FILMFEST MÜNCHEN MAGAZIN 2018
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Mantle, der zuletzt in trainspotting 2<br />
ganz andere, alt gewordene Rebellen vor<br />
der Linse hatte, drehte mit die terroristen!<br />
seinen ersten Spielfilm. Und Gröning<br />
widmete sich erneut der Ursache<br />
und Wirkung von Gewalt, die im Fluss der<br />
Ereignisse plötzlich eskalieren und Unschuldige<br />
zu Opfern machen kann.<br />
5. ZWISCHEN-<br />
RÄUME<br />
HOMMAGE PHILIP GRÖNING<br />
60<br />
Nachbarn so bedrängt, dass er, ein deutscher<br />
Taxi Driver ohne Taxi, sich zu einem<br />
Attentat getrieben fühlt. Dabei scheut<br />
Stachoviak (Peter Cieslinski) jeden Körperkontakt:<br />
Ihn ekeln Berührungen an.<br />
Der Besuch einer Prostituierten (Tessi<br />
Tellmann) bringt keine Erlösung, aber<br />
Sequenzen ohne Schnitt – eine Insel in<br />
einem Meer atemloser Momentaufnahmen.<br />
Gröning suchte für diesen Kurzfilm<br />
die damals 19-jährige Hito Steyerl als<br />
debütierende Kamerafrau aus, lange<br />
bevor sie an der HFF München studierte<br />
und zur renommierten Videokünstlerin<br />
wurde. Ihre vor allem auf Super 8 gedrehten<br />
Aufnahmen, später im Schnitt<br />
zu rasanten Wahrnehmungsschnipseln<br />
montiert, führen direkt in den Kopf von<br />
Stachoviak.<br />
4. ZWISCHEN<br />
ZEILEN<br />
Auch durch anhaltende künstlerische<br />
Kollaborationen sind Grönings Filme miteinander<br />
verbunden. Michael Schech<br />
spielte in sommer den Vater, war Produktionsleiter<br />
bei stachoviak!, verkörperte,<br />
mit blonder Mähne, einen der Attentäter<br />
in die terroristen! und taucht als Imbissbudenbesitzer<br />
in l’amour, l’argent,<br />
l’amour auf. Auch Hito Steyerl arbeitete<br />
als Kamerafrau noch einmal mit Gröning:<br />
opfer. zeugen wurde als Episode für den<br />
WDR-Film neues deutschland gedreht<br />
und beim filmfest münchen 1993 uraufgeführt.<br />
Zwei Punks berichten darin, wie<br />
sie von Neonazis fast totgeschlagen wurden.<br />
Eingerahmt wird ihre Erzählung von<br />
den Bildern einer Autofahrt, darüber<br />
blenden sich Pressemeldungen über<br />
rechtsextreme Attacken in Ostdeutschland<br />
ein, untermalt mit Franz Schuberts<br />
Streichquintett, Opus 163. Es ist eine bestürzende<br />
Elegie auf ein Land, in dem die<br />
Angst auch durch die ungefilterte, sprachlich<br />
holprige Erzählung der Punks fast<br />
körperlich greifbar wird.<br />
Das gesprochene Wort, aber auch die<br />
Stille – sie haben in Grönings Filmen eine<br />
elementare Kraft. Die Sätze von Zeitphilosophen<br />
wie Augustinus und Heidegger<br />
etwa, die von Elena und Robert beim<br />
Lernen auf dem Feld zitiert werden, fügen<br />
sich in die Sinnlichkeit der Klänge<br />
und in die reizvollen Details der Natur<br />
ein. In die terroristen! (1992) bedient sich<br />
ein linksradikales Trio der Worte von Mao<br />
und Marx, um ihrer Umwelt – und sich<br />
selbst – ihre Beweggründe für ein Attentat<br />
klar zu machen. Dass sie letztlich<br />
demselben Hedonismus erliegen, den<br />
sie im konsumgeilen Deutschland nach<br />
dem Mauerfall attackieren wollen, ist<br />
eine der bittersüßen Pointen in dieser<br />
wilden Komödie, deren TV-Ausstrahlung<br />
das im Film anvisierte Opfer, der damalige<br />
Bundeskanzler Helmut Kohl, vergeblich<br />
verhindern wollte.<br />
Gröning drehte erneut ohne Drehbuch,<br />
machte seine Schauspieler zu<br />
Komplizen in einer originellen Satire, die<br />
dahinrast wie das ferngesteuerte Modellauto,<br />
das zur bombentragenden Mordwaffe<br />
wird. Der Film selbst ist, ähnlich<br />
wie stachoviak!, ein Attentat auf die<br />
Sinne mit seinen abrupten Schnitten und<br />
ungewöhnlichen Kameraperspektiven.<br />
Der britische Kameramann Anthony Dod<br />
Schon immer experimentiert er mit der<br />
filmischen Form und forderte die Sehgewohnheiten<br />
seines Publikums heraus.<br />
Gröning, der zunächst Psychologie und<br />
Medizin, dann an der HFF München studierte,<br />
geht in seiner Arbeit auf, braucht<br />
für die Produktion oft Jahre. Mit preisgekrönten<br />
Ergebnissen: Für sommer erhielt<br />
er den Förderpreis der Stadt München,<br />
für die terroristen! in Locarno den Bronzenen<br />
Leoparden. die grosse stille wurde<br />
unter anderem mit dem Europäischen<br />
Filmpreis als bester Dokumentarfilm des<br />
Jahres 2006 ausgezeichnet, die frau des<br />
polizisten mit dem Spezialpreis der Jury<br />
bei den Internationalen Filmfestspielen<br />
in Venedig 2013.<br />
„Kommst du oder ich?“ Im Kino stellt<br />
sich immer die Frage, inwiefern sich die<br />
Distanz zur Leinwand auflösen lässt, ob<br />
das Publikum hineingesogen werden<br />
oder lieber in eine produktive Distanz<br />
geraten soll, die das Denken in Bewegung<br />
setzt. Beim Zuschauen kann das Zeitempfinden<br />
verstärkt werden oder aussetzen.<br />
Der Sommer, in dem die Geschichte<br />
von dem Vater und Sohn spielt,<br />
ist jene Jahreszeit, in der, vor allem in der<br />
Kindheit, die Zeit so sanft verstreicht, als<br />
ob es kein Ende gäbe. Für Elena und<br />
Robert bedeuten die Abiturprüfung und<br />
der anbrechende Sommer jedoch Trennung.<br />
Er soll also gerade nicht kommen,<br />
die Zeit soll bitte stoppen, aber die<br />
Gegenwart bricht dann doch mit aller<br />
Gewalt ein.<br />
Gröning öffnet in jedem seiner Filme<br />
Zwischenräume für Interpretationen,<br />
Sichtweisen, Gefühle. Zwischen den<br />
Körpern, Klängen und Worten liegt oft<br />
Unbehagen, Grausamkeit und Gewalt,<br />
aber auch Begehren, Zuneigung und<br />
Liebe. Manchmal auch die pure Leere<br />
einer Festung. Und vor allem: Stille.<br />
Michael Stadler<br />
FILMMAKERS<br />
L I V E ! M I T<br />
PHILIP GRÖNING<br />
Donnerstag, 5.7., 14.00 Uhr<br />
in der Black Box, Gasteig.