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Im Sinkflug - GEW

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2<br />

Editorial<br />

Schwerpunkt<br />

Liebe Kolleginnen<br />

und Kollegen,<br />

vielleicht haltet ihr gerade die<br />

letzte Ausgabe der <strong>GEW</strong>-Weiterbildungszeitung<br />

„prekär“ in<br />

den Händen. Der Grund: Bisher<br />

sind Produktion und Vertrieb<br />

der „prekär“ als gemeinsames<br />

Projekt von Hauptvorstand<br />

und Landesverbänden<br />

im Rahmen des Organisationsprozesses<br />

gelaufen – und<br />

finanziert worden. Diese Phase<br />

ist jetzt beendet. Auf dem<br />

Gewerkschaftstag, der vom 23.<br />

bis 27. April in Erfurt stattfindet,<br />

entscheiden die Delegierten,<br />

ob „prekär“ eingestellt<br />

oder in den Aufgaben-Kanon<br />

der <strong>GEW</strong> übernommen wird.<br />

Es gibt viele gute Gründe für<br />

Letzteres. Andererseits muss<br />

Ulf Rödde,<br />

verantwortlicher<br />

Redakteur<br />

von „prekär“<br />

die Organisation politisch<br />

genau abwägen, welche Arbeiten<br />

Priorität haben. Denn eins<br />

steht fest: Das Geld der <strong>GEW</strong>,<br />

die Beiträge der Mitglieder,<br />

lässt sich nicht beliebig vermehren.<br />

Der Projektbeirat und die<br />

Redaktion meinen, dass die<br />

Evaluation des „prekär“-Experiments<br />

für die Delegierten<br />

eine gute Entscheidungsgrundlage<br />

für ein positives Votum<br />

ist. Sie empfehlen dem<br />

Gewerkschaftstag, die Zeitung<br />

weiter zu führen. Auch die<br />

sehr ermutigenden Ergebnisse<br />

der Leserbefragung, für die der<br />

renommierte Hamburger<br />

Kommunikationswissenschaftler<br />

Professor Jürgen Prott verantwortlich<br />

zeichnet (s. Seite<br />

neun), liefern viele Argumente<br />

dafür, mit „prekär“ auch künftig<br />

regelmäßig über den Weiterbildungsbereich<br />

zu berichten.<br />

Bei allen Unwägbarkeiten ist<br />

eins allerdings sicher: Dies<br />

wird das letzte „Editorial“ der<br />

„prekär“-Geschichte. Denn<br />

auch das hat die Befragung<br />

gezeigt: Das „Editorial“ halten<br />

die Leserinnen und Leser für<br />

die Rubrik, auf die man am<br />

ehesten verzichten kann.<br />

Ulf Rödde<br />

Fortsetzung von Seite 1<br />

gegen Konzerte. Aber der politische<br />

Gehalt darf nicht fehlen.“<br />

Zu der finanziellen Krise kommt<br />

spätestens seit den 90er-Jahren<br />

eine weitere: Politische Bildung,<br />

heißt es, müsse sich modernisieren,<br />

marktgängiger und nachfrageorientierter<br />

werden. Der Gießener<br />

Politikwissenschaftler Karsten<br />

Rudolf stellte in seinem „Bericht<br />

politische Bildung 2002“ eine<br />

ganze Reihe provokanter Thesen<br />

auf: Eine politische Bildung, die<br />

nicht „das Klagelied der neoliberalen<br />

Durchkapitalisierung der Gesellschaft“<br />

singe, könne nicht wie<br />

heute nur fünf, sondern bis zu 39<br />

Prozent der Bürger erreichen. Statt<br />

tief schürfender Minderheitenseminare<br />

forderte er aktuelle, konkrete<br />

und das Informationsbedürfnis<br />

befriedigende Angebote: Broschüren,<br />

Bürgertelefone, Infostände.<br />

Der Präsident der Bundeszentrale<br />

für politische Bildung,<br />

Thomas Krüger, ist nicht ganz so<br />

radikal, wird aber auch deutlich:<br />

„Die politische Bildung ist zur<br />

Modernisierung verurteilt.“ Sie<br />

müsse mehr mit modernen Medien<br />

arbeiten und neue – auch<br />

politikferne – Zielgruppen erschließen.<br />

Krüger selbst hat<br />

seit 2000 viel Energie in die Bundeszentrale<br />

gesteckt: unter anderem<br />

in einen attraktiven Online-<br />

Auftritt und in das Jugendmagazin<br />

„fluter“.<br />

Längst ist die Palette der Angebote<br />

breiter als viele meinen. „Wir diskutieren<br />

schon lange nicht mehr<br />

auf der Alm über Parteiendemokratie“,<br />

sagt Schiele. Vor allem jene<br />

Angebote seien erfolgreich, die<br />

Menschen Teilhabe ermöglichen:<br />

beispielsweise die von der Stuttgarter<br />

Landeszentrale unterstützten<br />

Jugendgemeinderäte in all jenen<br />

Gemeinden, in denen sie ernst<br />

genommen und in politische Entscheidungen<br />

einbezogen würden;<br />

politische Stände auf Marktplätzen,<br />

wenn sich politisch Verantwortliche<br />

außerhalb des Wahlkampfs<br />

den Fragen der Menschen<br />

stellten. Für den harten Kern politisch<br />

Interessierter, sagt Schiele,<br />

müssten weiterhin tiefgründige<br />

Angebote gemacht werden: „Das<br />

sind wir ihnen schuldig.“<br />

Kleinteilige Angebote<br />

Auch der stellvertretende Leiter der<br />

niedersächsischen Volkshochschulen,<br />

Jürgen Heinen-Tenrich, konstatiert<br />

eine enorme Veränderung:<br />

„Die großen politischen Themen<br />

sind tot“, sagt er, „aber mit kleinteiligen<br />

Angeboten erreicht man die<br />

Leute doch.“ Also: Statt fünftägiger<br />

Seminare „Lange Abende“ zu<br />

einem Thema, das von verschiedenen<br />

Seiten aufgearbeitet wird.<br />

Erfolg habe alles, sagt Heinen-Tenrich,<br />

was „aktuell, punktuell, verwendungs-<br />

und verwertungsorientiert“<br />

sei. Bedauern schwingt mit:<br />

„Vor zehn Jahren haben wir sokratische<br />

Gespräche angeboten – das ist<br />

heute undenkbar.“<br />

Die Frage, wie die Wirksam- und<br />

Verwertbarkeit politischer Bildung<br />

sichergestellt werden sollen, stellt<br />

sich insbesondere in ihrem vielleicht<br />

wichtigsten Aufgabenfeld:<br />

der Erziehung zur Demokratie<br />

beziehungsweise der Bekämpfung<br />

und Prävention von Antisemitismus<br />

und Rassismus. „Kein<br />

Mensch macht aus Glatzköpfen<br />

mal eben multikulturelle Demokraten“,<br />

sagt Matthias Heyl,<br />

pädagogischer Leiter der Gedenkstätte<br />

Ravensbrück in Brandenburg,<br />

„unsere Arbeit ist nicht<br />

messbar. Aber ist sie deswegen<br />

nicht förderungswürdig?“ Das hat<br />

sich offenbar auch die nordrheinwestfälische<br />

Landesregierung gefragt.<br />

Ihre Antwort: <strong>Im</strong> Februar<br />

2004 strich sie den gesamten Etat<br />

für Gedenkstättenfahrten.<br />

Neue Argumente<br />

Ein irrsinniger Beschluss, findet<br />

Klaus Ahlheim: „Es geht nicht an,<br />

dass die wesentlichsten bildungspolitischen<br />

Anstöße aus den Rechnungshöfen<br />

kommen.“ Um den<br />

Vertretern der politischen Bildung<br />

schlagkräftige Argumente zu liefern,<br />

arbeitet der Essener Professor<br />

deshalb zurzeit an einer Studie zur<br />

Nachhaltigkeit politischer Bildung.<br />

Ahlheim: „Der engagierte politische<br />

Bildner von heute ist nichts<br />

Geringeres als ein dynamischer<br />

Optimist am ständigen Rande der<br />

Resignation. Er braucht unsere<br />

Unterstützung.“<br />

Jeannette Goddar<br />

Kommentar<br />

Werkstätten der Demokratie<br />

Ein Blick in die Realität zeigt:<br />

Politische Bildung ist unverzichtbar.<br />

Arbeitsplätze sind vorrangig,<br />

Sozialhilfe ist wichtig,<br />

die Schulen müssen<br />

dramatische Rückstände aufholen<br />

– viele Prioritäten der Politik<br />

scheinen sonnenklar. Und wer<br />

braucht politische Erwachsenenbildung?<br />

Junge Leute brauchen politische<br />

Erwachsenenbildung: Die<br />

These, junge Leute kämen politisch<br />

gebildet aus der Schule,<br />

ignoriert die Zwänge dieser Institution.<br />

Jüngere nehmen wegen<br />

ihrer Mobilität weniger an der<br />

formellen politischen Erwachsenenbildung<br />

teil – aber sie machen<br />

die Erfahrung, dass die politische<br />

Debatte unter den Bedingungen<br />

einer Bildungsstätte oder<br />

Volkshochschule (VHS) eine<br />

neue Dimension hat. Sie ist dort<br />

offener, differenzierter, weil mehrere<br />

Generationen an der Diskussion<br />

beteiligt sind, näher an der<br />

Realität, weil hier schneller als in<br />

der Richtlinienmaschinerie neue<br />

Fragen, Ergebnisse und Kontroversen<br />

aufgenommen werden<br />

können.<br />

Alte Menschen brauchen politische<br />

Erwachsenenbildung: Die<br />

wachsende Gruppe älterer Teilnehmer<br />

hat besonders viel an Wandel<br />

zu verarbeiten. Und sie trägt zum<br />

Erfahrungstransfer bei: Welche<br />

Erfahrungen mit gesellschaftlichen<br />

Zwängen und Freiheiten haben<br />

die Älteren gemacht, wie wurden<br />

„ Politische<br />

Standpunkt: Bildung muss<br />

Jens Schmidt,<br />

sich heute mehr<br />

„Arbeit und Leben“, Hamburg<br />

denn je Fragen<br />

wie Solidarität, Demokratie und<br />

Verteilung von Ressourcen stellen.<br />

Sie sollte lebendig und erlebnisorientiert<br />

sein und aktuelle<br />

sozialpolitische Fragestellungen wie<br />

Gender Mainstreaming oder interkulturelles<br />

Lernen berücksichtigen.<br />

“<br />

Lebenskrisen bewältigt, welche<br />

Orientierungsmuster für Gesellschaft<br />

und Lebensführung trugen,<br />

welche sind zerbrochen? Diese<br />

Fragen sind in systematische Bildungsangebote<br />

einzubringen, haben<br />

aber auch Raum in Erzählcafés<br />

oder Gesprächen zwischen<br />

den Generationen.<br />

Vereine, Verbände und Bürgerinitiativen<br />

brauchen politische<br />

Erwachsenenbildung: Sie bekommen<br />

ihr Handwerkszeug:<br />

„politisches Management“,<br />

Know-how in Öffentlichkeitsarbeit<br />

und Rhetorik, das Gespräch<br />

mit Experten und Entscheidungsträgern<br />

in den Einrichtungen<br />

der politischen Bildung, von<br />

denen viele aus sozialen Bewegungen<br />

hervorgegangen sind.<br />

Politiker brauchen politische<br />

Erwachsenenbildung: Politische<br />

Bildung zeigt politische Gestaltbarkeit<br />

auf – die einzige Chance<br />

zur Identifikation mit dem politischen<br />

System. Die Politik<br />

braucht diese Arena auch als Ort<br />

der Vermittlung, als Raum der<br />

Argumentation und Abwägung<br />

von Alternativen, als Chance der<br />

Korrektur von Entscheidungen,<br />

die im „Raumschiff Politik“<br />

getroffen wurden – und auch<br />

weiterhin zur Schulung ihres<br />

Nachwuchses.<br />

Städte und Regionen brauchen<br />

politische Erwachsenenbildung:<br />

Für die Entwicklung der Kommunen<br />

stellen sich zurzeit<br />

schwierige Fragen: Welche Infrastruktur<br />

können wir uns noch<br />

leisten und wo? Wie ist Bürger-<br />

Norbert<br />

Reichling,<br />

Bildungswerk der<br />

Humanistischen<br />

Union<br />

engagement möglich? Wie können<br />

wir neue soziale Ausgrenzungen<br />

vermeiden, wie Zuwanderung<br />

gestalten? Gerade in Städten<br />

und Gemeinden gibt es<br />

große Partizipationsbereitschaft.<br />

Politische Bildung hat die Kompetenz,<br />

solche Abwägungsprozesse<br />

zu moderieren und Wissen<br />

einzubringen.<br />

Die Demokratie braucht politische<br />

Erwachsenenbildung:<br />

Ohne den Unterbau einer informierten<br />

„demokratischen Elite“<br />

kann Demokratie nicht funktionieren.<br />

Die Institutionen der<br />

politischen Bildung stellen einen<br />

Teil der Öffentlichkeit dar,<br />

in der die Entscheidungen der<br />

Politik präsentiert, abgewogen<br />

und korrigiert werden können –<br />

ein Raum der Mitgestaltung.<br />

Dazu gehören politisches Wissen<br />

und eine Debatte über Prioritäten,<br />

an der sich jeder beteiligen<br />

kann. Es wäre schön, wenn<br />

zehn oder 20 Prozent der Bürger<br />

zu dieser Elite gehörten. Jedenfalls<br />

kann sich kein Demokrat<br />

leisten, auf die fünf Prozent zu<br />

verzichten, die wir bisher erreicht<br />

haben – oder will da wer<br />

zurück zur „autoritären Ermächtigungsdemokratie“<br />

der<br />

50er-Jahre?<br />

Norbert Reichling

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