1803_ZESO-Digitale Beratung aA
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SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
<strong>ZESO</strong><br />
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE<br />
03/18<br />
INTERVIEW<br />
Historiker Thomas Huonker<br />
über fürsorgerische<br />
Zwangsmassnahmen<br />
GESUNDHEIT<br />
Gesundheitliche Kluft in<br />
der Gesellschaft entlang<br />
des Einkommens<br />
DEBATTE<br />
Sparentscheide im<br />
Alleingang – auf welcher<br />
Grundlage?<br />
DIGITALE BERATUNG IN<br />
DER SOZIALEN ARBEIT<br />
Neue digitale Möglichkeiten auf dem Vormarsch
SCHWERPUNKT<br />
<strong>Digitale</strong><br />
Innovationen in<br />
der Sozialen<br />
Arbeit<br />
Die digitalen Innovationen bieten<br />
auch in der Sozialen Arbeit<br />
neue Möglichkeiten. Kommunikation<br />
und <strong>Beratung</strong> per Chat,<br />
Mail oder Kurznachrichten werden<br />
von Klienten immer mehr<br />
nachgefragt und von manchen<br />
Institutionen auch angeboten.<br />
Sie bieten eine Reihe von<br />
Vorteilen, doch bergen sie auch<br />
Risiken.<br />
12–23<br />
12–25<br />
<strong>ZESO</strong><br />
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE HERAUSGEBERIN Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS, www.skos.ch REDAKTIONSADRESSE<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN 1422-0636 / 115. Jahrgang<br />
Erscheinungsdatum: 3. September 2018<br />
Die nächste Ausgabe erscheint am 3. Dezember 2018<br />
Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS, Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch, Tel. 031 326 19 19<br />
REDAKTION Ingrid Hess AUTORINNEN UND AUTOREN IN DIESER AUSGABE Marie Baumann, Barbara Beringer,<br />
Julien Cattin, Béatrice Devènes, Joël Luc Cachelin, Palma Fiacco, Patricia Flammer, Therese Frösch, Ingrid<br />
Hess, Martina Hörmann, Oliver Hümbelin, Peter Moesch Payot, Gaby Reber, Stefan Sell, Max Spring, Peter Streckeisen,<br />
Alexander Suter, Susanne Wenger, Felix Wolffers TITELBILD Keystone/Gaetan Bally LAYOUT Marco<br />
Bernet, mbdesign Zürich KORREKTORAT Karin Meier DRUCK UND ABOVERWALTUNG Rub Media, Postfach,<br />
3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 PREISE Jahresabonnement CHF 82.– (SKOS-Mitglieder<br />
CHF 69.–), Jahresabonnement Ausland CHF 120.–, Einzelnummer CHF 25.–.<br />
2 <strong>ZESO</strong> 3/18
04<br />
05<br />
INHALT<br />
4 NACHRICHTEN<br />
Co-Präsidium der SKOS kündigt Rücktritt<br />
an für Mai 2019<br />
5 KOMMENTAR<br />
Verzerrte Wahrnehmung<br />
– Kommentar von Therese Frösch<br />
6 PRAXIS<br />
Wie Stipendien in der Kalkulation berücksichtigen?<br />
7 THEMA SOZIALHILFE<br />
Schnittstelle zwischen Sozial- und Opferhilfe<br />
– ein neues Merkblatt<br />
8 INTERVIEW<br />
«Im Kern ging es darum, die Armen möglichst<br />
kostengünstig zu managen», sagt<br />
der Historiker Thomas Huonker<br />
08<br />
12–25 DIGITALISIERUNG UND SOZIALE ARBEIT<br />
14 Herausforderungen der Digitalisierung<br />
für die Soziale Arbeit<br />
16 Blended Counseling – flexibel und<br />
passgenau beraten<br />
19 #Sozialhilfe auf Social Media – Hochseilakt<br />
mit Wirkung<br />
22 Künstliche Intelligenz und Soziale Arbeit –<br />
ein Blick in die Zukunft<br />
24 «Die Erwartungen an <strong>Beratung</strong> verändern<br />
sich», sagt der Kommunikationswissenschaftler<br />
Reto Eugster<br />
28 30<br />
32<br />
26 FACHBEITRAG<br />
Die gesundheitliche Kluft in der Gesellschaft<br />
beginnt ab der Geburt – eine<br />
BFH-Studie<br />
28 REPORTAGE<br />
Schrebergärten für Langzeitarbeitslose<br />
sind Orte zum Wirken und für Geselligkeit<br />
30 FACHBEITRAG<br />
Ausbildungspraktika und Arbeitseinsätze<br />
unterstehen dem UVG, sagt das Bundesgericht<br />
32 DEBATTE<br />
Ein kritischer Blick auf eine vielzitierte<br />
Luzerner Studie für das Seco<br />
34 DEBATTE<br />
Die Sozialhilfe steht unter Druck – eine<br />
besorgniserregende Entwicklung, findet<br />
SKOS-Co-Präsident Felix Wolffers<br />
36 LESETIPPS UND VERANSTALTUNGEN<br />
3/18 <strong>ZESO</strong><br />
3
Wie kann man das Stipendium bei<br />
der Kalkulation berücksichtigen?<br />
PRAXIS Familie Schuler* wartet auf den Entscheid für ein Stipendium für ihren ältesten Sohn, der<br />
sich im ersten Ausbildungsjahr befindet. Die Familie kann sich nicht selbst versorgen und erhält<br />
Leistungen von der Sozialhilfe. Es stellt sich nun die Frage, wie Stipendien im Sozialhilfebudget der<br />
Familie zu berücksichtigen sind.<br />
Die Familie Schuler hat drei unterhaltsberechtigte<br />
Kinder, darunter einen Sohn im<br />
Alter von 16 Jahren, der sich im ersten Ausbildungsjahr<br />
befindet. Um finanzielle Unterstützung<br />
für die Ausbildung ihres Sohnes<br />
zu erhalten, beantragten die Eltern ein<br />
Stipendium bei der kantonalen Verwaltung.<br />
Da die Familie nicht mehr in der Lage<br />
war, sich selbst zu versorgen, musste zusätzlich<br />
noch Sozialhilfe beantragt werden.<br />
FRAGEN<br />
a) Wie sollen die Sozialhilfeleistungen<br />
während der Zeit bemessen werden, in<br />
welcher der Stipendienantrag geprüft<br />
wird?<br />
b) Wie sollen einmal ausbezahlte Stipendien<br />
in den monatlichen Sozialhilfe-<br />
Budgets berücksichtigt werden?<br />
GRUNDLAGEN<br />
Die SKOS-Richtlinien (SKOS-RL A.4) weisen<br />
darauf hin, dass das Subsidiaritätsprinzip<br />
zwingend zu berücksichtigen ist. Ein<br />
Anspruch auf Sozialhilfe kann nur dann<br />
bestehen, wenn jemand sich nicht selbst<br />
helfen kann, und wenn Hilfe von dritter<br />
Seite nicht oder nicht rechtzeitig erhältlich<br />
ist. Bevor ein Anspruch auf Unterstützungsleistungen<br />
besteht, müssen alle vorgelagerten<br />
Möglichkeiten ausgeschöpft<br />
sein, auch die Stipendien.<br />
So ist es in der Regel Sache der Eltern,<br />
die Kosten für die Erstausbildung ihres<br />
Kindes zu finanzieren (Art. 276 ZGB).<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />
und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />
<strong>Beratung</strong>sangebot für SKOS-Mitglieder.<br />
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />
(einloggen) SKOS-Line.<br />
Ergänzend zum Einkommen der Eltern<br />
und zu anderen Unterstützungsleistungen<br />
kann jedoch ein Anspruch auf Sozialhilfe<br />
bestehen, um den Lebensunterhalt während<br />
der Ausbildung decken zu können.<br />
Möglich ist auch, dass Sozialhilfe bevorschussend<br />
ausbezahlt wird, damit der Lebensunterhalt<br />
bis zur Auszahlung von Stipendien<br />
sichergestellt werden kann.<br />
Bei Stipendien ist zu berücksichtigen,<br />
dass sie sich aus verschiedenen Positionen<br />
zusammensetzen können. Einerseits sind<br />
sie zum Bestreiten des allgemeinen Lebensunterhalts<br />
gedacht, andererseits sind<br />
Mittel enthalten für Kosten, die mit der<br />
Ausbildung zusammenhängen, aber nicht<br />
eigentlich zur materiellen Grundsicherung<br />
gehören. Letztere sind bei der Berechnung<br />
von Unterstützungsbudgets auszuklammern.<br />
Es ist daher ratsam, sich bei Unklarheiten<br />
an die zuständige Stipendienstelle<br />
zu wenden, um zu erfahren, wie genau die<br />
Leistungen berechnet und welche Ausgabenpositionen<br />
berücksichtigt werden.<br />
ANTWORT<br />
Im Fall von Familie Schuler muss geprüft<br />
werden, wie die Stipendien als Einkommen<br />
in ihr Sozialhilfebudget einzubeziehen<br />
sind. Gemäss SKOS-Richtlinien<br />
(SKOS-RL E.1) wird das verfügbare Einkommen<br />
bei der Berechnung der Sozialhilfeleistungen<br />
vollständig berücksichtigt.<br />
Explizit festgehalten wird auch, dass Stipendien<br />
(neben anderen Einkünften wie<br />
Arbeitserwerb oder Beiträge aus Fonds und<br />
Stiftungen) als Einkommen einzurechnen<br />
sind (SKOS-RL Praxishilfe H.6). Jener Teil<br />
des Stipendiums, der für den allgemeinen<br />
Lebensunterhalt des Kindes gedacht ist,<br />
muss im Unterstützungsbudget der Familie<br />
voll angerechnet werden.<br />
In Fällen von laufend oder für die Zukunft<br />
ausbezahlten Stipendien müssen die<br />
Beträge auf die Monate des betreffenden<br />
Zeitraums herruntergerechnet werden.<br />
Die so errechneten Anteile werden in den<br />
monatlichen Budgets berücksichtigt. Der<br />
verbleibende, explizit für Ausbildungsauslagen<br />
vorgesehene Teil wird nicht als Einkommen<br />
angerechnet, sondern dem Kind<br />
resp. seinen Eltern zur Deckung der direkt<br />
mit der Ausbildung zusammenhängenden<br />
Kosten belassen. Diese zusätzlichen Mittel<br />
können dann aber bei der Frage berücksichtigt<br />
werden, inwiefern situationsbedingte<br />
Leistungen im Zusammenhang mit<br />
einer Ausbildung gewährt werden (SKOS-<br />
RL C.1.2).<br />
Wenn die Sozialhilfe bevorschussend<br />
für die Zeit des laufenden Stipendienverfahrens<br />
gezahlt wird, kann vom Sozialamt<br />
eine direkte Auszahlung der rückwirkenden<br />
Stipendienleistungen verlangt<br />
werden (SKOS-RL F.2). In der Zwischenzeit<br />
hat die Sozialhilfe für die Lebenshaltungskosten<br />
als Teil der materiellen<br />
Grundsicherung aufzukommen, und für<br />
die Ausbildung relevante Auslagen sind als<br />
situationsbedingte Leistungen (SKOS-RL<br />
C.1.2) zu übernehmen. Nach der rückwirkenden<br />
Auszahlung muss eine Abrechnung<br />
erstellt werden, wobei jene Beiträge,<br />
welche für vergangene Monate gedacht<br />
sind, mit bereits ausbezahlter Sozialhilfe<br />
verrechnet werden. Verbleibende, für den<br />
laufenden Lebensunterhalt gedachte Anteile<br />
sind in den laufenden Budgets monatlich<br />
einzurechnen.<br />
•<br />
*Name der Redaktion bekannt<br />
Julien Cattin<br />
Kommission Richtlinien und Praxis der SKOS<br />
6 <strong>ZESO</strong> 3/18
Schnittstelle von Sozialhilfe und<br />
Opferhilfe: Neues Merkblatt<br />
SOZIALHILFE Die Gründe für Notlagen können sehr vielfältig sein. Wenn durch Opfer von Straftaten<br />
bei Sozialdiensten um Unterstützung ersucht wird, sind diese nicht in jedem Fall für die Existenzsicherung<br />
zuständig. Ein neues Merkblatt hilft Zuständigkeiten und Unterstützungsansprüche in<br />
diesen Fällen zu klären.<br />
Um zu klären, ob ein Klient oder eine Klientin<br />
allenfalls Anspruch auf Opferhilfe<br />
hat, ist eine eingehende Würdigung der<br />
Ursache der Notlage zwingend. Ein Anspruch<br />
auf Opferhilfe kann nur dann bestehen,<br />
wenn zwischen einer Straftat und<br />
einem Unterstützungsbedarf ein direkter<br />
Zusammenhang (Kausalität) besteht. In<br />
komplexen Situationen mit verschiedenen<br />
Einflussfaktoren ist eine eindeutige Klärung<br />
der Zuständigkeit aber schwierig, so<br />
beispielsweise bei der Finanzierung von<br />
Kindesschutzmassnahmen. Straftaten sind<br />
bei Kindesschutzmassnahmen in aller Regel<br />
nur eine Ursache von vielen. In der Praxis<br />
wird deren Finanzierung daher häufig<br />
subsidiär von der Sozialhilfe zu übernehmen<br />
sein.<br />
Koordination von Opferhilfe und<br />
Sozialhilfe<br />
Möglich ist, dass sowohl ein Anspruch besteht<br />
auf Existenzsicherung der Sozialhilfe<br />
wie auch auf zusätzliche Hilfe und <strong>Beratung</strong><br />
durch die Opferhilfe. In diesen Fällen<br />
ist es wichtig, dass die involvierten Stellen<br />
ihre Leistungen frühzeitig koordinieren. In<br />
Notlagen ist auch entscheidend, dass notwendige<br />
Unterstützung rechtzeitig gewährt<br />
wird. Dies kann in Einzelfällen bedeuten,<br />
dass Soforthilfe unmittelbar geleistet<br />
werden muss, selbst wenn die effektive<br />
Zuständigkeit noch nicht abschliessend geklärt<br />
ist. Kompetenzkonflikte dürfen nicht<br />
auf Kosten von Betroffenen ausgetragen<br />
werden.<br />
Eine frühzeitige Koordination zwischen<br />
Opferhilfe und Sozialhilfe ist auch dann<br />
notwendig, wenn eine Notlage längerfristig<br />
besteht und die Soforthilfe der Opferhilfe<br />
zu einem gewissen Zeitpunkt von der<br />
Sozialhilfe abgelöst werden muss. Dies gilt<br />
beispielsweise bei Aufenthalten in Notunterkünften<br />
(z.B. Frauenhäuser), nachdem<br />
keine Gefährdungssituation mehr besteht<br />
und eine Anschlusslösung gefunden werden<br />
muss. Die Kosten für den Aufenthalt<br />
in Anschlusslösungen (z.B. Übergangswohnungen,<br />
betreute Wohnformen) werden<br />
bei Bedürftigkeit und Notwendigkeit<br />
von der Sozialhilfe getragen. Diese ist jedoch<br />
frühzeitig zu involvieren, um eine angemessene,<br />
aber möglichst kostengünstige<br />
Lösung finden zu können.<br />
Gewisse Personen können sich in aussergewöhnlichen<br />
Situationen befinden,<br />
für die weder das System der Opferhilfe<br />
noch jenes der Sozialhilfe eine passende<br />
Lösung bereit hält. Opfer von Menschenhandel<br />
beispielweise haben in der Schweiz<br />
in der Regel keinen Unterstützungswohnsitz,<br />
weshalb kein ordentlicher Anspruch<br />
auf Sozialhilfe begründet werden kann.<br />
Gleichwohl können sie sich in Folge<br />
langwieriger Verfahren jahrelang in der<br />
Schweiz aufhalten und die Beteiligung am<br />
Strafverfahren kann zur Folge haben, dass<br />
ihnen nach Verfahrensende wegen Gefährdung<br />
eine Rückkehr ins Herkunftsland<br />
nicht zugemutet werden kann. Für diese<br />
Fälle hat sich im Sinne einer «good practice»<br />
bewährt, dass die Existenzsicherung<br />
in den ersten sechs Monaten von der Opferhilfe<br />
und im Anschluss von der Sozialhilfe<br />
getragen wird. Der besonderen Situation<br />
von Menschenhandel-Opfern (Traumatisierung,<br />
soziale Isolation, psychische Belastung<br />
durch ein Strafverfahren) ist bei der<br />
Leistungsbemessung Rechnung zu tragen.<br />
Kantonal unterschiedliche<br />
Ausgangslagen<br />
Ein besonderer Koordinationsbedarf zwischen<br />
Opferhilfe und Sozialhilfe besteht in<br />
jenen Kantonen, in denen die Finanzierung<br />
von Opferhilfe und Sozialhilfe unterschiedlich<br />
geregelt ist. Die SKOS empfiehlt<br />
für die Finanzierung von Sozialhilfe einen<br />
Lastenausgleich zwischen Gemeinden und<br />
Kanton (SKOS-RL D.4). Tatsächlich werden<br />
die Sozialhilfekosten aber in einigen<br />
Kantonen überwiegend von den Gemeinden<br />
getragen, während die Opferhilfe<br />
durchgehend kantonal finanziert wird.<br />
Aufgrund dieser unterschiedlichen<br />
Ausgangslagen ist zu erwarten, dass das<br />
erarbeitete Merkblatt insbesondere in jenen<br />
Kantonen von Interesse sein wird, in<br />
denen die Klärung der Zuständigkeit einen<br />
starken Einfluss hat auf die Finanzierung.<br />
Das Merkblatt mag in diesen Fällen eine<br />
gute Grundlage bieten für Vereinbarungen<br />
zu den Zuständigkeiten. Und in jenen Kantonen,<br />
wo entsprechende Vereinbarungen<br />
bereits bestehen, werden sich diese mit<br />
Blick auf das Merkblatt kritisch überprüfen<br />
lassen.<br />
Das Merkblatt zum Schnittbereich der<br />
Opferhilfe und Sozialhilfe wurde von einer<br />
Arbeitsgruppe, bestehend aus Vertretern<br />
der SKOS, der SODK und der Schweizerischen<br />
Verbindungsstellen-Konferenz<br />
Opferhilfegesetz (SVK-OHG) erarbeitet.<br />
Darin werden die Grundlagen der beiden<br />
Leistungssysteme gegenübergestellt und<br />
für eine Auswahl von Schnittbereichen<br />
werden konkrete Anwendungshinweise<br />
gegeben und «good practices» aufgezeigt.<br />
Merkblatt: «Opferhilfe und Sozialhilfe –<br />
Eine Gegenüberstellung der Leistungen<br />
mit Anwendungshinweisen für einzelne<br />
Schnittstellenbereiche», SKOS/SODK,<br />
September 2018. Anmerkungen und Fragen<br />
zum Merkblatt: Dr. iur. Alexander Suter,<br />
Leiter Fachbereich Recht und <strong>Beratung</strong><br />
SKOS, alexander.suter@skos.ch •<br />
Alexander Suter<br />
3/18 <strong>ZESO</strong><br />
7
Bilder: Palma Fiacco<br />
«<strong>ZESO</strong>»: Herr Huonker, Sie haben seit<br />
Jahren Kontakt mit Opfern fürsorgerischer<br />
Zwangsmassnahmen. Nun<br />
läuft die Wiedergutmachung. Wie<br />
geht es den ehemaligen Verding- und<br />
Heimkindern, administrativ Versorgten<br />
und Zwangssterilisierten<br />
heute?<br />
Thomas Huonker: Einerseits herrscht<br />
Erleichterung, dass erlittenes Leid und<br />
Unrecht endlich anerkannt werden. Andererseits<br />
ist Bitternis drin. Die Betroffenen<br />
mussten lange warten. 1981 hob die<br />
Schweiz die administrativen Versorgungen<br />
auf. Dass Gemeinderäte und Fürsorgekommissionen<br />
Menschen wegen «Arbeitsscheu»,<br />
«Vaganterei» oder «Liederlichkeit»<br />
per Federstrich die Freiheit entziehen und<br />
in Zwangsarbeitsanstalten oder gar in Gefängnisse<br />
einweisen konnten, war nicht<br />
mit der Europäischen Menschenrechtskonvention<br />
zu vereinbaren. Bereits damals<br />
hätte eine Abgeltung erfolgen können.<br />
Nun hat es fast ein halbes Jahrhundert gedauert.<br />
Als es im Parlament einmal losging,<br />
kam das Gesetz zur Wiedergutmachung<br />
2017 vergleichsweise rasch<br />
zustande.<br />
Die Grossbanken-Rettung durch den<br />
Bund kam 2008 per Notrecht rasch zustande.<br />
Hingegen vergingen sechs Jahre<br />
zwischen der Entschuldigung durch Bundesrätin<br />
Eveline Widmer-Schlumpf bei<br />
den ehemals administrativ Versorgten im<br />
Jahr 2011 bis zur Verabschiedung des Gesetzes<br />
zur Wiedergutmachung durch das<br />
THOMAS HUONKER<br />
Der 64-jährige Zürcher Historiker ist<br />
Mitglied der Unabhängigen Expertenkommission,<br />
die im Auftrag des Bundesrats die<br />
Geschichte der administrativen Versorgungen<br />
in der Schweiz untersucht. 2013<br />
bis 2015 nahm er am Runden Tisch für die<br />
Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen<br />
teil. Zudem arbeitet er im Auftrag der<br />
Guido-Fluri-Stiftung die Geschichte der<br />
Schweizer Kinderheime auf.<br />
Parlament. Und leider wird nun bei den<br />
Solidaritätsbeiträgen gespart. Dabei leben<br />
viele Betroffene in ärmlichen Verhältnissen.<br />
So individuell ihre Lebensgeschichten<br />
sind, eines scheint die Opfer fürsorgerischer<br />
Zwangsmassnahmen zu<br />
verbinden: Sie stammen aus der Unterschicht.<br />
Korrekt?<br />
Die Forschung weist das nach, ja. Vereinzelt<br />
gerieten auch Bessergestellte in die<br />
Maschinerie der Zwangsmassnahmen,<br />
vor allem Frauen oder Homosexuelle, die<br />
als lasterhaft eingestuft wurden und denen<br />
deshalb Sterilisierung und Kastration<br />
drohten. Sie wussten sich meist besser zu<br />
wehren als die Mittellosen. Zum allergrössten<br />
Teil waren Armutsbetroffene dem<br />
Zugriff der Behörden ausgesetzt, oft über<br />
Generationen hinweg. Schon die Grosseltern<br />
waren als Kinder verdingt oder im<br />
Heim platziert und kamen als Erwachsene<br />
in Arbeitsanstalten. Gleiches widerfuhr<br />
ihren Kindern und Enkelkindern. Das Ver-<br />
8 <strong>ZESO</strong> 3/18
«Im Kern ging es darum,<br />
die Armen möglichst kostengünstig<br />
zu managen»<br />
INTERVIEW Die Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, die jetzt<br />
aufgearbeitet wird, ist auch eine Geschichte des Umgangs mit Armutsbetroffenen<br />
in der Schweiz, wie der Historiker Thomas Huonker darlegt. Daraus liessen sich für<br />
die aktuelle Diskussion um die Sozialhilfe Lehren ziehen.<br />
sorgungssystem wirft ein Schlaglicht auf<br />
die Klassengesellschaft.<br />
Die Massnahmen zeugen von einem<br />
disziplinierenden Umgang mit<br />
Armutsbetroffenen. Wann entstand<br />
dieser?<br />
Bevor sich die öffentliche Armenfürsorge<br />
entwickelte, oblag es Klöstern und<br />
kirchlich geführten Hospitälern, die missliche<br />
Lage der Armen zu mildern. Viele<br />
Arme lebten auf der Strasse oder im Wald<br />
und zogen auf der Suche nach Unterkunft<br />
und Nahrung umher. Jede lokale Agrarkrise<br />
steigerte ihre Zahl rasch. Als Reaktion<br />
auf Industrialisierung und Massenarmut<br />
erliessen dann im 19. Jahrhundert viele<br />
Kantone Armengesetze. Die Städte waren<br />
zum Teil fortschrittlich und förderten den<br />
sozialen Wohnungsbau. Doch in weiten<br />
Teilen galt Armut als selbstverschuldet, oft<br />
wurden fehlende Arbeitsmoral und unsittlicher<br />
Lebenswandel als Ursachen ausgemacht.<br />
Obere Schichten nahmen die alte<br />
Armut ebenso wie die neue Armut der Fa-<br />
brikarbeiter als Gefahr für die öffentliche<br />
Ordnung wahr. Die Unterschichten in den<br />
Städten erhielten die Bezeichnung «classes<br />
dangereuses», gefährliche Klassen.<br />
Die Armut wurde dann vor allem mit<br />
Anstalten bekämpft?<br />
Anstalten gehörten ab dem 19. Jahrhundert<br />
bis weit ins 20. Jahrhundert zu<br />
den wichtigsten und gezieltesten Institutionen<br />
der Schweizer Armutspolitik. Wer<br />
weiss heute noch, dass es lange fast überall<br />
Gemeindearmenhäuser gab? Anfänglich<br />
hausten arme Familien, Alte und Kranke<br />
gemeinsam in den oft schitteren Gebäuden.<br />
Wer irgend konnte, wurde an die<br />
Arbeit gesetzt. Später differenzierte sich<br />
das Anstaltswesen. Erziehungs-, Behinderten-<br />
und «Irrenanstalten» entstanden,<br />
«Rettungsanstalten» für sogenannt gefallene<br />
Mädchen, Mütterheime, wo die jungen<br />
Frauen durch Wegnahme der Kinder<br />
wieder in den Arbeitsprozess eingegliedert<br />
wurden, während die Kinder zur Adoption<br />
freigegeben oder fremdplatziert wurden.<br />
Viele Anstalten waren gemeinnützig-kirchlich<br />
geführt, zusätzlich errichteten viele<br />
Kantone Zwangsarbeitsanstalten. Die Einweisungen<br />
wurden behördlich angeordnet<br />
und konnten mit polizeilichem Zwang<br />
durchgesetzt werden.<br />
Was waren die Beweggründe einer<br />
solchen Armutspolitik?<br />
Ein Gemisch aus ökonomischen und<br />
erzieherisch-repressiven Überlegungen.<br />
Wohl gab es bei einigen Akteuren auch Elemente<br />
des guten Willens und der Philanthropie.<br />
Im Kern ging es darum, die Armen<br />
möglichst kostengünstig zu managen. Um<br />
die finanzielle Unterstützung gering zu<br />
halten, lösten Gemeindebehörden bedüftige<br />
Familien, vor allem auch von Alleinerziehenden,<br />
auf und platzierten die Kinder<br />
in knapp dotierten Heimen oder bei Bauern,<br />
wo sie ihren Aufenthalt durch Arbeit<br />
mitfinanzieren mussten. Finanzschwache<br />
Gemeinden waren besonders durch die<br />
heimatliche Armenpflege überfordert.<br />
Der Heimatort musste für die Bedürftigen<br />
aufkommen?<br />
Genau. Wer in der städtischen Industrie<br />
nicht mehr gebraucht wurde oder krank<br />
war und deshalb armengenössig wurde,<br />
musste in den Heimatort zurück. Es kam<br />
zu grossen Abschiebeaktionen, sie wurden<br />
«Heimschaffungen» genannt. Für die Gemeinden<br />
wiederum war die Einweisung<br />
der Leute in eine Armenanstalt meist die<br />
billigere Lösung, als ihnen Unterstützung<br />
zu zahlen. Erst in den 1960er-Jahren hatte<br />
sich an den meisten Orten das Prinzip<br />
durchgesetzt, dass der Wohnort zuständig<br />
ist. Dafür engagierte sich im übrigen auch<br />
die Vorgängerorganisation der SKOS, die<br />
Armenpflegerkonferenz.<br />
Und worin gründete der erzieherischrepressive<br />
Aspekt?<br />
Aus der kirchlichen, besonders der protestantischen<br />
Tradition heraus unterschieden<br />
die Verantwortungsträger zwischen<br />
«würdigen» und «unwürdigen» Armen.<br />
Besonders negativ bewertet wurde die<br />
Trunksucht. Auch ledige Mütter waren stigmatisiert,<br />
anstatt dass sie als Nachfahrinnen<br />
von Mutter Maria gewürdigt wurden.<br />
<br />
3/18 <strong>ZESO</strong><br />
9
Alleinerziehende aus den Unterschichten<br />
wurden von ihren Kindern getrennt, an die<br />
Arbeit gesetzt und zur Mitfinanzierung der<br />
Fremdplatzierung ihrer Kinder gezwungen.<br />
Moralische Konnotationen verbanden sich<br />
mit Ausgrenzung. Ab Anfang 20. Jahrhundert<br />
verschärfte sich, wissenschaftlich unterstützt,<br />
der Diskurs. Es ging nicht mehr<br />
nur um «Unwürdige», sondern auch um angeblich<br />
«Minderwertige». Es war die Stunde<br />
der Eugeniker und Rassenhygieniker.<br />
Die Eugenik war auch ein sozialpolitisches<br />
Instrument?<br />
Ganz klar. Chefärzte in Schweizer<br />
Kliniken ordneten Sterilisierungen und<br />
Kastrationen an, um zu verhindern, dass<br />
Sozialfälle und als «geistesschwach» oder<br />
«moralisch defekt» abgestempelte Menschen<br />
Nachwuchs bekamen. Zwangssterilisierungen<br />
wurden bis in die 1970er-Jahre<br />
durchgeführt. Besonders junge Frauen unter<br />
Vormundschaft standen ihnen machtlos<br />
gegenüber. Zwar regte sich christliche<br />
Opposition gegen die Eingriffe in die Fortpflanzung.<br />
Es gab aber auch Pfarrer beider<br />
Konfessionen, die sie als human betrachteten.<br />
Unter anderem, weil so Armut und<br />
Elend verhindert werden könne.<br />
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden<br />
in der Schweiz die grossen nationalen<br />
Sozialversicherungen. Warum<br />
dauerten die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen<br />
dennoch bis 1981?<br />
Sozialpolitisch hinkte die Schweiz<br />
hinterher. Deutschland, Frankreich und<br />
England errichteten schon im 19. Jahrhundert<br />
eine Altersvorsorge, auch, um<br />
den Sozialisten den Wind aus den Segeln<br />
zu nehmen. Hierzulande blockten die regierenden<br />
Kräfte die Forderung lange ab,<br />
am massivsten bei der Niederwerfung des<br />
Generalstreiks 1918. Erst 1948 kam die<br />
AHV, 1960 die Invalidenversicherung.<br />
Die Arbeitslosenversicherung wurde 1984<br />
obligatorisch, die Frauen mussten bis<br />
2005 auf eine Mutterschaftsversicherung<br />
warten. Es war auch dieser Rückstand der<br />
Schweiz, der dazu führte, dass im Sozialwesen<br />
uralte Strukturen weitergeführt<br />
wurden. Das Verdingkinderwesen stammt<br />
aus dem Mittelalter.<br />
Anscheinend wurden noch in den<br />
1970er-Jahren Kinder verdingt?<br />
«Wer weiss heute noch, dass es bis<br />
weit ins 20. Jahrhundert fast überall in<br />
der Schweiz Armenhäuser gab?»<br />
Ja, dabei hätte man seit Gotthelf wissen<br />
können, dass es ein Problem war. Auch das<br />
Anstaltswesen wurde seit den Zwanzigerjahren<br />
periodisch kritisiert, doch die Kritik<br />
versandete regelmässig. Während das<br />
Gesetz Kinderarbeit in den Fabriken seit<br />
1877 verbot, wurden Kinder in Heimen<br />
und auf Bauernhöfen fast hundert weitere<br />
Jahre als billige Arbeitskräfte ausgebeutet.<br />
Auch die Linke nahm sich des Themas<br />
nicht mit Nachdruck an. SP-Behördenmitglieder<br />
und -Beamte schritten bei Kindern<br />
bedürftiger Familien genauso zu Fremdplatzierungen<br />
wie Bürgerliche.<br />
Sie erwähnten die Rechtlosigkeit<br />
der Betroffenen. Auch ein Grund,<br />
dass sich die Massnahmen so lange<br />
hielten?<br />
Einem grossen Teil der von Armut und<br />
fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffenen<br />
Menschen fehlten Rechte. Weder<br />
bei den Anstaltseinweisungen noch<br />
bei den Sterilisierungen war der Rechtsweg<br />
vorgesehen. Auch bestanden in der<br />
Schweiz bis in die jüngste Vergangenheit<br />
Regelungen, die Fürsorgeabhängige politisch<br />
entrechteten. Als Letzte beschloss<br />
1979 die Glarner Landsgemeinde, den<br />
10 <strong>ZESO</strong> 3/18
entsprechenden Artikel aus der Kantonsverfassung<br />
zu streichen. Zuvor waren jene<br />
vom Aktivbürgerrecht ausgeschlossen,<br />
«welche dauernd der öffentlichen Unterstützung<br />
anheimgefallen sind und deren<br />
Almosengenössigkeit durch liederlichen<br />
Lebenswandel herbeigeführt worden ist.»<br />
Heute gehen die SKOS-Richtlinien<br />
vom sozialen Existenzminimum aus.<br />
Sozialhilfe soll nicht nur die Existenz<br />
sichern, sondern auch gesellschaftliche<br />
Teilhabe ermöglichen. Doch die<br />
Sozialhilfe ist unter Druck, einige Kan-<br />
WIEDERGUTMACHUNG<br />
UND AUFARBEITUNG<br />
Versorgt, verdingt, weggesperrt, in Heimen, auf<br />
Bauernhöfen, in Anstalten, ja Gefängnissen:<br />
Jahrzehntelang waren Kinder, Jugendliche,<br />
Frauen und Männer in der Schweiz von fürsorgerischen<br />
Zwangsmassnahmen betroffen.<br />
Viele erlitten Misshandlungen, psychisch und<br />
physisch. Manche wurden zwangssterilisiert<br />
oder für Medikamentenversuche missbraucht.<br />
Sie sind teilweise noch im hohen Alter traumatisiert,<br />
wie Studien der Universität Zürich<br />
nachweisen. Vielen blieb eine Ausbildung<br />
versagt. Das unrühmliche Kapitel Schweizer<br />
Sozialgeschichte war lange tabuisiert. Doch<br />
2011 entschuldigte sich der Bundesrat bei<br />
ehemals administrativ Versorgten, 2013 bei<br />
allen Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen.<br />
2014 rehabilitierte das Parlament die<br />
administrativ Versorgten, 2017 beschloss es<br />
ein Gesetz zur Wiedergutmachung. Über 9000<br />
Opfer reichten ein Gesuch für den Solidaritätsbeitrag<br />
ein, den der Bund ausrichtet. 300<br />
Millionen Franken stehen zur Verfügung, pro<br />
Person sollen 25 000 Franken ausbezahlt<br />
werden. Weil weniger Gesuche eingingen als<br />
erwartet, wird der Betrag nicht voll ausgeschöpft.<br />
Viele Betroffene verzichten, weil der<br />
Erinnerungsprozess zu schmerzhaft ist oder<br />
sie kein Geld vom Staat wollen. Das Thema<br />
wird auch wissenschaftlich aufgearbeitet. Die<br />
Unabhängige Expertenkommission wird ihren<br />
Schlussbericht 2019 vorstellen. Der Nationalfonds<br />
hat zudem das nationale Forschungsprogramm<br />
«Fürsorge und Zwang» gestartet. Es<br />
dauert bis 2022.<br />
www.uek-administrative-versorgungen.ch<br />
tone wollen den Grundbedarf kürzen.<br />
Was sagt der Historiker dazu?<br />
Es hat lange gedauert, bis in der<br />
Schweiz eine moderne, säkulare, menschenrechtlich<br />
basierte Sozialhilfe aufgebaut<br />
wurde. Eine Sozialarbeit auch, die auf<br />
das Empowerment der sozial Schwachen<br />
zielt. Mit Blick auf die Vergangenheit sind<br />
das Errungenschaften, die nicht aufs Spiel<br />
gesetzt werden sollten.<br />
Durch Kürzungen in der Sozialhilfe<br />
steige der Anreiz zu arbeiten, wird argumentiert.<br />
Die Kosten seien zu hoch.<br />
Politik und Bevölkerung haben zum<br />
Teil noch die Schweiz der Hochkonjunktur<br />
im Kopf. In den 1950er- bis Mitte<br />
1970er-Jahre ging die Armut tatsächlich<br />
zurück. Viele, die zuvor in Armenanstalten<br />
gelandet wären, fanden Arbeit. Es ist das<br />
Bild einer «normalen» Schweiz: Alle haben<br />
Einkommen, alle steigen auf. Doch diese<br />
Phase ist längst vorbei. Die Wirtschaft<br />
hat für immer mehr Leute keinen Bedarf<br />
mehr, auch mit sieben Coaches und Trainings<br />
nicht. Die Prekarisierung nimmt für<br />
viele Gruppen zu. Ein gutes Sozialwesen,<br />
das Armutsfallen entschärft und Armut<br />
eingrenzt, lohnt sich. Vielleicht braucht es<br />
neue Ideen. Die Leistungsansprüche werden<br />
heute mit akribischem Formalismus<br />
und viel Verwaltungsaufwand geprüft,<br />
gleichzeitig hat das Sozialsystem Lücken.<br />
Persönlich bin ich ein Anhänger des bedingungslosen<br />
Grundeinkommens.<br />
Sie waren einer der ersten Historiker<br />
in der Schweiz, die die Geschichte der<br />
fürsorgerischen Zwangsmassnahmen<br />
zu erforschen begannen. Hat sich Ihr<br />
Schweiz-Bild dadurch verändert?<br />
Es hat sich vervollständigt. Ich hörte<br />
1985 zum ersten Mal von einem Jenischen,<br />
dass die Behörden ihn als 16-Jährigen<br />
mit Mördern in die Viererzelle eines<br />
Zuchthauses sperrten. Aus dem einzigen<br />
Grund, weil er immer wieder aus dem<br />
Heim zu seinen Eltern abgehauen war.<br />
Schritt für Schritt realisierte ich dann, wie<br />
systematisch Druck und Zwang gegenüber<br />
nicht ganz Konformen und Unterschichtsangehörigen<br />
angewandt wurde. Nicht in<br />
grauer Vorzeit, sondern als ich selbst in diesem<br />
Land aufwuchs. Dass solche Grundrechtsverletzungen<br />
in einer Demokratie<br />
möglich waren, die auf ihren Rechtsstaat<br />
stolz ist, hätte ich damals nicht gedacht. Es<br />
war eine soziale Ungleichheit, die breit akzeptiert<br />
wurde, aber Zehntausende Leben<br />
zerstörte. Wichtig wird die Erinnerungsarbeit<br />
sein. So, wie die schöne Geschichte<br />
von Wilhelm Tell immer wieder aufs Neue<br />
erzählt wird, wird auch das düstere Kapitel<br />
der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen<br />
immer wieder erzählt werden müssen. •<br />
Das Gespräch führte<br />
Susanne Wenger<br />
3/18 <strong>ZESO</strong><br />
11
Blended Counseling – flexibel und<br />
passgenau beraten<br />
<strong>Digitale</strong> Medien haben die Alltagskommunikation vieler Menschen verändert. Dies wirkt sich auch<br />
auf die Soziale Arbeit als Ganzes sowie auf <strong>Beratung</strong>sangebote in der Sozialen Arbeit aus. Neben<br />
langjährig bewährten Angebotsformen haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend<br />
auch Onlineberatungsangebote etabliert. Noch weitgehend Neuland ist das sogenannte Blended<br />
Counseling. Dieses weist auch für Soziale Dienste Potenzial auf.<br />
Die Idee, das persönliche <strong>Beratung</strong>sgespräch vor Ort und die <strong>Beratung</strong><br />
mittels digitaler Medien mit-einander zu verknüpfen, ist<br />
noch relativ jung. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass jedes<br />
Medium bzw. jeder Kommunikationskanal bestimmte Vor- und<br />
Nachteile hat. Wenn es gelingt, jeweils die Vorteile verschiedener<br />
Medien und des persönlichen Gesprächs in einem <strong>Beratung</strong>sprozess<br />
systematisch miteinander zu verknüpfen, so könnten dadurch<br />
positive Effekte auf den <strong>Beratung</strong>sprozess insgesamt und die Zielerreichung<br />
generiert werden. In Anlehnung an das Blended Learning<br />
wird diese Form der <strong>Beratung</strong> Blended Counseling genannt.<br />
Darunter verstehen wir die systematische, konzeptionell fundierte,<br />
passgenaue Kombination verschiedener digitaler und analoger<br />
Kommunikationskanäle in der <strong>Beratung</strong>.<br />
<strong>Beratung</strong> in Sozialen Diensten<br />
Um Blended Counseling in Sozialen Diensten zu diskutieren,<br />
lohnt sich vorab ein Blick auf den Stellenwert von <strong>Beratung</strong> in diesem<br />
Feld. Neben der monetären Sozialhilfe erbringen Sozialdienste<br />
zahlreiche andere Dienstleistungen in Form von <strong>Beratung</strong>, so<br />
unter anderem Sozialberatungen (wie zum Beispiel Erziehungsund<br />
Jugendberatung), Budgetberatung sowie Hilfestellungen im<br />
Strafvollzug und im Pflegekinderwesen. Nicht nur die Angebote<br />
der Sozialen Dienste sind vielfältig, sondern auch die rechtlichen<br />
Grundlagen und Organisationsformen dazu. Öffentliche Sozialdienste,<br />
welche jeweils kommunal oder regional aufgestellt sind,<br />
können ihre Angebote selber erbringen oder gewisse Aufgaben an<br />
Dritte vergeben. Vielerorts wird ein Teil der erwähnten Angebote<br />
im Auftrag von Kanton und/oder Gemeinden von eigenständigen<br />
Anbietern wie Vereinen erbracht.<br />
Öffentliche Sozialdienste nehmen zudem im Kindes- und Erwachsenenschutz<br />
verschiedene Aufgaben wahr, welche mehr oder<br />
weniger mit beratenden Tätigkeiten verbunden sind. Auch hier<br />
erfahren die operative Zuständigkeit und die konkrete Umsetzung<br />
kantonale Unterschiede. Während mancherorts die öffentlichen<br />
Sozialdienste mit der professionellen Mandatsführung und der Abklärung<br />
von Gefährdungsmeldungen betraut sind, hat die KESB<br />
in gewissen Kantonen einen internen Abklärungsdienst. Verschiedentlich<br />
wird die professionelle Mandatsführung auch von mandatierten<br />
Drittanbietern wahrgenommen, während es in Städten teils<br />
spezialisierte Ämter für Erwachsenen- und Kindesschutz gibt.<br />
Diese unterschiedlichen Ausgangsbedingungen erschweren<br />
es, die Formen von <strong>Beratung</strong> in direkt erbrachten Angeboten öffentlicher<br />
Sozialdienste zu bestimmen. Tendenziell dürfte deren<br />
<strong>Beratung</strong> eher formalisiert, hochschwellig und ein horizontales<br />
<strong>Beratung</strong>sangebot sein, bei welchem <strong>Beratung</strong> nicht explizit auf<br />
dem Türschild steht. Sie kann sowohl fach- wie auch prozessberaterische<br />
Anteile aufweisen und mit Einzel-, aber auch Mehrpersonensystemen<br />
erfolgen.<br />
Nutzung und Potenzial von Blended Counseling im<br />
Handlungsfeld Sozialer Dienste<br />
Exemplarische Erkenntnisse zu Blended Counseling im Kontext<br />
von Sozialdiensten wurden in der Vorstudie «Blended Counseling<br />
in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit» gewonnen, in welcher<br />
die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW drei Arbeitsbereiche erkundete.<br />
Es fanden zehn explorative Interviews mit Fachkräften<br />
aus Schulsozialarbeit, Sucht-/Jugendberatung und einem Sozialdienst<br />
statt. Das Projekt hatte zum Ziel, Erkenntnisse über die Nutzung<br />
digitaler Medien in der <strong>Beratung</strong> zu gewinnen. Zudem interessierte,<br />
wie hier Potenziale und potenzielle Herausforderungen<br />
von Blended Counseling eingeschätzt werden.<br />
Im Handlungsfeld Soziale Dienste wurden die Teamleitung Sozialhilfe<br />
eines regionalen, öffentlichen Sozialdienstes und die fallführende<br />
Leitung des Mandatsdienstes interviewt. Entsprechend<br />
sind die Erkenntnisse nicht repräsentativ und beziehen sich nur<br />
auf einige Aufgabengebiete von Sozialdiensten. Für die Sozialhilfe<br />
wurde zudem angemerkt: «Der beraterische Anteil im Aufgabenfeld<br />
ist nicht so hoch. (…) Es überwiegt das Administrative». Von<br />
der Beiständin wurde die eigene <strong>Beratung</strong> als fachberatend ausgerichtet<br />
bezeichnet.<br />
Mediennutzung<br />
Das persönliche Gespräch zeigte sich als der wichtigste Kommunikationskanal.<br />
Daneben werden Telefon und E-Mail häufig genutzt,<br />
wobei die Klientel in der Sozialhilfe das Telefon präferiert. Im<br />
Mandatsdienst gestaltet sich die Nutzung altersabhängig. «Das Telefon<br />
spielt bei älteren Klienten eine grosse Rolle (…). Die wissen,<br />
dass wir telefonisch sehr gut erreichbar sind. (…) Die Jüngeren, die<br />
telefonieren nicht». Das Telefon wird hier ansonsten nur zur Terminvereinbarung<br />
genutzt.<br />
E-Mail wird in beiden Bereichen eingesetzt und erfolgt über<br />
Outlook, ohne geschützte Verbindung. Im Mandatsdienst hängt<br />
die Nutzung stark davon ab, ob die (teils ältere) Klientel über Email<br />
verfügt. Einer potenziellen Ausweitung in Richtung digitaler Medien<br />
stand die Teamleitung Sozialhilfe kritisch gegenüber: «Ich weiss<br />
nicht, ob man Onlineberatung einrichten müsste, ob es nicht zu<br />
16 <strong>ZESO</strong> 3/18 SCHWERPUNKT
DIGITALISIERUNG IN SOZIALDIENSTEN<br />
aus Krankheitsgründen das Telefon nicht abnehmen.» Vor allem<br />
bei Klientengruppen, wie zum Beispiel Personen, die Schicht<br />
arbeiten, oder Personen, die psychisch krank sind und das Haus<br />
nicht verlassen können, werden digitale Kanäle als sinnvolle Möglichkeit<br />
bewertet. Der Einsatz moderner Medien könne zu einer<br />
Vereinfachung oder Konzentration in der Fallführung führen, wo<br />
man sich heute teilweise verzettle und in der Folge viel Ressourcen<br />
verschwende.<br />
Kommunikationskanäle im Mix.<br />
Bild: Gettyimages<br />
viel ist.» Es wird befürchtet, dass die Leute dann wegen jeder Kleinigkeit<br />
eine Frage stellen würden und dass es relativ heikel sei, auf<br />
die Fragen schriftlich Antwort zu geben, denn diese müssten dann<br />
anders fundiert sein. Darüber hinaus wurde die Gefahr gesehen,<br />
dass vertrauliche Informationen weitergeleitet oder veröffentlicht<br />
werden. Zudem sei unsicher, wer bei E-Mails letztendlich antworte.<br />
Dies schmälere den Vorteil, auf diesem Weg unkompliziert Kontakt<br />
zu halten. Im Falle fehlender Umgangsformen in E-Mails meinte<br />
die Beiständin: «Wir reagieren klassisch und wechseln dann auf<br />
das Telefon und suchen das Gespräch».<br />
Die Nutzung von SMS zur Kommunikation erfolgt in Abhängigkeit<br />
von der institutionellen Ausstattung. Im Team Sozialhilfe<br />
spielt sie keine Rolle, da nur die Leitung über dienstliche Smartphones<br />
verfügt. Im Mandatsdienst erfolgt die Kommunikation<br />
teils über SMS, da alle ein Diensthandy erhalten. Die SMS-Nutzung<br />
ist den Mitarbeitenden aber freigestellt. Auch bei Abgrenzungsfragen<br />
liessen sich individuelle Unterschiede feststellen: «Es<br />
gibt Mitarbeitende, die auch am Sonntag Antwort geben und es<br />
gibt solche, die ganz strikt trennen». In der Regel wird eine SMS<br />
für kurze Informationen oder Terminbestätigungen genutzt. Messagingdienste<br />
werden nicht genutzt, allerdings bestand seitens<br />
Teamleitung Sozialhilfe ein Interesse an einem Messenger mit<br />
Videofunktion, da dies gegenüber E-Mails erlauben würde, die<br />
Personen auch zu sehen.<br />
Chancen identifiziert<br />
Bilanzierend lässt sich sagen, dass moderne Medien in den Aufgabenbereichen<br />
der Interviewpartner relativ wenig genutzt werden.<br />
Jedoch ist eine grosse Offenheit da, darüber nachzudenken. Die<br />
Antworten zeigen, dass durchaus Chancen erkannt werden:<br />
Insbesondere wurden Vorteile darin gesehen, dass Wege verkürzt<br />
würden und flexibleres Arbeiten möglich wäre. «Am Telefon<br />
ist man immer darauf angewiesen, dass auf der anderen Seite auch<br />
jemand ist.» Schliesslich könnten auch gewisse Unsicherheitsfaktoren<br />
umgangen werden. «Es gibt Klienten, die aus Prinzip oder<br />
... und Bedenken<br />
Diese positive Potenzialeinschätzung von Blended Counseling<br />
wird aber auch von gewissen Bedenken begleitet. Eine der befragten<br />
Personen sagt zum Beispiel:<br />
«Wir haben uns dazu im Team noch gar nie Gedanken gemacht.<br />
Es wäre sicher spannend, das mal zu überlegen. Ich bin<br />
nicht überzeugt davon, dass das Ergebnis besser ist. Es wäre vielleicht<br />
schneller oder anders. (…). Wir haben immer noch das Gegenüber,<br />
das teilweise relativ unberechenbar ist. Meiner Meinung<br />
nach bräuchte es ein Gegenüber, das dasselbe Verständnis hat für<br />
das Instrument wie ich auch. Und das ist ganz sicher nicht immer<br />
der Fall.»<br />
Damit werden technische Anforderungen für den erfolgreichen<br />
Einsatz neuer Medien angesprochen, aber auch Bedenken im<br />
Umgang mit Daten. Beide Aspekte werden in der Befragung auch<br />
für die Mitarbeitenden und die Organisation als bedeutsam angesehen:<br />
«Die Mitarbeitenden kommunizieren fast nur noch per<br />
E-Mail und nicht mehr über den klassischen Brief», so die Feststellung<br />
einer der Befragten. Schwierigkeiten werden daher beim Datenschutz<br />
geortet. Dass vielfach Personalien ausgeschrieben seien,<br />
scheint sehr problematisch. Hinzu komme, dass keine geschützten<br />
Verbindungen vorhanden seien. Darüber sei gar nie diskutiert<br />
worden, sagte eine Interrviewparnterin.<br />
Um das Potenzial der neuen <strong>Beratung</strong>smöglichkeiten auszuschöpfen,<br />
werden Sensibilisierung und Aufklärung der Mitarbeitenden<br />
als zentral erachtet. Grundsätzlich werden im Blended<br />
Counseling vielfältige Potenziale gesehen, um zu einer höheren<br />
Zufriedenheit von Klientel und Mitarbeitenden im Handlungsfeld<br />
beizutragen.<br />
Aktuelle Erkenntnisse und Ausblick<br />
Bereits in einem Projekt mit den Sozialen Diensten Winterthur<br />
(vgl. <strong>ZESO</strong> 4/2014) waren die Mediennutzung in der <strong>Beratung</strong><br />
analysiert und erste Leitlinien entwickelt worden. Es zeigte sich,<br />
dass verschiedene Medien, kombiniert mit persönlichen Kontakten,<br />
beraterisch genutzt werden, allerdings erfolgte dies zumeist<br />
ohne konzeptionelle Grundlegung und teilweise ohne ausreichend<br />
gesicherte Kanäle. Letzteres verweist auf das zentrale Thema Datenschutz<br />
und Vertraulichkeit in der mediatisierten <strong>Beratung</strong>.<br />
In einem aktuellen Projekt werden mit Suchtberatungsstellen<br />
verschiedene Szenarien für Blended Counseling entwickelt und<br />
erprobt. Die möglichen positiven Effekte beziehen sich dabei auf<br />
verschiedene Phasen in der <strong>Beratung</strong>:<br />
<br />
SCHWERPUNKT 3/18 <strong>ZESO</strong><br />
17<br />
DIGITALISIERUNG IN SOZIALDIENSTEN<br />
#Sozialhilfe auf Social Media?<br />
Hochseilakt mit Wirkung<br />
Soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook gewinnen beim Medienkonsum und in der Meinungsbildung<br />
an Bedeutung. Sie bieten Chancen, haben aber auch ihre Tücken. Drei gewiefte Nutzerinnen<br />
und Nutzer, die zu Themen aus dem Sozialbereich twittern, über ihre Erfahrungen und Strategien.<br />
Marie Baumann, in der Kommunikation<br />
tätig, twittert über Sozialpolitik,<br />
Diversity und Medien und bloggt seit<br />
2009 unter ivinfo.wordpress.com zu<br />
den Themen Invalidenversicherung und<br />
Behinderung.<br />
Fotos: im Twitter-Profil<br />
«Mitreden heisst mitgestalten»<br />
Der Kurznachrichtendienst Twitter bietet die Möglichkeit, Texte,<br />
Links und Bilder in Echtzeit zu teilen. Die maximal 280 Zeichen<br />
langen Tweets können von den «Followern» gelesen, kommentiert<br />
und mittels «Retweet» weiterverbreitet werden. Anders als bei Facebook<br />
steht bei Twitter nicht die Verbindung mit «Freunden» im<br />
Vordergrund, vielmehr wird die eigene Timeline nach Interessensgebieten<br />
zusammengestellt. Da die bunte Mischung aus Institutionen,<br />
Politikerinnen und Politikern sowie Privatpersonen aktuelle<br />
Themen aus verschiedenen Blickwinkeln abbildet, nutzen auch viele<br />
Journalistinnen und Journalisten Twitter als Informationskanal.<br />
Nachdem das Parlament diesen März im Rekordzeit eine gesetzliche<br />
Grundlage zur Überwachung von Versicherten verabschiedet<br />
hatte, schrieb die Schriftstellerin Sibylle Berg auf Twitter: «Referendum.<br />
Schnell.» «Ich wäre sofort dabei», antwortete der Student<br />
Dimitri Rougy. Die beiden kannten sich nicht persönlich, doch der<br />
kurze Austausch auf dem sozialen Netzwerk war der Startschuss für<br />
das Referendum. Es wurde Anfang Juli in Bern eingereicht. Auch<br />
die weltweit über längere Zeit hinweg geführte #MeToo-Debatte<br />
hatte ihren Ursprung in einem Tweet. US-Schauspielerin Alyssa<br />
Milano schlug auf Twitter vor, dass Frauen, die bereits einmal sexuelle<br />
Belästigung oder Gewalt erlebt hatten, auf ihren Tweet mit<br />
«Me too» antworten. Die Resonanz war gross und machte das Ausmass<br />
sexualisierter Gewalt gegen Frauen sichtbar.<br />
<strong>Digitale</strong> Stammtische<br />
Die Beispiele zeigen eine besondere Stärke der sozialen Medien:<br />
Mit ihrer Hilfe können Menschen, die Ähnliches erlebt haben oder<br />
gleiche Interessen teilen, schnell und unkompliziert miteinander<br />
in Kontakt treten. Diese Möglichkeit der Vernetzung nutzen allerdings<br />
auch Akteure mit weniger hehren Absichten. Auch Falschmeldungen<br />
– beispielsweise zum Zweck der politischen Propaganda<br />
– können mithilfe professionell organisierter Netzwerke innert<br />
kürzester Zeit rund um den Erdball verbreitet werden. Während<br />
traditionelle Medien den Wahrheitsgehalt von Meldungen vor der<br />
Publikation überprüfen und somit eine gewisse Verlässlichkeit bieten,<br />
übertragen die sozialen Medien diese Verantwortung auf den<br />
Nutzer oder die Nutzerin. Diese müssen selbst entscheiden, welche<br />
Quellen sie als vertrauenswürdig einstufen. Zwar bieten verifizierte<br />
Twitter-Accounts (mit blauen Häkchen) eine Orientierungshilfe.<br />
Aber wie der amerikanische Präsident zeigt, heisst das nur,<br />
dass der Urheber verifiziert ist. Die Aussagen sind es nicht.<br />
Auch in der Schweiz nutzen Populisten die digitalen Stammtische,<br />
um ihre Weltsicht zu verbreiten: Flüchtlinge seien alle kriminell,<br />
die meisten IV-Bezüger seien Betrüger, mit Sozialhilfe lasse<br />
es sich fürstlich leben. Was früher in der Beiz höchstens noch am<br />
Nachbartisch oder von der Kellnerin gehörte wurde, erreicht heute<br />
im Netz ein deutlich grösseres Publikum. Die oft stark zugespitzten<br />
Aussagen erreichen das Publikum nicht nur, sie beeinflussen<br />
auch Meinungen. Immer öfter werden nicht nur die Bezügerinnen<br />
und Bezüger staatlicher Leistungen verunglimpft, sondern auch<br />
die im Sozialbereich tätigen Institutionen und ihre Mitarbeitenden.<br />
Nicht zuletzt aus diesem Grund sollten die entsprechenden<br />
Institutionen selbst in den sozialen Medien präsent sein.<br />
Fakten entgegensetzen<br />
Dabei geht geht es nicht darum, sich auf kommunikative Kleinkriege<br />
einzulassen, sondern den öffentlichen Diskurs mitzuprägen.<br />
Das kann bedeuten, den polemischen Tweet eines Politikers,<br />
der über eine grosse Reichweite verfügt, gezielt mit Fakten zu widerlegen.<br />
Soziale Medien stellen eine Art öffentlichen Meinungsmarktplatz<br />
dar, und Journalisten übernehmen heute eher ein knackiges<br />
Zitat direkt aus Twitter, als dass sie eine Medienmitteilung<br />
lesen. So gelangen Inhalte aus den sozialen Netzwerken in traditionelle<br />
Medien und erreichen somit auch ein Publikum, das selbst<br />
nicht auf den Online-Plattformen aktiv ist.<br />
Umgekehrt wird auf Twitter auch unter dem Hashtag #srfarena<br />
mitdiskutiert, wenn in der Fernsehsendung politische Themen<br />
verhandelt werden. Als in der «Arena» kürzlich über die Sozialhilfe<br />
debattiert wurde, zeigte die Caritas vorbildlich, wie eine Institution<br />
auf Twitter die Aussagen der Politikerinnen und Politiker während<br />
der laufenden Sendung mit Fakten und Links zu entsprechenden<br />
Quellen untermauern, ergänzen oder widerlegen kann. Durch solche<br />
Interventionen wird nicht nur Fachwissen in die öffentliche<br />
Debatte eingebracht. Sie demonstrieren auch, dass Betroffene und<br />
Institutionen nicht unwidersprochen verunglimpft werden können.<br />
Das stärkt sowohl die Institutionen als auch die Klientinnen und Klienten<br />
der Sozialen Arbeit. Sie sehen so, dass sich jemand öffentlich<br />
für sie wehrt und sich für sie einsetzt.<br />
Marie Baumann<br />
SCHWERPUNKT 3/18 <strong>ZESO</strong><br />
<br />
19<br />
Stefan Sell, Professor für Volkswirtschaftslehre,<br />
Sozialpolitik und Sozialwissenschaften<br />
an der Hochschule<br />
Koblenz (D), ist auf Twitter aktiv und<br />
bloggt täglich zu sozialpolitischen<br />
Themen auf seiner Seite www.aktuellesozialpolitik.de.<br />
«Bringschuld staatlicher Akteure»<br />
Das, was man unter Social Media subsumiert, hat eines auf alle Fälle<br />
geschaffen: Arbeitsplätze und neue Berufsbilder, so den «Social<br />
Media Manager». Das sind Leute, die für das Bespielen der Kanäle<br />
und Accounts verantwortlich sind, Kommentare moderieren und<br />
mit technischen Tools die Resonanz der Aktivitäten im Netz verfolgen<br />
und auswerten. Man sieht: Das geht im Regelfall nicht nebenher,<br />
erforderlich ist Personal. Wobei im hoheitlichen Bereich, zu<br />
dem die Sozialhilfe oder in Deutschland auch die Grundsicherung<br />
(«Hartz IV») gehört, hinsichtlich der qualitativen Anforderungen<br />
nicht nur das Beherrschen der technischen Voraussetzungen zu<br />
nennen wäre, sondern an erster Stelle die fachliche Expertise. Sie<br />
ist im doppelten Sinn zu verstehen: Zum einen muss man sich in<br />
diesem öffentlichen Raum, um den es sich bei Twitter, Facebook<br />
und Co. handelt, selbstverständlich an Recht und Gesetz halten.<br />
Gleichzeitig muss man in der Lage sein, die zuweilen hyperkomplexen<br />
Regelungen «herunterzubrechen» – sei es auf die berühmten<br />
maximal 280 Zeichen auf Twitter und/oder auf eine Sprache,<br />
die das Publikum zu verstehen in der Lage ist. Damit nicht genug.<br />
Der Grundgedanke von Social Media ist das Gegenteil dessen, was<br />
aus der behördlichen Kommunikation bekannt ist. Diese stellt eine<br />
Ein-Kanal-Kommunikation dar. Bei Social Media geht es um offene<br />
Kommunikation, etwa durch die Möglichkeit, Beiträge zu<br />
kommentieren. Mit allen damit verbundenen Vorteilen (unmittelbare<br />
Reaktion), aber auch Nachteilen: Art und Weise der Kommentierung,<br />
der kaum vorhersehbare Verlauf der sich entwickelnden<br />
Debatte und Manipulationsversuche einzelner Teilnehmer.<br />
Komplexität reduzieren<br />
Wie immer entscheidend ist die Grundsatzfrage nach den Zielgruppen<br />
möglicher Social-Media-Aktivitäten. Sind es die Klienten<br />
oder «Kunden», wie die Leistungsbezüger in Deutschland gerne tituliert<br />
werden? Diese oder einen Teil davon kann man über Facebook<br />
erreichen, über Twitter eher begrenzt bis gar nicht, und über<br />
Blogs ziemlich sicher nicht. Oder sind es Menschen aus der eigenen<br />
Fach-Community? Denen ist mit einem guten und regelmässig<br />
aktualisierten Blog am ehesten geholfen. Zugleich hat man hierüber<br />
die Möglichkeit, schnell und vor allem ohne die übliche<br />
Platzbegrenzung bei Print-Produkten auch fachlich komplexe<br />
Sachverhalte abzuhandeln oder Anregungen für die eigene Arbeit<br />
zu geben. Über Twitter erreicht man eine ganz bestimmte Gruppe,<br />
die für die Öffentlichkeitsarbeit hochrelevant ist, denn hier sind<br />
die Journalisten überproportional vertreten (und die Politiker mit<br />
ihren Teams).<br />
Nun wird sich dem einen oder anderen die berechtigte Frage<br />
stellen: Was soll überhaupt kommuniziert werden? Und warum?<br />
Reicht nicht das, was man sowieso an klassischer, manche würden<br />
sagen, tradierter Öffentlichkeitsarbeit macht? Man kann an dieser<br />
Stelle mit einer Bringschuld staatlicher Akteure argumentieren,<br />
ihren Gegenstand darzustellen und Komplexität zu reduzieren.<br />
Wenn sich heute immer mehr in den sozialen Netzwerken abspielt,<br />
dann sollte man dort auch vertreten sein, ob einem das nun<br />
gefällt oder nicht. Information und auch <strong>Beratung</strong> verändern sich,<br />
und darauf sollte man reagieren.<br />
Zurückhaltender Stil<br />
Nun wird man bei Fragen der Sozialhilfe einwenden können, dass<br />
es hier um eine Materie geht, die im Regelfall weniger eine schnelle<br />
Informationsverteilung erfordert, und die zudem gekennzeichnet<br />
ist durch besonders heterogene, oftmals nur einen Einzelfall<br />
betreffende Inhalte. Von daher bietet sich ein gestuftes Konzept<br />
an: An erster Stelle wären Twitter-Aktivitäten für eine Öffentlichkeitsarbeit<br />
2.0 zu nennen, die sich vor allem an Multiplikatoren<br />
aus den Medien und der Politik richten. Hier hat man nach meinen<br />
eigenen Erfahrungen die besten Erfolgsaussichten, wenn man<br />
einen fachlich fundierten, hinsichtlich der Bewertungen zurückhaltenden<br />
Stil verfolgt. Über diesen Kanal kann man hervorragend<br />
Daten verteilen, aber auch Hinweise auf Neuregelungen und Änderungen<br />
sowie auf Studien und Veröffentlichungen, die thematisch<br />
passen.<br />
Hervorragend für die Sichtbarkeit wie auch für den Austausch<br />
sind gerade bei den komplexen sozialpolitischen Themenstellungen<br />
Blogs, die sich beispielsweise auf Wordpress-Grundlage<br />
einfach anlegen, gestalten und befüllen lassen. Hier hat man die<br />
Möglichkeit, auch komplexere Sachverhalte sowie politische Diskussionen<br />
abzubilden und einzuordnen. Überaus ambivalent und<br />
mit Vorsicht zu geniessen sind im Sozialhilfebereich Facebook-<br />
Aktivitäten. Hier würde ich nicht nur angesichts der vielen datenrechtlichen<br />
Fragen eher abraten, sondern auch aufgrund der<br />
Erfahrungen, dass es bei den Kommentaren auf Facebook eine<br />
überaus problematische Ballung von teilweise nur noch als unterirdisch<br />
zu bezeichnenden Kommentierungen gibt.<br />
Comeback des Leserbriefs<br />
Aber – das sei im Lichte eigener Erfahrungen nicht verschwiegen<br />
– selbst wenn man ausschliesslich fachlich zu bleiben versucht,<br />
wird man eine hohe Frustrationstoleranz mitbringen<br />
müssen. Auch auf Twitter, wo einen viele teilweise hanebüchene<br />
Kommentierungen erreichen, selbst wenn man nur Informationen<br />
weitergibt. Und viele Blogs haben in der letzten Zeit die Kommentarfunktion<br />
deaktiviert – auch der Autor hat das bei seinem<br />
Blog machen müssen. Manche gehen sogar auf das scheinbar verstaubte<br />
Instrument des Leserbriefs zurück, um die negative Energie<br />
zu reduzieren. Anders gesagt: Social Media sind angekommen<br />
in der realen Wirklichkeit.<br />
Stefan Sell<br />
20 <strong>ZESO</strong> 3/18 SCHWERPUNKT
DIGITALISIERUNG IN SOZIALDIENSTEN<br />
Patrick Fassbind, Jurist, Leiter der<br />
Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde<br />
(Kesb) Basel-Stadt, nutzt Twitter als<br />
Privatperson, um fachliche Informationen<br />
zur Kesb-Thematik zu verbreiten.<br />
«Fachlich twittern mit Bedacht»<br />
Hashtag KESB – da geht es auf den sozialen Netzwerken ähnlich<br />
kontrovers, emotional und oft faktenfrei zu und her wie beim Thema<br />
Sozialhilfe. Beide Bereiche sind zudem politisch unter Druck.<br />
Doch Patrick Fassbind, der die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde<br />
des Kantons Basel-Stadt seit 2016 leitet und vorher die<br />
gleiche Funktion in Bern innehatte, nutzt Twitter nicht, um sich<br />
mit Kesb-Kritikern digitale Wortgefechte zu liefern: «Mir geht es<br />
vielmehr darum, fachliche Informationen bereitzustellen.» Fassbind<br />
verlinkt seriös recherchierte Medienbeiträge zur Arbeit der<br />
Kesb oder Artikel aus Fachpublikationen. Auch leitet er Tweets von<br />
anderen weiter, die er gut findet. Meist versieht er die Fremdbeiträge<br />
mit einem eigenen kurzen Kommentar. «Eine sehr wichtige Recherche»,<br />
schrieb er etwa kürzlich zu einem Artikel in der «NZZ am<br />
Sonntag» über Kinder psychisch kranker Eltern, «diese Familien<br />
müssen frühzeitig Hilfe und Unterstützung erhalten, die Kinder<br />
müssen geschützt werden – dafür zuständig sind viele Akteure, gemeinsam<br />
mit der #KESB».<br />
Fassbind twittert seit bald vier Jahren, und das hat System. Bei<br />
der baselstädtischen Kesb kam man bezüglich Social Media zum<br />
Schluss, dass es ein Weg sein kann, in privater Funktion als Expertin<br />
und Experte zum Fachgebiet zu twittern. Zusätzlich gibt es einen<br />
Twitter-Account des Kantons, über den Medienmitteilungen<br />
und wichtige Informationen verbreitet werden können. Offiziell<br />
können soziale Netzwerke von der Kesb nicht bespielt werden,<br />
auch weil es an den Ressourcen fehlt. Der Kanton erarbeitete für<br />
seine Mitarbeitenden Social-Media-Richtlinien. An diese hält sich<br />
Fassbind, weil sie für ihn gelten, obwohl er auf Twitter nicht als<br />
Kesb-Chef auftritt.<br />
Keine Polemik, keine Politik<br />
Die Richtlinien setzen enge Grenzen. Sie mahnen zur Zurückhaltung<br />
und dazu, alles zu unterlassen, was als polemisch oder als politische<br />
Meinungsäusserung aufgefasst werden kann. «Es geht einzig<br />
und allein um fachliche Information», sagt Fassbind. Mit der<br />
Sachlichkeit will er aber durchaus ein «Gegengewicht» zu den Kesb-<br />
Kritikern bilden. Diese nutzten die sozialen Medien sehr stark, und<br />
ihre Äusserungen zur Kesb seien oft polemisch, einseitig und tendenziös.<br />
Seine Legitimation, als Verwaltungsangestellter privat zu<br />
twittern, sei, «zur öffentlichen Meinungsbildung beizutragen», sagt<br />
Fassbind. Zudem betätige er sich auch als Wissenschaftler, was ihn<br />
zusätzlich legitimiere, sich zu Fachthemen zu äussern.<br />
Er twittert mindestens zwei- bis dreimal pro Woche. Zur Arbeit<br />
der Basler Kesb oder auch zu Medienberichten darüber äussert<br />
er sich nie, unter anderem aus Datenschutzgründen, und weil es<br />
unangebracht wäre. Doch Themen wie Kindes- und Erwachsenenschutz<br />
und Sozialhilfe sind sehr komplex. Gelingt es wirklich, im<br />
Twitter-Tohuwabohu Fachinformationen zu vermitteln? Ja, glaubt<br />
Fassbind. Bei der Anzahl Followern hat er Luft nach oben, doch<br />
er ist gar nicht auf Massenwirkung aus. Auf Twitter seien überdurchschnittlich<br />
viele Medienleute und Politikerinnen, Politiker<br />
vertreten: «Man kann versuchen, diese zu erreichen, damit sie sich<br />
direkt und einfach Fachkenntnisse zur Kesb-Thematik aneignen<br />
können.» Fassbind verwies beispielsweise darauf, dass das Subsidiaritätsprinzip<br />
– die Verantwortung der Familie – schon heute im<br />
Gesetz verankert sei. Die Bedeutung von Twitter-Netzwerken dürfe<br />
nicht unterschätzt werden, sagt er.<br />
«Wir sind nicht Trump»<br />
Welche Tipps gibt er Fachleuten der Sozialhilfe, die erwägen,<br />
ebenfalls einen Twitter-Account zu eröffnen? Ein wichtiger Punkt<br />
sei, stets in der Rolle der Fachperson zu bleiben, sagt Fassbind.<br />
Nur in Ausnahmefällen twittert er zu anderen Themen; auf Tweets<br />
aus dem Privatleben verzichtet er ganz: keine Sonnenuntergänge,<br />
keine Kinder-Bonmots. Man müsse aufpassen, als Experte glaubwürdig<br />
zu bleiben. Überhaupt könne Twitter einen gewissen Sog<br />
entwickeln, immer mehr zu twittern. Da sei es ratsam, sich selber<br />
zu disziplinieren. Auch gilt: mit Bedacht twittern, nie im Ärger<br />
oder Affekt: «Ein Tweet ist schnell draussen.» Das zeige das Beispiel<br />
des US-Präsidenten, eines fleissigen Twitterers. Dieser könne<br />
sich offenbar alles erlauben, «doch wir sind nicht Trump». Die Gefahr,<br />
in einen Strudel zu geraten und am Ende gar noch den eigenen<br />
Job zu gefährden, sei nicht zu unterschätzen. Fassbind wartet<br />
jeweils zehn Minuten, bevor er einen verfassten Tweet publiziert.<br />
Ein weiterer Ratschlag lautet, sich bewusst zu sein, dass man<br />
Reaktionen auslöse: «Es gibt Personen, die hartnäckig schreiben<br />
und kritisieren.» Wird ihm eine Frage gestellt, antwortet Fassbind<br />
einmal neutral-fachlich, in Diskussionen lässt er sich nicht verwickeln.<br />
Manchmal brauche es Geduld, um bei Angriffen zu schweigen,<br />
sagt er. Unter dem Strich zieht Fassbind eine positive Bilanz.<br />
Zwar bewege man sich auf dünnem Eis, und gerade bei politisch<br />
umstrittenen Themen könne das Twittern einem Hochseilakt gleichen.<br />
Dennoch fände er es falsch, deswegen darauf zu verzichten.<br />
Nicht nur aus den genannten Gründen, sondern auch, weil man<br />
selber dort viel Interessantes finde und auf Artikel aufmerksam gemacht<br />
werde: «Twitter ist für mich auch wie eine Bibliothek.» •<br />
Aufgezeichnet von Susanne Wenger<br />
SCHWERPUNKT 3/18 <strong>ZESO</strong><br />
Ausbildungspraktika und Arbeitseinsätze<br />
unterstehen dem UVG<br />
FACHBEITRAG Personen, die im Rahmen der Sozialhilfe Arbeitseinsätze ohne Lohn leisten, unterstehen<br />
der obligatorischen Unfallversicherung. Dies hat das Bundesgericht entschieden. Die UVG-Prämien<br />
müssen somit durch die Einsatzbetriebe geleistet werden. Offen bleibt, wer die Prämien für die<br />
Versicherung der Nichtberufsunfälle der eingesetzten Personen bezahlt.<br />
Bisher hatte die Sozialhilfe die Haltung,<br />
dass das Unfallrisiko bei Beschäftigungsprogrammen<br />
und unbezahlten Praktika im<br />
Rahmen des KVG zu versichern sei. Das ist<br />
jedoch mit dem Bundesgerichtsurteil vom<br />
18. August 2017 überholt. Das Bundesgericht<br />
stellte fest, dass ein durch die Sozialhilfe<br />
angeordneter Arbeitseinsatz ohne<br />
Lohn in einem Einsatzbetrieb vom UVG-<br />
Obligatorium erfasst ist, wie es auch für<br />
Lehrlinge, Praktikanten und Volontäre sowie<br />
Schnupperlernende der Fall ist. Das<br />
heisst auf der einen Seite, dass bei Unfällen<br />
Leistungen der Unfallversicherung fliessen,<br />
auf der anderen Seite entsprechende<br />
UVG-Prämien durch die Einsatzbetriebe<br />
und Arbeitsintegrationsinstitutionen geleistet<br />
werden müssen.<br />
Weil Arbeitseinsätze im Rahmen der<br />
Arbeitslosenversicherung durchwegs und<br />
im Rahmen der Invalidenversicherung<br />
fast durchwegs schon bisher einen Unfallversicherungsschutz<br />
ohne Prämienpflicht<br />
der Einsatzbetriebe und der Arbeitsintegrationsinstitutionen<br />
geniessen, gerät die<br />
Sozialhilfe durch dieses Urteil gegenüber<br />
den Sozialversicherungen etwas in Nachteil<br />
bei der beruflichen Eingliederung. Das<br />
heisst, für die Sozialhilfe könnte es schwieriger<br />
werden, Arbeitgeber für die berufliche<br />
Eingliederung zu finden. Sie kann<br />
einerseits an die sozialpolitische Verantwortung<br />
der Arbeitgebenden appellieren,<br />
oder sich überlegen, ob sie sich allenfalls in<br />
einem bestimmten Umfang an den Mehrkosten<br />
der Arbeitgebenden beteiligt. Hier<br />
ist insbesondere an die Prämie für Nichtberufsunfälle<br />
zu denken, die ja gemäss Gesetz<br />
von den Arbeitnehmenden zu tragen<br />
sind. Wichtig ist, dass die Sozialdienste<br />
die Einsatzbetriebe klar informieren, die<br />
entsprechenden Vereinbarungen über die<br />
Arbeitseinsätze anpassen und die Sozialarbeitenden<br />
sensibilisieren.<br />
Berechnung der Prämien<br />
Da bei den Beschäftigungsprogrammen<br />
kein Lohn fliesst, stellt sich die Frage, wie<br />
die UVG-Prämie berechnet wird und wer<br />
sie bezahlt. Der Gesetzgeber legt für diese<br />
Fälle einen Ver-dienst von 81.20 Franken<br />
pro Tag fest, das entspricht 20 Prozent des<br />
Höchstlohnes in der Unfallversicherung.<br />
Dieser hypothetische Verdienst dient als<br />
Grundlage für die Bestimmung der Prämie,<br />
die vom Arbeitgeber respektive vom<br />
Einsatzbetrieb zu entrichten ist. Im jährlich<br />
auszufüllenden Lohndeklarationsformular<br />
müssen die Arbeitgeber künftig die<br />
so berechneten hypothetischen Einkommen<br />
deklarieren. Wie hoch die Prämienbelastung<br />
für den Einsatzbetrieb ist, kann<br />
nicht generell beantwortet werden, weil sie<br />
je nach Art des Betriebes und des Risikos<br />
unterschiedlich hoch ausfällt. Die Prämie<br />
für die obligatorische Versicherung der Berufsunfälle<br />
und Berufskrankheiten (BU)<br />
trägt die Arbeitgeberin. Die Prämie für die<br />
obligatorische Versicherung der Nichtberufsunfälle<br />
(NBU) geht grundsätzlich zulasten<br />
der Arbeitnehmenden. Weil der Arbeitgeber<br />
diese NBU-Prämie nicht vom<br />
BEISPIEL<br />
«BERECHNUNG PRÄMIEN»<br />
Bei einer angenommenen Prämie für BU<br />
von 1% und für NBU von 1,5% resultiert eine<br />
Prämie von Fr. 2.05 pro Tag.<br />
Frau B. absolviert während drei Monaten ein<br />
Praktikum mit einem Beschäftigungsgrad<br />
von 50%. Für die Prämienberechnung wird<br />
der hypothetische Verdienst nicht halbiert,<br />
sondern es wird immer der volle Betrag von<br />
Fr. 81.20 herangezogen. Die so berechnete<br />
Prämie beläuft sich für die Dauer des Praktikums<br />
auf Fr. 184.50.<br />
Lohn abziehen kann, stellt sich die Frage,<br />
wer diese Prämie, die in der Regel höher<br />
ausfällt als die BU-Prämie, trägt.<br />
Sistierung der Unfalldeckung des KVG<br />
Ist eine Person dem UVG-Obligatorium<br />
unterstellt, dann kann die Unfalldeckung<br />
im Rahmen des KVG sistiert werden. Damit<br />
reduziert sich die Prämie um maximal<br />
7 Prozent, was monat-lich eine Einsparung<br />
von rund 30 Franken ergibt. Dieser Umstand<br />
muss zu einer neuen Praxis in der Sozialhilfe<br />
führen. Wurden bisher alle nichterwerbstätigen<br />
Personen angewiesen, die<br />
Unfalldeckung über das KVG einzuschliessen,<br />
kann dies bei Personen, die einen Arbeitseinsatz<br />
von mehr als acht Stunden wöchentlich<br />
leisten, künftig unterbleiben.<br />
Nur mit einer konsequenten Handhabung<br />
der Sistierung können hier Mittel eingespart<br />
werden, die allenfalls für die Tragung<br />
der NBU-Prämien eingesetzt werden könnten.<br />
Geht nach Abschluss des Einsatzes die<br />
Meldung über den Einschluss der Unfalldeckung<br />
bei der Krankenkasse vergessen,<br />
ist bei einem Unfallereignis die Deckung<br />
trotzdem gegeben und die Prämie wird<br />
rückwirkend in Rechnung gestellt.<br />
Sozialdienste sollen Unfallmeldung<br />
sicherstellen<br />
Bei einem Unfallereignis muss der Sozialdienst<br />
sicherstellen, dass die sozialhilfebeziehende<br />
Person eine Unfallmeldung, allenfalls<br />
mit Unterstützung durch die<br />
Sozialarbeiterin, beim Einsatzbetrieb<br />
macht. Damit wird sichergestellt, dass der<br />
Unfallversicherer Leistungen erbringt. Um<br />
über die erbrachten Leistungen und Entscheide<br />
des Unfallversicherers orientiert zu<br />
sein, lässt sich der Sozialdienst mit Vorteil<br />
eine Vollmacht ausstellen, damit der Daten-<br />
und Informationsaustausch stattfinden<br />
kann.<br />
30 <strong>ZESO</strong> 3/18
mit den Einsatzbetrieben hervorgehoben<br />
werden – auf den sogenannten Malus zu<br />
verzichten. Das heisst konkret, dass der Prämiensatz<br />
nicht erhöht (Malus) wird aufgrund<br />
von Versicherungsleistungen im Zusammenhang<br />
mit diesen nicht bezahlten<br />
Arbeitseinsätzen.<br />
Ein Unfall bei einem Beschäftigungsprogramm muss vom Arbeitgeber versichert sein.<br />
Bild: Keystone/Gaetan Bally<br />
Die Leistungen des Unfallversicherers<br />
sind gegenüber den Leistungen des Krankenversicherers<br />
weitergehend. Insbesondere<br />
fallen keine Franchisen und Selbstbehalte<br />
für die versicherte Person an. Zusätzlich richtet<br />
der Unfallversicherer bei einer Arbeitsunfähigkeit<br />
auch ein Taggeld aus.<br />
Neue Regelung wird 2019 umgesetzt<br />
Die Suva nimmt die Prämienerhebung<br />
grundsätzlich rückwirkend nach dem genannten<br />
Urteil bzw. per Anfang 2018 vor.<br />
Sie behält sich eine Einzelfallbeurteilung mit<br />
abweichendem Prämienbezug vor. Suva unterstellte<br />
Betriebe haben die «Lohndeklaration»<br />
für alle Arbeitseinsätze und Ausbildungspraktika<br />
Ende 2018 ein erstes Mal<br />
auszufüllen. Zur Handhabung der anderen<br />
Unfallversicherer liegen keine Angaben vor.<br />
Um eine einheitliche Anwendung des Bundesgesetzes<br />
über die Unfallversicherung<br />
(UVG) zu erreichen, wurde mit dem Inkrafttreten<br />
des UVG im Jahre 1984 die Ad-hoc-<br />
Kommission Schaden UVG gegründet. Sie<br />
erlässt Richtlinien in Form von Empfehlungen.<br />
Und sie hat im Juni 2018 auch eine<br />
Empfehlung zur vorliegenden Fragestellung<br />
erlassen (vgl. https://goo.gl/SSkuDy). Sie<br />
empfiehlt neben dem oben erläuterten Vorgehen<br />
– und das muss in der Kommunikation<br />
BEISPIEL<br />
«UNFALLMELDUNG»<br />
Die Asylfürsorge setzt im Rahmen eines Beschäftigungsprogramms<br />
eine vorläufig aufgenommene<br />
Person zwei Mal wöchentlich<br />
für 5 Stunden für die Reinigung von Trams<br />
ein. Die Person erleidet in der Freizeit einen<br />
Unfall. Dieser wird dem Unfallversicherer<br />
des Verkehrsbetriebes, der SUVA, mit einem<br />
Formular gemeldet. Die Versicherung trägt<br />
die Behandlungskosten vollständig. Die<br />
versicherte Person ist während 30 Tagen<br />
arbeitsunfähig (Deckung ab dem 3. Tag).<br />
Dementsprechend werden 30 Taggelder à<br />
64 Franken (80% des versicherten Verdienstes<br />
von Fr. 81.20) von der Versicherung<br />
ausgerichtet. Die Taggelder werden der sozialhilfebeziehenden<br />
Person als Einnahme<br />
angerechnet und im Sozialhilfe-budget<br />
berücksichtigt.<br />
Zwei Kriterien für das Versicherungsobligatorium<br />
Sowohl das Bundesgericht wie auch die Ad-<br />
Hoc-Kommission Schaden UVG erwähnen<br />
zwei Kriterien, die zur Unterstellung unter<br />
das UVG führen können: «Unter das Versicherungsobligatorium<br />
fällt, wer um des<br />
Erwerbs oder der Ausbildung willen für einen<br />
Arbeitgeber, mehr oder weniger untergeordnet,<br />
dauernd oder vorübergehend tätig<br />
ist, ohne ein eigenes wirtschaftliches Risiko<br />
tragen zu müssen.» Darunter fallen demnach<br />
alle auf die berufliche Integration ausgerichteten<br />
Arbeitseinsätze und Praktika.<br />
Unter das Kriterium des wirtschaftlichen Interesses<br />
der Firma respektive des Einsatzbetriebes<br />
können auch Einsätze mit dem Ziel<br />
der sozialen Integration fallen. Von einem<br />
Interesse des Betriebes ist gemäss der Empfehlung<br />
der Ad-Hoc-Kommission im Regelfall<br />
auszugehen. Und auch das Bundesgericht<br />
hält fest, dass nur dann keine<br />
UVG-Unterstellung vorliege, wenn eine Person<br />
aus blosser Gefälligkeit tätig werde. «Von<br />
Seiten des Einsatzbetriebs bestand zweifellos<br />
ein wirtschaftliches Interesse an der Arbeitsleistung,<br />
handelte es sich doch um einen echten<br />
Einsatz der Verunfallten» (Urteil vom<br />
8. November 2011, 8C_503/2011). Ausdrücklich<br />
von der UVG-Prämienpflicht ausgenommen<br />
sind dagegen Betriebe, deren<br />
Geschäftstätigkeit es ist, berufliche Abklärungen<br />
vorzunehmen. •<br />
Peter Moesch Payot, HSLU Soziale Arbeit<br />
Gaby Reber, stv. Leiterin Sozialamt Stadt Bern<br />
3/18 <strong>ZESO</strong><br />
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