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Hinz&Kunzt 308 Oktober 2018

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Das Hamburger<br />

Straßenmagazin<br />

Seit 1993<br />

N O <strong>308</strong><br />

Okt.18<br />

2,20 Euro<br />

Davon 1,10 Euro<br />

für unsere Verkäufer<br />

Ottos Welt:<br />

„Da hilft<br />

nur Humor!“


25 Jahre Hinz&<strong>Kunzt</strong> – 25 Tage unser Restaurant auf Zeit:<br />

Ein kulinarisches Dankeschön an die Hamburger.<br />

Mit 25 Drei-Gänge-Menüs von Sterneköchen, jungen Wilden<br />

und anderen Küchengöern.<br />

Unser Kochbuch erscheint am 6. November<br />

und kostet 25 Euro plus Versandkosten.<br />

Sie können es online bestellen unter<br />

www.hinzundkunzt.de/shop/<br />

oder im Buchladen (ISBN 978-3-00-060526-0).<br />

Vom Erlös bekommt jeder Hinz&Künztler<br />

zum Jubiläum 25 Monatsmagazine geschenkt.


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Inhalt<br />

Unsere Kollegin Simone Deckner war dabei, als<br />

Obdachlose auf dem Fischmarkt geräumt wurden.<br />

Einer von ihnen ist Wolfgang. Seine Situation ist ihr<br />

ganz schön nahegegangen. Und sie war ziemlich<br />

schockiert darüber, dass die Stadtreinigung Zelte<br />

und Habseligkeiten einfach so weggeschmissen hat.<br />

Deshalb hat sie auch einen Fachanwalt für Verwaltungsrecht<br />

interviewt. Von dem wollte sie wissen, ob<br />

dieses Vorgehen überhaupt rechtens ist (ab Seite 6).<br />

Wir bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> finden eigentlich auch,<br />

dass die Stadt kein Campingplatz sein sollte. Eigentlich.<br />

Denn solange Obdachlose keine Unterkünfte<br />

Wolfgang hat richtig Pech:<br />

Monatelang hat er auf dem<br />

Fischmarkt Platte gemacht,<br />

fühlte sich dort zu Hause.<br />

Jetzt wurden er und andere<br />

Obdachlose geräumt. Redakteurin<br />

Simone Deckner<br />

war dabei. Das Selfie ist vier<br />

Wochen später entstanden,<br />

als sie wissen wollte, wie es<br />

ihm jetzt geht (Seite 6).<br />

wolfgang hat Pech, Alexandru Glück<br />

haben, so lange werden sie draußen campieren müssen.<br />

Und solange es dafür keine Lösung gibt, werden<br />

wir uns auch gegen Räumungen aussprechen.<br />

Jetzt noch eine gute Nachricht: Alexandru ist<br />

Hinz&Künztler und schläft im Pik As in einem<br />

Achtbettzimmer. Jetzt hat der Rumäne einen Job bei<br />

der Stadtreinigung bekommen. Wir drücken ihm<br />

die Daumen, dass er bald ein besseres Zimmer<br />

kriegt oder sogar eine Wohnung (Seite 58).<br />

Ihre Birgit Müller Chefredakteurin<br />

(Schreiben Sie uns doch an info@hinzundkunzt.de)<br />

TITELBILD: MIKE KRAUS; SELFIE: SIMONE DECKNER<br />

Inhalt<br />

Stadtgespräch<br />

04 Gut&Schön<br />

06 Zelte am Fischmarkt:<br />

Rekonstruktion einer Räumung<br />

10 Middlefinger Streetwear: Straßenkids<br />

machen jetzt Mode<br />

14 Zahlen des Monats: Pflegenotstand<br />

16 Altersvorsorge? Aufgepasst!<br />

20 Otto ist reif fürs Museum<br />

26 Saga-Vorstand im Gespräch<br />

28 25 Jahre Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Die Gustav<br />

Peter Wöhler Band spielt für uns<br />

Parallelwelten:<br />

Krimiautor Boris<br />

Meyns aktueller<br />

Blick auf die<br />

Weimarer Republik<br />

(S. 48).<br />

Mark Ojulu hat Angst: Internationale Großinvestoren<br />

bedrohen seine Lebensgrundlage (S. 30).<br />

Auslandsreportage<br />

30 Äthiopien: Der Kampf der Kleinbauern<br />

Lebenslinien<br />

36 Genesungsbegleiter Reiner Ott: Hilfe<br />

auf Augenhöhe für psychisch Kranke<br />

Freunde<br />

40 Verkäuferausflug: Hafenrundfahrt<br />

und Grill-Event<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

46 Adriano Trarbach: Von der Favela<br />

auf die Bühne der Elphi<br />

48 Krimiautor Boris Meyn im Gespräch<br />

52 Tipps für den <strong>Oktober</strong><br />

56 Comic mit Dodo Dronte<br />

58 Momentaufnahme<br />

Rubriken<br />

05, 39 Kolumne<br />

17, 18, 29 Meldungen<br />

44 Leserbriefe<br />

57 Rätsel, Impressum<br />

Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk


Demo gegen Rechts<br />

Für die Vielfalt!<br />

„Keinen Meter den Faschisten!“ So einfach<br />

drückt es Stefan Gundelach (links) aus. Damit<br />

spricht er nicht nur Christiane Vagedes-Baus<br />

und Stefan Tegtmeyer aus dem Herzen, sondern<br />

weiteren rund 10.000 Hamburgern, die<br />

am 5. September auf die Straße gegangen<br />

waren. Grund: Die „Merkel-muss-weg“-<br />

Kundgebung, zu der laut Verfassungsschutz<br />

Rechtsextremisten aufrufen. Auch ein AfD-<br />

Politiker aus Mecklenburg-Vorpommern und<br />

ein Pegida-Vertreter hielten Reden – denen<br />

aber nur 178 Menschen lauschten. Immerhin:<br />

Für <strong>Oktober</strong> haben die Rechten ihre<br />

Kundgebung abgesagt. ABI<br />


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Gut&Schön<br />

Rathauspassage<br />

Neuer Glanz<br />

im Untergrund<br />

Diana Mack vom Leitungsteam<br />

der Rathauspassage.<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE (S.4) , JAN LINNEMANN (OBEN), DUCKDALBEN (UNTEN LINKS),<br />

STUDIO MORISON/IVAN MORISON (UNTEN RECHTS), ANNETTE WOYWODE (KOLUMNE)<br />

Deutscher Nachbarschaftspreis <strong>2018</strong><br />

Ausgezeichnet: 48h Wilhelmsburg<br />

Musik und Geschichten bringen Menschen<br />

zusammen – über alle Grenzen hinweg.<br />

Beim jährlichen Festival „48h Wilhelmsburg“<br />

klappt das seit 2010. Zuletzt kamen 20.000 Besucher,<br />

um mehr als 1000 Künstler live zu erleben.<br />

Für ihr nachbarschaftliches Engagement<br />

erhielt die Initiative nun den mit 2000 Euro<br />

dotierten Landespreis für Hamburg. LEU<br />

•<br />

Die Million ist geschafft<br />

Seit 1986 hat das Hamburger Seemannsheim<br />

„Duckdalben“ für Seeleute<br />

aus aller Welt geöffnet – und<br />

Chandrakant Rakshe aus Indien ist<br />

ihr millionster Gast. Der 27-Jährige<br />

fährt seit drei Jahren zur See und<br />

war ziemlich überrascht über die Begrüßung<br />

mit einer Magnumflasche<br />

Bier und einer Topfpflanze (Schnittblumen<br />

an Bord sollen Unglück<br />

bringen). 2017 kamen Gäste aus 102<br />

Ländern in die Seemannsmission,<br />

die 2011 als bester Seemannsclub<br />

der Welt ausgezeichnet wurde. LEU<br />

•<br />

Happy Birthday, BISS!<br />

Am 17. <strong>Oktober</strong> 1993 erschien das<br />

erste Straßenmagazin Deutschlands:<br />

die „BISS – Bürger in sozialen<br />

Schwierigkeiten“. Heute verkaufen<br />

circa 100 Menschen das Münchener<br />

Magazin, ein großer Teil ist fest angestellt.<br />

BISS feiert den 25-jährigen<br />

Geburtstag mit einem bunten Jubiläumsprogramm<br />

auf dem Wittelsbacher<br />

Platz. Die dafür eigens von<br />

Künstlern des Studios Morison geschaffene<br />

begehbare Skulptur wird<br />

am 13.10. wieder abgebaut. ABI<br />

•<br />

Seit knapp 20 Jahren residiert<br />

die von Ex-Landespastor<br />

Stephan Reimers gegründete<br />

Rathauspassage im Tunnel<br />

zwischen Rathausmarkt und<br />

Jungfernstieg. Jetzt werden die<br />

Räume des Beschäftigungsprojektes<br />

mit Antiquariat,<br />

Fair-Trade-Laden, Kirchen-<br />

Infoschalter, Bistro, Veranstaltungsraum<br />

und öffentlichen<br />

Toiletten nach und nach umgebaut<br />

und modernisiert.<br />

4,4 Millionen Euro sind<br />

dafür veranschlagt. So kann<br />

das Bistro sogar Fenster und<br />

Türen zu den Alsterarkaden<br />

hin erhalten. „Wir werden viel<br />

sichtbarer!“, so Betriebsleiterin<br />

Diana Mack. „Das Soziale in<br />

Hamburg erfährt dadurch eine<br />

große Aufwertung.“ Auch für<br />

die 20 vom Jobcenter geförderten<br />

Mitarbeiter sei das eine<br />

Anerkennung. Etwa ein Drittel<br />

von ihnen ist schwerbehindert,<br />

viele haben gesundheitliche<br />

Probleme. Ihr Alter liegt im<br />

Schnitt bei 55 Jahren. Im<br />

„Training on the Job“ sollen<br />

sie fit gemacht werden für den<br />

ersten Arbeitsmarkt.<br />

Daran wird auch der Umbau<br />

nichts ändern. Auch nicht<br />

am Motto der Passage: fair, sozial,<br />

nachhaltig und gemeinwohlorientiert.<br />

Fehlt noch das<br />

Geld, das die Passagen-Gesellschaft<br />

zum Umbau beisteuern<br />

muss: 1,8 Millionen Euro, die<br />

über Spenden eingeworben<br />

werden sollen. Den Rest übernimmt<br />

die Stadt. ABI<br />

•<br />

Infos: www.rathauspassage.de<br />

5


Wolfgang (63) trauert seiner<br />

Platte am Fischmarkt hinterher.<br />

Sein neuer Schlafplatz ist<br />

30 Kilometer entfernt und<br />

auch nicht sicher.


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Stadtgespräch<br />

Wolfgang wohnt hier<br />

nicht mehr<br />

Fünfeinhalb Monate schlief der 63-jährige Wolfgang in einem Zelt am<br />

Fischmarkt. Dann vertrieb der Bezirk Altona den Obdachlosen von seiner Platte.<br />

Rekonstruktion einer Räumung – und was danach geschah.<br />

TEXT: SIMONE DECKNER<br />

FOTOS: MIGUEL FERRAZ (S. 6), JOTO (S. 7), SIMONE DECKNER<br />

N<br />

ach dem Aufstehen konnte er immer auf die<br />

Elbe gucken. Den Möwen hinterher. In seinem<br />

Rücken rauschten die Autos vorbei. Lauter wurde<br />

es auf dem langgestreckten Platz am Fischmarkt<br />

nur am Wochenende. „Ab und zu haben die Leute auf<br />

der Mauer Party gemacht“, sagt Wolfgang. Gestört hat ihn<br />

das nicht, „am Hafen ist es nun mal laut“.<br />

Fünfeinhalb Monate hat der 63-Jährige am Fischmarkt<br />

gelebt. Gemeinsam mit anderen Obdachlosen: vier, fünf Zelte<br />

insgesamt. Die geduldet wurden. Es hat nie Stress gegeben,<br />

sagt Wolfgang. Ein guter Platz. „Alles war nah: die Ecken, in<br />

denen ich Pfand gesammelt habe, die Essens angebote, die<br />

Tageseinrichtungen. Es war schön hier.“<br />

War. Denn jetzt ist alles anders. Erst kamen immer mehr<br />

Zelte dazu – und jetzt steht kein einziges mehr auf dem<br />

Fischmarkt. Der Bezirk Altona hat die Platte Ende August<br />

geräumt. Gründlich. Vorher hatte man Wolfgang und den<br />

anderen eine Frist zum Aufräumen gesetzt. Dauer: fünf Tage.<br />

Wolfgang und seine beiden Kumpel Thomas und Helmut<br />

haben schon einen Tag vorher ihre Sachen gepackt. Sie wollten<br />

sich nicht wie Müll wegfegen lassen.<br />

Es ist ein Dienstagmorgen, Punkt 10 Uhr, als Mitarbeiter<br />

der Stadtreinigung beginnen, alles wegzuschmeißen: Matratzen,<br />

Zelte, Decken, Plastiktüten, Ruck säcke, Kleidung. Als einer<br />

der Männer in Orange zögert, weil er im Gebüsch einen<br />

Einkaufswagen voll Habseligkeiten sieht, sorgsam abgedeckt,<br />

herrscht ihn ein Mitarbeiter vom Bezirk an: „Weg, alles weg!“<br />

Die ganze Aktion dauert kaum 15 Minuten.<br />

Man gehe „sehr sensibel“ bei solchen Räumungs aktionen<br />

vor, sagt Stadtreinigungssprecher Reinhard Fiedler, als beauftragtes<br />

Entsorgungsunternehmen habe man „überhaupt kein<br />

Interesse an Konflikten“. Die Mopo wird später berichten,<br />

dass der Rucksack eines Obdachlosen mit persönlichen<br />

Papieren auch im Müll landete und erst auf seinen Protest<br />

hin wieder herausgefischt wurde.<br />

Man habe räumen müssen, heißt es aus dem zuständigen<br />

Bezirksamt Altona, aus „hygienischen Gründen“. Die Fläche<br />

und die Böschung seien als Klo benutzt worden. Anwohner<br />

hätten sich beschwert. Es sei gezündelt worden. Das ist die<br />

Kurzfassung. Wer nachfragt, dem kann Bezirksamtssprecher<br />

Martin Roehl gleich vier Gesetze vorlegen, gegen die die<br />

Obdachlosen verstoßen hätten – man kann sich eins aussuchen:<br />

das Hamburger Wegegesetz, das Gesetz zum Schutz<br />

der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, das Kreislaufwirt-<br />

Der Grund für die radikale Räumung laut Bezirk: Beschwerden über<br />

die hygienischen Verhältnisse am Fischmarkt.<br />

7


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>308</strong>/OKTOBER <strong>2018</strong><br />

„Da ist nur Platz für<br />

Libellen – nicht für uns.“<br />

WOLFGANG<br />

schaftsgesetz sowie das Ordnungswidrigkeitengesetz (siehe<br />

Interview mit Rechtsanwalt Martin Bill auf Seite 9).<br />

Was die plötzliche Räumungsaktion wohl tatsächlich auslöste:<br />

Aus den wenigen Zelten waren Anfang August plötzlich<br />

insgesamt 18 geworden. „Da kamen immer mehr Leute“,<br />

bestätigt Wolfgang, „wir haben schon geahnt, dass das nicht<br />

lange gut geht.“ Junkies seien auch darunter gewesen. „Aber<br />

in die Böschung gemacht haben auch Touristen und die<br />

Camper von nebenan“, sagt Wolfgang.<br />

Laut Aussage einiger Wohnmobilisten sind allein die<br />

Obdachlosen schuld. Der Platz sei „eine Schande für die<br />

Stadt. Dafür noch Geld zu nehmen ist nicht mehr nachvollziehbar,“<br />

poltert einer in einem Bewertungsportal und will<br />

„mindestens 50 Zelte“ gesehen haben. Das Thema ist erledigt.<br />

Bei Redaktionsschluss ist der Platz nach wie vor leer.<br />

Nachdem Wolfgang dort weg musste, ist er erst einmal<br />

ziellos mit seinem alten Hercules-Herrenrad herumgekurvt.<br />

„Wir wussten ja, wir müssen weiterziehen. Nur wohin?“ Die<br />

Frage stellt er sich seit vergangenem Winter ständig. Damals<br />

wurde er das erste Mal in seinem Leben obdachlos. „Ich<br />

weiß, dass ich eine Menge Fehler gemacht habe“, sagt der<br />

63-Jährige nachdenklich. Nach der Räumung vom Fischmarkt<br />

zog es ihn in Richtung Altes Land. Dabei wollte er,<br />

der im niedersächsischen Einbeck geboren ist, doch immer<br />

weg aus dem Kleinstadtmief. Hinter Finkenwerder hat er<br />

vorerst einen neuen Platz gefunden. Ruhig ist es da, aber<br />

Wolfgang muss jetzt täglich 30 Kilometer in die Stadt fahren.<br />

Für die Fähre reichte das Geld nur anfangs. Mit Pfandsammeln<br />

sei in der Ecke eh nichts zu machen, sagt er.<br />

Er war gerade mal drei Wochen auf seiner neuen Platte,<br />

als ein Bauer sich vors Zelt stellte. „Er hat gesagt, wir können<br />

da nicht bleiben. Da ist nur Platz für Libellen, nicht für uns.“<br />

Naturschutzgebiet. Er werde sich aber irgendwie durchwurschteln,<br />

sagt Wolfgang. Er braucht ja nicht viel. Eigentlich<br />

nur einen Ort, an dem er bleiben kann. Bloß ein kleines,<br />

sicheres Fleckchen. „Eine Wohnung zu finden“, sagt Wolfgang,<br />

„ist ja schon für normale Menschen in Hamburg verdammt<br />

schwer.“ •<br />

Kontakt: simone.deckner@hinzundkunzt.de<br />

Beauftragt vom Bezirk Altona schmeißen Mitarbeiter der Stadtreinigung Zelte und weitere Habseligkeiten<br />

der Obdachlosen am Fischmarkt weg. Ist das wirklich alles Müll, der von seinen Besitzern „aufgegeben“ wurde?


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Stadtgespräch<br />

Veranstaltungen<br />

im <strong>Oktober</strong><br />

und November<br />

Donnerstag, 18.10.<strong>2018</strong>, 19 Uhr<br />

Stadtumbau jetzt!<br />

Informations- und Diskussionsveranstaltung<br />

der Initiative „Altstadt<br />

für Alle!“<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Auf welcher rechtlichen<br />

Grundlage entsorgt die Stadt das Eigentum<br />

von Obdachlosen?<br />

MARTIN BILL: Da sind vor allem das Wegegesetz<br />

und das Kreislaufwirtschaftsgesetz<br />

zu nennen: Ein Zelt aufzubauen<br />

und darin zu übernachten, wird als<br />

„unerlaubte Sondernutzung“ im Wegegesetz<br />

gewertet – denn das ist genehmigungspflichtig.<br />

Im Kreislaufwirtschaftsgesetz<br />

wird Besitz, der „offensichtlich<br />

aufgegeben“ wurde, als Müll deklariert<br />

und entsorgt.<br />

Viele Leser haben uns nach der Räumung gefragt:<br />

Ist das Wegschmeißen nicht Diebstahl?<br />

Nein, wenn man der Argumentation<br />

folgt, dass es sich um eine „unerlaubte<br />

Sondernutzung“ oder um Müll handelt.<br />

Dabei muss die Stadt sich immer<br />

fragen: Welche Reaktion ist verhältnismäßig?<br />

Man muss gewährleisten, dass<br />

die Leute ihre Sachen mitnehmen können,<br />

bevor sie entsorgt werden.<br />

9<br />

Martin Bill ist<br />

Fachanwalt für<br />

Verwaltungsrecht.<br />

„Es gibt eine<br />

Durchsuchungspflicht“<br />

Rechtsanwalt Martin Bill zur Frage, ob der Bezirk<br />

das Hab und Gut von Obdachlosen wegschmeißen darf.<br />

INTERVIEW: SIMONE DECKNER<br />

FOTO: GUNNAR GARMS<br />

Und was ist mit einem Einkaufswagen voller<br />

Dinge, die mit einer Plane abgedeckt sind?<br />

Ist das auch Müll?<br />

Es kommt immer auf den Gesamteindruck<br />

an. Eine illegale Müllhalde<br />

würde ich vermutlich nicht mit einer<br />

Plane sichern. Auch wenn jemand seine<br />

Sachen mit einem Schloss versieht,<br />

signalisiert er damit, dass er sie nicht<br />

auf geben will und es kein Schrott ist.<br />

Gesetzt den Fall, der Rucksack eines<br />

Obdachlosen mitsamt Personalausweis<br />

wird weggeschmissen (siehe S. 7). Könnte<br />

der Betroffene gegen die Stadt klagen?<br />

Es gibt eine Durchsuchungspflicht.<br />

Wenn ich sehe, dass sich Taschen oder<br />

Rucksäcke in einem Zelt befinden, kann<br />

ich die nicht einfach wegschmeißen,<br />

sondern muss sie vorher durchsuchen.<br />

Ein Personalausweis hat ja einen sehr<br />

viel höheren Wert als ein Zelt. Aber es<br />

kommt fast nie vor, dass sich Obdachlose<br />

wehren und auf ihr Recht pochen. •<br />

Foto: Karin Desmarowitz<br />

Donnerstag, 25.10.<strong>2018</strong>, 18 Uhr<br />

Tafelsilber und Betongold –<br />

Ausverkauf der europäischen Stadt<br />

Vorträge und Diskussion<br />

In Kooperation mit dem Denkmalrat<br />

Hamburg und dem Denkmalverein<br />

Hamburg<br />

Dienstag, 30.10.<strong>2018</strong>, 19 Uhr<br />

Zur historischen Bedeutung der<br />

Reformation<br />

Vortrag von Prof. Dr. Volker<br />

Gerhardt, anschließend Podiumsgespräch<br />

Donnerstag, 01.11.<strong>2018</strong>, 18 Uhr<br />

Verleihung des 10. Holger-Cassens-<br />

Preises<br />

In Kooperation mit der Mara und<br />

Holger Cassens-Stiftung<br />

Montag, 05.11.<strong>2018</strong>, 19 Uhr<br />

<br />

Eine Veranstaltung des Arbeitskreises<br />

Denkmalschutz der Patriotischen<br />

Gesellschaft<br />

Eintritt frei zu allen Veranstaltungen,<br />

Anmeldung erbeten:<br />

www.patriotische-gesellschaft.de<br />

Patriotische Gesellschaft von 1765<br />

Trostbrücke 4-6, 20457 Hamburg


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>308</strong>/OKTOBER <strong>2018</strong><br />

Machen statt labern:<br />

Mit diesem Motto<br />

wollen Linchen und<br />

Marcl durchstarten.<br />

10


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Stadtgespräch<br />

Früher machten<br />

sie Platte.<br />

Heute machen<br />

sie Druck.<br />

Schon sehr jung landeten Linchen und Marcl auf der Straße.<br />

Ihre Chancen auf ein besseres Leben standen schlecht.<br />

Fanden andere. Sie selbst glaubten an ihren Traum<br />

vom eigenen Modelabel. Noch immer arbeiten sie hart für<br />

den Erfolg – und zeigen allen Zweiflern den Mittelfinger.<br />

TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

F<br />

ür Linchen (20) und Marcl<br />

(27) ist jedes T-Shirt ein<br />

kleiner Triumph. Es geht voran<br />

in der Siebdruckwerkstatt<br />

ihres Labels „Middlefinger Streetwear“.<br />

Auch wenn früher kaum jemand<br />

an sie glaubte. Zwei Kids von<br />

der Straße mit einer fixen Idee vom eigenen<br />

Modelabel, aber null Fachkenntnis<br />

– manche hörten gar nicht erst hin,<br />

andere lachten nur. Für all diese Leute<br />

haben Linchen und Marcl nur eins<br />

übrig: den Mittelfinger.<br />

Für beide ging es lange Zeit nur<br />

bergab. Marcl arbeitete Vollzeit im Fassund<br />

Containergroßhandel und jobbte<br />

im Imbiss, um die Wohnung für seine<br />

kleine Familie einzurichten. Dann ging<br />

die Beziehung zu Bruch. Seine Ex-<br />

Freundin und deren Kind zogen aus,<br />

plötzlich war er allein. „Wohnung zu<br />

teuer, neue Küche noch nicht abbezahlt.<br />

Ich hab Angst vorm Briefkasten gekriegt“,<br />

sagt Marcl knapp. Er verschuldete<br />

sich, rutschte immer tiefer in die<br />

Krise. Sein Chef habe ihn gehalten, bis<br />

es nicht mehr ging, sagt Marcl. „Da hatten<br />

sie mich gerade übernommen, und<br />

ein halbes Jahr später war alles kaputt.“<br />

Als auch der Nebenjob weg war, stand<br />

er auf der Straße – mit 24 Jahren.<br />

Für Linchen kam die Not schleichend.<br />

„Anfangs habe ich mich auf der<br />

Straße ziemlich wohlgefühlt“, sagt sie.<br />

Schon als Jugendliche blieb sie oft über<br />

Nacht weg und traf Freunde, die Platte<br />

machten. Ihre Mutter nahm es hin,<br />

doch als Linchen zum Hafengeburtstag<br />

nach Hamburg fuhr und danach nur<br />

noch selten nach Hause kam, gab es<br />

Zoff. „Irgendwann hat sie mich rausgeschmissen“,<br />

sagt Linchen. Also blieb<br />

sie bei ihren Leuten auf der Reeperbahn.<br />

Draußen schlafen kannte sie<br />

schon mit ihren 17 Jahren, doch Platte<br />

Mit Halstüchern haben sie angefangen, heute kreieren Marcl und Linchen<br />

nicht nur eigene T-Shirts, sie übernehmen auch Auftragsarbeiten.<br />

11


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>308</strong>/OKTOBER <strong>2018</strong><br />

Siebdruck ist<br />

Trumpf: Das<br />

Modelabel<br />

„Middlefinger“<br />

hat seine Linie<br />

gefunden.<br />

„Als ich sie zum ersten<br />

Mal gesehen habe, war<br />

mir klar: Hier passiert<br />

etwas Besonderes.“ MARCL ÜBER LINCHEN<br />

12


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

<br />

<br />

<br />

SchauSpielHaus<br />

machen zu müssen, fühlte sich härter<br />

an. „Ich hatte keinen Zufluchtsort<br />

mehr.“<br />

Dann lernte sie auf der Straße<br />

Marcl kennen. „Als ich sie zum ersten<br />

Mal gesehen habe, war mir sofort klar:<br />

Hier passiert gerade was Besonderes“,<br />

sagt er. Sie freundeten sich an, wurden<br />

ein Paar. Und sie fassten einen Plan:<br />

Weg von der Straße. Aber das war gar<br />

nicht so leicht.<br />

Sie beantragten Hartz IV, besichtigten<br />

Wohnung um Wohnung – mit<br />

immer weniger Hoffnung. „Logischerweise<br />

sind da auch immer Mütter mit<br />

Kindern oder Leute, die Arbeit haben“,<br />

sagt Marcl. „Wir hatten halt den<br />

schlechtesten Status.“ Spätestens als sie<br />

auf dem Bewerbungsbogen „ohne<br />

festen Wohnsitz“ eintragen mussten,<br />

war der Zug abgefahren, meint Linchen.<br />

Nach einem halben Jahr Suchen<br />

klappte es doch: Über eine Bekannte<br />

fanden sie eine kleine Dachgeschosswohnung<br />

in Harburg.<br />

Endlich wieder ein Zufluchtsort,<br />

endlich Ruhe zum Nachdenken: Wie<br />

geht es weiter? Die zündende Idee ließ<br />

nicht lange auf sich warten. Marcl<br />

spricht von „Vision“, wenn er beschreibt,<br />

was ihm damals im neuen<br />

Wohnzimmer alles durch den Kopf<br />

schoss: Ein Modelabel mit coolen<br />

Prints auf sportlichen Klamotten, mit<br />

eigenem Shop, ein unübersehbares<br />

Zeichen an alle da draußen. „Es hat<br />

mich getroffen wie ein Hammerschlag“,<br />

sagt Marcl. „Das war so heftig,<br />

ich musste sofort aufstehen.“ Dann<br />

sprudelte es aus ihm heraus. Und Linchen<br />

wusste: Das ist es.<br />

Ein eigenes Modelabel? „Middlefinger<br />

Streetwear“? Beim Jobcenter<br />

stieß die Frage nach Förderung auf<br />

taube Ohren. „Wir hatten eine Mappe<br />

mit all unseren Ideen, die wollten wir<br />

denen zeigen. Die haben gar nicht<br />

reingeguckt“, erzählt Marcl. Noch<br />

schlimmer waren die Reaktionen der<br />

früheren Weggefährten. „Den Leuten<br />

haben wir natürlich auch von der Idee<br />

erzählt“, sagt er. „Und dann lachen die<br />

einen aus.“<br />

Doch es gab auch andere. Über das<br />

Berufsnetzwerk Xing wurde Linchen<br />

auf die Modedesignerin Sarah Bürger<br />

aufmerksam, die den beiden einen<br />

Platz in der Ateliergemeinschaft<br />

„Formschoen“ in Eilbek verschaffte –<br />

mietfrei gegen Putzdienst. Sie half<br />

ihnen auch, ihre Ideen zu sortieren und<br />

klein anzufangen. „Wir haben erst mal<br />

ein paar Bettlaken versiebt“, sagt<br />

Marcl. „Um die Technik zu lernen.“<br />

So entstand das erste Produkt von<br />

„Middlefinger Streetwear“: Siebgedruckte<br />

Halstücher. Mithilfe eines<br />

Freundes kam der Webshop dazu, das<br />

erste Fotoshooting, die Steuernummer<br />

– und die ersten Kunden.<br />

Heute drucken die beiden nicht<br />

nur T-Shirts, sondern auch Auftragsarbeiten.<br />

Gerade sind 20 Aufnäher fertig<br />

geworden. Das Motiv kommt vom<br />

Kunden, das Sieb dazu stellen Linchen<br />

und Marcl selbst her. Gedruckt wird<br />

bei „Middlefinger Streetwear“ auf fair<br />

gehandelter Biobaumwolle. Dass die<br />

teurer ist als Massenware, nehmen die<br />

beiden in Kauf – auch wenn sie selbst<br />

noch immer regelmäßig zur Tafel müssen,<br />

weil sie mit ihrer Mode bislang<br />

kaum etwas verdienen. Ohne Hartz IV<br />

geht es noch nicht. „Manchmal fühlt es<br />

sich an, als hätten wir noch nichts<br />

geschafft“, sagt Linchen. Die zwei<br />

machen trotzdem weiter. Auch um es<br />

der Welt zu zeigen, wie Marcl sagt:<br />

„Hinschmeißen kann jeder.“ •<br />

Kontakt: annabel.trautwein@hinzundkunzt.de<br />

Linchen und Marcl erreichen Sie unter:<br />

contact@middlefinger-streetwear.com<br />

Mehr Modebilder: www.instagram.com/<br />

middlefingerstreetwear<br />

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Zahlen des Monats<br />

Notstand im Krankenhaus<br />

Mehr Pflegekräfte<br />

müssen her!<br />

13<br />

Patienten muss eine deutsche Krankenschwester im Durchschnitt gleichzeitig versorgen.<br />

Damit arbeiten Pflegerinnen hierzulande unter deutlich schlechteren Bedingungen als<br />

anderswo: In US-amerikanischen Krankenhäusern kommen 5,3 Patienten auf eine Fachkraft,<br />

in den Niederlanden 7, in Schweden 7,7 und in der Schweiz 7,9. „Zwischen 1 zu 4 und 1 zu 7<br />

sollte der Personalschlüssel auf Normalstationen liegen“, sagt Michael Simon. Entsprechende<br />

verbindliche Standards sind international verbreitet, so der Wissenschaftler in einer Studie im<br />

Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung – und manchmal lebensrettend: „Sie mindern das Risiko<br />

von Infektionen, Thrombosen und Todesfällen durch zu spät erkannte Komplikationen.“<br />

Nachdem sich Krankenhäuser und Krankenkassen nicht auf Standards einigen konnten,<br />

hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) eine Verordnung erlassen. Sie legt für vier<br />

Bereiche Personalvorgaben fest: Auf Intensivstationen darf eine Pflegekraft tagsüber künftig<br />

höchstens zwei Patienten versorgen, in der Nachtschicht nicht mehr als drei.<br />

In der Unfallchirurgie sind maximal zehn Patienten pro Pfleger zulässig, nachts dürfen es hier<br />

höchstens 20 sein. Auch für Geriatrie und Kardiologie gelten ab Januar Personalschlüssel.<br />

Zudem soll ab 2019 jede zusätzliche Fachkraft voll von den Krankenkassen bezahlt werden.<br />

Ein entsprechender Gesetzentwurf wird derzeit im Bundestag beraten. Ab 2020 will die<br />

Bundesregierung die Krankenhauspflege grundsätzlich neu regeln: Unabhängig von<br />

Fallpauschalen soll jedes Haus ein Budget für Pflege bekommen, das die realen Kosten deckt.<br />

Dem „Hamburger Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus“ gehen die Pläne nicht weit<br />

genug: „Wir müssen die Krankenhäuser als Ganzes betrachten, um das Verschieben von<br />

Personal zu verhindern“, sagt Sprecher Christoph Kranich. Weil unklar sei, wie das<br />

Bundesgesetz am Ende aussieht, fordert das Bündnis eine Hamburger Lösung und hat eine<br />

Volksinitiative gestartet. Forderungen: verbindliche Personalvorgaben für alle Krankenhausbereiche<br />

und bessere Arbeits- und Ausbildungsbedingungen für Pflegerinnen. Nachdem<br />

Gespräche mit SPD und Grünen gescheitert sind, will das Bündnis nun einen Volksentscheid.<br />

Bundesweit 11.000 offene Stellen können nicht besetzt werden, weil Fachkräfte fehlen. Die<br />

Diakonie hält von Personalschlüsseln deshalb wenig: „Sie könnten dazu führen, dass Krankenhäuser<br />

ganze Stationen schließen müssen“, so Dirk Ahrens, Hamburger Diakonie-Chef.<br />

Nach einer Berechnung von Krankenhausexperte Simon fehlen an deutschen Kliniken<br />

mindestens 100.000 Fachkräfte. Derzeit gibt es dort 370.000 Vollzeitstellen für Pflegekräfte.<br />

Etwa die Hälfte der Beschäftigten arbeitet in Teilzeit, gut 80 Prozent sind Frauen. •<br />

TEXT: ULRICH JONAS<br />

ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />

Mehr Infos im Internet unter www.huklink.de/krankenhauspflege<br />

15


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>308</strong>/OKTOBER <strong>2018</strong><br />

Erich Heeder<br />

im Offenen<br />

Atelier in<br />

Mümmelmannsberg,<br />

das er mit<br />

anderen<br />

Künstlern teilt.<br />

Aufgepasst!<br />

Erich Heeder bekommt nur Grundsicherung. Trotzdem hat er es geschafft, für<br />

Notfälle im Alter vorzusorgen. Doch das Ersparte zu behalten war nicht einfach.<br />

TEXT: ULRICH JONAS<br />

FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Sorgt für eure Rente vor!“ Erich<br />

Heeder hat diesen Politiker-Satz<br />

ernst genommen. Obwohl der<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufer seit Jahrzehnten<br />

auf Hilfe vom Staat angewiesen ist,<br />

hat der 65-Jährige etwas Geld fürs Alter<br />

beiseitegelegt: erst 22 Euro im Monat,<br />

eine klassische Zusatzversicherung. In<br />

die hat er 25 Jahre lang eingezahlt –<br />

auch wenn das Geld oft knapp war.<br />

Zehn Jahre hat er auch noch geriestert,<br />

mit weiteren 20 Euro monatlich.<br />

Knapp 10.000 Euro hat er auf diese<br />

Weise zusammengespart. Doch als im<br />

Mai die Auszahlung ansteht, stellt sich<br />

die Frage: Was wird aus diesem Geld?<br />

5000 Euro, so steht es im Gesetz,<br />

darf der Hilfeempfänger auf jeden Fall<br />

behalten. Doch was ist mit den restlichen<br />

4916 Euro? Erich Heeder geht<br />

zum Grundsicherungsamt. Dort heißt<br />

es: Das Geld wird als Einkommen gewertet,<br />

die staatliche Hilfe entsprechend<br />

gekürzt. Heeder ist empört: „Ich<br />

habe das angespart, weil ich wusste,<br />

dass meine Rente gering ausfällt. Soll<br />

ich das nun in einem Schwung verbal-<br />

lern?“ Das will der Hinz&Künztler auf<br />

keinen Fall.<br />

Der Zorn des streitbaren Mannes<br />

scheint nachzuhallen. Im Amt setzen<br />

sie sich offenbar zusammen – und laden<br />

Die Rechtslage<br />

Laut Sozialgesetzbuch (SGB) XII muss ein Hilfeempfänger sein gesamtes<br />

Vermögen einsetzen, bevor er staatliche Unterstützung bekommt. Allerdings gilt<br />

ein sogenannter Vermögensschonbetrag in Höhe von 5000 Euro für Sozialhilfeempfänger<br />

(bei Hartz-IV-Empfängern sind es je nach Alter rund 10.000 Euro).<br />

Paragraf 90 Absatz 2 des SGB XII legt die Ausnahmen fest: etwa für monatliche<br />

Auszahlungen aus Altersvorsorgeversicherungen, Geld für „angemessenen<br />

Hausrat“ oder „Familien- und Erbstücke, deren Veräußerung … eine besondere<br />

Härte bedeuten würde“.<br />

Hartz-IV-Empfänger dürfen 100 Euro im Monat anrechnungsfrei hinzuverdienen.<br />

Höheres Einkommen wird mit der staatlichen Hilfe verrechnet.<br />

Grundsicherungsempfänger dürfen von 100 Euro hingegen nur 30 behalten,<br />

in Ausnahmen 50. Mehr Infos im Internet unter www.huklink.de/sozialhilfe und<br />

www.huklink.de/schonvermögen<br />

16


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Erich Heeder zum Gespräch. Er wird<br />

nach seinen Lebensumständen befragt.<br />

Der Stadtteilkünstler erzählt: dass er ein<br />

Auto mieten müsse, um seine Werke zu<br />

einer Ausstellung zu schaffen. Dass er<br />

bald einen neuen Kühlschrank brauche.<br />

Und dass er auch gerne mal in den<br />

Urlaub fahren würde.<br />

Ende Juli dann die frohe Kunde:<br />

Das Amt erhöht die Vermögensfreigrenze<br />

ausnahmsweise um weitere 4222<br />

Euro: „… in Ihrem besonderen Einzelfall<br />

… für die Deckung einmaliger<br />

altersbedingter Bedarfe zur Kontaktpflege“,<br />

wie es umständlich heißt. Was<br />

genau die Behörde wie berechnet hat,<br />

ergibt sich aus dem Bescheid nicht.<br />

„Warum haben<br />

die mir das nicht<br />

gleich gesagt?“<br />

ERICH HEEDER<br />

Erich Heeder ist erleichtert, bekommt<br />

er nun doch nur noch knapp 700 Euro<br />

des ersparten Geldes von der Hilfe<br />

abgezogen.<br />

Fragen bleiben dennoch offen.<br />

„Warum haben die mir nicht gleich<br />

gesagt, dass es Möglichkeiten gibt,<br />

mehr Geld zu behalten?“, fragt sich der<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufer. „Ich kann<br />

doch nicht den ganzen Paragrafen-<br />

Dschungel kennen!“ Die Sozialbehörde<br />

erklärt dazu: „Von Seiten des Gesetzgebers<br />

ist gewollt, dass ein bestimmtes<br />

Vermögen verschont wird, dieser Betrag<br />

ist jedoch auf 5000 Euro begrenzt.“<br />

Eine Erhöhung des Freibetrags<br />

sei nur in Einzelfällen möglich (siehe<br />

Infokasten). Und für Rentner gelte: „Ist<br />

die Altersgrenze überschritten, müssen<br />

Altersvorsorge-Beiträge eingesetzt oder<br />

verbraucht werden.“<br />

Erich Heeder sagt: „Wenn ich nicht<br />

gekämpft hätte, wäre mein Freibetrag<br />

nie erhöht worden.“ Er wünscht sich,<br />

dass andere Betroffene seinem Beispiel<br />

folgen. •<br />

Kontakt: ulrich.jonas@hinzundkunzt.de<br />

Stadtgespräch<br />

Meldungen (1)<br />

Niedriglöhne<br />

Altersarmut wird zur Regel<br />

Mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen,<br />

die bald in Ruhestand gehen,<br />

werden ihren Lebensstandard im<br />

Alter deutlich absenken müssen. Das<br />

hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung<br />

(DIW) auf Basis von<br />

Rentenansprüchen errechnet. Um so<br />

zu leben wie derzeit, werden 58 Prozent<br />

der heute 55- bis 64-Jährigen im<br />

Schnitt 700 Euro monatlich fehlen, so<br />

die Forscher. Selbst wenn die Betroffenen<br />

ihr Privatvermögen einsetzten,<br />

würden gut 40 Prozent ihren Lebensstandard<br />

nicht halten können. Von<br />

Altersarmut bedroht seien vor allem<br />

Menschen, die sich ausschließlich auf<br />

die gesetzliche Rentenversicherung<br />

verlassen, so das DIW. Derweil<br />

verweist die Gewerkschaft IG BAU<br />

auf eine Statistik der Arbeitsagentur,<br />

nach der 98.600 Vollzeitbeschäftigte<br />

in Hamburg weniger als 2200 Euro<br />

brutto im Monat verdienen. Damit<br />

seien 15 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten<br />

„mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

im Alter auf staatliche Stütze angewiesen“,<br />

so der Hamburger IG-BAU-<br />

Vorsitzende Matthias Maurer – „ein<br />

unhaltbarer Zustand“. UJO<br />

•<br />

Politik & Soziales<br />

Schuldnerberater fordern bessere Hilfen<br />

Zahl der Stromsperren weiterhin hoch<br />

Die Zahl der Stromsperren in Hamburg bewegt sich weiterhin auf hohem<br />

Niveau. In den ersten acht Monaten dieses Jahres bekamen 5835 Haushalte<br />

den Strom abgeklemmt, so der Senat. Da die Zahl der Sperren in kalten<br />

Monaten erfahrungsgemäß ansteigt, dürfte die Jahresbilanz erneut bei 9000<br />

bis 10.000 liegen. 2015 waren es 6688 Sperren gewesen, danach stieg die Zahl<br />

auf mehr als 10.000 jährlich an. Da oft Hilfeempfänger betroffen sind, fordern<br />

Schuldnerberater und Sozialverbände seit Jahren, die staatlichen Hilfen zu<br />

erhöhen: „Wenn ich an allen Ecken und Enden zu wenig habe, muss ich<br />

irgendwo sparen“, sagt Matthias Butenob von der Landesarbeitsgemeinschaft<br />

Schuldnerberatung. Die Linke forderte erneut die Einrichtung von Clearingstellen<br />

oder eines Runden Tisches. Ein entsprechender Bürgerschaftsantrag<br />

war 2016 am Widerstand der anderen Parteien gescheitert. UJO<br />

•<br />

Bericht der Armutskonferenz<br />

Doppelt so viele Erwerbsarme<br />

Jeder zehnte Erwerbstätige in<br />

Deutschland ist ein „working poor“.<br />

Darauf hat die Nationale Armutskonferenz<br />

(nak) hingewiesen. Damit<br />

habe sich die Erwerbsarmut innerhalb<br />

von zehn Jahren verdoppelt.<br />

„Armut in Deutschland ist Realität“,<br />

sagte nak-Sprecherin Barbara<br />

Eschen. „Leider gilt weiterhin, dass<br />

Armutsbekämpfung von der Bundesregierung<br />

sträflich vernachlässigt<br />

wird.“ In dem 28-seitigen Bericht<br />

listet die nak auf, in welcher Weise<br />

Armut hierzulande ein menschenrechtliches<br />

Problem darstellt.<br />

Sanktionen gegen Hilfeempfänger<br />

etwa seien „äußerst fraglich“. Anlass<br />

der Veröffentlichung war eine Anhörung<br />

der Bundesregierung vor dem<br />

Sozialausschuss der Vereinten Nationen.<br />

Jeder Staat, der den UN-Sozialpakt<br />

unterzeichnet hat, muss alle fünf<br />

Jahre darüber berichten, was er getan<br />

hat, um die im Pakt beschriebenen<br />

Rechte zu verwirklichen. UJO<br />

•<br />

Mehr Infos und Nachrichten unter:<br />

www.hinzundkunzt.de<br />

17


So sehen die<br />

Verkaufsaus weise<br />

von Hinz&<strong>Kunzt</strong> aus.<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> intern<br />

Verkäufer leiden unter Konkurrenzdruck<br />

Immer mehr Menschen ohne Verkaufsausweis nutzen unser Magazin zum Betteln<br />

oder verkaufen es aufdringlich. Einige bieten es auch nur scheinbar zum Kauf an.<br />

Offizielle Verkäufer und Verkäuferinnen, die sich der Konkurrenz nicht gewachsen<br />

fühlen, ziehen sich zurück. „Die Hamburger sollten darauf achten, dass<br />

ein Verkäufer einen Ausweis hat“, sagt Geschäftsführer Jens Ade. „Wir gehen<br />

davon aus, dass auch Verkäufer ohne Ausweis aus einer Notlage heraus handeln,<br />

doch das darf nicht 530 Hinz&Künztler in Schwierigkeiten bringen.“ BELA<br />

•<br />

Winternotprogramm<br />

Senat will Unterkünfte nur nachts öffnen<br />

Zahlreiche Initiativen fordern in einem offenen Brief, das Winternotprogramm<br />

auch tagsüber zu öffnen. Die Tage auf der Straße oder auf dem Weg von einer<br />

Tagesaufenthaltsstätte zur nächsten zu verbringen, zehre „an den ohnehin nicht<br />

selten schwachen Reserven“ der Obdachlosen, heißt es. Hinz&<strong>Kunzt</strong> fordert die<br />

24-Stunden-Öffnung seit Jahren, Online-Petitionen scheiterten. Laut Senat sollen<br />

die Unterkünfte weiterhin zwischen 9.30 und 17 Uhr geschlossen bleiben. BELA<br />

•<br />

Antrag von SPD und Grünen<br />

Jubiläum bei der Diakonie<br />

Obdachlose bekommen<br />

50 Jahre Hilfe für Obdachlose<br />

psychiatrische Hilfe<br />

Bereits seit 50 Jahren betreut die Diakonie<br />

Obdachlose in ihrer Tagesauf-<br />

In Hamburgs Notunterkünften und<br />

Tagesaufenthaltsstätten werden enthaltsstätte TAS in der Bundesstraße.<br />

Dort bietet sie unter anderem<br />

psychiatrische Sprechstunden für<br />

Obdachlose eingeführt. Obwohl laut Duschen, mehrsprachige Sozialberatung,<br />

Freizeitangebote und eine<br />

Studien zwei Drittel aller Obdachlosen<br />

an psychischen Krankheiten hausärztliche Sprechstunde an.<br />

wie Persönlichkeitsstörungen (55 Prozent)<br />

oder Depressionen (40 Prozent) kamen auch Sozialsenatorin Melanie<br />

Zum Jubiläumsfestakt im September<br />

leiden, mangelt es bislang an niedrigschwelligen<br />

Angeboten für sie. BELA<br />

Leonhard, Bischöfin Kirsten Fehrs<br />

•<br />

18<br />

Schleswig-Holstein<br />

Diakonie: Mehr Wohnungslose<br />

Auch in Schleswig-Holstein hat der<br />

Mangel an bezahlbaren Wohnungen<br />

dramatische Folgen: 7980 Menschen<br />

haben dort 2017 die Angebote der<br />

diakonischen Wohnungslosenhilfe<br />

genutzt. Wie die Diakonie jetzt mitteilte,<br />

waren das 467 mehr als 2016<br />

und sogar 2579 mehr als noch 2014.<br />

Dabei handele es sich um Wohnungslose<br />

oder Menschen, die von Wohnungslosigkeit<br />

bedroht seien. Amtlich<br />

wird ihre Zahl nach Auskunft der<br />

Landesregierung nicht erfasst. Städte<br />

wie Kiel sind laut Diakonie Brennpunkte,<br />

aber auch im ländlichen<br />

Raum stiegen die Zahlen an. BELA<br />

•<br />

Köln<br />

Unterkunft für EU-Ausländer<br />

Die Stadt Köln eröffnet im <strong>Oktober</strong><br />

eine neue Notunterkunft für obdachlose<br />

EU-Bürger, die keinen Anspruch<br />

auf Sozialleistungen haben. Die ehemalige<br />

Flüchtlingsunterkunft soll<br />

ganzjährig geöffnet sein und 80<br />

Menschen Platz bieten. Tagsüber gibt<br />

es eine Aufenthaltsmöglichkeit mit<br />

Beratungen, warmen Mahlzeiten,<br />

Duschmöglichkeiten, medizinischer<br />

Grundversorgung und einer Kleiderkammer.<br />

BELA<br />

•<br />

Mehr Infos: www.huklink.de/koeln<br />

Auswahlverfahren beendet<br />

50 Holzhäuser für gute Zwecke<br />

Schulen, Sportvereine und die Feuerwehrschule:<br />

Sie alle werden eines<br />

oder mehrere der 50 Holzhäuser<br />

bekommen, die Hamburg nicht mehr<br />

für die Unterbringung von Geflüchteten<br />

braucht. Auch eine Initiative,<br />

die in mehreren Häusern Flüchtlinge<br />

beraten will, bekam den Zuschlag,<br />

warte aber noch auf die nötige<br />

Baugenehmigung, teilte die Stadt mit.<br />

Eine Kirchengemeinde, die gleich in<br />

20 der Holzhäuser Geflüchtete unterbringen<br />

wollte, konnte „leider“ die<br />

hohen Transportkosten nicht aufbringen,<br />

sagte ein Sprecher. Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

hätte gerne Häuser für Obdachlose<br />

genutzt. Allerdings fehlte es an einer<br />

Fläche zum Aufstellen. UJO<br />

•<br />

und Landespastor Dirk Ahrens. BELA<br />

•<br />

Stadtgespräch<br />

FOTO: SYBILLE ARENDT


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Bundesregierung verspricht mehr Engagement<br />

1,5 Millionen neue Wohnungen?<br />

Mindestens eine Million Wohnungen fehlen in Deutschland, die Mieten in den<br />

Großstädten explodieren: Vor diesem Hintergrund haben Bund, Länder und<br />

Kommunen eine „Gemeinsame Wohnraumoffensive“ verkündet. Konkret will die<br />

Bundesregierung bis 2021 mindestens fünf Milliarden Euro für mehr als 100.000<br />

neue Sozialwohnungen bereitstellen. Kritiker halten das für viel zu wenig: Jährlich<br />

seien 80.000 bis 100.000 preiswerte Wohnungen nötig, so ein Bündnis aus Mieterbund,<br />

Gewerkschaften und Wohlfahrtsorganisationen. Dafür müssten Bund und<br />

Länder „mindestens sechs Milliarden Euro pro Jahr“ zur Verfügung stellen. Weitere<br />

Regierungsvorhaben: Wer bezahlbare Mietwohnungen baut, soll Kosten<br />

steuerlich stärker als bisher absetzen können. Mehr als 13 Milliarden Euro stehen<br />

für die Städtebauförderung bereit, weitere 2,7 Milliarden Euro fürs Baukindergeld.<br />

Insgesamt sollen in den nächsten Jahren bundesweit 1,5 Millionen neue<br />

Wohnungen entstehen. Ein ehrgeiziges Vorhaben: Vergangenes Jahr wurden bundesweit<br />

285.000 Wohnungen fertiggestellt – „zum Großteil Ein- und Zweifamilienhäuser<br />

oder teure Eigentumswohnungen“, wie die Kritiker anmerkten. UJO<br />

•<br />

Mietpreisbremse<br />

Neues Gesetz „zahnloser Tiger“?<br />

Innere Kraft - für dich & andere<br />

Qigong<br />

Taijiquan Meditation<br />

Barmbek, Bahrenfeld, Eimsbüttel<br />

040-205129<br />

www.tai-chi-lebenskunst.de<br />

Die Bundesregierung will die Mietpreisbremse verschärfen und Mieter besser<br />

vor Mieterhöhungen schützen. Bislang durften Eigentümer elf Prozent der Kosten<br />

einer Modernisierung dauerhaft auf die Miete draufschlagen. Ab kommendem<br />

Jahr soll die Umlage höchstens acht Prozent betragen. Zweite Veränderung:<br />

Vermieter sollen Wohnungsinteressenten unaufgefordert und vor Einzug Auskunft<br />

über die bisherige Miete erteilen. So soll jeder erkennen können, ob die Preisbremse<br />

eingehalten wird. Bislang erfahren Neumieter die Vormiete in der Regel<br />

nicht. Trotz der Änderungen bleibe die Mietpreisbremse „ein zahnloser Tiger“,<br />

kritisiert Eve Raatschen von Mieter helfen Mietern. Denn auch das neue<br />

Gesetz biete zu viele Ausnahmen und ermögliche massive Preissprünge bei Neuvermietungen.<br />

JOF/SIM<br />

•<br />

Miet- und Baulandpreise<br />

Wohnungsbau für Bedürftige<br />

Caritas sucht soziale Vermieter<br />

Die Hamburger Caritas hat den Senat<br />

aufgefordert, deutlich mehr Wohnungen<br />

speziell für Bedürftige wie etwa<br />

Obdachlose oder Jugendliche aus<br />

Hilfeeinrichtungen zu bauen. „Die<br />

Stadt baut viele Sozialwohnungen,<br />

aber das kommt bei unseren Leuten<br />

nicht an“, sagte der Hamburger Caritas-Leiter<br />

Michael Edele. Vielen, die<br />

bei der Caritas Hilfe suchten, könnten<br />

die Sozialarbeiter kein Wohnungsangebot<br />

vermitteln. Deswegen geht die<br />

Caritas nun einen ungewöhnlichen<br />

Schritt: Der Verband ruft Vermieter<br />

dazu auf, ihre Wohnungen für Bedürftige<br />

zur Verfügung zu stellen.<br />

Anfangs würde die Caritas die Mieter<br />

unterstützen und wäre Ansprechpartner<br />

für die Vermieter. BELA<br />

•<br />

Ungebremster Anstieg<br />

Seit 2013 sind die Mieten in Hamburg<br />

um 19 Prozent gestiegen. Das<br />

hat das Onlineportal Immowelt AG<br />

errechnet. In Berlin müssen Mieter im<br />

Schnitt sogar 52 Prozent mehr zahlen<br />

als vor fünf Jahren, in München 35<br />

Prozent. Auch die Bodenpreise steigen<br />

ungebremst: laut Bundesinstitut<br />

für Bau-, Stadt- und Raumforschung<br />

zwischen 2011 und 2016 im Bundesdurchschnitt<br />

um 27 Prozent. Noch<br />

deftiger fällt der Anstieg in Hamburg<br />

aus: Hier wurden Bauplätze für Geschosswohnungsbau<br />

zuletzt innerhalb<br />

eines Jahres 14 Prozent teurer. UJO<br />

•<br />

Mehr Infos und Nachrichten unter:<br />

www.hinzundkunzt.de<br />

JETZT<br />

SPENDEN<br />

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IBAN: DE5620050550<br />

1280167873<br />

BIC: HASPDEHHXXX<br />

19


Museumsreife für den<br />

Außerfriesischen<br />

<strong>2018</strong> ist das Jahr des lustigen Ostfriesen: Otto ist jetzt 70 Jahre alt und omnipräsent.<br />

Im Museum für Kunst und Gewerbe kann man seine Bilder sehen, seine Biografie<br />

ist ein Bestseller. Ganz unten war er nie, obwohl er als Kind nicht auf Rosen gebettet war.<br />

TEXT: SIMONE DECKNER<br />

FOTOS: DANIEL CRAMER (OBEN), JOACHIM HILTMANN/MKG,<br />

PRIVATARCHIV OTTO WAALKES<br />

20


Stadtgespräch<br />

Hierher gucken, Otto!“ Es blitzt im<br />

Sekundentakt, das Baby ist jetzt aufgewacht,<br />

es plärrt.<br />

Der Mann, der gerade die Bühne<br />

betreten hat, macht derweil entspannt<br />

seine Mätzchen, ruft „Holadihiti!“,<br />

reißt die Augen auf, schneidet Grimassen.<br />

Man könnte fast meinen, vor der<br />

Museumstür ist Hollywood, dabei ist es<br />

nur Hamburg.<br />

Die Presseprofis bei dieser Konferenz<br />

im September sind aus dem Häuschen.<br />

Für einen kurzen Moment vergessen<br />

sie, dass sie ja eigentlich von<br />

Berufs wegen jeglichem Spektakel kritisch<br />

distanziert gegenüberstehen sollten.<br />

Das Problem ist bloß: Da vorne<br />

steht Otto. Also eigentlich steht er kaum<br />

eine Sekunde still, jetzt macht er gerade<br />

„Zeichnen war<br />

eine Begabung –<br />

schon früh.“<br />

OTTO WAALKES<br />

Morgens im Museum: Journalisten rutschen<br />

auf unbequemen Stühlen herum.<br />

Fotografen drehen gedankenverloren<br />

an Kameraobjektiven. Fernsehteams<br />

fachsimpeln. Nur das Baby, das von<br />

s einem Vater im Gehen hin und her<br />

gewiegt wird, interessiert das alles nicht<br />

die Bohne: Es schläft.<br />

Dann: Bewegung. Unruhe. Manche<br />

klatschen. Die Fotografen reißen ihre<br />

Kameras nach oben, es sieht fast choreografiert<br />

aus. Die Kameras klicken,<br />

Rufe gellen durch den Raum: „Hier!<br />

Macht jeden Quatsch mit,<br />

nicht nur für die Foto grafen:<br />

Otto bei der Pressekonferenz zu<br />

seiner Ausstellung. Vergange -<br />

nen Monat hat der Komiker das<br />

Bundesverdienstkreuz erhal ten –<br />

für seine außerordentlichen<br />

künstlerischen Leistungen.<br />

21<br />

seine Häschenpose, ruft noch mal „Holadihiti!“,<br />

reckt den Zeigefinger nach<br />

oben. Otto. Der Otto.<br />

Der Mann, der im Juli dieses Jahres<br />

tatsächlich 70 Jahre alt geworden ist –<br />

das ist überhaupt der größte Witz von<br />

allen. Wie er da vorn Faxen macht, die<br />

Basecap mit dem orangenen „O“ auf<br />

dem Kopf und mit bunten Turnschuhen<br />

an den Füßen, wirkt er noch immer<br />

wie ein großes Kind, das zufällig in den<br />

Körper eines erwachsenen Emdeners<br />

geraten ist.<br />

„Ihnen wird zur Last gelegt, Sie<br />

hätten an dem Ast gesägt und dann<br />

auch noch den Mast zerlegt.“<br />

„Du, Susi? – Ja, wer spricht? – Ich.<br />

– Wer ich? – Ich, dein Föhn. – Mein<br />

Föhn kann sprechen?– Genau!“<br />

„Peter, Paul and Mary are planning<br />

a bankrobbery.“<br />

Ottos Sketche haben sich ins kollektive<br />

Gedächtnis gebrannt. Er hat das<br />

Humorverständnis von Generationen<br />

geprägt. Der überstrapazierte Begriff<br />

vom Kult-Komiker, bei Otto stimmt er<br />

ausnahmsweise. Otto, der Außerfriesische.<br />

Otto, der Blödelbarde. Otto, der<br />

Friesenjung. Otto, der Film. Otto, der<br />

unerschütterliche Optimist.<br />

Einem weniger bekannten Otto,<br />

nämlich Otto, dem Maler und Zeichner,<br />

ist nun eine große Ausstellung im<br />

Museum für Kunst und Gewerbe gewidmet.<br />

Mehr als 200 Exponate werden<br />

gezeigt: von den frühen Werken


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>308</strong>/OKTOBER <strong>2018</strong><br />

Melancholischer Blick mit Ottifant: „Sitting in the Morning Sun“ ist 2014 entstanden –<br />

in Anlehnung an den von Otto verehrten amerikanischen Künstler Edward Hopper.<br />

des ehemaligen Hamburger Kunstpädagogikstudenten<br />

über die ersten Ottifanten-Skizzen<br />

aus den 60ern bis hin zu<br />

neuen Bildern, auf denen Otto die mittlerweile<br />

zur Popkultur gehörenden<br />

„Geld spielte<br />

keine Rolle, wir<br />

hatten ja keins.“<br />

OTTO WAALKES<br />

R üsselträger in bekannte Gemälde hineingeschmuggelt<br />

hat: in Edward Hoppers<br />

„Morning Sun“, die Pop-Art von<br />

Roy Lichtenstein oder in Pablo Picassos<br />

kubistische „Sylvette“ etwa. Er sei „verunsichert“,<br />

aber auch „sehr geehrt“<br />

darüber, dass seine Bilder nun in einem<br />

22<br />

„so ehrenwerten Haus abhängen dürfen“,<br />

sagt Otto bei der Pressekonferenz.<br />

Zeichnen konnte er schon früh, das<br />

sei „eine Begabung“ gewesen, hatte<br />

Otto Hinz&<strong>Kunzt</strong> schon zuvor in einem<br />

Fragebogen geantwortet. Der Wunsch<br />

nach einem persönlichen Treffen bleibt<br />

(leider) unerfüllt. Zu wenig Zeit, zu<br />

viele Anfragen: vom Fernsehen, von<br />

den überregionalen Magazinen, von<br />

überall her.<br />

In seiner im Mai erschienenen Biografie<br />

ist zu lesen, dass Otto schon früh<br />

mit dem Zeichnen anfing. Er kritzelte<br />

auf die Rückseiten von Tapetenbüchern,<br />

die sein Vater, der Malermeister<br />

war, mitbrachte. Ottos Zuhause war ein<br />

einfacher roter Klinkerbau im Emdener<br />

Stadtteil Transvaal, einer Wohnsiedlung,<br />

die für Werftarbeiter gebaut wurde.<br />

Dort lebte er mit Vater, Mutter, Bruder<br />

und Oma – auf 45 Quadratmetern<br />

in drei Zimmern. Obwohl er als Nachkriegskind<br />

in Trümmern spielte, hatte<br />

er stets das Gefühl, er lebe in einer „heilen<br />

Welt“, so Otto.<br />

Eine heile Welt, über die eine ebenso<br />

strenge wie herzliche Mutter wacht,<br />

der der Kirchgang jeden Sonntag heilig<br />

ist. Die die schon früh auftretenden<br />

Keckheiten ihres jüngsten Sohnes mit<br />

einem seufzenden „Das gehört sich<br />

nicht!“ kommentiert. Eine heile Welt<br />

mit einem Vater, den der Sohn aufrichtig<br />

bewundert: „Er konnte ja eigentlich<br />

alles“, schreibt Otto in seiner Biografie,<br />

„Geld spielte dabei keine Rolle,<br />

wir hatten ja keins.“<br />

Eine heile Welt, in der der ältere<br />

Bruder Karl-Heinz und seine Art, Leute<br />

zu foppen, zu Ottos großem Vorbild<br />

wird. Eine heile Welt trotz fünf Menschen<br />

auf engstem Raum. Oder vielleicht<br />

gerade deshalb? Eine heile Welt,<br />

weil die Familie zusammenhält und es<br />

immer etwas zu lachen gibt. Eine heile


Madonna hat die<br />

Haare schön – dank<br />

eines Ottifanten, der ein<br />

bisschen Wind macht.<br />

Auch ein Insiderwitz,<br />

denn: In Ottos<br />

bekanntem Sketch<br />

„Susi Sorglos<br />

und der Föhn“ kann der<br />

Föhn sprechen.<br />

Liebe geht nicht nur<br />

durch den Magen,<br />

sondern auf dem<br />

Bild „Love Is<br />

Everywhere“ auch<br />

wunderbar durch<br />

den Rüssel.<br />

Die knallige Pop-Art von Roy<br />

Lichtenstein war Vorbild für dieses<br />

Werk, in dem Otto sich selbst als<br />

skeptischen Liebhaber gezeichnet hat.<br />

Sadfasddfl m que non<br />

comnit et lautem assimint<br />

accatur aut eaquis<br />

magnis sam, qui<br />

nitatur sunt, ommo<br />

cus.Olest ped mod et<br />

et quis is et ab iminus<br />

quae eum<br />

Welt, in der es keinen Platz zum Gitarreüben<br />

gibt, außer man nimmt sie mit<br />

aufs Klo. Was Otto tut, wenn er nicht<br />

gerade Micky-Mouse-, Donald-Duckoder<br />

Tarzan-Comics durchblättert. In<br />

der Schule wird er mit seinem Zeichentalent<br />

und seinem losen Mundwerk<br />

schnell zum Klassenclown. Solide zu<br />

malen lernt Otto ab 1970 an der Hochschule<br />

für Bildende Künste. Lehrer wie<br />

23<br />

der Hyperrealist Rudolf Hausner und<br />

der Theoretiker Bazon Brock bestärken<br />

ihn in seiner Überzeugung, nur nicht<br />

„zu penibel“ zu malen. „Das kann ich<br />

nicht und ich möchte es auch gar<br />

nicht“, so Otto. Zu wissen, wie die<br />

Mischtechnik funktioniert, sei aber „augenöffnend“<br />

für ihn gewesen. Noch<br />

heute rasselt er Abstufungen und Sättigungsgrade<br />

von Farben problemlos herunter.<br />

An Ideen, was er malen könnte,<br />

mangelt es ihm ohnehin nie.<br />

Ein Bild aus dem Jahr 1972 zeigt etwa<br />

ein „Junges Mädchen mit Schal und<br />

Pelzmütze“, das wohl nur wenige Besucher<br />

der Ausstellung dem Mann zuordnen<br />

würden, über dessen Witze sie sich<br />

in den 80ern scheckig gelacht haben.<br />

Oder die Metal-Fans, die ihm in diesem<br />

Sommer beim „Wacken Open Air“ zu-


Stan Laurel und Oliver Hardy<br />

zählen zu Ottos prägenden<br />

Humor-Vorbildern.<br />

Seine Hommage mit einem<br />

Melone tragenden Ottifanten<br />

entstand im Jahr 2015.<br />

Irgendwas stimmt hier nicht,<br />

oder? Statt Hund Snoopy<br />

schläft ein Ottifant auf der<br />

bekannten Hundehütte.<br />

Charlie Brown (im Original<br />

von Charles M. Schulz) ist<br />

verwirrt. Und Otto freut sich.<br />

Indem er Ottifanten in bekannte<br />

Gemälde einbaut (wie hier in Picassos<br />

„Sylvette“), will Otto Kunst für alle<br />

zugänglicher machen – auch für Leute,<br />

die sich sonst nicht so dafür begeistern.<br />

jubelten, als er ihnen seinen nackten<br />

Bauch zeigte und zu der Melodie von<br />

Stings „Englishman in New York“ sang:<br />

„Bin ein Friesenjung / bin ein kleiner<br />

Friesenjung / und ich wohne hinterm<br />

Deich / everybody here we go.“ Otto ist<br />

auch schon in der Elphi aufgetreten. Er<br />

hat einen Schimpansen namens Ronny<br />

als Moderator einer Musiksendung synchronisiert,<br />

mit „Otto, der Film“ den<br />

bis heute erfolgreichsten deutschen<br />

Film seit 1968 ins Kino gebracht. Er<br />

war zu Gast bei der letzten „Wetten,<br />

dass …?“-Sendung, er hat die Berliner<br />

Symphoniker dirigiert, Jüngere kennen<br />

seine Stimme als Sid, das Faultier aus<br />

den „Ice Age“-Filmen – Genregrenzen<br />

scheint es für den Mann nicht zu geben,<br />

24<br />

alle halten es offensichtlich mit dem alten<br />

Werbeslogan eines (im Gegensatz<br />

zu ihm schon verblichenen) Katalogherstellers:<br />

Otto … find’ ich gut!<br />

Wer Otto fragt, wie er sich diese allumfassenden<br />

und anlässlich seines 70.<br />

Geburtstages wieder heftiger auftretenden<br />

Liebesbekundungen erklärt, bekommt<br />

eine überraschend ernsthafte


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Otto in Bild und Schrift<br />

Otto. Die Ausstellung, bis 17.2.2019,<br />

Museum für Kunst und Gewerbe,<br />

Steintorplatz, Di–So, 10–18 Uhr,<br />

Do, 10–21 Uhr, donnerstags an<br />

oder vor Feier tagen: 10–18 Uhr;<br />

Eintritt: 12/8 Euro, bis 17 Jahre frei.<br />

Otto-Biografie: „Kleinhirn an alle“,<br />

416 Seiten, Heyne Verlag, 22 Euro.<br />

Antwort: „Dafür habe ich keine Erklärung.<br />

Ich denke auch möglichst wenig<br />

darüber nach – vielleicht ist das mein<br />

Erfolgsgeheimnis“, schreibt er.<br />

Dieses „weniger nachdenken, mehr<br />

machen“ zieht sich wie ein roter Faden<br />

durch sein Leben. Es steht in seiner Biografie,<br />

er erzählt es jedem Interviewer,<br />

auch den jüngeren Journalisten, die immer<br />

nachbohren. Auch erklärt Otto geduldig,<br />

dass er wirklich keine dunkle<br />

Seite habe. Dann trinkt er noch einen<br />

Schluck Ostfriesentee.<br />

Otto ist Rampensau. Unterhaltungsprofi.<br />

Musiker. Zeichner. Aber<br />

trauriger Clown? Nein, er war einfach<br />

schon immer Optimist, sagt er. Daran<br />

haben weder berufliche Flops wie<br />

„Otto – Der neue Film“ (1987) oder<br />

zwei gescheiterte Ehen etwas geändert.<br />

Überhaupt: Wie kriegt man das hin, bei<br />

all dem Schlechten in der Welt immer<br />

positiv zu bleiben? Auch einer wie Otto<br />

muss sich dafür etwas anstrengen: Es sei<br />

nicht einfach, schreibt er, und dann<br />

steht da ein bemerkenswerter, weil entwaffnend<br />

ehrlicher Satz: „Vermutlich<br />

ist es so eine Mischung aus Verdrängen<br />

und Beschönigen. Scheuklappen als<br />

Selbstschutz sozusagen.“<br />

Das bezieht sich aber nicht auf die<br />

Menschen um ihn herum. Da ist Otto<br />

aufmerksam. Wenn er etwa in Hamburg<br />

Obdachlose sieht, geht er nicht<br />

achtlos vorbei: „Meist habe ich auch etwas<br />

Kleingeld in der Tasche. Wenn<br />

nicht, muss eben der einspringen, mit<br />

dem ich gerade unterwegs bin,“ sagt er.<br />

Er ist ja selbst nicht mit dem goldenen<br />

Löffel im Mund geboren. Als er nach<br />

seinen ersten Erfolgen irgendwann die<br />

Eintrittspreise leicht anhob, ätzte einer,<br />

er wolle sich „wohl die Jeansfransen<br />

vergolden lassen“. Der Vorwurf ärgert<br />

ihn bis heute.<br />

Otto weiß aber, dass er sich auf eins<br />

auch in schwierigen Zeiten verlassen<br />

kann: auf seinen Humor. Es gibt da ein<br />

durchaus drastisches Beispiel: „Wenn<br />

man am frischen Grab seines Vaters<br />

steht und am Zaun lauern ein paar Fans<br />

auf Autogramme – da hilft nur Humor.“<br />

Otto, der Lebenskünstler. Die<br />

Menschen werden dem Museum die<br />

Türen einrennen. •<br />

Kontakt: simone.deckner@hinzundkunzt.de<br />

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Altona Ruhrstraße 51<br />

Wandsbek Helbingstraße 63<br />

Harburg Arcaden<br />

Lüneburger Str. 39<br />

Dieses Foto, das entweder 1970 oder 1971 entstand, zeigt den ehemaligen<br />

Kunstpädagogikstudenten Otto Waalkes in seinem kleinen Atelier.<br />

25<br />

stilbruch.de


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>308</strong>/OKTOBER <strong>2018</strong><br />

„Unser Ziel sind<br />

lebenswerte Quartiere“<br />

Vorstand Wilfried Wendel über ehrgeizige Bauprojekte,<br />

widerspenstige Bürger und die besondere Rolle der Saga.<br />

INTERVIEW: JONAS FÜLLNER,<br />

ULRICH JONAS, BIRGIT MÜLLER<br />

FOTO: LENA MAJA WÖHLER<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Herr Wendel, die Saga soll<br />

mindestens 2000 Wohnungen pro Jahr<br />

bauen. Gleichzeitig gibt es oft Ängste und<br />

Widerstände vor Ort.<br />

WILFRIED WENDEL: Das ist richtig, vor allem<br />

in gutbürgerlichen Quartieren. Deshalb<br />

achten wir auf Qualität und eine gesunde<br />

Mischung. Größere Flächen entwickeln<br />

wir gemeinsam mit anderen Investoren.<br />

Wir bauen gerne öffentlich<br />

geförderte Wohnungen. Aber wir haben<br />

aus der Vergangenheit gelernt: Es ist<br />

nicht gut, wenn ausschließlich Menschen<br />

mit geringem Einkommen in einem<br />

Quartier leben – wie es nicht gut<br />

ist, wenn Reiche unter sich bleiben. Und<br />

wenn wir nachverdichten, muss das, was<br />

wir schaffen, besser sein als das, was vorher<br />

da war. Ziel ist es, für die Menschen<br />

lebenswerte Quartiere zu schaffen.<br />

Wo zum Beispiel?<br />

Nehmen wir die Washington-Höfe: Da<br />

verdoppeln wir die Wohnfläche. Trotzdem<br />

wird die Qualität höher sein<br />

als vorher – und das werden die Menschen<br />

auch wahrnehmen. Toll finde<br />

ich auch unsere „LeNa – Lebendige<br />

Nachbarschaft“-Projekte, mit denen<br />

wir es Menschen mit Unterstützungsbedarf<br />

und Senioren ermöglichen,<br />

selbstbestimmt und so lange wie möglich<br />

in ihrer vertrauten Umgebung<br />

wohnen zu bleiben.<br />

Aber Sie müssen ja schon im Vorwege Wider -<br />

stände überwinden, um bauen zu können.<br />

Deshalb müssen wir intensiv für unsere<br />

Projekte werben: bei den Mietern, bei<br />

den Nachbarn und bei der Politik. Unsere<br />

Projektentwickler führen regelmäßig<br />

abendfüllende Diskussionen. Es gibt<br />

immer Möglichkeiten, Sorgen und<br />

Ängste aufzugreifen, etwa Bauhöhen<br />

anzupassen. Manchmal scheinen die<br />

Argumente aber vorgeschoben: Da<br />

meinen Menschen etwas anderes, das<br />

sie nicht aussprechen. Etwa die Sorge,<br />

dass sich die Sozialstruktur zum Negativen<br />

verändert. Oder dass ihr Haus bald<br />

nicht mehr so viel wert ist wie zuvor.<br />

„Nur wegen<br />

Mietschulden<br />

wird nicht<br />

zwangs geräumt.“<br />

Und dann entscheiden die Gerichte, so wie<br />

in Dulsberg, wo Reihenhausbesitzer<br />

sieben Jahre lang den Bau von 21 Sozialwohnungen<br />

verhindert haben?<br />

Das passiert, ja. Im Ergebnis gewinnen<br />

wir diese Verfahren immer. Aber wir<br />

verlieren viel Zeit – und die Projekte<br />

werden teurer.<br />

Vor zwei Jahren hat der Senat die Idee des<br />

„Effizienzwohnungsbaus“ vorgestellt. Der<br />

26<br />

soll die Baukosten auf 1800 Euro und so die<br />

Mieten auf acht Euro kalt den Quadratmeter<br />

begrenzen. Zwei Modellvorhaben laufen,<br />

die Saga ist nicht beteiligt. Warum nicht?<br />

Wir wollen diese Ziele mit Systemwohnungsbau<br />

erreichen: standardisiertes<br />

Bauen, mit dem wir Einkaufsvorteile<br />

erzielen, das in der Gestaltung aber<br />

trotzdem vielfältig sein soll. Wir wollen<br />

das vor allem in Quartieren umsetzen,<br />

die als sogenannte B- oder C-Lage gelten.<br />

Dadurch können wir Wohnraum<br />

für Menschen mit mittlerem Einkommen<br />

zur Verfügung stellen, die nicht in<br />

die Einkommensgrenzen der Förderungen<br />

fallen, aber auch nicht 13 Euro kalt<br />

pro Quadratmeter zahlen können.<br />

Manche denken da schnell an die Bausünden<br />

aus den 1960er- und 1970er-Jahren.<br />

Auch die hochattraktiven Gründerzeitquartiere<br />

sind im Systemwohnungsbau<br />

entstanden: nach Schema F mit unterschiedlichen<br />

Fassaden und Dachformen,<br />

durch die Abwechslung und lebenswerter<br />

Charakter entstehen. Klar<br />

ist: Großwohnsiedlungen am Stadtrand<br />

wird in der Form wie damals niemand<br />

mehr bauen.<br />

Die Saga hat sich kürzlich verpflichtet, die<br />

Mietpreisbindung von neu gebauten Sozialwohnungen<br />

regelhaft auf 30 Jahre zu<br />

verlängern. Wie schwer ist Ihnen das gefallen?<br />

Nicht schwer. Die 30 Jahre werden von<br />

der Stadt ja entsprechend gefördert, wodurch<br />

der wirtschaftliche Nachteil der


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Mietpreisbindung ausgeglichen wird.<br />

Die Versorgung von Menschen mit kleinen<br />

und mittleren Einkommen gehört<br />

zum Geschäftsmodell der Saga.<br />

Die Linke meinte dazu, Hamburg hätte auch<br />

gleich dem Beispiel Wien folgen können:<br />

Dort bleibt eine Sozialwohnung immer eine<br />

Sozialwohnung.<br />

Für uns spielt es keine Rolle, ob eine<br />

Wohnung einer Preisbindung unterliegt<br />

oder nicht. Die Saga-Durchschnittsmiete<br />

lag 2017 bei 6,44 Euro kalt, unsere<br />

Mieten werden von Jobcenter oder<br />

Sozialamt in aller Regel übernommen.<br />

Bleibt das auch bei den neu gebauten<br />

Wohnungen so?<br />

Ja. Ein Großteil dieser Wohnungen<br />

wird öffentlich gefördert gebaut. Eine<br />

öffentlich geförderte Wohnung, die wir<br />

dieses Jahr finanzieren, werden wir mit<br />

einer Anfangsmiete von 6,50 Euro anbieten.<br />

Das ist für unsere Zielgruppe<br />

ein vernünftiger Preis.<br />

Laut des Kooperationsvertrags mit der Stadt<br />

versorgt die Saga 2000 besonders bedürftige<br />

Haushalte pro Jahr mit Wohnungen.<br />

Der Vertrag ist eine wunderbare Lösung:<br />

Er erlaubt es uns – unabhängig<br />

von der individuellen Bindung einzelner<br />

Objekte – unsere Belegungsverpflichtungen<br />

über unseren gesamten<br />

Bestand zu verteilen und unsere Quartiere<br />

gut zu durchmischen. Hinzu kommen<br />

1500 Vermietungen pro Jahr an<br />

Paragraf-5-Schein-Inhaber. Im Ergebnis<br />

vermieten wir fast jede zweite<br />

Wohnung an Menschen mit kleinem<br />

Einkommen. Die Saga versorgt im<br />

Übrigen mehr Haushalte, als sie laut<br />

Kooperationsvertrag müsste.<br />

Manchmal lässt sich Wohnungsnot durch<br />

den Tausch zweier Wohnungen lindern.<br />

Welche Ideen hat die Saga, um die optimale<br />

Nutzung ihres Wohnraums zu fördern?<br />

Die Umzugsbereitschaft der Menschen<br />

ist sehr gering, gerade bei Älteren. Wir<br />

begrüßen es, wenn Menschen ihre zu<br />

groß gewordene Wohnung gegen eine<br />

kleinere tauschen möchten, denn dadurch<br />

werden große Wohnungen wieder<br />

für Familien verfügbar. Ein Vorurteil<br />

ist: „Obwohl meine neue Wohnung<br />

kleiner ist, werde ich mehr Miete zah-<br />

len müssen.“ Das stimmt bei uns in der<br />

Regel nicht. Wir sagen grundsätzlich<br />

zu: Wer in eine Wohnung mit vergleichbarem<br />

Standard umzieht, darf seine<br />

bisherige Quadratmeter-Miete mitnehmen.<br />

Und wir verzichten auf die Einhaltung<br />

der Kündigungsfristen. Im Jahr<br />

2017 hatten wir rund 750 Wohnungstauscher,<br />

davon waren rund 100 älter<br />

als 65 Jahre.<br />

Jede dritte Zwangsräumung in Hamburg<br />

wird von der Saga veranlasst, vergangenes Jahr<br />

waren das 322. Sind das nicht viel zu viele?<br />

Wir haben die Zahl in den vergangenen<br />

zehn Jahren immerhin halbiert. Und ein<br />

Grundsatz bei uns ist: Nur wegen Mietschulden<br />

wird niemand zwangsgeräumt.<br />

Wir bieten sogar selbst eine<br />

Mietschuldnerberatung an. Trotzdem<br />

gibt es immer wieder Fälle, in denen wir<br />

räumen lassen müssen – weil das Wohnverhalten<br />

das Maß dessen überschreitet,<br />

Wilfried Wendel war zehn Jahre lang bei der Stuttgarter<br />

Wohnungs- und Städtebaugesellschaft SWSG tätig. Seit 2014<br />

ist der 55-jährige Saarländer Vorstandsmitglied der Saga.<br />

was tolerierbar ist. Das ist den Nachbarn<br />

dann nicht mehr zuzumuten.<br />

Wir fordern seit Langem: Jeder Zwangsräumung<br />

sollte mindestens ein erfolgreicher Hausbesuch<br />

vorangehen. Schließen Sie sich dem an?<br />

Wir versuchen die Menschen immer<br />

auch persönlich zu erreichen, durch unsere<br />

Schuldnerberater und auch durch<br />

unsere Hauswarte. Aber das gelingt uns<br />

leider nicht immer. •<br />

Kontakt: ulrich.jonas@hinzundkunzt.de<br />

Saga in Zahlen: Rund jede sechste<br />

Mietwohnung in Hamburg gehört<br />

der Saga – insgesamt gut 130.000.<br />

22 Prozent (knapp 30.000) davon sind<br />

Sozialwohnungen. Das städtische Unternehmen<br />

beschäftigt 940 Mitarbeiter.<br />

Mehr Infos unter www.saga.hamburg<br />

27


Geburtstagsfeier<br />

mit Hitgarantie<br />

Sorgen für Stimmung:<br />

Gustav Peter Wöhler<br />

(vorne) und Band.<br />

Viele kennen Gustav Peter Wöhler als Charakter-Schauspieler – doch der<br />

Wahl-Hamburger kann auch anders: Mit seiner Band wird er bei der Feier zum<br />

25. Geburtstag von Hinz&<strong>Kunzt</strong> die Markthalle rocken.<br />

TEXT: SIMONE DECKNER<br />

FOTO: IRENE ZANDEL<br />

Gustav Peter Wöhler und seine Band haben in 22<br />

gemeinsamen Jahren schon viele Bühnen gesehen:<br />

große wie die Elphi, aber auch kleine. Im September<br />

erst waren sie im Harburger Rieckhof zu Gast; spielten<br />

vor 300 Zuschauern: „Die ungewöhnlichste Bühne war aber<br />

in einem ehemaligen Pferdestall, da mussten wir immer aufpassen,<br />

dass wir uns nicht die Köpfe an der Decke stoßen“,<br />

sagt der 63-jährige Gustav Peter Wöhler.<br />

Der Gig zum Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Geburtstag in der Markthalle<br />

wird sicher auch unvergesslich, denn: „Es ist das erste<br />

Mal, dass ich dort auf der Bühne stehe, ich bin echt<br />

gespannt“, freut sich Wöhler. Die Gäste wiederum können<br />

sich auf Coverversionen großer Hits freuen. „Meine Band<br />

sagt immer, wir machen keinen Cover, wir interpretieren<br />

Songs neu, aber ich sehe das nicht so eng, Hauptsache, es<br />

fetzt“, so Wöhler. Unstrittig ist: Sie spielen nur Lieblingssongs<br />

– von Nick Drake über die Rolling Stones bis Nena.<br />

Möglich, dass Wöhler bei der Feier auch seinen<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Stammverkäufer trifft. Bei dem kauft er seit<br />

Jahren, aus Überzeugung. •<br />

Wir feiern Geburtstag: Di, 6.11., Markthalle, Klosterwall 11,<br />

ab 18.30 Uhr: Moderator Michel Abdollahi im Gespräch mit<br />

Hinz&Künztlern und Gästen. Danach: Release unseres Kochbuches<br />

„Willkommen in der <strong>Kunzt</strong>Küche!“ (siehe Anzeige S. 2),<br />

20 Uhr: Gustav Peter Wöhler Band; Eintritt gegen Spende<br />

28


Reetwerder<br />

Auch die Gutachterin<br />

kommt nicht ins Haus<br />

„Es gab keine Innenbesichtigung.“<br />

Mit diesen Worten<br />

kommentierte Heike Simon<br />

ihren Termin in Sachen<br />

Reetwerder 3 gegenüber<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Die Sachverständige<br />

ist vom Amtsgericht<br />

Bergedorf damit<br />

beauftragt worden, den<br />

Wert der Immobilie zu ermitteln<br />

– für die Zwangsversteigerung.<br />

Ihre Bewertung<br />

erfolge nun „nach<br />

dem äußeren Anschein“.<br />

In dem Mehrfamilienhaus<br />

hatten bis Mitte Mai rund<br />

160 Menschen gelebt,<br />

vorwiegend aus Rumänien,<br />

Bulgarien und der Türkei.<br />

Nachdem das Bezirksamt<br />

das Haus für unbewohnbar<br />

erklärt hatte, warten die<br />

Mieter bis heute auf<br />

Zugang zu ihrem Hab und<br />

Gut. Die Vermieterin<br />

weigert sich hartnäckig, das<br />

Eigentum herauszugeben<br />

(siehe H&K Nr. 307). UJO<br />

•<br />

Stadtgespräch<br />

Meldungen (2)<br />

Politik & Soziales<br />

Nach Abschreckungsversuch durch Getränkekette<br />

Solidarität für Pfandsammler<br />

Damit hatte Getränke Lehmann nicht gerechnet: Nachdem<br />

die Berliner Kette versucht hatte, Flaschensammler abzuschrecken,<br />

kassierte sie im Internet einen Shitstorm – und<br />

ruderte zurück. In einer „Hausinfo“ hatte der Geschäftsführer<br />

angeordnet, Pfandsammler wie Gewerbetreibende zu behandeln.<br />

„Wie alle Wiederverkäufer“ sollten sie Angaben zu<br />

Adresse und Umsatzsteuernummer machen und sich „gegebenenfalls<br />

ausweisen“. Unter der Überschrift „Wie soziale<br />

Ausgrenzung funktioniert“ hatte ein Rechtsanwalt die zweifelhafte<br />

Idee im Netz bekannt gemacht. Die folgenden Proteste<br />

zeigten Wirkung: Der Inhaber entschuldigte sich noch<br />

am selben Tag für das „Missverständnis“ und erklärte, der<br />

Geschäftsführer sei „mit sofortiger Wirkung beurlaubt“. SIM<br />

•<br />

Zwangsräumung<br />

Rentnerin stürzt sich<br />

in den Tod<br />

Offenbar, weil sie die bevorstehende<br />

Zwangsräumung<br />

ihrer Wohnung nicht miterleben<br />

wollte, hat sich eine<br />

Frau in Porta Westfalica<br />

(Nordrhein-Westfalen)<br />

umgebracht. Die 70-Jährige<br />

sprang vom Balkon ihrer<br />

Wohnung im siebten Stock<br />

eines Mehrfamilienhauses,<br />

so die Polizei Minden-Lübbecke.<br />

Ein Notarzt habe nur<br />

noch ihren Tod feststellen<br />

können. Zuvor hatten<br />

Mitarbeiter der Stadt, des<br />

Wohnungsunternehmens<br />

und der Polizei erfolglos<br />

geklingelt. Da die Frau nicht<br />

öffnete, holten sie einen<br />

Schlüsseldienst zur Hilfe.<br />

Nachdem dieser die<br />

Wohnungstür geöffnet hatte,<br />

stürzte sich die Frau in die<br />

Tiefe. UJO<br />

•<br />

Mehr Infos und Nachrichten<br />

unter: www.hinzundkunzt.de<br />

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ökologische Energietechnik<br />

Für mehr soziale Wärme<br />

und eine klimaschonende<br />

Strom- und Wärmeversorgung.<br />

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Betriebskostenkonfus?<br />

Unser Rat zählt.<br />

Beim Strohhause 20<br />

mieterverein-hamburg.de<br />

im Deutschen Mieterbund<br />

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Jetzt<br />

Mitglied<br />

werden<br />

20097 Hamburg<br />

Der Kochwettbewerb!<br />

27. <strong>Oktober</strong> <strong>2018</strong>, ab 10 Uhr<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>, Schürings Chili und die<br />

Rindermarkthalle St. Pauli präsentieren das<br />

2. Hamburger Chili Cook-Off<br />

Am 27. <strong>Oktober</strong> wird es köstlich: Fünf hochmotivierte Chili-Teams<br />

kochen ab 10 Uhr um die Chili-Krone. Eine Fachjury entscheidet, wer<br />

das schmackhafteste Chili für die „Jury‘s Choice“ gekocht hat.<br />

Besonders wichtig: das Besucherurteil „The People’s Choice“!<br />

Die Erlöse werden an Hinz&<strong>Kunzt</strong> gespendet.<br />

Besucher sind willkommen, Eintritt frei.<br />

Infos unter www.rindermarkthalle-stpauli.de<br />

Jurymitglied Ole Plogstedt<br />

<br />

www.hinzundkunzt.de<br />

29


Kein Rezept<br />

gegen Armut<br />

In Äthiopien müsste niemand Hunger leiden.<br />

Dennoch tun es viele, auch weil die<br />

Regierung bislang Kleinbauern umgesiedelt<br />

und fruchtbares Land an internationale<br />

Investoren vergeben hat. So wie in der<br />

Region Gambela an der Grenze zum<br />

Südsudan, wo die Situation wegen der<br />

großen Zahl der Bürgerkriegsfl üchtlinge<br />

ohnehin angespannt ist. Ob der als radikaler<br />

Reformer umjubelte neue Premierminister für<br />

Verbesserung sorgt, bleibt abzuwarten.<br />

TEXT: KLAUS SIEG<br />

FOTOS: JÖRG BÖTHLING


Auslandsreportage<br />

Wenn der Kleinbauer<br />

Mark Ojulu sein Feld<br />

bearbeiten will, muss er<br />

einen langen Weg zurücklegen.<br />

In aller Frühe lässt sich der<br />

Fußmarsch ertragen. Noch steht die<br />

Sonne tief. Die Temperaturen sind<br />

kaum höher als an einem Sommertag<br />

in Deutschland. Ganz anders der<br />

Rückweg: Schweißperlen stehen auf<br />

der Stirn des 28-Jährigen, als er den<br />

Sack mit den Maiskolben schultert, die<br />

er heute Vormittag geerntet hat. „Zum<br />

Arbeiten ist es jetzt zu heiß“, sagt er<br />

und stapft los – zurück in sein Dorf.<br />

Über einen schmalen Weg marschiert<br />

er durch dichtes Schilfgras. Die scharfen<br />

Blätter schneiden in die Haut. Es<br />

ist Regenzeit. Feuchte Wärme steigt<br />

aus dem matschigen Boden. Eine<br />

knappe Stunde dauert der beschwerliche<br />

Fußweg.<br />

Fast alle im Dorf müssen so weit zu<br />

ihren Feldern laufen, seit sie vor sechs<br />

Jahren von der äthiopischen Regierung<br />

umgesiedelt wurden. Sie sind in der<br />

Region Gambela nicht die Einzigen:<br />

50.000 bis 70.000 Kleinbauern, die weit<br />

verstreut im sumpfigen Buschland an<br />

der Grenze zum Südsudan siedelten,<br />

mussten nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen<br />

ihre angestammten<br />

Höfe verlassen. Fortan müssen<br />

sie in zentralisierten Dörfern leben.<br />

Ojulu hat zumindest das Glück,<br />

auch nach der Umsiedlung den Acker<br />

seiner Familie bewirtschaften zu können.<br />

Anderen Familien wurde im Zuge<br />

der Villagization – so heißt das Umsiedlungsprogramm<br />

– auch ihr fruchtbares<br />

Land genommen. Sie müssen sich jetzt<br />

oft mit kargen Böden, wenig Wasser<br />

oder magerem Weideland begnügen.<br />

Die internationale Organisation<br />

Human Rights Watch spricht von Vertreibung,<br />

die zum Teil auch mit Gewalt<br />

durchgesetzt wurde. Dem widerspricht<br />

die Regierung in Addis Abeba vehement:<br />

Das Umsiedlungsprogramm<br />

bringe den Menschen mehr Bildung<br />

Mit seinem kleinen Maisfeld ernährt Mark<br />

Ojulu zwölf Menschen. Offiziell gehört der<br />

Acker der Regierung – für Mark ein Risiko.<br />

31


Eine Getreidemühle könnte den Dorfbewohnern das mühsame Stampfen<br />

der Maiskörner ersparen. Bisher warten sie vergeblich darauf.<br />

und medizinische Versorgung, Straßen,<br />

Getreidemühlen und besseren Schutz.<br />

„Die Versprechen, die sie uns gaben,<br />

wurden nicht eingelöst“, sagt Mark<br />

Ojulu, als er an den ersten Lehmhütten<br />

seines Dorfes vorbeikommt. Noch immer<br />

fehlt den Menschen eine Getreidemühle,<br />

die ihnen das beschwerliche<br />

Mahlen per Hand erspart. Und einen<br />

Arzt finden sie erst in der nächsten<br />

Kleinstadt, die etliche Kilometer Fußweg<br />

über staubige Pisten entfernt liegt.<br />

Das Maisfeld von Mark Ojulu ist<br />

kaum größer als ein halber Fußballplatz.<br />

Trotzdem kann er davon zwölf<br />

Menschen ernähren. Neben seinem<br />

kleinen Sohn, seiner Frau und deren<br />

Mutter sind das Verwandte und auch<br />

einige bedürftige Nachbarn. „Ohne das<br />

Land wären wir aufgeschmissen“, sagt<br />

er. Allerdings gehört offiziell alles Land<br />

der Regierung. Pachtverträge oder andere<br />

Sicherheiten gibt es für die Kleinbauern<br />

nicht. Und so befürchtet Ojulu,<br />

auch noch seinen Familienacker zu verlieren<br />

– so wie viele Kleinbauern in der<br />

Region.<br />

„Fast alle umgesiedelten Dorfbewohner<br />

kommen aus Gebieten, wo das<br />

Land an Investoren vergeben wurde“,<br />

„Die gegebenen<br />

Versprechen<br />

wurden nicht<br />

eingelöst.“ MARK OJULU<br />

sagt der Mitarbeiter einer lokalen<br />

Nichtregierungsorganisation (NGO),<br />

die mit Programmen zur ländlichen<br />

Entwicklung in der Region aktiv ist. Die<br />

Organisation möchte anonym bleiben.<br />

So wie auch Kleinbauer Mark Ojulu<br />

32<br />

und die weiteren Akteure dieser Reportage.<br />

Kritiker landen in Äthiopien<br />

schnell im Gefängnis.<br />

Was aber macht die weit entlegene<br />

Region für Agrarinvestoren attraktiv?<br />

Durch Gambelas Tiefland fließen mehrere<br />

Seitenarme des Blauen Nil. Die<br />

Flüsse schwemmen fruchtbare Sedimente<br />

an. Angelockt werden die Agrarkonzerne<br />

aber nicht nur von den guten<br />

Böden. Seit internationale Konzerne,<br />

Geschäftsleute und Finanzfonds Agrarland<br />

als Investment entdeckt haben,<br />

verpachtet Äthiopiens Regierung große<br />

Landstriche für wenige Dollar pro<br />

Hektar und Jahr. Davon erhofft sie sich<br />

einen Wirtschaftsaufschwung und sprudelnde<br />

Steuereinnahmen – mit denen<br />

sich, so der NGO-Mitarbeiter, nur die<br />

Eliten bereichern würden, während den<br />

kleinen Leuten durch die Landvergabe<br />

die Existenzgrundlage entzogen wird.<br />

Rund 50 Investoren sind inzwischen<br />

in dem ostafrikanischen Land aktiv, aus


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Auslandsreportage<br />

„Niemand<br />

schützt uns vor<br />

der Gewalt der<br />

Banden.“ EIN DORFBEWOHNER<br />

der Türkei, aus China, Indien oder Pakistan.<br />

Nach einem Bericht der Financial<br />

Times in London hat die Zentralregierung<br />

bislang fast die Fläche Belgiens<br />

verpachtet. Noch einmal so viel will sie<br />

in den nächsten Jahren vergeben. Und<br />

das, obwohl das Programm der Regierung<br />

nicht aufzugehen scheint.<br />

Tatsächlich ist industrielle Landwirtschaft<br />

in der weit entlegenen Region<br />

zu betreiben eine Herausforderung.<br />

Es gibt kaum asphaltierte Straßen, die<br />

den großen Maschinen oder Erntetrucks<br />

standhalten können. Die Hoffnung<br />

der Regierung, dass die Investoren<br />

in neue Infrastruktur investieren,<br />

wurde bislang nicht erfüllt. Stattdessen<br />

werden die Schlaglöcher auf den wenigen<br />

nicht asphaltierten Pisten durch die<br />

großen Erntemaschinen immer tiefer.<br />

Zudem sind Wetter und Klima in<br />

Gambela extrem. Hitze und Dürre<br />

wechseln sich mit sintflutartigen Regenfällen<br />

und Überschwemmungen ab. Ein<br />

großer Teil der Anbauflächen des indischen<br />

Investors Karuturi Global zum<br />

Beispiel sind regelrecht abgesoffen. Der<br />

weltgrößte Produzent von Schnittblumen<br />

und selbst ernannte König der<br />

Rosen wollte in Gambela Reis und Getreide<br />

anbauen. Nun liegen viele Tausend<br />

Hektar brach. Die Regierung will<br />

dem Konzern die Konzession zwar entziehen.<br />

Für das Land wird sich aber sicher<br />

ein neuer Investor finden, denn<br />

trotz der Schwierigkeiten bleiben die<br />

Großfarmen ein lohnendes Geschäft.<br />

Die Kleinbauern gehen leer aus. Die<br />

Folge: Immer mehr von ihnen können<br />

sich nicht mehr selbst versorgen.<br />

Für viele ist deshalb das Welternährungsprogramm<br />

der Vereinten Nationen<br />

(UN) die einzige Rettung. Seit<br />

Jahren versorgen die UN in Gambela<br />

Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge aus<br />

dem Südsudan. Zunächst flohen die<br />

Menschen aus dem Sudan vor den Unabhängigkeitskriegen<br />

des Südens gegen<br />

den Norden. Seit 2013 suchen sie<br />

Schutz vor dem mörderischen Bürgerkrieg<br />

im nun eigenständigen Südsudan.<br />

Fast 300.000 Südsudanesen leben<br />

in Gambela, die meisten in Camps. Beiderseits<br />

der Grenze leben mit den<br />

Anuak und den Nuer dieselben Ethnien.<br />

Sich als Flüchtling registrieren zu<br />

lassen, gelingt auch Einheimischen.<br />

Leere Getreidesäcke mit dem Logo des<br />

World Food Programme oder Dosen<br />

Die Bewohner<br />

bewaffnen<br />

sich, um sich<br />

vor Übergriffen<br />

zu schützen<br />

(oben). Erntefahrzeuge<br />

der<br />

Großfarmer<br />

ruinieren<br />

die wenigen<br />

Straßen.<br />

33<br />

von USAID mit Speiseöl aus Erdnüssen<br />

sind ein häufiger Anblick in den Dörfern.<br />

So geraten auch die Kleinbauern,<br />

die sich eigentlich selbst versorgen<br />

könnten, in Abhängigkeit von den UN,<br />

weil sie ihr Land verloren haben.<br />

Dabei sind gerade sie es, die in<br />

Äthiopien Menschen satt machen. Lediglich<br />

fünf Prozent der verbrauchten<br />

Lebensmittel im Land stammen von<br />

Großfarmen. Denn selbst wenn auf<br />

den weiten Flächen der Investoren alles<br />

nach Plan läuft, werden Reis, Mais oder<br />

Sojabohnen meist exportiert, weil sich


auf dem Weltmarkt ein besserer Preis<br />

erzielen lässt.<br />

Als Mark Ojulu endlich sein Haus<br />

erreicht, treibt er die Schafe und Ziegen<br />

zum Grasen aus dem Stall. Hinter<br />

dem Stall liegt das Haus seiner Nachbarin.<br />

Vor drei Jahren ist Achala Gora<br />

mit ihren vier Kindern aus dem Südsudan<br />

geflohen. Die Familie kam mit<br />

nichts außer ihrer Kleidung am Leib<br />

im Dorf an.<br />

„Wir rannten Hals über Kopf weg,<br />

als die Kämpfe zwischen der Armee<br />

und den Rebellen immer näherkamen.“<br />

34<br />

Witwe Achala<br />

Gora (oben) ist<br />

mit vier Kindern<br />

aus dem Südsudan<br />

geflüchtet.<br />

Wie die<br />

anderen Dorfbewohner<br />

muss auch sie<br />

stundenlange<br />

Wege zum<br />

nächsten<br />

Arzt in Kauf<br />

nehmen.<br />

Die 35-Jährige lehnt mit dem Rücken<br />

an der Wand ihres Hauses und schaut<br />

über den kleinen Hof. Hühner laufen<br />

gackernd umher. Hier im Dorf hat<br />

Achala Gora Verwandte. In ein Flüchtlingscamp<br />

wollte sie nicht. Dort gebe es<br />

„keine Möglichkeit, Vieh oder Hühner<br />

zu halten, etwas anzubauen und sich etwas<br />

aufzubauen“, erzählt sie.<br />

Die Verwandten stellten Achala<br />

Gora ein kleines Haus zur Verfügung.<br />

Trotz der Armut gibt es eine Kultur des<br />

Teilens. Aber natürlich sind Zehntausende<br />

Menschen, die mit kaum mehr<br />

als ihrer Kleidung am Leib über die<br />

Grenze fliehen, eine große Belastung.<br />

Häufig kommt es in den Dörfern zu<br />

Spannungen und Streit, um Ackeroder<br />

Weideland und Wasserstellen für<br />

das Vieh. Vor allem die jungen Männer<br />

geraten aneinander.<br />

Als die Sonne allmählich untergeht,<br />

taucht plötzlich einer der Dorfältesten<br />

aus der Dämmerung auf. Bewaffnete<br />

Männer wurden gesichtet. Zwischen


Auslandsreportage<br />

Vorsichtige Zuversicht<br />

Seit Beginn des Jahres hoffen viele Menschen in<br />

Äthiopien auf einen Aufbruch. Zunächst entließ der ehemalige<br />

Premierminister nach zwei Jahre währenden,<br />

blutigen Massenprotesten Hunderte politische Gefangene.<br />

Dann übernahm mit Abiy Ahmed im April erstmalig<br />

ein Vertreter der Mehrheitsethnie der Oromo die politische<br />

Führung und versprach, das Land umzukrempeln.<br />

Einiges deutet darauf hin, dass er es ernst meint.<br />

Im Sommer sicherte der neue Premier die Umsetzung<br />

des Friedensabkommens mit dem Dauerfeind Eritrea<br />

zu. Kurz zuvor hatte er in Äthiopien den Ausnahmezustand<br />

aufgehoben. Zudem will er staatliche<br />

Unternehmen in Sektoren wie Energie, Luftfahrt und<br />

Telekommunikation für private Investitionen öffnen.<br />

Schon seit Jahren ist die ostafrikanische Nation eine<br />

der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften<br />

Afrikas. Wird von nun an auch die Mehrheit der<br />

Äthiopier davon profitierten? Vielleicht sogar auch die<br />

Millionen Kleinbauern des Landes? Zum Neujahrsfest<br />

im September – Äthiopien hat einen eigenen Kalender<br />

– war die Stimmung verhalten optimistisch.<br />

Die Privatisierung von Staatsunternehmen führt nicht<br />

automatisch zu mehr Gerechtigkeit. Auch haben<br />

Angriffe militanter Oromo auf Angehörige anderer<br />

Volksgruppen für einen Dämpfer gesorgt.<br />

BUCERIUS<br />

KUNST<br />

FORUM<br />

KUNZTBUCHFLOHMARKT<br />

SO, 28. 10. <strong>2018</strong><br />

11:00 UHR<br />

Der <strong>Kunzt</strong>buchflohmarkt lädt zum Stöbern<br />

und Schnäppchenjagen ein. Ausgewählte<br />

Kunstbücher, Postkarten und mehr aus dem<br />

Bucerius Book Shop und dem Antiquariat<br />

der Rathauspassage können für kleines Geld<br />

ergattert werden. Die Erlöse des Flohmarkts<br />

kommen dem Hamburger Straßenmagazin<br />

Hinz & <strong>Kunzt</strong> und der Rathauspassage zugute.<br />

Thematisch passende und gut erhaltene<br />

Bücher, die nicht älter als 10 Jahre sind,<br />

können für den Flohmarkt gespendet und<br />

bis zum 25. 10. <strong>2018</strong> an folgenden Orten<br />

abgegeben werden:<br />

❶ Hinz & <strong>Kunzt</strong>: Altstädter Twiete 1–5<br />

❷ Bucerius Kunst Forum: Rathausmarkt 2<br />

❸ Rathauspassage: Unter dem Rathausmarkt<br />

Weitere Informationen<br />

buceriuskunstforum.de/kunztbuchflohmarkt<br />

Eine Kooperation mit<br />

BUCERIUS<br />

BOOK<br />

SHOP<br />

dem Dorf und der Grenze zum Südsudan gibt es nur<br />

noch Wald und Busch. Im vergangenen Jahr sind<br />

schon einmal Banden über die Grenze gekommen,<br />

haben nicht nur Vieh, sondern auch Kinder geraubt.<br />

Dabei töteten sie mehr als 180 Menschen. „Niemand<br />

schützt uns vor der Gewalt dieser Banden“, sagt einer<br />

der verwaisten Väter und schultert sein Gewehr.<br />

Gemeinsam mit zwei weiteren Bewaffneten bricht er<br />

auf, um die Gegend um das Dorf herum zu durchkämmen.<br />

Eigentlich war den Menschen im Zuge des<br />

Umsiedlungsprogramms auch mehr Sicherheit versprochen<br />

worden. Ein kleiner Trupp der Armee aber<br />

trifft erst viele Stunden später ein.<br />

Die Witwe Achala Gora bleibt an ihrer Feuerstelle<br />

sitzen. Bedrückt schaut sie zu Boden. Wird die<br />

Gewalt aus dem Südsudan sie und ihre Familie einholen?<br />

Die Sorge steht ihr ins Gesicht geschrieben.<br />

Neben den anderen großen Sorgen – ob sie die Kinder<br />

satt bekommt und ihr kleines Stück Land behalten<br />

kann. Oder es an Investoren verliert. Kann sie<br />

den Acker nicht behalten, wird auch sie in eines der<br />

Flüchtlingscamps gehen müssen. Und ihre Rationen<br />

von den Vereinten Nationen erhalten. •<br />

Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />

35<br />

SCHÖNER<br />

WOHNEN IN<br />

ALTONA?<br />

STADT------------><br />

-----ENTWICKLUNG<br />

IM 20. UND 21.<br />

JAHRHUNDERT<br />

29.09.<strong>2018</strong><br />

– 24.06.2019<br />

shmh.de


„LIEBER<br />

TOT ALS<br />

OBDACHLOS“<br />

Dass Depressionen ein ganzes Leben aus der Bahn werfen können,<br />

hat Reiner Ott selbst erfahren. Er hat alles hinter sich: Drogensucht<br />

und Jobverlust, drohende Obdachlosigkeit und versuchter Suizid.<br />

Heute arbeitet er als Genesungsbegleiter und unterstützt Menschen<br />

in psychischen Krisen.<br />

TEXT: MISHA LEUSCHEN<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE


Lebenslinie<br />

Reiner Otts Depression hört auf den Namen<br />

„Fiffi“. Wie ein großer schwarzer Hund legt die<br />

Krankheit sich ab und zu auf seine Seele. Fiffi<br />

bleibt Reiner Otts lebenslanger Begleiter, aber<br />

die Besuche sind seltener geworden „und nach ein paar<br />

Tagen geht Fiffi auch wieder“, sagt der 50-Jährige. Den<br />

verniedlichenden Namen hat er mit gutem Grund gewählt:<br />

„Die Depression wird immer ein Teil von mir bleiben, aber<br />

ich gebe ihr nicht mehr die Macht über mich.“<br />

Reiner Ott arbeitet als Genesungsbegleiter im Treffpunkt<br />

Wandsbek, einer Einrichtung der Sozialpsychiatrie des Rauhen<br />

Hauses. „Genesungsbegleiter haben selbst psychische<br />

Krisen erlebt, durchlebt und inzwischen gelernt, damit umzugehen“,<br />

heißt es auf dem Flyer, der für die Offene Sprechstunde<br />

in der Nebendahlstraße wirbt. Dort finden Menschen<br />

mit psychischen Erkrankungen oder in Krisen Unterstützung,<br />

sie können sich über Hilfsangebote informieren. Vor<br />

allem aber hört ihnen jemand zu, der weiß, wie es ihnen<br />

„Die Depression wird<br />

immer ein Teil<br />

von mir bleiben.“<br />

geht. „Jeder kann zu uns kommen“, erklärt Reiner Ott das<br />

niedrigschwellige Angebot – ohne Überweisung, und das bis<br />

zu fünf Mal, auf Wunsch komplett anonym. Hier können<br />

Menschen auch besprechen, wie es danach für sie weitergehen<br />

kann – eine schnelle Hilfe ohne monatelange Wartezeiten<br />

auf einen Termin beim Psychologen.<br />

Der freundliche Mann mit den hellen Augen und der angenehmen<br />

Stimme ist ein Mensch, zu dem man schnell Vertrauen<br />

fasst – ein guter Zuhörer, zugewandt und kompetent.<br />

Seine Arbeit als Genesungsbegleiter ist für ihn ein Sechser im<br />

Lotto. Was ihn daran besonders erfüllt? „Wir sind Hoffnungsgeber“,<br />

erklärt er. „Wenn ich es schaffen kann, mit meiner<br />

Erkrankung umzugehen, dann können das auch andere.“<br />

Man dürfe die Hoffnung nie aufgeben, egal wie mies die<br />

Situation sei, findet er und verzieht gleich das Gesicht: „Das<br />

lässt sich im Nachhinein leichter sagen, ich weiß.“<br />

Auch für Reiner Ott war es ein langer Weg, bis er mit seiner<br />

Erkrankung leben und seinen Frieden machen konnte.<br />

Seine Kindheit in Bad Homburg war schwierig, die Mutter<br />

war an Depressionen erkrankt, der Vater alkoholabhängig<br />

und gewalttätig. Vielleicht habe er deshalb im Leben so feine<br />

Antennen für Stimmungen entwickelt, überlegt er: „Ich bin<br />

zu feinfühlig.“<br />

Mit 13 war er, das jüngste von vier Geschwistern, Dauerschulschwänzer.<br />

Das führte zur Krise zu Hause, „der Kreislauf<br />

kam in Fahrt“. Mit 14, „einen Tag vor meinem Geburtstag“,<br />

kam er in ein Heim für schwer erziehbare Kinder, weil<br />

37


Lebenslinie<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>308</strong>/OKTOBER <strong>2018</strong><br />

„Die Natur ist mein Erste-Hilfe-Koffer“, sagt Reiner Ott.<br />

Wenn er draußen unterwegs ist, kann er runterkommen, Gedanken<br />

sammeln und seine Prioritäten neu ordnen.<br />

er nicht mehr zu bändigen war. „Das Kinderheim hat mir<br />

gut getan“, sagt er in der Rückschau. Er lernte, sich durchzusetzen,<br />

wurde selbstbewusster und schaffte die vierjährige<br />

Ausbildung zum Elektroinstallateur: „Mit der bestandenen<br />

Prüfung musste ich ausziehen.“ Das Jugendamt besorgte ihm<br />

eine Wohnung, „ich hatte eine tolle Sozialarbeiterin“, erinnert<br />

er sich.<br />

Er nahm einen Job in einem Versandlager an und schaffte<br />

es bis zur Leitung; dann zog das Unternehmen weg aus<br />

Deutschland. Reiner Ott wurde gekündigt, und das Leben<br />

kam ins Rutschen. Drogen machten den Alltag erträglicher.<br />

„Ich habe gekifft und gekokst, bis die Abfindung nach der<br />

Kündigung weg war“, sagt er. Ein neuer Job musste her. Als<br />

PC-Techniker bearbeitete er als Scheinselbstständiger für ein<br />

Sub-Sub-Unternehmen eines Konzerns Garantieaufträge:<br />

„Das ging auch bekifft.“ Sein Chef, eine windige Type, veruntreute<br />

in der Firma Geld und haute ins Ausland ab. Für<br />

Reiner Ott war niemand zuständig: Er hatte keinen Job,<br />

keine Perspektive und null Peilung, wie es weitergehen sollte.<br />

Das innere Durcheinander fand seinen Ausdruck im äußeren<br />

Chaos. Heute weiß er, dass er schon lange ein Messie<br />

war und immer noch ist. Damals, als seine Wohnung in Bad<br />

Homburg in Flohmarktware und alten Zeitungen unterzugehen<br />

drohte, hielt er sich einfach nur für unordentlich. Die<br />

Situation eskalierte, als er seine Miete nicht mehr zahlen<br />

konnte: Hals über Kopf flüchtete er aus seiner vermüllten<br />

Wohnung zu einer Internet-Bekanntschaft nach Berlin. Mit<br />

seiner neuen Liebe wollte er ein Internet-Café eröffnen – das<br />

ging gründlich schief. Nach einem halben Jahr waren Liebe<br />

und Geschäft im Eimer.<br />

„Damals war es nicht so schwer, in Berlin eine Wohnung<br />

zu finden“, erzählt Reiner Ott. Er kam in Spandau unter:<br />

„Erdgeschoss, Hinterhof, Ofenheizung, dunkelblaue Wände<br />

– ein echter Depressionslandeplatz.“ Reiner Ott flüchtete in<br />

die Arbeit, jobbte im Telefonmarketing, manchmal drei<br />

Schichten hintereinander, „um mich nicht mit mir selbst zu<br />

beschäftigen“. Soziale Kontakte waren auf ein Minimum<br />

beschränkt, „ab und zu ging ich auf Netzwerkpartys, das<br />

war’s“. Eine Zeitlang habe das funktioniert, dann kam der<br />

Zusammenbruch. Reiner Ott wurde Drehtürpatient in der<br />

Psychiatrie, er nahm Psychopharmaka.<br />

Sein Leben entglitt ihm immer mehr. Er hatte hohe<br />

Schulden, zahlte seine Miete nicht mehr. „Meine Zukunft<br />

war: Tod oder Obdachlosigkeit“, schildert er seine damalige<br />

Lage. Der Tod machte ihm weniger Angst als die bevorstehende<br />

Räumung seiner Wohnung. „Dann lieber Freitod,<br />

habe ich gedacht.“<br />

Seinen Suizid bereitete er akribisch vor, hatte fest eingeplant,<br />

dass man ihn finden würde, damit er nicht so lange tot<br />

herumliege und andere damit belästige. Das Los traf den<br />

Gerichtsvollzieher, der seinen Besuch angekündigt hatte.<br />

Reiner Otts Glück: Der Mann kam zu früh, „er hat mich reanimiert<br />

und mir zwei Rippen gebrochen“. Heute ist er froh,<br />

dass er es vermasselt hat, „damals hab ich mich gefühlt wie<br />

der Loser hoch zehn“.<br />

Sein Bruder holte ihn aus Berlin zu sich nach Hamburg<br />

und wendete so seine drohende Obdachlosigkeit ab. „Ein halbes<br />

Jahr hab ich auf seinem Sofa geschlafen“, erzählt er. Hier<br />

kam er zum ersten Mal zur Ruhe und fand im UKE die Unterstützung,<br />

die er brauchte. „Dort hat man mich ganzheitlich<br />

als Menschen gesehen“, sagt er dankbar. Tagesklinik und Therapie<br />

machten es möglich, dass Reiner Ott langsam wieder in<br />

den Alltag zurückfand, mit eigener Wohnung und Arbeit.<br />

„Wir Genesungsbegleiter<br />

sind Hoffnungsgeber.“<br />

Die Ausbildung zum Genesungsbegleiter wurde für ihn zum<br />

Schlüssel in ein Leben, das für ihn wieder einen Sinn und ein<br />

Ziel hat. Heute ist es für ihn heilend, Menschen in ihrer Entwicklung<br />

zu begleiten und ihnen mit seiner eigenen Erfahrung<br />

zur Seite stehen zu können. Seit vier Jahren arbeitet er<br />

nun hauptberuflich als Genesungsbegleiter.<br />

Noch immer setzen ihm die Nebenwirkungen der Psychopharmaka<br />

zu, die er bereits vor Jahren abgesetzt hat. Noch<br />

immer sammelt und hortet er, „Papier und Informationen<br />

sind mein Thema“. Und noch immer kommt ab und zu Fiffi<br />

vorbei, um ihn zu besuchen. Doch Reiner Ott kennt die<br />

Frühwarnzeichen und hat gelernt, dass er auf sich achten<br />

muss. Dann verzieht sich Fiffi auch wieder. •<br />

Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Offene Sprechstunde der Genesungsbegleitung:<br />

jeden Donnerstag, 13–14 Uhr, im Treffpunkt Wandsbek,<br />

Nebendahlstr. 7, Telefon 64 21 87-0.<br />

38


Ombudsstelle für Flüchtlingsarbeit<br />

„Eine wichtige<br />

Stimme“<br />

E X TR ACA R D<br />

170. So viele Menschen haben Annegrethe Stoltenberg<br />

und ihre beiden Mitarbeiterinnen in der<br />

Ombudsstelle für Flüchtlingsarbeit im ersten<br />

Jahr ihres Bestehens beraten. 170 Menschen,<br />

die sich mit Fragen, Wünschen, Kritik oder<br />

Konflikten an die Schlichtungsstelle gewendet<br />

haben. „Die Menschen vertrauen uns, wir sind<br />

eine wichtige Stimme“, sagt Stoltenberg nicht<br />

ohne Stolz.<br />

Ein Fall ist ihr besonders in Erinnerung geblieben.<br />

Ein Mann aus Syrien war seiner schwer<br />

kranken Frau und seinem Kind nach Hamburg<br />

gefolgt, zusammen wollten sie hier ein neues Leben<br />

beginnen. Doch als der Mann ankam, war<br />

seine Frau gestorben. In ihre Wohnung durfte er<br />

trotzdem nicht hinein. „Er sprach kein Wort<br />

Deutsch und verstand das alles nicht. Er hätte<br />

auf der Straße landen können“, sagt Annegrethe<br />

Stoltenberg. Die Ombudsstelle konnte das durch<br />

ihr Eingreifen verhindern.<br />

Oft geht es um die Wohnsituation. Nachdem<br />

viele Geflüchtete nicht mehr in provisorischen<br />

Erstaufnahmeeinrichtungen leben, habe sich die<br />

Lage insgesamt „entspannt“, so die ehemalige<br />

Landespastorin und Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Herausgeberin.<br />

Von den 55.916 Flüchtlingen in Hamburg leben<br />

rund 33.000 in öffentlichen Unterkünften.<br />

Ein weiterer Schwerpunkt sind Fragen rund<br />

um psychische Belastungen von Geflüchteten.<br />

Auch in diesem Punkt konnte die Ombudsstelle<br />

vielfach unterstützen, „auch wenn es den Betroffenen<br />

oft nicht schnell genug geht“. Die Ombudsfrau<br />

lobte das nach wie vor große Engagement<br />

von Hauptamtlichen und Freiwilligen in<br />

der Flüchtlingsarbeit. Derzeit gebe es einen großen<br />

Bedarf an lebensnahem Spracherwerb und<br />

praktischen Kursen, etwa, wie in Deutschland<br />

die Mülltrennung funktioniere.<br />

Die Laufzeit der Ombudsstelle ist zunächst<br />

auf zwei Jahre befristet, also bis 2019. Annegrethe<br />

Stoltenberg hofft jedoch, dass die Schlichtungsstelle<br />

bis Ende der Legislaturperiode 2020<br />

bestehen kann – mindestens. SIM<br />

•<br />

H<br />

I N Z & K U N Z T<br />

Hurra!<br />

HINZ&KUNZT<br />

UND<br />

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Kartentelefon: 040 / 35 08 03 21 oder online buchen: www.ohnsorg.de<br />

FOTO: PRIVAT<br />

Ombudsstelle Flüchtlingsarbeit,<br />

Große Reichenstraße<br />

14. Persönliche<br />

Beratung: Di, 9.30–11.30<br />

Uhr und Do, 16–18 Uhr.<br />

Telefonische Sprechzeiten:<br />

Mo, 14–16 Uhr, Do, 9–11<br />

Uhr unter 428 63 41 63,<br />

www.hamburg.de/<br />

ombudsstelle-fluechtlinge.<br />

Ombudsfrau Annegrethe<br />

Stoltenberg<br />

Foto: Sinje Hasheider


Vorfreude vor dem Start (großes Foto links).<br />

Im Uhrzeigersinn von oben links: Gästeführerin<br />

Maike Brunk erklärt uns Hamburg –<br />

für einen Quiddje wie Verkäufer Vasile eine<br />

tolle Sache! Die Kai anlagen mit den großen<br />

Kränen sind sehr beeindruckend.<br />

Ziemlich relaxt sind Verkäufer Jan Sebastian<br />

und Meike vom Vertrieb (unten). Mit seinem<br />

kecken grünen Hütchen kann Verkäufer<br />

Michael nicht verloren gehen.<br />

Marcel macht sich als Galionsfigur schon<br />

ziemlich gut, während Sozialarbeiterin<br />

Ana-Maria und Sigi vom Vertriebsteam<br />

das Kaiser wetter genießen.


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Freunde<br />

„Das müssten<br />

wir viel<br />

öfter machen“<br />

Hafenrundfahrt und Grillevent:<br />

70 Hinz&Künztler und ihre Hunde hatten einen<br />

Spitzen-Ausflugstag – nicht zuletzt dank der<br />

großzügigen Unterstützung von Barkassen-Meyer,<br />

Gästeführerin Maike Brunk und unserem<br />

Freundeskreismitglied Annemarie Ammon.<br />

TEXT: SYBILLE ARENDT<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Unsere Gruppe ist ein echter<br />

Hingucker. Verkäufer Michael<br />

trägt ein keckes grünes<br />

Hütchen, André spielt lautstark<br />

Mundharmonika. Vertriebskollege<br />

Jürgen fährt Roller, ein Verkäufer sitzt<br />

im Rollstuhl. Und nicht zu vergessen<br />

die Hunde – vom Nackthund bis zum<br />

Großpudel ist alles dabei. 70 Verkäu -<br />

fer haben sich vor der Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />

Geschäftsstelle zum Verkäuferausflug<br />

versammelt, um gemeinsam eine Hafenrundfahrt<br />

zu machen und anschließend<br />

zu grillen.<br />

Die Kollegen vom Vertriebsteam<br />

laufen hektisch hin und her. Es ist wie<br />

bei einer Klassenreise. Sind alle da, die<br />

zugesagt haben? Einige Verkäufer melden<br />

sich noch spontan ab: Sie möchten<br />

doch lieber verkaufen. Wer braucht<br />

noch eine Fahrkarte? Und wo sind noch<br />

mal die Getränkemarken? Zum Glück<br />

ist Kaiserwetter.<br />

Mit der U-Bahn geht es bis zu den Landungsbrücken.<br />

Dann setzt sich unser<br />

bunter Haufen in Richtung Brücke 10<br />

in Bewegung. Touristen mustern uns<br />

„Ich wusste<br />

nicht, was mich<br />

hier erwarten<br />

würde.“<br />

VERKÄUFER VASILE<br />

neugierig. An der Barkasse angekommen,<br />

müssen wir uns gedulden: Die Getränke<br />

sind noch nicht an Bord. Aber<br />

sobald das Team von Barkassen-Meyer<br />

die eiskalten Flaschen mit Limo und<br />

Cola verstaut hat, dürfen wir an Bord.<br />

41<br />

„Alle mit Hunden zuerst. Und die müssen<br />

auf jeden Fall nach draußen“, ruft<br />

Vertriebskollegin Meike. Das nehmen<br />

alle gern in Kauf. Drinnen möchte bei<br />

dem Wetter sowieso niemand sitzen.<br />

Und dass die Tiere überhaupt beim<br />

Ausflug mit dabei sein dürfen, freut die<br />

Hinz&Künztler. Meist dürfen sie keine<br />

Hunde mitbringen. Auch bei unseren<br />

eigenen Ausflügen ist das manchmal so,<br />

zum Beispiel wenn wir einen Bus chartern<br />

wie im vergangenen Jahr.<br />

Ob vier oder zwei Beine: Alle stürmen<br />

aufs Deck der Barkasse. Die Sonne<br />

ist warm, der Himmel blau, Schäfchenwolken<br />

ziehen langsam vorbei. Ein perfekter<br />

Tag. Schnell finden sich Grüppchen<br />

zusammen. Manche sitzen auch<br />

allein. So wie Vasile. Der Rumäne, der<br />

seit zehn Jahren obdachlos ist und<br />

schon in mehreren Städten Europas<br />

Straßenmagazine verkauft hat, wollte<br />

erst gar nicht kommen. „Ich wusste


Josef (oben links) hat schon unseren Fotowettbewerb gewonnen – beim Ausflug hat er es auf Schiffe abgesehen. Vertriebsleiter Christian,<br />

Verkäufer Eugene und Gästeführerin Maike chillen im Schatten (oben rechts). Verkäufer Rainer ist vom Fach: Er war früher<br />

jahrelang als Binnenschiffer unterwegs (unten rechts). Nach der Hafenrundfahrt wartet Grillmeister Jürgen auf hungrige Ausflügler.<br />

nicht, was mich erwartet. Und ich habe<br />

noch keine Freunde bei Hinz&<strong>Kunzt</strong>“,<br />

sagt der 38-Jährige. „Aber das kommt<br />

schon noch.“ Vasile ist erst seit wenigen<br />

Monaten bei uns. Er schläft mit seinen<br />

beiden Hunden in einem Zelt. Heute<br />

genießt er mit Jack und Lilli die entspannte<br />

Zeit.<br />

Josef hingegen ist schwer in Action.<br />

Permanent macht der gebürtige Pole<br />

Fotos. Das kann er gut: Im vergangenen<br />

Jahr hat er den ersten Preis bei unserem<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Fotowettbewerb gewonnen<br />

und alle mit seinem Bild eines<br />

Kormorans beeindruckt. Heute hat er<br />

es auf die Schiffe abgesehen, an denen<br />

wir vorbeikommen. „Nach dem Ausflug<br />

hier habe ich eine Woche Arbeit:<br />

Ich muss die ganzen Fotos sichten“, erklärt<br />

der 50-Jährige. „Nur die besten<br />

hebe ich auf.“ Dann dreht er sich schon<br />

wieder um und hält sich die Kamera<br />

vors Gesicht. „Ich habe jetzt leider keine<br />

Zeit mehr zum Reden.“<br />

Jetzt ist sowieso Zuhören angesagt.<br />

Maike Brunk hat das Wort und erzählt<br />

spannende Dinge über den Hamburger<br />

Hafen, während wir an den dicken Pötten<br />

vorbeifahren. Die 46-Jährige hat<br />

„Einfach mal<br />

gemeinsam<br />

eine gute Zeit<br />

haben.“<br />

SOZIALARBEITERIN ISABEL<br />

2007 die Hamburger Elbinsel-Tour gegründet<br />

und ist eine gefragte Gästeführerin.<br />

Beim G20-Gipfel hatte sie zum<br />

Beispiel die Begleiterinnen der Teilnehmer<br />

an Bord. Auf die Hinz&Künztler<br />

hat sie sich besonders gefreut, weshalb<br />

42<br />

sie uns auch die Moderation schenkt.<br />

„Was ist ein Starter?“, fragt sie gerade<br />

in die Runde, als wir an der Insel der<br />

Autos am Kattwykhafen vorbeifahren.<br />

Niemand hat eine Idee. „Das sind Leute,<br />

die mit mobilen Batterien herumlaufen<br />

und versuchen, die alten Gurken<br />

wieder zum Laufen zu bringen“, erklärt<br />

Maike Brunk. Anerkennendes Nicken<br />

ringsherum.<br />

„Die Schiffstour ist so, wie sie Touristen<br />

nicht unbedingt zu sehen bekommen“,<br />

lobt Rainer. Der Hinz&Künztler<br />

kennt sich aus: Er war früher viele Jahre<br />

als Binnenschiffer unterwegs. Auch Verkäufer<br />

Jörg gefällt, was er hört. „Richtig<br />

klasse, und man wird nicht bedrängt.“<br />

Es gibt zwischendurch auch immer<br />

wieder Pausen, damit man nachdenken<br />

oder sich unterhalten kann. „Das müssten<br />

wir viel öfter machen“, meint Sozialarbeiterin<br />

Isabel und blinzelt vergnügt<br />

in die Sonne. „Einfach mal gemeinsam<br />

eine gute Zeit haben.“


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Freunde<br />

Nach knapp zwei Stunden machen wir<br />

am Anleger Neumühlen fest. Während<br />

des kleinen Fußmarsches zum Hafenbahnhof<br />

erzählt Verkäufer Marcel, dass<br />

er früher mal im Hafen gearbeitet habe.<br />

„Es hat sich so viel verändert, das hätte<br />

ich nicht gedacht.“ Auch Eugene hat einen<br />

besonderen Bezug zum Wasser.<br />

Der gebürtige Nigerianer war früher<br />

für seinen Job regelmäßig mit dem<br />

Schiff unterwegs. „Ich war selbstständig<br />

und habe in Italien Kleidung gekauft,<br />

um sie in Griechenland zu verkaufen“,<br />

erzählt der Hinz&Künztler.<br />

„Als die Wirtschaftskrise in Griechenland<br />

kam, konnte ich nichts mehr<br />

verdienen.“<br />

Beim Hafenbahnhof, einem urigen<br />

Rotklinkerhäuschen, in dem ein Musikclub<br />

untergebracht ist, stehen kühle Getränke<br />

und ein Grill bereit. Kollegin Susanne,<br />

sonst für die Buchhaltung<br />

zuständig, und Verkäufer Jürgen haben<br />

Salate vorbereitet und auch schon<br />

Fleisch und Würstchen auf den Rost<br />

gelegt. Die Kosten dafür hat Spenderin<br />

Annemarie Ammon übernommen. Ein<br />

bisschen Geduld müssen alle mitbringen.<br />

Das fällt nicht jedem leicht, und es<br />

fallen ein paar grobe Worte. Doch<br />

schnell sind ein paar Hinz&Künztler<br />

zur Stelle, die beruhigend einwirken.<br />

Plötzlich fährt mit Blaulicht und quietschenden<br />

Reifen ein Krankenwagen<br />

vor. Erster Gedanke: Da hat jemand einen<br />

über den Durst getrunken. Doch<br />

Vertriebskollegin Meike bringt die Sanitäter<br />

zu Verkäufer Kai, den eine Wespe<br />

in die Zunge gestochen hat. Kurze Untersuchung,<br />

dann gibt es Entwarnung.<br />

Kai muss nicht ins Krankenhaus. Gut<br />

so, denn der 43-Jährige schläft draußen<br />

und hätte nicht gewusst, wohin mit seinem<br />

Hund King Louis.<br />

Um 18 Uhr ist alles verputzt und<br />

die drei Getränkebons pro Person sind<br />

auch längst aufgebraucht. Zeit für den<br />

Heimweg. Grüppchenweise geht es per<br />

Bus nach Hause. Ein Dutzend Verkäufer<br />

macht sich mit Vertriebsleiter<br />

Christian auf den Weg zurück zu<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Wer draußen schläft,<br />

muss noch seine Sachen holen, die während<br />

des Ausflugs hier geparkt waren.<br />

Zufrieden und müde erreichen wir die<br />

Geschäftsstelle. Michael nimmt eine<br />

Riesentasche und rückt sein grünes<br />

Hütchen zurecht. Sein Schlafplatz ist<br />

direkt um die Ecke. Auch Vasile hat<br />

noch Gepäck und füllt seine Wasserflasche<br />

für seine Hunde. Er bedankt sich<br />

überschwänglich. Beim nächsten Mal<br />

ist er wieder dabei. Vielleicht hat er bis<br />

dahin auch Freunde gefunden. •<br />

Kontakt: sybille.arendt@hinzundkunzt.de<br />

JA,<br />

ICH WERDE MITGLIED<br />

IM HINZ&KUNZT-<br />

FREUNDESKREIS.<br />

Damit unterstütze ich die<br />

Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />

Meine Jahresspende beträgt:<br />

60 Euro (Mindestbeitrag für<br />

Schüler/Studenten/Senioren)<br />

100 Euro<br />

Euro<br />

Datum, Unterschrift<br />

Ich möchte eine Bestätigung<br />

für meine Jahresspende erhalten.<br />

(Sie wird im Februar des Folgejahres zugeschickt.)<br />

Meine Adresse:<br />

Name, Vorname<br />

Straße, Nr.<br />

PLZ, Ort<br />

Telefon<br />

E-Mail<br />

Einzugsermächtigung:<br />

Ich erteile eine Ermächtigung zum<br />

Bankeinzug meiner Jahresspende.<br />

Ich zahle: halbjährlich jährlich<br />

IBAN<br />

Dankeschön<br />

BIC<br />

Bankinstitut<br />

Wir danken allen, die im September an<br />

uns gespendet haben, sowie allen<br />

Mitgliedern im Freundeskreis von Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

für die Unterstützung unserer Arbeit!<br />

DANKESCHÖN EBENFALLS AN:<br />

• IPHH • wk it services<br />

• Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />

• Hamburger Tafel •<br />

Axel Ruepp Rätselservice<br />

• Hamburger Kunsthalle<br />

• bildarchiv-hamburg.de • Röder-Stiftung<br />

• Die Firma Smith & Nephew für den Erlös<br />

aus dem B2B-Run<br />

• Maike Brunk • Annemarie Ammon<br />

• Dr. Jörg Nitschke und seinen Gästen<br />

für die Spendenaktion „Branca“<br />

NEUE FREUNDE:<br />

• Norbert Becker • Lore Beetz<br />

• Julia-Katharina Berndt • Ankie Borowski<br />

• Alexander Brandt • Magrit Delius<br />

• Niels Hackstein • Thekla Kersken<br />

• Milva Mitzlaff • Andrea Paaschburg<br />

• Karen Schulenburg<br />

Ich bin damit einverstanden, dass mein Name in<br />

der Rubrik „Dankeschön“ in einer Ausgabe des<br />

Hamburger Straßenmagazins veröffentlicht wird:<br />

Ja<br />

Nein<br />

Wir garantieren einen absolut vertraulichen<br />

Umgang mit den von Ihnen gemachten Angaben.<br />

Die übermittelten Daten werden nur zu internen<br />

Zwecken im Rahmen der Spendenverwaltung<br />

genutzt. Die Mitgliedschaft im Freundeskreis ist<br />

jederzeit kündbar. Wenn Sie keine Informationen<br />

mehr von uns bekommen möchten, können Sie<br />

jederzeit bei uns der Verwendung Ihrer personenbezogenen<br />

Daten widersprechen.<br />

Unsere Datenschutzerklärung können Sie<br />

einsehen unter www.huklink.de/datenschutz<br />

Bitte Coupon ausschneiden und senden an:<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Freundeskreis<br />

Altstädter Twiete 1-5, 20095 Hamburg<br />

Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk<br />

43<br />

HK <strong>308</strong>


Buh&Beifall<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>308</strong>/OKTOBER <strong>2018</strong><br />

Was unsere Leser meinen<br />

„Ungerechtigkeit macht mich extrem wütend.“<br />

Was ist mit all den Handwerkern?<br />

H&K 307, „Happy Birthday, Veddel!“<br />

Beim Lesen zweier Artikel zur Veddel<br />

habe ich mich sehr geärgert: Darin<br />

wird suggeriert, dass der Besuch eines<br />

Gymnasiums oder einer Uni ein zeichen<br />

der „positiven Entwicklung“ eines<br />

Stadtteils sind. Solche Unverschämtheiten<br />

höre ich leider zu oft, in Ihrem<br />

Magazin aber enttäuschen sie mich<br />

besonders stark: Was ist mit den vielen<br />

jungen Menschen, die einen Beruf erlernen?<br />

Was ist mit all den Handwerkern<br />

und Handwerkerinnen? Mit dem<br />

Pflegepersonal, mit Friseuren und Friseurinnen?<br />

Mit den unzähligen Berufen,<br />

die keinen Besuch eines Gymnasiums<br />

oder einer Universität voraussetzen?<br />

Hört bitte auf, diese große und<br />

wichtige Gruppe Menschen zu diskriminieren.<br />

Danke.<br />

E. VICCARO<br />

Sie haben recht, wenn Sie darauf hinweisen,<br />

dass der Besuch eines Gymnasiums oder einer<br />

Uni nicht das einzige Merkmal für eine positive<br />

Entwicklung ist. Und dass eine Handwerkerkarriere<br />

wie jede andere nichtakademische<br />

Karriere genauso wertvoll ist. Wenn<br />

wir einen anderen Eindruck erweckt haben,<br />

bedauern wir das sehr.<br />

Wir haben diese Zahlen genannt, weil<br />

sie oft ein Indiz für ungleiche Bildungschancen<br />

sind.<br />

Die Redaktion<br />

Keine Neiddiskussionen<br />

H&K 306, „Lasst bitte nicht noch mehr<br />

ertrinken!“<br />

Besonders gut gefällt mir, dass in ihren<br />

Artikeln hilfebedürftige Bevölkerungsgruppen<br />

– egal, welcher Herkunft –<br />

nicht gegeneinander ausgespielt werden.<br />

Es gibt keine Neiddiskussionen<br />

und es wird nicht polarisiert – ganz<br />

anders erlebe ich es leider im privaten<br />

Umfeld gerade bei Menschen, die materiell<br />

im Überfluss leben und dennoch<br />

nicht teilen wollen.<br />

Das Titelthema der vorletzten<br />

Ausgabe verdeutlicht einmal mehr<br />

die humanitäre Einstellung von<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> auch zur Flüchtlingsthematik.<br />

ANKE HORST<br />

Ich freue mich, dass Sie das Thema<br />

Seenotrettung aufgegriffen haben<br />

und klar Stellung beziehen! Der Beitrag<br />

des Seemannsdiakons Fiete Sturm ist<br />

Gold wert und sollte weit verbreitet<br />

werden. Ihm und auch Ihnen gilt mein<br />

ausdrücklicher Dank.<br />

PETRA STANG<br />

Leserbriefe geben die Meinung des Verfassers<br />

wieder, nicht die der Redaktion. Wir behalten<br />

uns vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />

„ICH WÜNSCHE MIR<br />

EINEN BRATEN UND EUCH<br />

SCHÖNE WEIHNACHTEN!“ HUND JACK<br />

HAMBURGER NEBENSCHAUPLÄTZE<br />

DER ETWAS ANDERE<br />

STADTRUNDGANG<br />

Wollen Sie Hamburgs City einmal mit anderen Augen sehen?<br />

Abseits der teuren Fassaden zeigt Hinz&<strong>Kunzt</strong> Orte, die in<br />

keinem Reiseführer stehen: Bahnhofs mission statt Rathausmarkt,<br />

Drogenberatungsstelle statt Alsterpavillon, Tages aufent halts stätte<br />

statt Einkaufspassage.<br />

Anmeldung: Bequem online buchen unter www.hinzundkunzt.de<br />

oder Telefon: 040/32 10 83 11, Kostenbeitrag: 10/5 Euro,<br />

nächste Termine: 14. + 28.10.<strong>2018</strong>, 15 Uhr<br />

Jack heißt unser diesjähriges Model für unseren Adventskalender.<br />

Er und sein Herrchen sind unzertrennlich. Deshalb ist Jack auch<br />

immer dabei, wenn Vasile Straßenmagazine verkauft. Hinter den<br />

24 Türchen verbergen sich allerdings keine Leckerlis für Hunde,<br />

sondern für Menschen.<br />

24 Türchen mit Bio-Fairtrade-Schokolade, ohne Plastikinlay, also<br />

komplett als Altpapier recycelbar. Von Postalo. Preis: 11,90 Euro.<br />

Schnell bestellen unter www.hinzundkunzt.de/shop<br />

mit Abschiedshaus


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Aus der Favela in die Elphi: Das Projekt Dorcas macht Kindern Hoffnung mit Musik (S. 46).<br />

Vom Armenquartier zum Szeneviertel: So wandelt sich Wohnen in Altona (S. 52).<br />

Glück auf der Straße: Hinz&Künztler Alexandru fi ndet Job bei der Stadtreinigung (S. 58).<br />

Nostalgie? Nein danke. Die Bücher des<br />

Krimiautoren Boris Meyn erzählen von einer<br />

Vergangenheit, die beklemmend aktuell ist –<br />

wie sein neues Werk „Fememord“, das zur Zeit<br />

der Weimarer Republik spielt. Beim Hamburger<br />

Krimifestival wird Boris Meyn daraus lesen.<br />

FOTO: ANDREAS HORNOFF


Beim Konzert in der<br />

Friedenskirche wird<br />

Adriano Blockflöte spielen.<br />

Am Cello ist er im<br />

Publikumsorchester der<br />

Elbphilharmonie zu hören.<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Happy End<br />

in der Favela<br />

Wie sich ein Junge aus einem brasilianischen Armenviertel<br />

in die Musik verliebt und jetzt in Hamburg in einer Kirche und<br />

in der Elbphilharmonie spielt.<br />

TEXT: BIRGIT MÜLLER<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Adriano war zehn Jahre alt, als er<br />

sich so richtig verliebte. Vorher<br />

hatte der Junge aus einem<br />

brasilianischen Armenviertel noch nie<br />

etwas mit Musik zu tun gehabt. Aber<br />

dann hört er zum ersten Mal Blockflötenmusik.<br />

Er ist so begeistert, dass er<br />

nur noch eins machen will: selbst Flöte<br />

spielen. Inzwischen ist er 17 Jahre alt,<br />

lebt bei Hamburg. Blockflöte und Cello<br />

spielt er inzwischen auf einem so hohen<br />

Niveau, dass er in Hamburg bei Konzerten<br />

mitspielt. Zu verdanken hat er<br />

das seiner Leidenschaft, seinem Fleiß –<br />

und einem Projekt: Dorcas.<br />

Aber der Reihe nach. Adriano<br />

stammt aus einer Favela bei Curitiba,<br />

seine Mutter ist alleinerziehend und<br />

versucht ihr Bestes. Im Viertel, das ironischerweise<br />

Bonfim heißt – Happy<br />

End –, herrscht Arbeitslosigkeit. Perspektive?<br />

Oft ein Fremdwort. Viele Bewohner<br />

haben Probleme mit Drogen.<br />

Adriano sieht überall Drogenkranke<br />

oder Leute, die dealen. Paten haben<br />

den Stadtteil im Griff. „Für Jugendliche<br />

ist es schwer, ein gutes Vorbild zu haben“,<br />

sagt er, als wir uns in der Schanze<br />

auf einen Kaffee treffen.<br />

Viele Kinder gehen nicht zur Schule,<br />

und es gibt keine Erwachsenen, die<br />

sie unterstützen. „Wer weiß, was aus<br />

mir geworden wäre, wenn ich Dorcas<br />

nicht kennengelernt hätte“, sinniert er.<br />

Dorcas ist eine Art Jugendtreff, jenseits<br />

der Favela. Nur eine riesige Straße<br />

trennt die beiden Welten. Dorcas versucht,<br />

den Kindern den Glauben daran<br />

zu geben, dass sie eine Chance haben<br />

im Leben. Und das mit Sport, Bildung<br />

und Musik.<br />

Sport ist gar nichts für Adriano.<br />

Aber die Musik geht ihm durch und<br />

durch. Er darf Blockflöte lernen, und er<br />

lernt in Nullkommanix, Noten zu lesen.<br />

Es ist fast eine Art Rausch. Er übt und<br />

übt und will immer neue Noten. „Meine<br />

Mutter konnte es schon nicht mehr<br />

hören, ich bin zum Üben ins Bad gegangen,<br />

nach draußen, ich konnte einfach<br />

nicht mehr aufhören.“<br />

Adriano hat Glück. Über Dorcas<br />

bekommt er 2014 ein Stipendium für<br />

ein privates Gymnasium. Schon ein<br />

46


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Jahr zuvor hat er es auf eine Musikschule<br />

geschafft. Jetzt kann er intensiv<br />

Blockflöte lernen. Und nicht nur das.<br />

Er darf ein zweites Instrument lernen,<br />

Cello. Die Lehrerin ist so beeindruckt<br />

von diesem ernsten, dabei fröhlichen<br />

Kind, dass sie Adriano kostenlos unterrichtet.<br />

Auf dem Gymnasium lernt er<br />

auch Deutsch. Deutschland ist sowieso<br />

sein Sehnsuchtsort, „weil es ein gutes<br />

Adriano übt<br />

und übt. Es ist<br />

fast eine Art<br />

Rausch.<br />

Land für Musik ist“. Barock und Renaissance<br />

liebt er besonders. Deshalb ist<br />

er auch glücklich, als er ein Stipendium<br />

für ein Austauschjahr in Deutschland<br />

bekommt.<br />

Seit Januar <strong>2018</strong> wohnt er in der<br />

Nähe von Hamburg in einer Gastfamilie.<br />

Er kommt oft nach Hamburg – natürlich<br />

wegen der Musik. Hier kennt er<br />

den Kirchenmusiker Fernando Gabriel<br />

Swiech von der Friedenskirche in<br />

St. Pauli. Und die unterstützt Dorcas<br />

seit vielen Jahren. Demnächst organisiert<br />

Swiech ein Benefizkonzert. Und<br />

da spielt natürlich auch Adriano mit –<br />

auf der Blockflöte. Wofür der Erlös eingesetzt<br />

werden soll, ist auch schon klar:<br />

Dorcas will Nachhilfelehrer engagieren,<br />

damit Jugend liche aus Bonfim die<br />

Chance haben, die Aufnahmeprüfungen<br />

fürs Gymnasium zu schaffen. Auch<br />

Adriano hat früher davon profitiert.<br />

Eigentlich wäre Adrianos Austauschjahr<br />

im Januar 2019 zu Ende.<br />

Aber er bleibt. Denn am 26. Januar will<br />

er zum zweiten Mal in der Elbphilharmonie<br />

auf der Bühne stehen – mit dem<br />

Publikumsorchester.<br />

Und nicht nur das: „Ich werde nach<br />

Brasilien zurückfliegen“, sagt er. „Aber<br />

nur zu Besuch.“ Denn inzwischen hat<br />

er wieder ein Stipendium bekommen,<br />

kann ein Jahr auf die Jugendmusikschule<br />

gehen und sich auf die Musikhochschule<br />

vorbereiten. Zusätzlich kann er<br />

sogar noch Klavier und Cembalo lernen.<br />

Sein Lebensmittelpunkt wird die<br />

nächsten Jahre über Hamburg sein.<br />

„Ich möchte mir hier ein Leben als Musiker<br />

aufbauen“, sagt er ernst. „Ich will<br />

damit auch meiner Familie helfen – und<br />

Dorcas.“ •<br />

Kontakt: birgit.mueller@hinzundkunzt.de<br />

Konzert und Kulinarisches:<br />

„Brasilianische Kultur kompakt“ in der<br />

Friedenskirche, Otzenstr. 19, am Sa,<br />

20.10., 18 Uhr. Es spielen Adriano<br />

Trarbach (Blockflöte), Professor<br />

Clemens Malich (Violoncello), Ronaldo<br />

Steiner (Gesang), Paulo Gouveia (Flöte)<br />

und Fernando Swiech (Klavier). Eintritt<br />

frei, Spenden für Dorcas erbeten.<br />

Adriano Trarbach mit<br />

Darclê Cunha (Dorcas)<br />

und Fernando Swiech von<br />

der Friedenskirche. Beim<br />

Benefizkonzert zugunsten<br />

von Dorcas wird Adriano<br />

Blockflöte spielen.<br />

47


In seinem Haus finden sich jede<br />

Menge alte Kameras, alte Stereoanlagen<br />

und in seiner Garage alte<br />

Autos wie dieser legendäre Saab<br />

96: Boris Meyn liebt alles, was einen<br />

Hauch von Geschichte umweht.


Der Spaziergänger<br />

durch die Jahrzehnte<br />

Seit 15 Jahren schreibt Boris Meyn historische Kriminalromane<br />

und führt uns so durch Hamburgs Epochen. Nun nähert er sich<br />

langsam der NS-Zeit. Doch vorher lernen wir mit der emanzipierten<br />

Journalistin Ilka seine neue Heldin kennen.<br />

TEXT: FRANK KEIL<br />

FOTOS: ANDREAS HORNOFF


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Langsam erwacht die Speicherstadt,<br />

die backsteinroten<br />

Bauten schimmern malerisch<br />

im aufsteigenden Sommersonnenlicht.<br />

In den Kanälen werden<br />

aus den Schuten Lasten sacht angehoben,<br />

sie schweben langsam himmelwärts<br />

und verschwinden in den Speichern.<br />

Und so geht es hier schon Jahr -<br />

hunderte zu, könnte man meinen.<br />

Stimmt aber nicht: Wo sich heute<br />

die Speicherstadt so pittoresk erhebt,<br />

stand einst ein engbelegtes, verschattetes,<br />

aber quirliges Wohnviertel. Das<br />

Hamburgs Kaufleute ohne mit der<br />

Wimper zu zucken komplett abreißen<br />

ließen, nachdem sie vorher die hier<br />

wohnenden Hafenarbeiter samt ihren<br />

Familien rabiat vertrieben und in damals<br />

weit abgelegene Viertel wie Barmbek<br />

verfrachtet hatten, wobei man<br />

Barmbek noch mit ck schrieb: Barmbeck.<br />

So kann man es in Boris Meyns<br />

Roman „Die rote Stadt“ nachlesen.<br />

Die romantische Vorstellung einer<br />

frühen Speicherstadt, sie gerät beim<br />

Lesen ins Wanken. „Na, dann habe ich<br />

es ja genau richtig gemacht“, sagt<br />

Boris Meyn, in seinem Sessel, in seinem<br />

Arbeitszimmer, in seinem Haus und<br />

schlägt die Beine übereinander. „Mein<br />

Ziel ist es, die Menschen an die Hand<br />

zu nehmen und sie durch die Epochen<br />

Hamburgs zu führen, in denen städtebaulich<br />

Entscheidendes passiert ist.“<br />

Selbst wohnt er schon lange nicht<br />

mehr in Hamburg (dabei ist er Ur-<br />

Hamburger, Finkenauer, genau gesagt),<br />

sondern irgendwo am äußersten Rand<br />

von Schleswig-Holstein, und das hat<br />

50<br />

mit dem enormen Erfolg seiner Hamburg-Romane<br />

zu tun. Er holt tief Luft:<br />

„Ich bin Bauhistoriker und hatte es zunächst<br />

mit Fachliteratur versucht.“ Auflage:<br />

500, vielleicht 800 Stück. Bald<br />

hätte er keine Lust mehr darauf gehabt,<br />

auch sei es schwer, davon zu leben.<br />

Doch dann erscheint 1997 mit „Tod am<br />

Zollhaus“ der erste Roman von Petra<br />

Oelker und wird ein Riesenerfolg. „Die<br />

Verlage suchten nun händeringend, was<br />

heute in Hülle und Fülle vorhanden<br />

ist: Autoren für historische Kriminalromane“,<br />

erzählt Meyn weiter. Er selbst<br />

verfasst damals einen kleinen Krimi:<br />

„Just for fun, 60 Seiten, einseitig beschrieben,<br />

Schnellbindung. Ich hatte<br />

nicht die Idee, den zu veröffentlichen.“<br />

Aber er macht die Runde, landet bei<br />

einer Lektorin des Rowohlt Verlages.<br />

„Und die kam zu mir und sagte: ‚Das<br />

Ding machen wir!‘“, erzählt er. Und<br />

plötzlich war er, auch einer großangelegten<br />

Werbekampagne sei Dank,<br />

Bestsellerautor.<br />

Acht historische Kriminalromane<br />

mit Hamburg als Schauplatz hat er seitdem<br />

geschrieben, die sich bis heute gut<br />

verkaufen. „Mir scheint es zu gelingen,<br />

Realität und Fiktion ohne belehrenden<br />

Ton zu verweben“, sagt er. „Mir geht es<br />

darum, dass der Leser schnell und zügig<br />

durch einen Krimi marschiert.“ Mehr<br />

als zwei Tage solle man dafür nicht<br />

benötigen.<br />

Sein neuestes Werk mit dem Titel<br />

„Fememord“ führt nun ins Jahr 1925.<br />

Als die Weimarer Republik sich so etwa<br />

in ihrer Mitte befindet: Sieben Jahre zuvor,<br />

im November 1918, beginnt sie<br />

nach der Abdankung des Kaisers; etwas<br />

mehr als sieben Jahre später wird sie im<br />

Januar 1933 mit der Ernennung Adolf<br />

Hitlers zum Reichskanzler enden.<br />

Und mittendrin seine neue Ermittlerin:<br />

Ilka Bischop. Eine junge Journalistin,<br />

emanzipiert, auch sexuell selbstbewusst,<br />

außerdem leidenschaftliche<br />

Hobbyfliegerin. Gern in Künstlerkreisen<br />

unterwegs. So werden wir in den<br />

Hamburger Kammerspielen späteren<br />

Legenden wie Klaus Mann und Gustaf<br />

Gründgens begegnen, werden den oft<br />

kränkelnden Oberbaudirektor Fritz<br />

Schumacher besuchen, der damals begann,<br />

mit seiner Backsteinarchitektur<br />

die Stadt zu prägen. Dazu geschieht ein


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Mordfall in der Fliegerszene, dunkle<br />

Verbindungen zwischen der jungen,<br />

aufstrebenden Sowjetunion und dem<br />

deutschen Militär, das trotz der Versailler<br />

Verträge wieder aufrüsten will, deuten<br />

sich an. Gekonnt wird eine falsche<br />

Spur gelegt – und am Ende die Tat<br />

aufgeklärt.<br />

Sein nächster<br />

Krimi beschäftigt<br />

sich mit dem<br />

Antisemitismus.<br />

Für Boris Meyn immer wieder eine<br />

Herausforderung: bei den historischen<br />

Fakten zu bleiben, aber nicht die Zeit<br />

selbst zu verlassen, über die er da<br />

schreibt. Er nennt ein Beispiel: „Wir<br />

alle sprechen selbstverständlich vom<br />

Ersten Weltkrieg, aber nur weil wir heute<br />

wissen, dass es danach einen zweiten<br />

weltweiten Krieg gab, da geht es schon<br />

los.“ Und so deutet er in „Fememord“<br />

nur vage an, dass es eine Gruppierung<br />

gibt, die sich ‚Nationalsozialisten‘ nennt<br />

und die hier und da im Straßenbild auftaucht.<br />

„Wenn das Wissen durchschimmert,<br />

was später tatsächlich passiert ist,<br />

ist man als Autor geliefert“, sagt Meyn.<br />

Von daher könne er nicht mehr als<br />

Ängste benennen, dass es einen neuen<br />

Krieg geben könnte – mehr nicht.<br />

Was danach passieren wird, ist<br />

Thema des Folgebandes, an dem er bereits<br />

schreibt, der ins Jahr 1929 führen<br />

wird und unter dem Titel „Sturmzeichen“<br />

für das kommende Frühjahr angekündigt<br />

ist. Der Fall: Ein jüdischer<br />

Bankier wird ermordet aufgefunden.<br />

Und Ilka Bischop muss feststellen, dass<br />

sich Antisemitismus auch in ihrer eigenen<br />

Familie längst selbstverständlich<br />

breitgemacht hat.<br />

So stellt sich auch dieser Meyn-<br />

Krimi einer politischen Aufgabe: „Ich<br />

möchte sichtbar machen, aus welchen<br />

Gründen sich damals die politische<br />

Mitte von den Mitte-Parteien verabschiedet<br />

hat und an die Ränder geströmt<br />

ist und wie die bürgerlichen Par-<br />

51<br />

teien mit ihren eben noch 20 bis 30<br />

Prozent Stimmenanteil zu Splitterparteien<br />

wurden, während die linken Parteien<br />

sich heillos zerstritten“, sagt er.<br />

Und die Parallelen zu heute seien ja erschreckend:<br />

„Ich habe nie gedacht, dass<br />

wir eine solche Umschichtung erleben,<br />

wo Unzufriedenheit zu radikalen Positionen<br />

führt, so wie ich früher gedacht<br />

habe, 1933 wäre einmalig gewesen.“<br />

Und nun frage er sich: Wer wird möglicherweise<br />

der Rattenfänger sein?<br />

Bleibt noch zu erzählen, was sich in<br />

„Fememord“ so nebenbei Neues über<br />

Hamburg lernen lässt. Nämlich: In<br />

Altona-Övelgönne, an der Elbe, ziemlich<br />

auf Höhe des Ausflugslokals<br />

„Strandperle“ war mal eine Art kleiner<br />

Flughafen. Eine Anlage für Wasserflugzeuge,<br />

die immerhin die Linie Altona-<br />

Magdeburg-Dresden und zurück bedienten:<br />

die „Blaue Linie“. „Ich wusste<br />

das auch nicht“, lacht Meyn. Aber er<br />

hat zufällig bei seiner Recherche in einer<br />

Tageszeitung von damals entsprechende<br />

Angaben gefunden und dann<br />

genauer nachgeforscht.<br />

Also: In Altona plante man einst einen<br />

Konkurrenzflughafen zu Fuhlsbüttel,<br />

denn der Flughafen Fuhlsbüttel galt<br />

in den 1920er-Jahren für die Zukunft<br />

als zu klein – weil man noch nicht wissen<br />

konnte, dass durch die aerodynamisch<br />

verbesserten Flugzeugtypen die<br />

Lande- und Startbahnen sich deutlich<br />

verkürzen und der Platz dann wieder<br />

ausreichen würde. „Altona experimentierte<br />

daher mit dieser Wasserfluglinie,<br />

für normale Flugzeuge hatte man schon<br />

eine Fläche in Bahrenfeld ausgewählt.<br />

Aber dann kam 1937 das Groß-Hamburg-Gesetz,<br />

Altona wurde Teil von<br />

Hamburg, und damit erledigte sich das<br />

Thema“, schließt Meyn. •<br />

Kontakt: frank.keil@hinzundkunzt.de<br />

Boris Meyn erleben<br />

Boris Meyn liest am 7.11. um 18 Uhr<br />

beim Hamburger Krimifestival zusammen<br />

mit Nora Luttmer, Till Raether und<br />

Simone Buchholz auf Kampnagel,<br />

Jarrestr. 20, Eintritt: 16, 50 Euro.<br />

Sein Krimi „Fememord“ (9,99 Euro, 240<br />

Seiten) ist im Rowohlt Verlag erschienen.<br />

<br />

SEASICK STEVE<br />

<br />

AGAINST THE CURRENT<br />

<br />

PER GESSLE'S ROXETTE<br />

<br />

THE MYSTERY OF THE BULGARIAN<br />

VOICES FEAT. LISA GERRARD<br />

<br />

SASHA<br />

<br />

JESPER MUNK<br />

<br />

JOHN BUTLER TRIO<br />

<br />

NILS WÜLKER<br />

<br />

THE KILKENNYS<br />

<br />

ANGELO BRANDUARDI<br />

<br />

SHARON SHANNON + BAND<br />

<br />

JORJA SMITH<br />

<br />

METRIC<br />

<br />

ARRESTED DEVELOPMENT<br />

<br />

PETER CETERA<br />

<br />

KLAUS HOFFMANN & BAND<br />

<br />

VENNART<br />

<br />

NIGHTMARES ON WAX<br />

<br />

THE IRISH FOLK FESTIVAL<br />

<br />

LISA BASSENGE TRIO<br />

<br />

THE LAST BANDOLEROS<br />

<br />

BERNHOFT AND<br />

THE FASHION BRUISES<br />

<br />

KYLIE MINOGUE<br />

<br />

NICOLA CONTE & SPIRITUAL GALAXY<br />

<br />

NILS LANDGREN:<br />

CHRISTMAS WITH MY FRIENDS<br />

<br />

JUDITH HOLOFERNES<br />

<br />

CYPRESS HILL<br />

<br />

TORFROCK<br />

<br />

GOOD CHARLOTTE<br />

<br />

ERSTE ALLGEMEINE<br />

VERUNSICHERUNG<br />

<br />

JOOLS HOLLAND & MARC ALMOND<br />

TICKETS: KJ.DE


Kult<br />

Tipps für den<br />

Monat <strong>Oktober</strong>:<br />

subjektiv und<br />

einladend<br />

Ausstellung<br />

Altonaer Quartiere im Wandel<br />

Die ersten Bewohner der Neuen Mitte<br />

Altona sind eingezogen, ein weiteres<br />

Kapitel der Altonaer Wohnungsbaugeschichte<br />

ist damit abgeschlossen.<br />

Wie aber sah es im Stadtteil früher aus?<br />

Das Altonaer Museum wirft in einer<br />

Sonderausstellung einen Blick zurück:<br />

Auf die Wohnungsnot in den 1890ern,<br />

als Altonaer Familien Betten an wohnungslose<br />

„Schlafgänger“ vermieteten,<br />

oder auf solidarische Wohnkultur in<br />

den 1920ern. Auch die Pläne der Nazis,<br />

Altona zum Zentrum einer „Führerstadt“<br />

zu machen, werden gezeigt. Mit<br />

52<br />

„Urbanität durch Dichte“ sollten die Hochhaussiedlungen der 1960er<br />

schaffen. Doch sie brachten auch anonyme Wohnverhältnisse.<br />

Blick nach vorn lädt das Museum zur<br />

Diskussion ein: Die letzten Baustellen<br />

sind noch nicht abgearbeitet. •<br />

Altonaer Museum, Museumstraße 23,<br />

bis 24.6.2019., wochentags 10–17 Uhr,<br />

(Di geschlossen), Sa+So, 10–18 Uhr,<br />

8,50/5 Euro, www.altonaermuseum.de


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Beim Salon International<br />

treffen<br />

Kulturen aufeinander.<br />

Sieht gut aus.<br />

Literatur<br />

Lesestoff für die Herbstsaison<br />

Es wird kühl draußen – für Leseratten<br />

beginnt jetzt die schönste Zeit des<br />

Jahres. Im Literaturhaus präsentieren<br />

Annemarie Stoltenberg und Rainer<br />

Moritz flott und prägnant die besten<br />

Neuerscheinungen der Saison. •<br />

Literaturhaus, Schwanenwik 38,<br />

Do, 4.10., 19.30 Uhr, 12/8 Euro,<br />

www.literaturhaus-hamburg.de<br />

Bühne<br />

Pop in Aktion<br />

Worauf die Jugend von heute steht, weiß sie am besten selbst. Und macht sie auch<br />

selbst: Zum Daughterville stellen Jugendliche ein ganzes Festival auf die Beine,<br />

im LOLA Camp produzieren junge Musiker ihre eigenen Alben und bei Beat up<br />

stehen junge Filmemacher hinter der Kamera. Was sonst noch alles geht in den<br />

Projekten junger Popkulturmacher, zeigt die Werkschau von „Pop 2 Go“ mit Konzerten,<br />

Tanztheater, Filmdreh und Tipps für alle, die selbst aktiv werden wollen. •<br />

Fabrik, Barnerstraße 36, So, 14.10., ab 18 Uhr, Eintritt frei, www.poptogo.de<br />

Kinder<br />

Dinge mit Geschichte<br />

Neuer Name, neues Programm: Das<br />

MARKK (Ex-Völkerkundemuseum)<br />

befasst sich stärker damit, wie unser<br />

Bild von Kulturen entsteht. Dazu<br />

gehört ein kritischer Blick auf die<br />

eigene Sammlung: Wie sind all die<br />

Gegenstände ins Museum gekommen?<br />

Eine Führung für Kinder geht dem<br />

nach. Teilnehmer bringen ein oder<br />

zwei Dinge mit, die in 50 oder 100<br />

Jahren ausgestellt werden könnten. •<br />

MARKK, Rothenbaumchaussee 64,<br />

So, 7.10.,14.30 Uhr, 4 Euro,<br />

www.markk-hamburg.de<br />

FOTOS: NEUE HEIMAT/HAMBURGISCHES ARCHITEKTURARCHIV,<br />

RICA BLUNCK, WIKIMEDIA COMMONS/HEIKE HUSLAGE-KOCH<br />

Debatte<br />

Von Fremdsein und Heimweh<br />

Wie fühlt es sich an, unfreiwillig ein neues Leben in der Fremde anzufangen?<br />

„Der Körper befindet sich nun hier, das Herz ist aber dort“ – so beschreibt es<br />

Abbas Khider. Bevor er in Deutschland Schriftsteller wurde, kämpfte Khider<br />

gegen das Regime von Saddam<br />

Hussein in seiner irakischen Heimat,<br />

erlitt Gefängnisstrafen und Folter, war<br />

jahrelang auf der Flucht. Nun ist er<br />

Schirmherr der „Tage des Exils“,<br />

die das Körberforum auch diesen<br />

Herbst wieder veranstaltet.<br />

In vielen Vorträgen, Lesungen und<br />

Filmabenden erzählen Exilanten<br />

und Flüchtende davon, wie sie mit<br />

Fremdsein und Heimweh leben –<br />

direkt im Gespräch mit den Gästen<br />

oder durch ihre Bilder, Bücher und<br />

Musik. •<br />

Tage des Exils, an 45 Orten in Hamburg,<br />

ab Mo, 15.10., 19 Uhr, Eintritt bei<br />

vielen Veranstaltungen frei. Das ganze<br />

Programm: www.tagedesexils.de<br />

Schirmherr der Tage des Exils:<br />

der Schriftsteller Abbas Khider.<br />

Kino<br />

Filmabend zum Verlieben<br />

In Hamburg kann man sich schnell<br />

verknallen, merken die Helden in<br />

Lynda Bartniks Film „Schöne Aussicht“.<br />

Im Metropolis soll es auch im<br />

Saal knistern. Der Kinoabend „Verguckt“<br />

ist nur für Singles gedacht. •<br />

Metropolis, Kleine Theaterstraße 10,<br />

Di, 9.10., 19 Uhr, 10 Euro (VVK),<br />

www.metropoliskino.de<br />

Debatte<br />

Mittellos sterben<br />

Jeder Mensch hat ein Recht auf würdevolles<br />

Leben – bis zum letzten Tag.<br />

Über das Thema „Einsam und mittellos<br />

sterben“ diskutieren Stephan<br />

Karrenbauer, Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Sozialarbeiter,<br />

und andere im „Ausklang“. •<br />

Ausklang, Hans-Henny-Jahnn-Weg 67a,<br />

Do, 18.10., 19 Uhr, Eintritt frei; Hamburger<br />

Hospizwoche, 14.–21.10., Infos unter<br />

www.koordinierungsstelle-hospiz.de<br />

53


Ausstellung<br />

Dem Himmel ganz nah<br />

Möglichst weit weg von allem Bekannten<br />

wollte Dorothea Heinrich reisen.<br />

Sie fand, was sie suchte, in der Mongolei.<br />

In den Hochsteppen des Altai traf<br />

sie auf Menschen, die tatsächlich völlig<br />

anders leben als wir: Mit minimalem<br />

Besitz, viel Geduld und Gelassenheit<br />

ziehen die mongolischen Hirten mit<br />

ihren Herden von Ort zu Ort. Ihr<br />

Lebensraum ist geprägt von Kargheit:<br />

Unter dem gewaltigen Himmel bietet<br />

die Landschaft kaum Schutz. Umso<br />

wichtiger ist die Gastfreundschaft der<br />

Nomaden des Altai, die auch die Fotografin<br />

freundlich bei sich aufnahmen.<br />

Die Annäherung an ihre Gastgeber<br />

und ihre ungewohnte Lebensart<br />

dokumentierte Dorothea Heinrich mit<br />

ihrer Kamera. Nun sind die Bilder<br />

ihrer Reise im Westwerk zu sehen: Die<br />

54<br />

Ziegen, Himmel, Steppe – und eine starke Hirtin: Das Leben<br />

der Nomaden in der Mongolei ist einfach und oft beschwerlich.<br />

Ausstellung „close below the heavens“<br />

macht die schier unendliche Weite<br />

von Steppe und Himmel vorstellbar.<br />

Gleichzeitig lässt sie ein Gefühl von<br />

Nähe und Geborgenheit entstehen,<br />

die die Fotografin im einfachen Leben<br />

mit den Nomaden erfuhr. •<br />

Westwerk, Admiralitätsstraße 74, ab Fr,<br />

26.10., 19 Uhr, Di–Fr, 16–18 Uhr, Sa+So,<br />

15–18 Uhr, Eintritt frei, www.westwerk.org


FOTOS: DOROTHEA HEINRICH, BODYRHYTHM UNLIMITED, PRIVAT<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Festival<br />

Grenzenlos feiern<br />

Sind wir nicht alle ein bisschen anders? Das Festival „Grenzen sind relativ“ schafft<br />

eine Welt, in der es völlig egal ist, woher jemand kommt oder ob alle Sinne gleich<br />

ausgeprägt sind. Was zählt, ist Talent – und davon ist an diesem Tag eine Menge<br />

zu spüren. Neben Musik von Jan Plewka und Marco Schmedtje, Sebó, Kiddo<br />

Kat und vielen weiteren Ausnahmekünstlern gibt es Theater, Kunst, Kabarett<br />

und einen rhythmischen Schlagabtausch der besonderen Art: Das Hip-Hop-<br />

Kollektiv „Rapfugees“ trifft zum Battle mit Bodyrhythm Unlimited zusammen,<br />

die mit Geräten von der Straße und dem eigenen Körper Beats produzieren. •<br />

Fabrik, Barnerstraße 36, Sa, 20.10., 19 Uhr, 20 Euro, alle Infos und Programm:<br />

www.grenzensindrelativ.de<br />

Konzert<br />

Grußbotschaften an das Leben<br />

Rund um den Michel sind große Gefühle<br />

verewigt: Die Gravuren auf den<br />

Michel-Tafeln im Pflaster des Kirchplatzes<br />

erzählen von neugeborenen<br />

Urenkeln, 40 Jahren Eheglück, von<br />

Trauer oder der Liebe zu Hamburg.<br />

Die Botschaften der Michel-Tafeln<br />

werden nun musikalisch zum Klingen<br />

gebracht: Kirchenmusikdirektor<br />

Manuel Gera hat Gravurtexte vertont<br />

und mit bekannten Melodien verbunden.<br />

Dargeboten wird die Reise durch<br />

Höhen und Tiefen des Lebens von der<br />

Kantorei und dem Orchester des Michel,<br />

der Sopranistin Miriam Sharoni<br />

und dem Jugend-Kammerchor des<br />

Goethe-Gymnasiums. Die Geschichten<br />

hinter den Gravuren verraten<br />

Schauspieler Torsten Hamman und<br />

Hauptpastor Alexander Röder. •<br />

St. Michaelis, Englische Planke 1,<br />

Sa, 20.10.,19 Uhr, 22/17 Euro,<br />

www.st-michaelis.de.de<br />

Tanzen zu Musik,<br />

die beim Tanzen<br />

entsteht: das ist<br />

Bodyrhythm Unlimited.<br />

Konzert<br />

Tante Woo lädt zur Gala ein<br />

Von der Kunst leben ist nicht leicht –<br />

erst recht nicht mit einer psychischen<br />

Erkrankung. Der Verein Künstlerhilfe<br />

will, dass es trotzdem klappt: Mit Auftritten<br />

treiben Künstler Geld ein, um<br />

Kollegen eine Therapie zu ermöglichen<br />

– und können so selbst trotz Erkrankung<br />

auf der Bühne stehen. Nun<br />

laden Schirmherrin Tante Woo und<br />

ihr Partner Roman Who? zur großen<br />

Benefizgala ein. Auf der Bühne:<br />

Christine Prayon, Marcus Prell, Karmen<br />

im Nebel und Susanne Hayo. •<br />

Kukuun, Spielbudenplatz 21, Sa, 27.10.,<br />

20 Uhr, Eintritt frei, Spenden erbeten,<br />

www.kuenstlerhilfe-ev.de<br />

Zur Jubiläumsausgabe im November<br />

entfällt der Veranstaltungsteil.<br />

Über Tipps für Dezember freut sich<br />

Annabel Trautwein. Bitte bis 10.11.<br />

schicken: redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Kinofilm des Monats<br />

Liebe in<br />

dunkler Zeit<br />

Mögen die Menschen im<br />

Sommer noch so viel flirten,<br />

spätestens im <strong>Oktober</strong> hat es<br />

sich ausgetindert. Dann zeigt<br />

die alte Grinsekatze, die in<br />

unseren Herzen wohnt, ihr<br />

wahres Gesicht. Bei abgestandener<br />

Heizungsluft muss<br />

sich der Wert der Beziehung<br />

beweisen. Auf dem Sofa.<br />

Beim muffeligen „Guten<br />

Morgen“ vor dem ersten<br />

Kaffee. Ist nie einfach …<br />

Dass das mit der Beziehung<br />

eine elende Plackerei<br />

ist, lernen auch die Iraner<br />

Kian und Mira im Film „Die<br />

defekte Katze“. Er lebt als<br />

Assistenzarzt schon länger in<br />

Deutschland, sie ist als Ingenieurin<br />

im Iran erfolgreich.<br />

Nur die Liebe suchen sie bislang<br />

vergeblich. Abhilfe soll<br />

eine arrangierte Ehe schaffen.<br />

Die zwei heiraten also,<br />

sehen sie einander nach einigen<br />

Eheanbahnungscastings<br />

wohl als kleinstes Übel.<br />

Hals über Kopf stürzen<br />

sie sich in die Beziehung.<br />

Und sind sich doch fremd.<br />

Erster Streit, erster Frust,<br />

erster Sex. Stellvertretend für<br />

das Auf und Ab der Gefühle<br />

ist die Katze, die Mira mit<br />

nach Hause bringt. Ein hässliches<br />

Viech. Pinkelt in Kians<br />

Hemden. Ein Störenfried.<br />

Und ein Zeichen dafür, dass<br />

sich Liebe auch dort zeigen<br />

muss, wo es weh tut. Der aufrichtige<br />

Versuch zweier Menschen,<br />

sich trotz allem nahezukommen,<br />

macht „Die defekte<br />

Katze“ zu einem Film,<br />

der nachwirkt, obwohl der<br />

Sommer längst vorbei ist. •<br />

André Schmidt<br />

geht seit<br />

Jahren für uns<br />

ins Kino.<br />

Er arbeitet in der<br />

PR-Branche.<br />

55


<strong>Kunzt</strong>&Comic<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>308</strong>/OKTOBER <strong>2018</strong><br />

56


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Rätsel<br />

ILLUSTRATION (BLEISTIFT IM IMPRESSUM): BERND MÖLCK-TASSEL<br />

Absteckpfahl<br />

der<br />

Landmesser<br />

Herzogin<br />

von York<br />

organische<br />

Verbindung<br />

Dauermiete<br />

für<br />

Theater<br />

(Kurzwort)<br />

Preisüberhöhung,<br />

Gaunerei<br />

englisch:<br />

groß<br />

bayrisch,<br />

österreichisch:<br />

Grasland<br />

7<br />

9<br />

5<br />

2<br />

3<br />

1<br />

untere<br />

Absender Juraabteilung<br />

6<br />

8<br />

1<br />

2<br />

6<br />

2<br />

von Neuem,<br />

erneut<br />

3<br />

3<br />

4<br />

6<br />

2<br />

9<br />

3<br />

alle,<br />

Kindeskind<br />

ohne<br />

Ausnahme<br />

Teilgebiet<br />

unseres<br />

Kontinents<br />

Fluss zur<br />

Ostsee<br />

(Pommern)<br />

9<br />

8<br />

5<br />

10<br />

4<br />

Mantel<br />

mit angeschnitt.<br />

Ärmeln<br />

8<br />

9<br />

5<br />

1<br />

5<br />

8<br />

5<br />

leichte<br />

Vertiefung<br />

Teilzahlung<br />

Verschwiegenheit<br />

Scherzname<br />

des<br />

Elefanten<br />

Falschheit,<br />

Boshaftigkeit<br />

Zeitmessgerät<br />

Kaufgeschäft<br />

2<br />

6<br />

9<br />

Kurzwort<br />

für das<br />

Alphabet<br />

Schreibutensil<br />

für Wandtafeln<br />

spanische<br />

Prinzessin<br />

lateinisch:<br />

im Jahre<br />

längster<br />

Fluss von<br />

Albanien<br />

dt. Fußballnationaltrainer<br />

(Joachim)<br />

Greifvogel<br />

Kriemhilds<br />

Mutter<br />

Muse der<br />

Sternkunde<br />

norddeutsch:<br />

Bauernstube<br />

Zart-,<br />

Feingefühl<br />

griechische<br />

Jugendgöttin<br />

griechische<br />

Anmutsgöttinnen<br />

Heiratsdokument<br />

Verwaltungseinheit<br />

in<br />

Schweden<br />

kurz für<br />

eine<br />

Stadt in<br />

Brasilien<br />

niederländ.<br />

Maler<br />

† 1680<br />

Gebirge<br />

auf Kreta<br />

englisch:<br />

innen<br />

Fluss zum<br />

Weißen<br />

Meer<br />

Milliardstel<br />

einer<br />

Einheit<br />

englisch:<br />

neu<br />

Lösungen an: Hinz&<strong>Kunzt</strong>, Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg,<br />

per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.<br />

Einsendeschluss: 30. <strong>Oktober</strong> <strong>2018</strong>. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />

Wer die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel einsendet, kann<br />

zwei Karten für die Hamburger Kunsthalle oder eins von drei Exemplaren<br />

des Buchs „Hamburgs Hafen im Wandel“ von Eckhard Freiwald und<br />

Gabriele Freiwald-Korth (Toro Verlag) gewinnen.<br />

Das September-Lösungswort beim Kreuzworträtsel lautete: Tiergarten.<br />

Die Sudoku-Zahlenreihe war: 294 871 536.<br />

6<br />

1<br />

9<br />

5<br />

2<br />

1<br />

4<br />

7<br />

8<br />

9<br />

4<br />

7<br />

AR1115-0618_09<br />

10<br />

Füllen Sie das Gitter so<br />

aus, dass die Zahlen von<br />

1 bis 9 nur je einmal in<br />

jeder Reihe, in jeder<br />

Spalte und in jedem<br />

Neun-Kästchen-Block<br />

vorkommen.<br />

Als Lösung schicken<br />

Sie uns bitte die farbig<br />

gerahmte, unterste<br />

Zahlenreihe.<br />

2<br />

5<br />

Impressum<br />

Redaktion und Verlag<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH<br />

Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg<br />

Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50<br />

Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01<br />

E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de<br />

Herausgeber<br />

Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg<br />

Externer Beirat<br />

Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW-Hamburg),<br />

Mathias Bach (Kaufmann), Dr. Marius Hoßbach (Rechtsanwalt),<br />

Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),<br />

Thomas Magold (BMW-Niederlassungsleiter i.R.),<br />

Beate Behn (Lawaetz-Service GmbH), Karin Schmalriede (Lawaetz-Stiftung),<br />

Dr. Bernd-Georg Spies (Russell Reynolds),<br />

Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)<br />

Geschäftsführung Dr. Jens Ade<br />

Redaktion Birgit Müller (bim; Chefredakteurin, v.i.S.d.P.),<br />

Annette Woywode (abi; Stellv., CvD), Simone Deckner (sim),<br />

Jonas Füllner (jof), Ulrich Jonas (ujo), Frank Keil (fk),<br />

Benjamin Laufer (bela), Misha Leuschen (leu),<br />

Annabel Trautwein (atw)<br />

Korrektorat Uta Sternsdorff und Kerstin Weber<br />

Redaktionsassistenz Sonja Conrad, Cedric Horbach<br />

Online-Redaktion Simone Deckner, Jonas Füllner, Benjamin Laufer<br />

Artdirektion grafikdeerns.de<br />

Öffentlichkeitsarbeit Sybille Arendt, Friederike Steiffert<br />

Anzeigenleitung Sybille Arendt<br />

Anzeigenvertretung Caroline Lange,<br />

Wahring & Company, Tel. 040 284 09 418, c.lange@wahring.de<br />

Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 23 vom 1. Januar <strong>2018</strong><br />

Vertrieb Christian Hagen (Leitung), Marcus Chomse,<br />

Sigi Pachan, Jürgen Jobsen, Meike Lehmann, Sergej Machov,<br />

Frank Nawatzki, Elena Pacuraru, Reiner Rümke, Cristina Stanculescu,<br />

Marcel Stein, Cornelia Tanase, Silvia Zahn<br />

Rechnungswesen/Systemadministration Frank Belchhaus<br />

Spendenmarketing Gabriele Koch<br />

Spendenverwaltung/Rechnungswesen Susanne Wehde<br />

Sozialarbeit Stephan Karrenbauer (Leitung), Isabel Kohler<br />

Das Stadtrundgang-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />

Chris Schlapp, Harald Buchinger<br />

Das BrotRetter-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />

Stefan Calin, Ionel Lupu, Bianca Raducan<br />

Das Team von Spende Dein Pfand am Airport Hamburg<br />

Stephan Karrenbauer (Leitung), Uwe Tröger, Jonas Gengnagel,<br />

Klaus Peterstorfer, Herbert Kosecki<br />

Litho PX2@ Medien GmbH & Co. KG<br />

Produktion Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />

Druck A. Beig Druckerei und Verlag,<br />

Damm 9–15, 25421 Pinneberg<br />

Umschlag-Druck Neef+Stumme premium printing GmbH & Co. KG<br />

Verarbeitung Delle und Söhne, Buchbinderei<br />

und Papierverarbeitungsgesellschaft mbH<br />

Spendenkonto Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

IBAN: DE56 2005 0550 1280 1678 73<br />

BIC: HASPDEHHXXX<br />

Die Hinz&<strong>Kunzt</strong> gGmbH mit Sitz in Hamburg ist durch den aktuellen<br />

Freistellungsbescheid des Finanzamts Hamburg-Nord, Steuernummer<br />

17/414/00797, vom 15.11.2013 nach §5 Abs.1 Nr. 9<br />

des Körperschaftssteuergesetzes von der Körperschaftssteuer und nach<br />

§3 Nr. 6 des Gewerbesteuergesetzes von der Gewerbesteuer befreit.<br />

Geldspenden sind steuerlich nach §10 EStG abzugsfähig. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist als<br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH im Handelsregister<br />

beim Amtsgericht Hamburg HRB 59669 eingetragen. Wir bestätigen,<br />

dass wir Spenden nur für die Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong> einsetzen.<br />

Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte weitergegeben.<br />

Beachten Sie unsere Datenschutzerklärung, abrufbar auf www.hinzundkunzt.de.<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist ein unabhängiges soziales Projekt, das obdachlosen und<br />

ehemals obdachlosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe bietet.<br />

Das Magazin wird von Journalisten geschrieben, Wohnungslose und<br />

ehemals Wohnungslose verkaufen es auf der Straße. Sozialarbeiter<br />

unterstützen die Verkäufer.<br />

Das Projekt versteht sich als Lobby für Arme.<br />

Gesellschafter<br />

Durchschnittliche monatliche<br />

Druckauflage 3. Quartal <strong>2018</strong>:<br />

61.666 Exemplare<br />

57


Momentaufnahme<br />

Zwischen den Welten<br />

Alexandru, 23, verkauft Hinz&<strong>Kunzt</strong> vor dem Rewe-Markt<br />

in der Dorotheenstraße.<br />

TEXT: ULRICH JONAS; ÜBERSETZUNG: ANA-MARIA ILISIU<br />

FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Hat das geschafft,<br />

wovon viele Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />

Verkäufer träumen: einen<br />

Job auf dem ersten<br />

Arbeitsmarkt zu finden.<br />

Alexandrus Glück ist offensichtlich:<br />

Stolz betritt der 23-Jährige den Vertriebsraum<br />

von Hinz&<strong>Kunzt</strong> – in der<br />

orange leuchtenden Arbeitskleidung<br />

der Stadtreinigung. „Dieser Job ist perfekt!“,<br />

sagt der Rumäne. „Ich bekomme<br />

einen Plan, und dann erledige ich meine<br />

Aufgaben, ohne dass mir ständig jemand<br />

sagt, wie ich was zu tun habe.“<br />

Die Arbeit hat Alexandru so gefunden,<br />

wie er das Straßenmagazin verkauft:<br />

mit seiner Fähigkeit, Menschen<br />

zu gewinnen – auch wenn er Deutsch<br />

nur gebrochen spricht. Und das kam<br />

so: An einem Sonnabend steht der<br />

Hinz&Künztler vor einem Supermarkt<br />

in der Wandsbeker Chaussee. Ein Mann<br />

von der Stadtreinigung kommt vorbei<br />

und leert Mülleimer. Da er wie ein<br />

Landsmann aussieht, fragt Alexandru:<br />

„Hat deine Firma Arbeit für mich?“<br />

Der Mann verspricht nachzufragen.<br />

„Tags darauf saß ich bei einem Kollegen<br />

auf dem Sofa. Und Montagmorgen<br />

im Büro der Stadtreinigung.“<br />

Der Chef ist angetan von Alexandrus<br />

Arbeitsbereitschaft – und gibt ihm<br />

einen Vertrag für sechs Monate. Seitdem<br />

steht Alexandru jeden Morgen um<br />

3.30 Uhr auf und leert Mülleimer. Weil<br />

er noch keine Bleibe gefunden hat,<br />

übernachtet er in einem Achtbettzimmer<br />

im Pik As. Schlafen gerät hier zur<br />

Kunst: „Der Erste kommt um Mitternacht<br />

hereingepoltert, der Zweite um<br />

eins, der Dritte um drei, und dann muss<br />

ich schon wieder aufstehen.“ Ein Zimmer,<br />

eine Wohnung gar: „Das wär’ toll.“<br />

Vier Jahre ist es her, dass Alexandru<br />

nach Hamburg kam. In seiner Heimat,<br />

einem Dorf nordwestlich von Bukarest,<br />

gibt es keine Arbeit. „Und wenn du<br />

doch mal eine findest, dann in der<br />

nächsten Stadt. Da verdienst du 300<br />

Euro im Monat und musst allein für den<br />

Bus schon 70 Euro ausgeben.“<br />

Alexandru ist ein Pendler zwischen den<br />

Welten. In der Heimat warten Frau und<br />

Kind darauf, dass er ihnen eine Zukunft<br />

eröffnet – eine harte Zeit für alle. Kürzlich<br />

musste sein vier Monate alter Sohn<br />

ins Krankenhaus, ein Virus macht ihm<br />

schwer zu schaffen. Dem Vater treten<br />

Tränen in die Augen, weil er weit weg<br />

ist: „Ich bin ein bisschen verzweifelt.“<br />

Doch in Hamburg Arbeit, Auskommen<br />

und eine Bleibe für alle zu finden<br />

ist schwer. Anfangs schlägt Alexandru<br />

sich mit Flaschensammeln, Jobs auf<br />

dem Bau und Betteln durch, schläft in<br />

leer stehenden Häusern und bei Bekannten.<br />

Eine Zeitlang lebt auch seine<br />

Frau in Hamburg, sucht erfolglos Jobs.<br />

Da ergattert Alexandru Arbeit am Flughafen:<br />

Für einen Subunternehmer reinigt<br />

er Flugzeugkabinen. Doch der Job<br />

ist eine Katastrophe: „Wir wurden mit<br />

20 anderen in einer Wohnung untergebracht,<br />

immer drei bis vier in einem<br />

Zimmer. Für das Bett musste ich 300<br />

Euro zahlen, für das meiner Frau noch<br />

mal 300. Außerdem Geld für die Fahrt<br />

zur Arbeit. Am Ende blieben mir 300<br />

Euro Lohn für einen Monat Arbeit.“<br />

Bald wird Alexandrus Zeit als<br />

Hinz&Künztler enden. Er weiß, dass er<br />

jederzeit zurückkommen kann, falls er<br />

seinen Job verlieren sollte. Etwas traurig<br />

ist er dennoch, denn: „Ich mag den<br />

Kontakt mit meinen Kunden sehr!“ •<br />

Alexandru und alle anderen Hinz&Künztler<br />

erkennt man am Verkaufsausweis.<br />

Niemand kennt<br />

Hamburgs Straßen besser.<br />

Verkäuferausweis<br />

6366<br />

A. Beig<br />

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Design: Jan-Hendrik Holst.<br />

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Preis: 13,90 Euro<br />

5. Jubiläumsbonbons von Lutschebuller<br />

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6. Haftnotizen<br />

Haftnotizpapier mit Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Logo fürs<br />

Büro, Zuhause und alle Lebenslagen, in denen<br />

Gedanken schnell festgehalten werden müssen.<br />

5 Blocks à 50 Blatt, 7 x 7 cm.<br />

Preis: 6,50 Euro<br />

7. „Ein mittelschönes Leben“<br />

Eine Geschichte für Kinder<br />

über Obdachlosigkeit von Kirsten Boie,<br />

illustriert von Jutta Bauer.<br />

Preis: 4,80 Euro<br />

4.<br />

6.<br />

7.<br />

5.


<strong>Oktober</strong> <strong>2018</strong><br />

Altersexperten und<br />

Regisseure<br />

und andere Menschen, die Hamburger bewegen<br />

Di 09.10. | 19.00 Uhr | Gespräch<br />

Von einer sorgenden Gesellschaft Kann ein soziales Miteinander die Pflegesituation ver bessern?<br />

Der Altersexperte Thomas Klie und Alexander Künzel von der Bremer Heimstiftung<br />

diskutieren, welche Rolle Zivilgesellschaft, Familie und Staat übernehmen können, um ein<br />

starkes Pflegenetzwerk aufzubauen.<br />

Do 11.10. | 19.00 Uhr | Diskussion<br />

Wird Wohnen unbezahlbar? Wer kann in Hamburg künftig noch leben, wenn die Mieten<br />

rasant steigen? Ob Wohnen in unserer Stadt zum Luxus wird, diskutieren Hamburgs Oberbaudirektor<br />

Franz-Josef Höing, Petra Barz vom Netzwerk »Recht auf Stadt« und Axel-H. Wittlinger,<br />

Geschäftsführer der Stöben Wittlinger GmbH. In Kooperation mit NDR 90,3.<br />

Mo 15.10. | 19.00 Uhr | Gespräch<br />

Zum Dort verflucht Mit 23 Jahren floh der Schriftsteller Abbas Khider aus dem Irak und kam<br />

im Jahr 2000 nach Deutschland. Als Schirmherr der Tage des Exils <strong>2018</strong> eröffnet er das mehrwöchige<br />

Veranstaltungsprogramm. Im Gespräch mit Daniel Kaiser, NDR 90,3, gibt er Einblicke<br />

in den Umgang mit der eigenen Vergangenheit. In Kooperation mit der Weichmann-Stiftung.<br />

Mo 22.10. | 19.00 Uhr | Gespräch<br />

Revolte im Theater – Was von ’68 bleibt Politische Themen und neue Arbeitsformen: Vor 50<br />

Jahren war das Theater in Aufruhr. Was ist davon heute noch zu spüren? Darüber sprechen die<br />

Schauspielerin Elisabeth Schwarz, die Theaterforscherin Barbara Müller-Wesemann und die<br />

Regisseure Niels-Peter Rudolph und Gernot Grünewald.<br />

Stand: September <strong>2018</strong>, Änderungen vorbehalten. groothuis.de Fotos: © Rainer Geue, dock europe e. V., Peter-Andreas Hassiepen, Krafft Angerer<br />

Eintritt frei, Anmeldung erforderlich: www.koerberforum.de<br />

KörberForum | Kehrwieder 12 | 20457 Hamburg | U Baumwall<br />

Telefon 040 · 80 81 92 - 0 | E-Mail info@koerberforum.de<br />

Veranstalter ist die gemeinnützige Körber-Stiftung.

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