Wie die Rezeption <strong>in</strong> neueren Arbeiten zu umkämpftem Grün und urban commons zeigt, besitzen die semi-subsistenten Modelle kollektiver Selbsthilfe <strong>in</strong> Wien nach 1918 noch immer e<strong>in</strong>e gewisse Strahlkraft (Kumnig et al. 2017; Baldauf et al. 2016). Auch unser Beitrag <strong>für</strong> diesen Schwerpunkt zeigt: Das rote und das wilde Wien waren zwei Systeme, die nicht nur <strong>in</strong> der Zwischenkriegszeit ökonomisch und stadträumlich aufe<strong>in</strong>ander bezogen waren. Die wilden Siedlungen <strong>in</strong> der Übergangszone zwischen Stadt und Land waren e<strong>in</strong> der Not entsprungenes Laboratorium e<strong>in</strong>er neuartigen bukolischen Urbanität, die noch zu erforschen wäre. Auch die gegenwärtige, zunehmend globalisierte Recht-auf-Stadt-Bewegung kann von historischen Formen e<strong>in</strong>er Stadt von unten etwas lernen und so die eigene Positionierung <strong>in</strong> der Geschichte sozial-räumlicher Selbstermächtigung und Emanzipation genauer verorten. 9 Andre Krammer und Friedrich Hauer s<strong>in</strong>d Stadtforscher <strong>in</strong> Wien. Das Symposium Bretteldorf revisited (5.-6. 10. <strong>2018</strong> im AZW <strong>in</strong> Wien) widmet sich der Frage der <strong>in</strong>formellen Raumproduktion <strong>in</strong> Wien und darüber h<strong>in</strong>aus. Die Arbeit an diesem Schwerpunktheft ist Teil des Projekts Bretteldorf revisited (Hauer, Hollaus, Krammer). Dieses wurde vom Bundeskanzleramt der Republik Österreich und der Kulturabteilung der Stadt Wien (im Rahmen der Projektausschreibung 100 Jahre Republik <strong>in</strong> Österreich gefördert. Die Verfasser danken Bett<strong>in</strong>a Büttner-Krammer, Judith Leitner und Anna Eberle. Literatur Altvater, Elmar (2005): Globalisierung und die Informalisierung des urbanen Raums. In: Brillembourg et al, S. 306-309. Baldauf, Anette; Gruber, Stefan; Hille, Moira; Krauss, Annette; Miller, Vladimir; Verlić, Mara; Wang, Hong-Kai & Wieger, Julia (2016): Spaces of Common<strong>in</strong>g. Artistic Research and the Utopia of the Everyday. Berl<strong>in</strong>, New York: Sternberg Press. Becker, Jochen; Burbaum, Claudia; Kaltwasser, Mart<strong>in</strong>; Köbberl<strong>in</strong>g, Fölke; Lanz, Stephan & Reichard, Katja (2003): Learn<strong>in</strong>g from. Städte von Welt, Phantasmen der Zivilgesellschaft, <strong>in</strong>formelle Organisation. Berl<strong>in</strong>: NGBK. Blum, Elisabeth & Neitzke Peter (Hrsg.) (2014): FavelaMetropolis. Berichte und Projekte aus Rio de Janeiro und Sao Paulo. Basel: Birkhäuser Verlag. Davis, Mike (2011): Planet der Slums. 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In: Brillembourg et al, S. 304-306. 8 Siehe: www.legambiente.it/ sites/default/files/docs/ abusivismo_litalia_frana_ il_parlamento_condona- _dossierfile.pdf 9 Siehe auch: <strong>dérive</strong> Nr. 60 Henri Lefebvre und das Recht auf Stadt; <strong>dérive</strong> Nr. 61 Perspektiven e<strong>in</strong>es kooperativen Urbanismus; <strong>dérive</strong> 49 Stadt selber machen bzw. Festival urbanize. 2015: Do it together, etc. Andre Krammer widmet se<strong>in</strong>e Beiträge <strong>in</strong> diesem <strong>Heft</strong> se<strong>in</strong>em jüngst verstorbenen Vater Re<strong>in</strong>hard Krammer (1949-2017), Historiker und Geschichtsdidaktiker an der Universität Salzburg. Andre Krammer, Friedrich Hauer — <strong>Bidonvilles</strong>, Fischkistensiedlungen, <strong>Bretteldörfer</strong> 07
FRIEDRICH HAUER, ANDRE KRAMMER Das WILDE WIEN Rückblick auf e<strong>in</strong> <strong>Jahrhundert</strong> <strong><strong>in</strong>formeller</strong> <strong>Stadtentwicklung</strong> Siedlerbewegung, Rotes Wien, <strong>Stadtentwicklung</strong>, Selbstorganisation, Bodenpolitik, Subsistenzwirtschaft, Wohnungsnot, Privatisierung, Legalisierung Die wilde Siedlung Bretteldorf – Ansicht <strong>in</strong> Richtung Bruckhaufen, um 1935; (c) ÖNB/Wien 505.474-B Auch wenn sie heute weitgehend vergessen s<strong>in</strong>d: Das wilde Siedeln und andere Formen <strong><strong>in</strong>formeller</strong> Raumproduktion s<strong>in</strong>d wichtige Stränge der Wiener Stadtbau- und Sozialgeschichte. Sie prägen die Siedlungsstrukturen bis heute. 08 <strong>dérive</strong> N o <strong>71</strong> — BIDONVILLES & BRETTELDÖRFER. <strong>E<strong>in</strong></strong> <strong>Jahrhundert</strong> <strong><strong>in</strong>formeller</strong> <strong>Stadtentwicklung</strong> <strong>in</strong> <strong>Europa</strong>