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Physiotherapeutische Massnahmen in der ... - Karger

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Physiotherapie<br />

<strong>Physiotherapeutische</strong><br />

<strong>Massnahmen</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Rehabilitationsphase<br />

Im Anschluss an die Akut- und Mobilisationsphase beg<strong>in</strong>nt das<br />

physiotherapeutische Rehabilitationsprogramm. Das aktive Mitarbeiten<br />

des Patienten steht im Zentrum <strong>der</strong> Behandlung. E<strong>in</strong> <strong>in</strong>tensives<br />

Therapieprogramm mit den unterschiedlichsten Schwerpunkten<br />

bestimmt ab jetzt den Tagesablauf.<br />

Bei den Therapie<strong>in</strong>halten unterscheidet man zwischen <strong>der</strong><br />

Rehabilitation von motorisch komplett und motorisch <strong>in</strong>komplett<br />

gelähmten Para- und Tetraplegikern.<br />

Das Ziel <strong>der</strong> Rehabilitationsmassnahmen ist immer das<br />

Erreichen <strong>der</strong> grösstmöglichen Selbstständigkeit und Unabhängigkeit<br />

im täglichen Leben.<br />

Die komplette Querschnittläsion<br />

Bei e<strong>in</strong>em Patienten mit e<strong>in</strong>er kompletten<br />

Läsion kann e<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rehabilitation erfahrener<br />

Therapeut die Rehabilitationsziele<br />

schnell <strong>der</strong> Läsionshöhe zuordnen. Dennoch<br />

s<strong>in</strong>d die Schwerpunkte <strong>der</strong> Therapie<br />

jeweils neu festzulegen und den <strong>in</strong>dividuellen<br />

Bedürfnissen des Patienten anzupassen.<br />

Erlernen <strong>der</strong> Sitzbalance<br />

Von Sitzbalance spricht man, wenn die<br />

oberen Extremitäten frei gehalten werden<br />

können, ohne sich <strong>in</strong> «Parkier-» o<strong>der</strong><br />

«Stützfunktion» zu befi nden.<br />

Durch den Ausfall <strong>der</strong> Willkürmotorik<br />

und <strong>der</strong> Sensibilität <strong>in</strong> allen Qualitäten, beson<strong>der</strong>s<br />

aber <strong>der</strong> Propriorezeption, kommt<br />

es zu e<strong>in</strong>er massiven Störung <strong>der</strong> Sitzstabilität.<br />

Das Ausmass des Defi zites ist klar<br />

abhängig von <strong>der</strong> Lähmungshöhe.<br />

Paraplegiker mit m<strong>in</strong>imal geschädig -<br />

ter Rumpfmuskulatur (Läsion unterhalb<br />

Th 10 und tiefer) erlernen die freie Sitzposition<br />

im Kurz- und Langsitz trotz fehlen<strong>der</strong><br />

Beckenstabilität. Fehlt h<strong>in</strong>gegen die<br />

Rumpfmuskulatur teilweise o<strong>der</strong> komplett<br />

(Läsion unterhalb Th 1 –Th 9 ), wird <strong>der</strong> freie<br />

Kurz- und Langsitz nur <strong>in</strong> kyphotischer<br />

Brustwirbelsäulenstellung möglich se<strong>in</strong><br />

( Abb. 7 ).<br />

Tetraplegiker (Läsion unterhalb C 5 –C 8 )<br />

können dieses Ziel, wenn überhaupt, nur<br />

im Langsitz und mit grosser Geschicklichkeit<br />

erreichen. Oberhalb <strong>der</strong> Läsionshöhe<br />

C 5 stellt das Erlernen des freien Sitzes ke<strong>in</strong>en<br />

Therapieschwerpunkt mehr dar.<br />

Zur Beherrschung <strong>der</strong> Sitzbalance<br />

müssen die visuelle Kontrolle, die noch<br />

erhaltenen motorischen und sensiblen<br />

Funktionen und die höheren Kontrollsysteme<br />

wie z.B. Innenohr o<strong>der</strong> Kle<strong>in</strong>hirn<br />

kompensatorisch e<strong>in</strong>gesetzt werden.<br />

Aufbau <strong>der</strong> Behandlung<br />

Zu Anfang wird auf harter Unterstützungsfl<br />

äche mit grosser Basis, also im Langsitz,<br />

gearbeitet. Voraussetzung hierfür ist e<strong>in</strong>e<br />

ausreichend gedehnte Ischiokruralmuskulatur.<br />

Falls diese Voraussetzung noch nicht<br />

erfüllt ist, kann mit leichter Kniefl exion<br />

und Aussenrotation <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hüfte gearbeitet<br />

werden.<br />

In Rückenlage darf die Hüftfl exion<br />

bei extendiertem Knie nicht mehr als<br />

70–80° betragen. So ist die Funktion<br />

<strong>der</strong> ischiokruralen Muskulatur als<br />

«Bremsfunktion» nach ventral im Langsitz<br />

gewährleistet.<br />

Zunächst wird mit kle<strong>in</strong>en Armbewegungen<br />

begonnen, die später grösser werden<br />

und sich von symmetrisch zu asymmetrisch<br />

verän<strong>der</strong>n. Mit unterschiedlicher<br />

Hebellänge <strong>der</strong> Arme und dem E<strong>in</strong>satz von<br />

Therapiegeräten, wie z.B. Ball o<strong>der</strong> Luftballon,<br />

wird <strong>der</strong> Schwierigkeitsgrad variiert.<br />

Der Kurzsitz stellt e<strong>in</strong>e höhere Anfor<strong>der</strong>ung<br />

an den Patienten, die durch Verän<strong>der</strong>ung<br />

von stabiler zu labiler Unterstüt-<br />

332 Physiotherapie


zungsfl äche mit und ohne Bodenkontakt<br />

<strong>der</strong> Füsse noch gesteigert werden kann.<br />

Die Hippotherapie und die Sporttherapie<br />

führen die oben genannten Pr<strong>in</strong>zipien<br />

weiter.<br />

Funktioneller Stütz<br />

Unter dem «funktionellen Stütz» versteht<br />

man die Übernahme des eigenen Körpergewichtes<br />

auf die Arme. Der technisch korrekte<br />

Stütz ist die Voraussetzung für die<br />

Bewegungsübergänge und alle Transfers.<br />

Das Ziel ist es, den Stütz über die Aktivität<br />

des Musculus serratus, den so genannten<br />

«Serratusstütz», zu erlernen. Der Serratusstütz<br />

nutzt die Bewegung des Schulterblattes<br />

aus, da die Armlänge alle<strong>in</strong> für die benötigte<br />

Höhe nicht ausreicht. Die Funktion<br />

des M. serratus anterior ist die anteriore<br />

Elevation <strong>der</strong> Scapula. Nur so kann e<strong>in</strong> sicherer<br />

und stabiler Stütz mit ausreichen<strong>der</strong><br />

Höhe für die funktionellen Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

erarbeitet werden. Mit dem von<br />

nicht querschnittgelähmten Personen automatisch<br />

benutzten «Latissimusstütz»<br />

kann die notwendige Höhe, die Stabilität<br />

und somit die Sicherheit beim Transfer<br />

nicht erreicht werden. Die Funktion des M.<br />

latissimus dorsi ist im Gegensatz zum M.<br />

serratus anterior die posteriore Depression<br />

<strong>der</strong> Scapula.<br />

Wie bereits erwähnt, ist die Höhe neben<br />

ausreichen<strong>der</strong> Muskelkraft und e<strong>in</strong>em guten<br />

Gleichgewicht beim Stütz entscheidend,<br />

um möglichen Komplikationen wie<br />

Hautverletzungen bei den Transfers vorzubeugen<br />

( Abb. 8, 9 ; Tab. 1 ).<br />

Tabelle 1. Vergleich Serratusstütz und Latissimusstütz<br />

Serratusstütz Latissimusstütz<br />

1. Die Skapula macht e<strong>in</strong>e anteriore Elevation<br />

und bleibt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bewegung mobil<br />

<strong>Physiotherapeutische</strong> <strong>Massnahmen</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Rehabilitationsphase<br />

Abb. 7. Spielerisches Erlernen <strong>der</strong> Sitzbalance<br />

im Kurzsitz.<br />

Aufbau <strong>der</strong> Behandlung<br />

Das Stütztra<strong>in</strong><strong>in</strong>g sollte im Langsitz begonnen<br />

werden, da so e<strong>in</strong>e bessere Sitzbalance<br />

gewährleistet ist. E<strong>in</strong>e Steigerung<br />

bieten Höhendifferenzen, die mit Hilfsmitteln<br />

wie «Stützböckli» und Kisten erzielt<br />

werden können. Wechsel <strong>in</strong> <strong>der</strong> Grösse<br />

(Kurz-/Langsitz) und <strong>der</strong> Beschaffenheit<br />

(stabil: Behandlungsbank; labil: Kreisel)<br />

<strong>der</strong> Unterstützungsfl äche zeigen weite -<br />

re Schwierigkeitsstufen ( Abb. 9 ). Unterschiedliche<br />

Stützniveaus unter Benutzung<br />

verschiedener Geräte komb<strong>in</strong>iert mit e<strong>in</strong>em<br />

Ausdauertra<strong>in</strong><strong>in</strong>g <strong>in</strong> Bezug auf die<br />

Stützserien stellen hohe Anfor<strong>der</strong>ungen an<br />

den Patienten.<br />

Der Aufbau des Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs zum Erlernen<br />

des funktionellen Stützes beim Tetraplegiker<br />

ist gleich. Es müssen jedoch Adaptationen<br />

<strong>in</strong> den Ausgangsstellungen und <strong>in</strong><br />

1. Die Skapula macht e<strong>in</strong>e posteriore<br />

Depression und bleibt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stellung<br />

fi x i e r t<br />

2. Es besteht e<strong>in</strong> stabiles Gleichgewicht 2. Es besteht e<strong>in</strong> labiles Gleichgewicht<br />

3. E<strong>in</strong>e Aktivität <strong>der</strong> Bauchmuskulatur ist nicht<br />

notwendig<br />

4. Die Skapulabewegung kann zu Gunsten <strong>der</strong><br />

Stützhöhe als «Armverlängerung» ausgenutzt<br />

werden<br />

3. Die Aktivität <strong>der</strong> Bauchmuskulatur ist<br />

notwendig<br />

4. Die Stützhöhe ist abhängig von <strong>der</strong><br />

Armlänge<br />

5. Flexionsstellung des Oberkörpers 5. Extensionsstellung des Oberkörpers<br />

6. Der Schwerpunkt bleibt <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Unterstützungsfl<br />

äche<br />

6. Der Schwerpunkt gerät sehr leicht<br />

ausserhalb <strong>der</strong> Unterstützungsfl äche<br />

Abb. 8. Erarbeiten des «Serratusstütz».<br />

<strong>der</strong> Wahl <strong>der</strong> Geräte gemacht werden. So<br />

können z.B. bei fehlen<strong>der</strong> Handfunktion<br />

ke<strong>in</strong>e «Stützböckli» e<strong>in</strong>gesetzt werden. Die<br />

fehlende aktive Ellenbogenextension wird<br />

über Aussenrotation mit passiver Arretierung<br />

des Ellenbogengelenkes <strong>in</strong> Hyperextension<br />

gewährleistet. Ebenso ist bei fehlen<strong>der</strong><br />

Funktion des M. triceps brachii das<br />

Niveau <strong>der</strong> Stützhöhe realistisch anzupassen.<br />

Für e<strong>in</strong>en Tetraplegiker ohne Trizepsfunktion<br />

ist somit die freie Beweglichkeit<br />

des Ellenbogengelenkes die Garantie für<br />

e<strong>in</strong>e höchstmögliche Selbstständigkeit.<br />

Bewegungsübergänge und Transfers<br />

Sämtliche Bewegungsübergänge und<br />

Transfers fallen unter die Bezeichnung <strong>der</strong><br />

ADL («activity of daily liv<strong>in</strong>g»).<br />

Das ADL-Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g be<strong>in</strong>haltet folgende<br />

Bewegungsübergänge:<br />

Das Drehen von Rückenlage <strong>in</strong> Bauchlage<br />

und umgekehrt<br />

Das Drehen von <strong>der</strong> Rückenlage <strong>in</strong> o<strong>der</strong><br />

über die Seitlage <strong>in</strong> die Bauchlage und wie<strong>der</strong><br />

zurück ist für Patienten mit e<strong>in</strong>er Para-<br />

o<strong>der</strong> Tetraplegie für ihre Selbstständigkeit<br />

von grosser Bedeutung.<br />

Grundvoraussetzungen s<strong>in</strong>d, dass die<br />

Wirbelsäule <strong>in</strong> Extension gehalten werden<br />

kann und sich zeitversetzt drehen lässt. Die<br />

Seitlage stellt zudem e<strong>in</strong>e hohe muskulärkoord<strong>in</strong>ative<br />

Anfor<strong>der</strong>ung, bed<strong>in</strong>gt durch<br />

ihre kle<strong>in</strong>e Unterstützungsfl äche, dar. Je<br />

nach Läsionshöhe können Bauch- und<br />

Rückenmuskulatur konzentrisch und exzentrisch<br />

e<strong>in</strong>gesetzt werden und so bei <strong>der</strong><br />

Bewegung o<strong>der</strong> Stabilisierung (Seitlage)<br />

<strong>der</strong> neuen Position helfen. Unter dynamisch-konzentrischer<br />

Kraft versteht man<br />

333<br />

22


Abb. 9. Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g des funktionellen Stützes.<br />

die überw<strong>in</strong>dende Kraft, d.h. <strong>der</strong> Muskel<br />

verkürzt sich, und die aufgewendete Muskelspannung<br />

ist grösser als die von aussen<br />

angreifende Kraft. Bei <strong>der</strong> dynamisch-exzentrischen<br />

Kraft handelt es sich um e<strong>in</strong>e<br />

nachgebende Kraft, d.h. <strong>der</strong> Muskel br<strong>in</strong>gt<br />

e<strong>in</strong>e «Bremskraft» während e<strong>in</strong>er Muskelverlängerung<br />

auf, und die von aussen angreifende<br />

Kraft ist grösser als die vom<br />

Muskel entwickelte Spannung [1] .<br />

Bei fehlen<strong>der</strong> Rumpfmuskulatur werden<br />

Trickbewegungen erarbeitet.<br />

Unter Trickbewegungen versteht man<br />

Bewegungsabläufe und/o<strong>der</strong> Bewegungen,<br />

die auf Grund fehlen<strong>der</strong> Muskelaktivität<br />

und Kraft, mittels Schwung und<br />

dem gezielten E<strong>in</strong>satz von Hebelarmen<br />

bezogen auf e<strong>in</strong> optimales Drehmoment,<br />

exzentrischer Muskelarbeit und Gewichtsverlagerung<br />

kompensiert werden.<br />

E<strong>in</strong> Paraplegiker dreht mit Schwung<br />

o<strong>der</strong> über den Ellenbogenstütz. Beim Tetraplegiker<br />

ist das Drehen e<strong>in</strong>e Komb<strong>in</strong>ation<br />

aus Schwung <strong>der</strong> Arme <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er offenen<br />

Muskelkette, <strong>der</strong> Rotation und Flexion <strong>der</strong><br />

Halswirbelsäule und e<strong>in</strong>er weiterlaufenden<br />

Rotation des Rumpfes. Bei Tetra -<br />

ple gikern ohne Trizeps ist die passive<br />

Ellenbogenextension sowie Adduktion<br />

und Aussenrotation im Schultergelenk die<br />

Vo raussetzung, um die Bewegung e<strong>in</strong>leiten<br />

zu können. Zu Beg<strong>in</strong>n können als Hilfe<br />

die Be<strong>in</strong>e überkreuzt werden, um die Drehachse<br />

zu verkle<strong>in</strong>ern (Abb. 10, 11).<br />

Erschwerende Faktoren zum Erlernen<br />

dieses Bewegungsüberganges können lähmungsbed<strong>in</strong>gte<br />

Ursachen, wie starke Spastizität<br />

o<strong>der</strong> Schmerzen, se<strong>in</strong>. Ebenso können<br />

auch E<strong>in</strong>schränkungen aufgrund <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong>dividuellen Konstitution bestehen, wie<br />

z.B. Bewegungse<strong>in</strong>schränkungen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Wirbelsäule und/o<strong>der</strong> den Extremitäten<br />

o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e zu grosse Beckenbreite im Verhältnis<br />

zur Schultergürtelbreite.<br />

Aufsitzen aus <strong>der</strong> Rückenlage <strong>in</strong> den Sitz<br />

Dieser Bewegungsübergang erfolgt über<br />

den Ellenbogenstütz, entwe<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Rückenlage,<br />

Bauchlage o<strong>der</strong> Halbseitenlage.<br />

Auch hierbei gilt, je höher das Läsionsniveau,<br />

desto schwieriger ist die Bewegung<br />

und umso mehr Trickbewegungen müssen<br />

kompensatorisch e<strong>in</strong>gesetzt werden.<br />

Der Paraplegiker dreht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel auf<br />

die Seite, kommt <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>seitigen Unterarmstütz<br />

und im weiteren Verlauf <strong>in</strong> den<br />

Langsitz. Die an<strong>der</strong>e Möglichkeit ist, direkt<br />

von <strong>der</strong> Rückenlage über Gewichtsverlagerung<br />

<strong>in</strong> den Unterarmstütz und von da aus<br />

via Handstütz <strong>in</strong> den Langsitz zu gelangen.<br />

Je mehr Rumpfmuskulatur vorhanden ist,<br />

desto e<strong>in</strong>facher kann dieser Bewegungsablauf<br />

bewältigt werden.<br />

Der tetraplegische Patient muss e<strong>in</strong>ige<br />

Voraussetzungen erfüllen, um diese Bewegung<br />

selbstständig durchführen zu können.<br />

Er muss <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage se<strong>in</strong>, sich auf die<br />

Seite bzw. auf den Bauch zu drehen. E<strong>in</strong>e<br />

gute Rumpfmobilität (Rotation und Lateralfl<br />

exion) ist zw<strong>in</strong>gend notwendig. Die<br />

Schultergelenke müssen schmerzfrei und<br />

die Schulterstabilität ausreichend gegeben<br />

se<strong>in</strong>, da von ihnen Extrembewegungen<br />

verlangt werden. Ausserdem muss <strong>der</strong> Patient<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage se<strong>in</strong>, über Gewichtsverlagerung<br />

auf den Ellenbogen zu laufen.<br />

Für den Tetraplegiker stellt <strong>der</strong> BewegungsübergangRückenlage-Unterarmstütz<br />

e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung dar.<br />

Er muss erlernen, die Hände unter das Gesäss<br />

zu br<strong>in</strong>gen, sich über Aktivität des M.<br />

extensor carpi radialis, des M. biceps brachii<br />

und <strong>der</strong> Aussenrotatoren und Adduktoren<br />

auf die Unterarme bzw. <strong>in</strong> den Ellenbogenstütz<br />

zu ziehen. Der Kopf unterstützt<br />

die Bewegung mit e<strong>in</strong>er Flexion. Von dort<br />

aus werden die Hände nache<strong>in</strong>an<strong>der</strong> h<strong>in</strong>-<br />

ter den Körperschwerpunkt platziert, so<br />

dass man <strong>in</strong> den Langsitz gelangt.<br />

E<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Möglichkeit, um <strong>in</strong> den Sitz<br />

zu gelangen, erfolgt über das Drehen <strong>in</strong> die<br />

Bauchlage und anschliessend <strong>in</strong> den Unterarmstütz.<br />

Von dort aus gelangt man<br />

«laufend» auf den Unterarmen über e<strong>in</strong>e<br />

Seite (das Becken wird passiv nach dorsal<br />

rotiert) <strong>in</strong> den Langsitz.<br />

Dieser komplexe Bewegungsablauf verlangt<br />

vom Patienten Geschicklichkeit, e<strong>in</strong>e<br />

gute Schulterstabilität und das Beherrschen<br />

von diversen Trickbewegungen<br />

( Abb. 12–17 ). Tetraplegische Patienten bis<br />

zu e<strong>in</strong>er Lähmungshöhe sub C 6 können<br />

diesen Ablauf erlernen, jedoch nur wenn<br />

Alter und Konstitution es zulassen.<br />

Transfer Rollstuhl-Bett/Behandlungsbank<br />

und umgekehrt<br />

Voraussetzung für technisch e<strong>in</strong>wandfreie<br />

Transfers ist das Beherrschen des funktionellen<br />

Stützes. Hilfsmittel, die beim Transferieren<br />

benutzt werden können, jedoch<br />

nicht unbed<strong>in</strong>gt müssen, s<strong>in</strong>d das Rutschbrett<br />

und <strong>der</strong> Radschutz. Die Benutzung<br />

<strong>der</strong> genannten Hilfsmittel ist wie<strong>der</strong>um<br />

abhängig von Alter, Konstitution und Lähmungshöhe<br />

des Patienten. Auch <strong>der</strong> Grad<br />

<strong>der</strong> Selbstständigkeit bzw. <strong>der</strong> Autonomie<br />

beim Transfer ist von diesen Faktoren abhängig.<br />

E<strong>in</strong>e gute Sitzbalance, ausreichende<br />

Kraft-Ausdauer <strong>der</strong> Muskulatur <strong>der</strong><br />

oberen Extremität und e<strong>in</strong>e gute potentielle<br />

Beweglichkeit <strong>der</strong> oberen Extremität<br />

und des Rumpfes erleichtern den Transfer.<br />

E<strong>in</strong> Patient mit e<strong>in</strong>er Paraplegie sollte <strong>in</strong><br />

aller Regel den Transfer selbstständig und<br />

ohne Hilfsmittel durchführen können.<br />

H<strong>in</strong>gegen benutzt e<strong>in</strong> Patient mit e<strong>in</strong>er<br />

Tetraplegie meist e<strong>in</strong> Rutschbrett und e<strong>in</strong>en<br />

Radschutz ( Abb. 18–23 ). Je nach Lähmungsniveau<br />

benötigt er e<strong>in</strong>e Hilfsperson.<br />

Aber auch hier bestätigen Ausnahmen<br />

die Regel.<br />

Rollstuhl-Boden-Rollstuhl-Transfer<br />

Der Rollstuhl-Boden-Rollstuhl-Transfer<br />

ist bei weitem <strong>der</strong> schwierigste Transfer<br />

und wird nicht von jedem Patienten <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Erstrehabilitation erlernt. Er ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel<br />

selbstständig nur von Paraplegikern zu<br />

erlernen. Die Voraussetzung ist e<strong>in</strong>e gute<br />

potentielle Beweglichkeit <strong>in</strong> Sprung-, Knie-<br />

und Hüftgelenken und e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong> gute<br />

Konstitution. Tetraplegiker können diesen<br />

Transfer nur mit e<strong>in</strong>er Hilfsperson durch-<br />

334 Physiotherapie


Abb. 18–23. Transfer mit e<strong>in</strong>er Hilfsperson und Rutschbrett.<br />

<strong>Physiotherapeutische</strong> <strong>Massnahmen</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Rehabilitationsphase<br />

Abb. 10–17. Bewegungsablauf aus<br />

Rückenlage <strong>in</strong> den Langsitz.<br />

335<br />

22


führen, wobei es auch hier Ausnahmen<br />

gibt. Diese Ausnahmen beschränken sich<br />

jedoch auf sehr tiefe Tetraplegiker mit Läsionshöhen<br />

zwischen C 7 und C 8 . Auch<br />

wenn klar ist, dass <strong>der</strong> Betroffene den<br />

Transfer nicht selbstständig erlernen wird,<br />

sollte dieser geübt werden. Hierbei ist es<br />

wichtig, dass <strong>der</strong> Patient <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage ist,<br />

e<strong>in</strong>e Drittperson so zu <strong>in</strong>struieren, dass er<br />

sicher aus und <strong>in</strong> den Rollstuhl gelangt.<br />

Die von uns am häufi gsten angewandte<br />

Variante ist das Aussteigen aus dem Stuhl<br />

nach vorne. Dabei rutscht <strong>der</strong> Patient im<br />

Rollstuhl nach vorne und stellt die Füsse<br />

auf e<strong>in</strong>e Seite, etwa <strong>in</strong> Höhe <strong>der</strong> kle<strong>in</strong>en<br />

Rä<strong>der</strong>. Er legt den Oberkörper auf die<br />

Oberschenkel und stützt sich mit e<strong>in</strong>er<br />

Hand neben den Füssen, mit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Hand auf <strong>der</strong> Sitzfl äche ab. Jetzt wird das<br />

Gesäss hochgestützt, und <strong>der</strong> Oberkörper<br />

macht e<strong>in</strong>e Drehung, so dass das Gesäss<br />

kontrolliert auf dem Boden abgesetzt werden<br />

kann. Die untere Extremität übernimmt<br />

hierbei e<strong>in</strong>e passive Stützfunktion.<br />

Der Rückweg verläuft <strong>in</strong> umgekehrter<br />

Reihenfolge. Die Be<strong>in</strong>e können wenn notwendig<br />

mit dem Wadenband zusammengehalten<br />

werden. Der Patient br<strong>in</strong>gt se<strong>in</strong><br />

gesamtes Gewicht über die Füsse und befi<br />

ndet sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hocke. E<strong>in</strong>e Hand wird<br />

auf dem Rollstuhl, die an<strong>der</strong>e auf dem Boden<br />

platziert. Wichtig ist, dass <strong>der</strong> Körperschwerpunkt<br />

weit nach vorne gebracht<br />

wird und <strong>der</strong> Kopf <strong>in</strong> Richtung Füsse nach<br />

unten geht. Nur so ist gewährleistet, dass<br />

das Gesäss nach oben, Richtung Sitzfl äche,<br />

bewegt werden kann ( Abb. 24–31 ).<br />

Die Bedeutung <strong>der</strong> Schulterstabilität<br />

beim Tetraplegiker<br />

Für e<strong>in</strong>en Patienten mit e<strong>in</strong>er Tetraplegie<br />

s<strong>in</strong>d schmerzfreie, endgradig frei bewegliche<br />

und muskulär stabile Schultern für die<br />

Rehabilitation von grosser Bedeutung.<br />

Sämtliche funktionellen Aktivitäten basieren<br />

auf e<strong>in</strong>er muskulär gut abgesicherten<br />

Schulter. Daher steht zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Rehabilitation<br />

e<strong>in</strong> ausgeprägtes Kraft- und Ausdauertra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

<strong>der</strong> verbliebenen Muskula-<br />

Abb. 24–31. Boden-Rollstuhl-Transfer.<br />

tur ( Abb. 32 ), dies <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit e<strong>in</strong>er<br />

Schulung <strong>der</strong> Propriorezeption. Die<br />

Koord<strong>in</strong>ation <strong>der</strong> Kraft und <strong>der</strong> Propriorezeption<br />

ermöglichen dem Patienten e<strong>in</strong>en<br />

funktionellen Stütz. So kann die durch die<br />

Lähmung entstandene muskuläre Dysbalance<br />

im Alltag grösstenteils kompensiert<br />

werden.<br />

Die <strong>in</strong>komplette<br />

Querschnittläsion<br />

Die Vielfalt des Ersche<strong>in</strong>ungsbildes bei e<strong>in</strong>er<br />

<strong>in</strong>kompletten Läsion macht es unmöglich,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Frühphase e<strong>in</strong>e Prognose <strong>in</strong><br />

Bezug auf die Gehfähigkeit des Patienten<br />

zu stellen.<br />

So zahlreich die Ersche<strong>in</strong>ungsbil<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

verschiedenen <strong>in</strong>kompletten Läsionen bei<br />

den Patienten zu sehen s<strong>in</strong>d, so zahlreich<br />

s<strong>in</strong>d auch die Therapieansätze.<br />

Als Grundlage dient e<strong>in</strong>e genaue Befundung,<br />

aus <strong>der</strong> Nah- und Fernziele klar abgeleitet<br />

werden müssen.<br />

336 Physiotherapie


Abb. 32. Ü bung zur Verbesserung <strong>der</strong> Schulterstabilität.<br />

Wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Behandlung von Patienten<br />

überhaupt, beson<strong>der</strong>s aber <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neurorehabilitation,<br />

spielt die Funktion <strong>der</strong><br />

Rumpfaktivitäten e<strong>in</strong>e grosse Rolle. E<strong>in</strong><br />

Patient mit guter Muskulatur <strong>der</strong> unteren<br />

Extremitäten, aber sehr schlechter Rumpfmuskulatur,<br />

wird nie funktionell gehfähig<br />

werden. So kommen die verschiedenen<br />

Behandlungskonzepte wie Bobath (Abb.<br />

34), Prop riorezeptive Neuromuskuläre<br />

Fazilitati on (PNF) (Abb. 33), Funktionelle<br />

Bewegungslehre (nach Dr. h.c. S. Kle<strong>in</strong>-Vogelbach),<br />

Vojta (Abb. 35), das Lokomoti-<br />

Abb. 33. PNF – bilaterale Armpattern.<br />

<strong>Physiotherapeutische</strong> <strong>Massnahmen</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Rehabilitationsphase<br />

onstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g auf dem Laufband und generell<br />

e<strong>in</strong> funktionelles Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g hier im erhöhten<br />

Masse zur An wendung. Ergänzend<br />

dazu werden die verschiedenen Sporttherapien<br />

mit unterschiedlichen Schwerpunkten,<br />

die Wassertherapie vorwiegend<br />

nach <strong>der</strong> Halliwick-Methode und die Hippotherapie<br />

<strong>in</strong> die Behandlung <strong>in</strong>tegriert.<br />

In <strong>der</strong> Regel werden die Patienten mit<br />

e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>kompletten Läsion über e<strong>in</strong>en langen<br />

Zeitraum h<strong>in</strong> behandelt. Die Behandlungsschwerpunkte<br />

richten sich immer<br />

nach dem <strong>der</strong>zeitigen aktuellen Befund.<br />

Im Vor<strong>der</strong>grund e<strong>in</strong>er jeden Therapiee<strong>in</strong>heit<br />

steht immer die Verbesserung e<strong>in</strong>er<br />

Teilfunktion e<strong>in</strong>es bestimmten Bewegungsablaufes.<br />

Die Auswahl des zur Anwendung kommenden<br />

Konzeptes bleibt weitgehend dem<br />

Therapeuten überlassen, muss jedoch die<br />

für den jeweiligen Patienten notwendigen<br />

Kriterien unbed<strong>in</strong>gt erfüllen.<br />

Nicht zu unterschätzen ist die Aufgabe<br />

des Therapeuten im «prophylaktischen»<br />

Beraten und Handeln. E<strong>in</strong>e z.B. zu früh begonnene<br />

Gangschule kann sich auf den<br />

physiologischen Bewegungsablauf des zu<br />

erreichenden Gangbildes äusserst negativ<br />

auswirken. Zudem gilt es, Spätschäden z.B.<br />

an Knie, Hüfte und Wirbelsäule zu vermeiden.<br />

Der Wunsch des Patienten, mit dem<br />

Gehen anzufangen, kommt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel zu<br />

früh und muss durch fachgerechte und für<br />

den Patienten klar verständliche Erklärung<br />

vom Therapeuten zunächst zurückgestellt<br />

werden. Parallel dazu sollte e<strong>in</strong>e<br />

Abklärung <strong>der</strong> Hilfsmittel, die für die<br />

Gangschule benötigt werden, stattfi nden.<br />

Die Auswahl des richtigen Hilfsmittels<br />

wird sich im Verlauf <strong>der</strong> Rehabilitation <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Regel mehrfach än<strong>der</strong>n und sollte immer<br />

wie<strong>der</strong> dem neuesten funktionellen<br />

Stand des Patienten angepasst werden. So<br />

ist e<strong>in</strong>e Mehrfachversorgung mit verschiedenen<br />

Gehhilfsmitteln während <strong>der</strong> Rehabilitationsphase<br />

nicht immer zu vermeiden.<br />

Abb. 34. Verbesserung <strong>der</strong> Rumpfmobilität<br />

nach Bobath.<br />

337<br />

22


Abb. 35. Therapie nach Dr. V. Vojta.<br />

Therapiekonzepte, die im SPZ Nottwil<br />

zur Anwendung kommen:<br />

• Propriorezeptive Neuromuskuläre<br />

Fazilitation ( Abb. 33 ) [2]<br />

• Therapie nach Bobath ( Abb. 34 ) [3]<br />

• Therapie nach Vojta ( Abb. 35 ) [4, 5]<br />

• Funktionelle Bewegungslehre nach<br />

Kle<strong>in</strong>-Vogelbach [6]<br />

• Manuelle Techniken: Schweizerische<br />

Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft für Manuelle<br />

Therapie, Maitland, Sohier<br />

• Funktionelle und therapeutische<br />

Elektrostimulation [7]<br />

• Lokomotionstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g auf dem<br />

Laufband [8]<br />

• Wassertherapie: Halliwick-Methode,<br />

Watsu [9]<br />

Weiterführende Literatur zu den erwähnten<br />

Techniken ist unter den Eigennamen<br />

<strong>in</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Bibliotheken erhältlich.<br />

Literatur<br />

1 Cotta H, et al : Grundlagen <strong>der</strong> Krankengymnastik.<br />

Stuttgart, Thieme, 1985 , Bd 1.<br />

2 Buck M: PNF <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis. Berl<strong>in</strong>, Spr<strong>in</strong>ger, 2005.<br />

3 Davis PM: Steps to Follow. Berl<strong>in</strong>, Spr<strong>in</strong>ger, 2000.<br />

4 Vojta V: Das Vojta-Pr<strong>in</strong>zip. Berl<strong>in</strong>, Spr<strong>in</strong>ger, 2001.<br />

5 Vojta V: Die cerebralen Bewegungsstörungen im<br />

Säugl<strong>in</strong>gsalter. Stuttgart, Thieme, 2004.<br />

6 Kle<strong>in</strong>-Vogelbach S: Funktionelle Bewegungslehre.<br />

Berl<strong>in</strong>, Spr<strong>in</strong>ger, 2000.<br />

7 Benton LA, Baker LL, Bowman BR, Waters RL: Funktionelle<br />

Elektrostimulation – E<strong>in</strong> Leitfaden für die<br />

Praxis. Darmstadt, Ste<strong>in</strong>kopff, 1983.<br />

8 Müller S: Motorische Rehabilitation beim komplett<br />

und <strong>in</strong>komplett Querschnittgelähmten. München,<br />

Pfl aum, 2002, Kap 4.3.<br />

9 Weber-Witt H: Erlebnis Wasser. Berl<strong>in</strong>, Spr<strong>in</strong>ger,<br />

2004.<br />

338 Physiotherapie


Physiotherapie<br />

Rollstuhltra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

Freies Bewegen im Rollstuhl setzt e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle Anpassung<br />

des Rollstuhles und e<strong>in</strong> gestaffeltes Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g voraus. Das <strong>in</strong>dividuelle<br />

Ziel ist abhängig von <strong>der</strong> Läsionshöhe und bei Tetraplegikern sehr<br />

begrenzt.<br />

Die Voraussetzung für e<strong>in</strong> erfolgreiches<br />

Rollstuhltra<strong>in</strong><strong>in</strong>g ist e<strong>in</strong> gut angepasster<br />

Rollstuhl. Die Bedürfnisse s<strong>in</strong>d auf Grund<br />

von Läsionshöhe, Alter und Konstitution<br />

sehr unterschiedlich. Der Patient wählt zusammen<br />

mit dem Team, nach e<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong><br />

Beratung und nach dem Ausprobieren verschiedener<br />

Modelle, den für ihn geeigneten<br />

Rollstuhl aus.<br />

Das Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g beg<strong>in</strong>nt mit dem Sitzen im<br />

Rollstuhl. Die selbstständige Positionierung<br />

im Rollstuhl und das Öffnen und Lösen<br />

<strong>der</strong> Bremsen müssen erlernt werden.<br />

Für e<strong>in</strong>en Paraplegiker bietet das Vor- und<br />

Abb. 51. Erlernen des Kippens.<br />

Rückwärtsfahren sowie das Öffnen und<br />

Schliessen von Türen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel ke<strong>in</strong>e<br />

Probleme. Die Basis für das gesamte Rollstuhltra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

beim Paraplegiker ist das<br />

Kippen des Stuhles auf die H<strong>in</strong>terrä<strong>der</strong>.<br />

Dies wird zunächst mit e<strong>in</strong>er Hilfsperson<br />

erlernt ( Abb. 51 ) . Zu den Grundübungen<br />

gehört das Kippen auf <strong>der</strong> Stelle, das Drehen<br />

nach rechts und l<strong>in</strong>ks mit gekipptem<br />

Stuhl, das Vor- und Rückwärtsfahren auf<br />

den H<strong>in</strong>terrä<strong>der</strong>n, das Kippen des Stuhles<br />

aus dem Stand und beim Vorwärtsfahren<br />

sowie das gekippte Fahren auf unebenem<br />

Gelände, wie z.B. auf Sand, Rasen, Kopf-<br />

Abb. 52. Überw<strong>in</strong>den e<strong>in</strong>es Trottoirrandes.<br />

ste<strong>in</strong>pfl aster o<strong>der</strong> Kies. Das Überw<strong>in</strong>den<br />

von Rampen, Trottoirrän<strong>der</strong>n und Treppen<br />

stellt den Bezug zum Alltag her<br />

( Abb. 52 , 53 ). Trotz bestem Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g ist e<strong>in</strong><br />

Stürzen des Rollstuhles nach h<strong>in</strong>ten nicht<br />

auszuschliessen und wird ebenfalls tra<strong>in</strong>iert<br />

(Abb. 54). Im Idealfall lernt <strong>der</strong> Patient,<br />

mit ger<strong>in</strong>gem Aufwand, bei allerd<strong>in</strong>gs<br />

gut beweglichen Gelenken, dann auch wie<strong>der</strong><br />

vom Boden <strong>in</strong> die Sitzposition und <strong>in</strong><br />

den Rollstuhl zurückzukommen.<br />

All die bis jetzt genannten Aktivitäten<br />

werden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zeltherapie<br />

geübt. Das Rollstuhltra<strong>in</strong><strong>in</strong>g <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe<br />

ergänzt die E<strong>in</strong>zeltherapie und beschäftigt<br />

sich hauptsächlich mit Kraft, Ausdauer<br />

und Wendigkeit. Das Erreichen oben genannter<br />

Ziele stellt e<strong>in</strong>e gute Vorbereitung<br />

auf den Rollstuhlsport dar, <strong>der</strong> als Freizeit-<br />

o<strong>der</strong> Spitzensport erst nach <strong>der</strong> Entlassung<br />

und somit nach Abschluss <strong>der</strong> Erstrehabilitation<br />

betrieben wird.<br />

Abb. 53. Treppabfahren mit e<strong>in</strong>er Hilfsperson.<br />

350 Physiotherapie


Abb. 54. Stürzen im Rollstuhl.<br />

Werden alle E<strong>in</strong>zelaktivitäten vom Patienten<br />

beherrscht und verfügt er über e<strong>in</strong>e<br />

gute Kondition, sollte man im Rahmen <strong>der</strong><br />

Gruppentherapie nach Möglichkeit e<strong>in</strong>e<br />

Tour z.B. <strong>in</strong> die Innenstadt unternehmen.<br />

Dort ergeben sich dann auch Gelegenheiten,<br />

z.B. Rollbän<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Rolltreppen auszuprobieren.<br />

Der Strassenverkehr wird<br />

selbst bei sicherer Beherrschung des Rollstuhls<br />

vom Patienten oft als Überfor<strong>der</strong>ung<br />

empfunden, die Konzentration auf<br />

e<strong>in</strong>en Trottoirrand lässt ihn das Beachten<br />

e<strong>in</strong>er Ampel z.B. e<strong>in</strong>fach vergessen. Das<br />

Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g dieser Alltagssituation ist nötig<br />

und wichtig. E<strong>in</strong> solcher Ausfl ug baut die<br />

Ängste vor dem Unbekannten ab, zeigt<br />

aber auch die Grenzen des Möglichen. Hil-<br />

Rollstuhltra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

festellungen von Drittpersonen können<br />

nötig werden, daher ist es wichtig, dass je<strong>der</strong><br />

Rollstuhlfahrer weiss, wie und wo man<br />

ihm behilfl ich se<strong>in</strong> kann. Der Rollstuhlfahrer<br />

selber sollte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage se<strong>in</strong>, Anweisungen<br />

zur Hilfestellung zu geben. Die Passanten<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel sehr hilfsbereit,<br />

aber oft mit <strong>der</strong> Situation überfor<strong>der</strong>t.<br />

So vielseitig die Möglichkeiten e<strong>in</strong>es<br />

Paraplegikers s<strong>in</strong>d, so ger<strong>in</strong>g s<strong>in</strong>d die e<strong>in</strong>es<br />

Tetraplegikers. Die Läsionshöhe e<strong>in</strong>es Tetraplegikers<br />

entscheidet mit jedem fehlenden<br />

Segment über die Fähigkeiten se<strong>in</strong>er<br />

Rollstuhlaktivität. E<strong>in</strong> Segment alle<strong>in</strong> kann<br />

entscheiden, ob <strong>der</strong> Patient je <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage<br />

se<strong>in</strong> wird, sich mit se<strong>in</strong>em manuellen Rollstuhl<br />

alle<strong>in</strong>e fortzubewegen o<strong>der</strong> nicht.<br />

Gehen wir von e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> häufi gsten Läsionen,<br />

z.B. C 6 aus, so ist dieser Tetraplegiker<br />

sicher <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, se<strong>in</strong>en Rollstuhl auf<br />

ebenem Gelände vor- und rückwärts zu<br />

fahren und den Stuhl nach rechts und l<strong>in</strong>ks<br />

zu drehen. Das Öffnen und Schliessen von<br />

Türen ist oft nur mit Hilfsmitteln (grosse<br />

Kl<strong>in</strong>ken, Schlaufen usw.) möglich, kle<strong>in</strong>e<br />

Türschwellen können genauso wie kurze,<br />

fl ache Rampen überwunden werden. E<strong>in</strong><br />

sicheres Kippen auf die H<strong>in</strong>terrä<strong>der</strong> und<br />

die daraus resultierenden Aktivitäten s<strong>in</strong>d<br />

aber auf Grund fehlen<strong>der</strong> Greiffunktionen<br />

<strong>der</strong> Hände und fehlen<strong>der</strong> Aktivität des<br />

Musculus triceps brachii <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nicht<br />

möglich.<br />

351<br />

22


Physiotherapie<br />

Möglichkeiten <strong>der</strong><br />

Stehversorgung<br />

Die Notwendigkeit des Stehtra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs wird aufgezeigt. Es werden<br />

verschiedene Hilfsmittel vorgestellt. Auch hier ist die <strong>in</strong>dividuelle<br />

Anpassung an Läsionshöhe, Funktionsfähigkeit und Räumlichkeit<br />

massgebend.<br />

Im Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil<br />

wird überwiegend mit allen Patienten<br />

e<strong>in</strong> tägliches Stehtra<strong>in</strong><strong>in</strong>g von e<strong>in</strong>er halben<br />

Stunde durchgeführt. Die Indikationen für<br />

das Stehtra<strong>in</strong><strong>in</strong>g s<strong>in</strong>d: Kontrakturprophylaxe<br />

für Hüft-, Knie- und Sprunggelenke,<br />

Abb. 60. Der Stehtisch.<br />

Weichteilentlastung für das Gesäss zur Dekubitusprophylaxe,<br />

Tonusregulation und<br />

Kreislauftra<strong>in</strong><strong>in</strong>g.<br />

Nach <strong>in</strong>tensivem Ausprobieren und<br />

fachgerechter Beratung sollte je<strong>der</strong> Patient<br />

das für ihn adäquate Hilfsmittel für zu<br />

Hause zum täglichen Stehtra<strong>in</strong><strong>in</strong>g zur Verfügung<br />

gestellt bekommen. Dabei dürfen<br />

<strong>in</strong>dividuelle Wünsche und häusliche Gegebenheiten<br />

bei <strong>der</strong> Auswahl nicht unberücksichtigt<br />

bleiben. Das Stehhilfsmittel<br />

sollte sowohl für den Patienten als auch für<br />

e<strong>in</strong>e eventuelle Hilfsperson e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Bedienung und nicht reparaturanfällig<br />

se<strong>in</strong>. Aus diesen Überlegungen ergeben<br />

sich folgende Möglichkeiten.<br />

Das Stehbett<br />

Das Stehbett bietet als komb<strong>in</strong>iertes Steh-<br />

und Pfl egebett den grossen Vorteil e<strong>in</strong>es<br />

komb<strong>in</strong>ierten Hilfsmittels. Es ist <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Handhabung e<strong>in</strong>fach und zuverlässig. Das<br />

Stehbett ist normalerweise nicht als Doppelbett<br />

lieferbar und benötigt e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>destraumhöhe<br />

von 2,20 m. Das Stehbett<br />

wird bei uns <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel an Tetraplegiker,<br />

<strong>in</strong> seltenen Fällen auch an Paraplegiker abgegeben.<br />

Abbildung 60 zeigt den Stehtisch,<br />

wie er <strong>in</strong> <strong>der</strong> Physiotherapie benutzt wird.<br />

Freistehbarren mit elektrischer<br />

o<strong>der</strong> mechanischer<br />

Rollgurtvorrichtung<br />

Der Freistehbarren ( Abb. 61 ) ermöglicht<br />

dank se<strong>in</strong>er Rollgurtvorrichtung hohen<br />

Paraplegikern, aber auch tiefen Tetraplegikern<br />

das selbstständige Aufstehen. Die<br />

Entscheidung zugunsten e<strong>in</strong>er elektrischen<br />

o<strong>der</strong> manuellen Aufrichtehilfe ist<br />

abhängig von Lähmungshöhe, Alter und<br />

Konstitution des Patienten. Die Kniefi xation,<br />

die Stützholme und die montierte Ar-<br />

358 Physiotherapie


Abb. 61. Stehen im elektrischen Freistehbarren.<br />

beitsfl äche s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Höhe frei verstellbar.<br />

Der Freistehbarren ist an ke<strong>in</strong>en festen<br />

Ort gebunden und kann je nach Bedarf<br />

von e<strong>in</strong>em Raum zum an<strong>der</strong>en transportiert<br />

werden.<br />

Manueller Freistehbarren<br />

Der manuelle Freistehbarren ( Abb. 62 ) ist<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel für Paraplegiker geeignet, die<br />

Fixation des Beckens erfolgt über e<strong>in</strong>e<br />

schwenkbare Platte.<br />

Möglichkeiten <strong>der</strong> Stehversorgung<br />

Abb. 62. Der manuelle Freistehbarren. Abb. 63. Der elektrohydraulische Stehrollstuhl.<br />

Wandstehgerät mit Rollgurt<br />

und 3 Stangen<br />

Dieses Hilfsmittel ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Indikation<br />

ähnlich wie <strong>der</strong> Freistehbarren. Für Tetraplegiker<br />

ist es nicht geeignet, wird aber<br />

häufi g auch an ältere Patienten mit tieferen<br />

Läsionen abgegeben. Die Montage erfolgt<br />

mittels Dübeln an e<strong>in</strong>e feste Wand. Somit<br />

ist man beim Stehen räumlich gebunden.<br />

Elektrohydraulischer<br />

Stehrollstuhl<br />

Dieser Rollstuhl ( Abb. 63 ) wird, wie all die<br />

oben erwähnten Stehhilfsmittel, während<br />

<strong>der</strong> Erstrehabilitation ausprobiert und angeboten.<br />

Er eignet sich für Patienten, die<br />

im berufl ichen o<strong>der</strong> häuslichen Alltag auf<br />

e<strong>in</strong>en ständigen Wechsel zwischen Sitz-<br />

und Stehhöhe angewiesen s<strong>in</strong>d. Normalerweise<br />

eignet er sich für Para-, <strong>in</strong> seltenen<br />

Fällen auch für Tetraplegiker. Die Indikation<br />

<strong>der</strong> Kontrakturenprophylaxe wird mit<br />

diesem Stehhilfsmittel <strong>in</strong> aller Regel nicht<br />

zu 100% erfüllt, da Hüft-, Knie- und<br />

Sprunggelenke nicht exakt <strong>in</strong> Neutralstellung<br />

übere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> e<strong>in</strong>gestellt werden können.<br />

359<br />

22


Physiotherapie<br />

Sporttherapie<br />

Sport <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rehabilitation von Querschnittgelähmten wurde von<br />

Ludwig Guttmann <strong>in</strong> England nach dem zweiten Weltkrieg erstmals<br />

angewandt. Seitdem gehört Sport zum Therapieprogramm <strong>in</strong> den<br />

Rehabilitationskl<strong>in</strong>iken.<br />

Mit verschiedenen Sportaktivitäten soll das allgeme<strong>in</strong>e und<br />

ganzheitliche Rehabilitationsziel «grösstmögliche Selbstständigkeit»<br />

des Patienten besser und schneller erreicht werden. Motorische<br />

Fähigkeiten und Fertigkeiten werden erlernt, geübt und verbessert.<br />

So können e<strong>in</strong>e möglichst hohe Mobilität im Alltag erreicht sowie die<br />

Grundlagen für spätere Sportaktivitäten und die Motivation zu<br />

lebenslanger Ausübung vermittelt werden.<br />

Die Sportmethodik und -didaktik, pädagogische und tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gswissenschaftliche<br />

Erkenntnisse sowie die bestehenden Sporttechniken<br />

s<strong>in</strong>d die Grundlage für sporttherapeutisches Handeln, jeweils<br />

unter Berücksichtigung <strong>der</strong> Voraussetzungen des E<strong>in</strong>zelnen.<br />

Therapieziele<br />

In <strong>der</strong> Sporttherapie gilt wie <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Therapiebereichen, dass erfolgreiches<br />

Handeln zielgerichtet se<strong>in</strong> muss. Die Ziele<br />

<strong>der</strong> Sporttherapie lassen sich formal <strong>in</strong><br />

zwei Bereiche e<strong>in</strong>teilen:<br />

• motorisch-funktionelle Ziele;<br />

• die Motivation zu lebenslanger Sportaktivität<br />

[1] .<br />

In <strong>der</strong> Praxis lassen sich die beiden Bereiche<br />

nicht vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> trennen. Inhalte<br />

<strong>der</strong> Sporttherapie dienen häufi g sowohl<br />

Zielen aus dem e<strong>in</strong>en wie aus dem an<strong>der</strong>en<br />

Bereich.<br />

Motorisch-funktionelle Ziele<br />

Mit den nachfolgend aufgeführten Zielen<br />

werden die <strong>Massnahmen</strong> <strong>der</strong> Physiotherapie<br />

unterstützt und weitergeführt. Die Ziele<br />

s<strong>in</strong>d:<br />

• die Verbesserung <strong>der</strong> motorischen<br />

Grundeigenschaften Kraft, Ausdauer,<br />

Sporttherapie<br />

Schnelligkeit, Beweglichkeit und Koord<strong>in</strong>ation<br />

[1] sowie<br />

• das Erlernen und Verbessern von verschiedenen<br />

Bewegungsabläufen und<br />

Sportarten.<br />

• Dem gestörten Körperschema nach<br />

E<strong>in</strong>tritt <strong>der</strong> Lähmung kann mit Sport<br />

entgegengewirkt werden. Auf Grund<br />

<strong>der</strong> gestörten Sensibilität (vor allem<br />

Verlust von Oberfl ächen- und Tiefensensibilität)<br />

gelangen Informationen<br />

über die Stellung <strong>der</strong> gelähmten Körperteile<br />

und <strong>der</strong>en Bezug zur Umwelt<br />

nicht mehr <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> des Querschnittgelähmten.<br />

Durch den Sport<br />

können die Orientierung am Körper<br />

und die Orientierung im Raum geübt<br />

und verbessert und die Entwicklung e<strong>in</strong>es<br />

neuen Körperschemas unterstützt<br />

werden [2] .<br />

Mit zielgerichtet e<strong>in</strong>gesetzten Sportaktivitäten<br />

wird so e<strong>in</strong> grösseres Repertoire<br />

an Bewegungserfahrungen geschaffen, die<br />

noch <strong>in</strong>nervierte Muskulatur tra<strong>in</strong>iert und<br />

die Mobilität des Querschnittgelähmten<br />

im Alltag erhöht.<br />

Motivation zu lebenslanger<br />

Sportaktivität<br />

Der Sport kann auf verschiedenen Ebenen<br />

positiv wirken:<br />

• Der Sport ist e<strong>in</strong> Mittel zur Prävention<br />

gegen Bewegungsmangelerkrankungen<br />

<strong>in</strong> unserer heutigen Gesellschaft. Dies<br />

gilt im Beson<strong>der</strong>en auch für Querschnittgelähmte,<br />

die ihr Leben fast ausschliesslich<br />

im Sitzen verbr<strong>in</strong>gen [1] .<br />

• Die körperliche Fitness ist Voraussetzung<br />

für e<strong>in</strong> möglichst unabhängiges<br />

Leben. Mangelnde Kraft o<strong>der</strong> Geschicklichkeit<br />

z.B. für e<strong>in</strong>en selbstständigen<br />

Transfer <strong>in</strong>s Auto o<strong>der</strong> zurück <strong>in</strong> den<br />

Rollstuhl bedeutet e<strong>in</strong>en erheblichen<br />

Verlust von Selbstständigkeit.<br />

• Sport macht es möglich, e<strong>in</strong>e Form von<br />

Gruppengefühl zu erleben sowie Fairness<br />

und soziales Handeln zu üben.<br />

Sportaktivitäten können soziale Kontakte<br />

schaffen und so zu e<strong>in</strong>er besseren<br />

Integration <strong>in</strong> die Gesellschaft beitragen.<br />

• Sport bietet e<strong>in</strong>e Möglichkeit <strong>der</strong> Freizeitgestaltung,<br />

sowohl mit an<strong>der</strong>en<br />

Rollstuhlfahrern als auch mit Fussgängern.<br />

So können zum Beispiel Handbiketouren<br />

geme<strong>in</strong>sam mit Fahrradfahrern<br />

o<strong>der</strong> Inl<strong>in</strong>eskatern unternommen<br />

werden.<br />

• Spass und Freude an körperlicher Bewegung<br />

erleben. Dabei können schon<br />

kle<strong>in</strong>e Fortschritte Erfolgserlebnisse<br />

bedeuten und das Selbstwertgefühl<br />

steigern.<br />

Der Querschnittgelähmte erlernt<br />

Grundtechniken verschiedener Sportarten<br />

während des stationären Aufenthaltes.<br />

363<br />

22


Paraplegiker<br />

F<br />

O<br />

R<br />

T<br />

Sportspiele<br />

G ( Badm<strong>in</strong>ton/<br />

Basketball/<br />

Unihockey)<br />

E<br />

S<br />

C<br />

H<br />

R<br />

I<br />

Schwimm-Gruppe<br />

Kraftraum-Gruppe<br />

T<br />

T<br />

E<br />

N<br />

E<br />

Konditionstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

Rollstuhltra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

E<strong>in</strong>stieg:<br />

Tischtennis<br />

Bogenschies<br />

sen<br />

Dies erleichert die Entscheidung für e<strong>in</strong>e<br />

Sportart und den aktiven Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er lebenslangen<br />

sportlichen Betätigung nach<br />

Ende <strong>der</strong> Rehabilitation.<br />

Das Angebot <strong>der</strong> Sporttherapie<br />

In <strong>der</strong> Therapie wird zwischen den täglich<br />

stattfi ndenden Sporttherapien <strong>in</strong> Gruppen<br />

und <strong>in</strong>dividuellen Angeboten zum Kennenlernen<br />

verschiedener Sportgeräte unterschieden.<br />

Die täglich stattfi ndenden<br />

Sporttherapien eignen sich für die Mehrzahl<br />

<strong>der</strong> Patienten, wobei die <strong>in</strong>dividuelle<br />

Situation des Patienten (Alter, Nebendiagnosen<br />

und an<strong>der</strong>e Komplikationen während<br />

<strong>der</strong> Rehabilitation) berücksichtigt<br />

werden muss.<br />

Tetrasport<br />

Schwimmen<br />

Tetraplegiker<br />

Bogenschies<br />

sen<br />

Rollstuhltra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

Tischtennis<br />

Tetrasport<br />

Kraftraum-Gruppe<br />

Abb. 71. Schematische Darstellung <strong>der</strong> täglich stattfi ndenden Sporttherapien für Paraplegiker<br />

und für Tetraplegiker. Die Reihenfolge <strong>der</strong> Sporttherapien, die <strong>der</strong> Patient nache<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

absolvieren kann, ist vom E<strong>in</strong>zelfall (z.B. Komplikationen, Alter, kognitive Fähigkeiten,<br />

gemachte Bewegungserfahrungen) abhängig.<br />

Abb. 72. Handbikefahren auf dem Leichtathletikplatz.<br />

Täglich stattfi ndende Sporttherapien<br />

( Abb. 71 ):<br />

• Tetrasport<br />

• Rollstuhltra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

• Konditionstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />

• Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g im Kraftraum<br />

• Bogenschiessen<br />

• Schwimmen<br />

• Tischtennis<br />

• Sportspiele<br />

Im Mittelpunkt <strong>der</strong> jeweiligen Sportart<br />

stehen das Erlernen und Verbessern <strong>der</strong><br />

Grundtechniken und E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> das offi -<br />

zielle Reglement <strong>der</strong> jeweiligen Sportart.<br />

Die Anfor<strong>der</strong>ungen an den Patienten<br />

s<strong>in</strong>d unterschiedlich hoch, sowohl <strong>in</strong><br />

Bezug auf Rollstuhlbeherrschung, Sitz -<br />

balance und Ausdauer als auch <strong>in</strong> Bezug<br />

auf die Komplexität <strong>der</strong> Bewegungsaufgaben.<br />

Die Inhalte s<strong>in</strong>d verschiedene Fahrformen<br />

mit dem Rollstuhl, Übungs- und<br />

Spielformen aus dem allgeme<strong>in</strong>en Sport<br />

und den Ballsportarten, angepasst an die<br />

Möglichkeiten <strong>der</strong> Teilnehmer, d.h. abhängig<br />

von <strong>der</strong> Läsionshöhe, vom Alter, <strong>der</strong><br />

Konstitution und den Bewegungserfahrungen<br />

des Patienten.<br />

Bei den Sportspielen s<strong>in</strong>d die Inhalte<br />

abhängig von den Möglichkeiten und<br />

Wünschen <strong>der</strong> Patienten sowie <strong>der</strong> Anzahl<br />

<strong>der</strong> Teilnehmer. Der Therapeut entscheidet<br />

zusammen mit den Patienten, welche <strong>der</strong><br />

Sportarten (Badm<strong>in</strong>ton, Tennis, Basketball<br />

o<strong>der</strong> Unihockey) gespielt wird.<br />

Individuelle Angebote <strong>der</strong><br />

Sporttherapie<br />

Die Sporttherapie bietet den Patienten zusätzlich<br />

die Möglichkeit, verschiedene<br />

Sportgeräte kennen zu lernen:<br />

• Handbike<br />

• Rennrollstuhl<br />

• Rugbystuhl<br />

• Kanu<br />

• Monoskibob<br />

• Gerätetauchausrüstung<br />

Diese Sportarten erfor<strong>der</strong>n beim Patienten<br />

beson<strong>der</strong>e Voraussetzungen <strong>in</strong> Bezug<br />

auf Interessen und körperliche Fähigkeiten.<br />

Zum Beispiel muss <strong>der</strong> Patient für<br />

das Kanufahren aus Sicherheitsgründen<br />

ausreichend ans Wasser gewöhnt se<strong>in</strong> und<br />

selbstständig schwimmen können. Damit<br />

das Monoskibobfahren zu e<strong>in</strong>em positiven<br />

Erlebnis wird, s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e ausreichende<br />

Stützkraft und Sitzbalance notwendig, und<br />

<strong>der</strong> Patient sollte Interesse am W<strong>in</strong>tersport<br />

haben. Selbstverständ lich dürfen für sämtliche<br />

Aktivitäten ke<strong>in</strong>e mediz<strong>in</strong>ischen<br />

Kontra<strong>in</strong>dikationen vorliegen. Beson<strong>der</strong>s<br />

zu beachten s<strong>in</strong>d dabei die Hautverhältnisse<br />

und die Konsolidierung des Knochens<br />

nach Frakturen ( Abb. 72–76 ).<br />

Organisation und Durchführung<br />

<strong>der</strong> Sporttherapie<br />

Bei <strong>der</strong> Organisation und Durchführung<br />

<strong>der</strong> Sporttherapie ist die vorhandene Infrastruktur<br />

<strong>der</strong> Rehabilitationse<strong>in</strong>richtung<br />

e<strong>in</strong> wichtiger Aspekt. Im Schweizer Paraplegiker-Zentrum<br />

Nottwil stehen den Pa-<br />

364 Physiotherapie


Abb. 73. Erste Erfahrungen im Rennrollstuhl auf <strong>der</strong> Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsrolle. Der Anfänger kann sich auf<br />

das Antreiben <strong>der</strong> Rä<strong>der</strong> konzentrieren, ohne lenken zu müssen.<br />

tienten die Sporthalle, <strong>der</strong> Kraftraum, das<br />

Schwimmbad, die Bogenschiessanlage<br />

und <strong>der</strong> Tischtennisraum täglich zur Verfügung<br />

. Im Sommer bietet <strong>der</strong> Sempacher<br />

See <strong>in</strong> unmittelbarer Nähe zum Zentrum<br />

Möglichkeiten für Wassersport aktivitäten.<br />

Weiterh<strong>in</strong> können zwei Tennisplätze sowie<br />

<strong>der</strong> Leichthathletikplatz genutzt werden.<br />

E<strong>in</strong> zweiter Aspekt bezieht sich auf die<br />

Gesamtzahl <strong>der</strong> Patienten <strong>in</strong> <strong>der</strong> jeweiligen<br />

Institution. Je grösser die Anzahl <strong>der</strong> Patienten<br />

ist, desto eher lassen sich Sporttherapien<br />

für Patienten mit ähnlichen Voraussetzungen<br />

und gleichen Zielsetzungen <strong>in</strong><br />

Gruppen organisieren .<br />

Neben diesen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen hat<br />

<strong>der</strong> Begriff Teamarbeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rehabilitation<br />

speziell <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sporttherapie e<strong>in</strong>e wich-<br />

Abb. 74. Kanufahren im Schwimmbad.<br />

Sporttherapie<br />

tige Bedeutung. E<strong>in</strong>e enge Zusammenarbeit<br />

mit <strong>der</strong> Physiotherapie ist notwendig,<br />

da die Sporttherapie im motorisch-funktionellen<br />

Therapiezielbereich als Erweiterung<br />

und Fortsetzung <strong>der</strong> physiotherapeutischen<br />

Ziele arbeitet. Im Schweizer Paraplegiker-Zentrum<br />

Nottwil ist deshalb die<br />

Sporttherapie organisatorisch <strong>in</strong> die Physiotherapie<br />

<strong>in</strong>tegriert. Dies erleichtert den<br />

wichtigen Informationsaustausch zwischen<br />

Physio- und Sporttherapie.<br />

Vor <strong>der</strong> Entlassung führt <strong>der</strong> Sporttherapeut<br />

e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelgespräch mit dem Patienten<br />

zur Sportberatung durch. Interessen<br />

und lokale Möglichkeiten, am Wohnort <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> gewünschten Sportart aktiv zu se<strong>in</strong>,<br />

werden abgeklärt. Der Patient erhält Informationen<br />

zum umfangreichen Kursan-<br />

Abb. 75. Erste Versuche beim Gerätetauchen<br />

mit erfahrenen Helfern im Schwimmbad.<br />

gebot <strong>der</strong> Schweizer Paraplegiker-Vere<strong>in</strong>igung<br />

und zu den Angeboten <strong>der</strong> Rollstuhlklubs<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Wohnregion. Der<br />

Sporttherapeut empfi ehlt jedem Patienten<br />

Sportarten aus sporttherapeutischer bzw.<br />

präventiver Sicht und weist auf mögliche<br />

Risiken im E<strong>in</strong>zelfall h<strong>in</strong>.<br />

Der Übergang von <strong>der</strong> Sporttherapie zu<br />

lebenslanger sportlicher Aktivität wird<br />

durch die Möglichkeit unterstützt, gegen<br />

Ende <strong>der</strong> Rehabilitation an Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsabenden<br />

externer Rollstuhlsportler (Basketball,<br />

Rugby, Tischtennis, Tennis) teilzunehmen.<br />

Literatur<br />

1 Buck M, Beckers D: Rehabilitation bei Querschnittlähmung.<br />

Berl<strong>in</strong>, Spr<strong>in</strong>ger, 1993, p 235.<br />

2 Kosel H, Froböse I: Rehabilitationssport und Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tensport:<br />

Körper- und S<strong>in</strong>nesbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>te. München,<br />

Pfl aum, 1999, p 139.<br />

Weiterführende Literatur<br />

• Arnold W, Israel S, Richter H: Sport mit Rollstuhlfahrern.<br />

Leipzig, Barth, 1992.<br />

• Brüggemann K, Wittmann C: Sporttherapie bei Querschnittlähmung;<br />

<strong>in</strong> Hüter-Becker A, Dölken M (Hrsg):<br />

Physiotherapie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neurologie. Stuttgart, Thieme,<br />

2004, pp 353–402.<br />

• Cagol E: Sporttherapie; <strong>in</strong> Müller S (Hrsg): Motorische<br />

Rehabilitation bei komplett und <strong>in</strong>komplett<br />

Querschnittgelähmten. München, Pfl aum, 2002, pp<br />

210–267.<br />

• Rolf G, Witt H: Der kl<strong>in</strong>ische Sport <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rehabilitation<br />

Querschnittgelähmter. Stuttgart, Kohlhammer,<br />

1972.<br />

Abb. 76. Erste Erfahrungen beim Skifahren.<br />

Der Skilehrer kann über die Seile die<br />

Geschw<strong>in</strong>digkeit des Skibobfahrers kontrollieren.<br />

365<br />

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