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Das Hamburger<br />
Straßenmagazin<br />
Seit 1993<br />
N O <strong>308</strong><br />
Okt.18<br />
2,20 Euro<br />
Davon 1,10 Euro<br />
für unsere Verkäufer<br />
Ottos Welt:<br />
„Da hilft<br />
nur Humor!“
25 Jahre Hinz&<strong>Kunzt</strong> – 25 Tage unser Restaurant auf Zeit:<br />
Ein kulinarisches Dankeschön an die Hamburger.<br />
Mit 25 Drei-Gänge-Menüs von Sterneköchen, jungen Wilden<br />
und anderen Küchengöern.<br />
Unser Kochbuch erscheint am 6. November<br />
und kostet 25 Euro plus Versandkosten.<br />
Sie können es online bestellen unter<br />
www.hinzundkunzt.de/shop/<br />
oder im Buchladen (ISBN 978-3-00-060526-0).<br />
Vom Erlös bekommt jeder Hinz&Künztler<br />
zum Jubiläum 25 Monatsmagazine geschenkt.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Inhalt<br />
Unsere Kollegin Simone Deckner war dabei, als<br />
Obdachlose auf dem Fischmarkt geräumt wurden.<br />
Einer von ihnen ist Wolfgang. Seine Situation ist ihr<br />
ganz schön nahegegangen. Und sie war ziemlich<br />
schockiert darüber, dass die Stadtreinigung Zelte<br />
und Habseligkeiten einfach so weggeschmissen hat.<br />
Deshalb hat sie auch einen Fachanwalt für Verwaltungsrecht<br />
interviewt. Von dem wollte sie wissen, ob<br />
dieses Vorgehen überhaupt rechtens ist (ab Seite 6).<br />
Wir bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> finden eigentlich auch,<br />
dass die Stadt kein Campingplatz sein sollte. Eigentlich.<br />
Denn solange Obdachlose keine Unterkünfte<br />
Wolfgang hat richtig Pech:<br />
Monatelang hat er auf dem<br />
Fischmarkt Platte gemacht,<br />
fühlte sich dort zu Hause.<br />
Jetzt wurden er und andere<br />
Obdachlose geräumt. Redakteurin<br />
Simone Deckner<br />
war dabei. Das Selfie ist vier<br />
Wochen später entstanden,<br />
als sie wissen wollte, wie es<br />
ihm jetzt geht (Seite 6).<br />
wolfgang hat Pech, Alexandru Glück<br />
haben, so lange werden sie draußen campieren müssen.<br />
Und solange es dafür keine Lösung gibt, werden<br />
wir uns auch gegen Räumungen aussprechen.<br />
Jetzt noch eine gute Nachricht: Alexandru ist<br />
Hinz&Künztler und schläft im Pik As in einem<br />
Achtbettzimmer. Jetzt hat der Rumäne einen Job bei<br />
der Stadtreinigung bekommen. Wir drücken ihm<br />
die Daumen, dass er bald ein besseres Zimmer<br />
kriegt oder sogar eine Wohnung (Seite 58).<br />
Ihre Birgit Müller Chefredakteurin<br />
(Schreiben Sie uns doch an info@hinzundkunzt.de)<br />
TITELBILD: MIKE KRAUS; SELFIE: SIMONE DECKNER<br />
Inhalt<br />
Stadtgespräch<br />
04 Gut&Schön<br />
06 Zelte am Fischmarkt:<br />
Rekonstruktion einer Räumung<br />
10 Middlefinger Streetwear: Straßenkids<br />
machen jetzt Mode<br />
14 Zahlen des Monats: Pflegenotstand<br />
16 Altersvorsorge? Aufgepasst!<br />
20 Otto ist reif fürs Museum<br />
26 Saga-Vorstand im Gespräch<br />
28 25 Jahre Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Die Gustav<br />
Peter Wöhler Band spielt für uns<br />
Parallelwelten:<br />
Krimiautor Boris<br />
Meyns aktueller<br />
Blick auf die<br />
Weimarer Republik<br />
(S. 48).<br />
Mark Ojulu hat Angst: Internationale Großinvestoren<br />
bedrohen seine Lebensgrundlage (S. 30).<br />
Auslandsreportage<br />
30 Äthiopien: Der Kampf der Kleinbauern<br />
Lebenslinien<br />
36 Genesungsbegleiter Reiner Ott: Hilfe<br />
auf Augenhöhe für psychisch Kranke<br />
Freunde<br />
40 Verkäuferausflug: Hafenrundfahrt<br />
und Grill-Event<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
46 Adriano Trarbach: Von der Favela<br />
auf die Bühne der Elphi<br />
48 Krimiautor Boris Meyn im Gespräch<br />
52 Tipps für den <strong>Oktober</strong><br />
56 Comic mit Dodo Dronte<br />
58 Momentaufnahme<br />
Rubriken<br />
05, 39 Kolumne<br />
17, 18, 29 Meldungen<br />
44 Leserbriefe<br />
57 Rätsel, Impressum<br />
Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk
Demo gegen Rechts<br />
Für die Vielfalt!<br />
„Keinen Meter den Faschisten!“ So einfach<br />
drückt es Stefan Gundelach (links) aus. Damit<br />
spricht er nicht nur Christiane Vagedes-Baus<br />
und Stefan Tegtmeyer aus dem Herzen, sondern<br />
weiteren rund 10.000 Hamburgern, die<br />
am 5. September auf die Straße gegangen<br />
waren. Grund: Die „Merkel-muss-weg“-<br />
Kundgebung, zu der laut Verfassungsschutz<br />
Rechtsextremisten aufrufen. Auch ein AfD-<br />
Politiker aus Mecklenburg-Vorpommern und<br />
ein Pegida-Vertreter hielten Reden – denen<br />
aber nur 178 Menschen lauschten. Immerhin:<br />
Für <strong>Oktober</strong> haben die Rechten ihre<br />
Kundgebung abgesagt. ABI<br />
•
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Gut&Schön<br />
Rathauspassage<br />
Neuer Glanz<br />
im Untergrund<br />
Diana Mack vom Leitungsteam<br />
der Rathauspassage.<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE (S.4) , JAN LINNEMANN (OBEN), DUCKDALBEN (UNTEN LINKS),<br />
STUDIO MORISON/IVAN MORISON (UNTEN RECHTS), ANNETTE WOYWODE (KOLUMNE)<br />
Deutscher Nachbarschaftspreis <strong>2018</strong><br />
Ausgezeichnet: 48h Wilhelmsburg<br />
Musik und Geschichten bringen Menschen<br />
zusammen – über alle Grenzen hinweg.<br />
Beim jährlichen Festival „48h Wilhelmsburg“<br />
klappt das seit 2010. Zuletzt kamen 20.000 Besucher,<br />
um mehr als 1000 Künstler live zu erleben.<br />
Für ihr nachbarschaftliches Engagement<br />
erhielt die Initiative nun den mit 2000 Euro<br />
dotierten Landespreis für Hamburg. LEU<br />
•<br />
Die Million ist geschafft<br />
Seit 1986 hat das Hamburger Seemannsheim<br />
„Duckdalben“ für Seeleute<br />
aus aller Welt geöffnet – und<br />
Chandrakant Rakshe aus Indien ist<br />
ihr millionster Gast. Der 27-Jährige<br />
fährt seit drei Jahren zur See und<br />
war ziemlich überrascht über die Begrüßung<br />
mit einer Magnumflasche<br />
Bier und einer Topfpflanze (Schnittblumen<br />
an Bord sollen Unglück<br />
bringen). 2017 kamen Gäste aus 102<br />
Ländern in die Seemannsmission,<br />
die 2011 als bester Seemannsclub<br />
der Welt ausgezeichnet wurde. LEU<br />
•<br />
Happy Birthday, BISS!<br />
Am 17. <strong>Oktober</strong> 1993 erschien das<br />
erste Straßenmagazin Deutschlands:<br />
die „BISS – Bürger in sozialen<br />
Schwierigkeiten“. Heute verkaufen<br />
circa 100 Menschen das Münchener<br />
Magazin, ein großer Teil ist fest angestellt.<br />
BISS feiert den 25-jährigen<br />
Geburtstag mit einem bunten Jubiläumsprogramm<br />
auf dem Wittelsbacher<br />
Platz. Die dafür eigens von<br />
Künstlern des Studios Morison geschaffene<br />
begehbare Skulptur wird<br />
am 13.10. wieder abgebaut. ABI<br />
•<br />
Seit knapp 20 Jahren residiert<br />
die von Ex-Landespastor<br />
Stephan Reimers gegründete<br />
Rathauspassage im Tunnel<br />
zwischen Rathausmarkt und<br />
Jungfernstieg. Jetzt werden die<br />
Räume des Beschäftigungsprojektes<br />
mit Antiquariat,<br />
Fair-Trade-Laden, Kirchen-<br />
Infoschalter, Bistro, Veranstaltungsraum<br />
und öffentlichen<br />
Toiletten nach und nach umgebaut<br />
und modernisiert.<br />
4,4 Millionen Euro sind<br />
dafür veranschlagt. So kann<br />
das Bistro sogar Fenster und<br />
Türen zu den Alsterarkaden<br />
hin erhalten. „Wir werden viel<br />
sichtbarer!“, so Betriebsleiterin<br />
Diana Mack. „Das Soziale in<br />
Hamburg erfährt dadurch eine<br />
große Aufwertung.“ Auch für<br />
die 20 vom Jobcenter geförderten<br />
Mitarbeiter sei das eine<br />
Anerkennung. Etwa ein Drittel<br />
von ihnen ist schwerbehindert,<br />
viele haben gesundheitliche<br />
Probleme. Ihr Alter liegt im<br />
Schnitt bei 55 Jahren. Im<br />
„Training on the Job“ sollen<br />
sie fit gemacht werden für den<br />
ersten Arbeitsmarkt.<br />
Daran wird auch der Umbau<br />
nichts ändern. Auch nicht<br />
am Motto der Passage: fair, sozial,<br />
nachhaltig und gemeinwohlorientiert.<br />
Fehlt noch das<br />
Geld, das die Passagen-Gesellschaft<br />
zum Umbau beisteuern<br />
muss: 1,8 Millionen Euro, die<br />
über Spenden eingeworben<br />
werden sollen. Den Rest übernimmt<br />
die Stadt. ABI<br />
•<br />
Infos: www.rathauspassage.de<br />
5
Wolfgang (63) trauert seiner<br />
Platte am Fischmarkt hinterher.<br />
Sein neuer Schlafplatz ist<br />
30 Kilometer entfernt und<br />
auch nicht sicher.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Wolfgang wohnt hier<br />
nicht mehr<br />
Fünfeinhalb Monate schlief der 63-jährige Wolfgang in einem Zelt am<br />
Fischmarkt. Dann vertrieb der Bezirk Altona den Obdachlosen von seiner Platte.<br />
Rekonstruktion einer Räumung – und was danach geschah.<br />
TEXT: SIMONE DECKNER<br />
FOTOS: MIGUEL FERRAZ (S. 6), JOTO (S. 7), SIMONE DECKNER<br />
N<br />
ach dem Aufstehen konnte er immer auf die<br />
Elbe gucken. Den Möwen hinterher. In seinem<br />
Rücken rauschten die Autos vorbei. Lauter wurde<br />
es auf dem langgestreckten Platz am Fischmarkt<br />
nur am Wochenende. „Ab und zu haben die Leute auf<br />
der Mauer Party gemacht“, sagt Wolfgang. Gestört hat ihn<br />
das nicht, „am Hafen ist es nun mal laut“.<br />
Fünfeinhalb Monate hat der 63-Jährige am Fischmarkt<br />
gelebt. Gemeinsam mit anderen Obdachlosen: vier, fünf Zelte<br />
insgesamt. Die geduldet wurden. Es hat nie Stress gegeben,<br />
sagt Wolfgang. Ein guter Platz. „Alles war nah: die Ecken, in<br />
denen ich Pfand gesammelt habe, die Essens angebote, die<br />
Tageseinrichtungen. Es war schön hier.“<br />
War. Denn jetzt ist alles anders. Erst kamen immer mehr<br />
Zelte dazu – und jetzt steht kein einziges mehr auf dem<br />
Fischmarkt. Der Bezirk Altona hat die Platte Ende August<br />
geräumt. Gründlich. Vorher hatte man Wolfgang und den<br />
anderen eine Frist zum Aufräumen gesetzt. Dauer: fünf Tage.<br />
Wolfgang und seine beiden Kumpel Thomas und Helmut<br />
haben schon einen Tag vorher ihre Sachen gepackt. Sie wollten<br />
sich nicht wie Müll wegfegen lassen.<br />
Es ist ein Dienstagmorgen, Punkt 10 Uhr, als Mitarbeiter<br />
der Stadtreinigung beginnen, alles wegzuschmeißen: Matratzen,<br />
Zelte, Decken, Plastiktüten, Ruck säcke, Kleidung. Als einer<br />
der Männer in Orange zögert, weil er im Gebüsch einen<br />
Einkaufswagen voll Habseligkeiten sieht, sorgsam abgedeckt,<br />
herrscht ihn ein Mitarbeiter vom Bezirk an: „Weg, alles weg!“<br />
Die ganze Aktion dauert kaum 15 Minuten.<br />
Man gehe „sehr sensibel“ bei solchen Räumungs aktionen<br />
vor, sagt Stadtreinigungssprecher Reinhard Fiedler, als beauftragtes<br />
Entsorgungsunternehmen habe man „überhaupt kein<br />
Interesse an Konflikten“. Die Mopo wird später berichten,<br />
dass der Rucksack eines Obdachlosen mit persönlichen<br />
Papieren auch im Müll landete und erst auf seinen Protest<br />
hin wieder herausgefischt wurde.<br />
Man habe räumen müssen, heißt es aus dem zuständigen<br />
Bezirksamt Altona, aus „hygienischen Gründen“. Die Fläche<br />
und die Böschung seien als Klo benutzt worden. Anwohner<br />
hätten sich beschwert. Es sei gezündelt worden. Das ist die<br />
Kurzfassung. Wer nachfragt, dem kann Bezirksamtssprecher<br />
Martin Roehl gleich vier Gesetze vorlegen, gegen die die<br />
Obdachlosen verstoßen hätten – man kann sich eins aussuchen:<br />
das Hamburger Wegegesetz, das Gesetz zum Schutz<br />
der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, das Kreislaufwirt-<br />
Der Grund für die radikale Räumung laut Bezirk: Beschwerden über<br />
die hygienischen Verhältnisse am Fischmarkt.<br />
7
Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>308</strong>/OKTOBER <strong>2018</strong><br />
„Da ist nur Platz für<br />
Libellen – nicht für uns.“<br />
WOLFGANG<br />
schaftsgesetz sowie das Ordnungswidrigkeitengesetz (siehe<br />
Interview mit Rechtsanwalt Martin Bill auf Seite 9).<br />
Was die plötzliche Räumungsaktion wohl tatsächlich auslöste:<br />
Aus den wenigen Zelten waren Anfang August plötzlich<br />
insgesamt 18 geworden. „Da kamen immer mehr Leute“,<br />
bestätigt Wolfgang, „wir haben schon geahnt, dass das nicht<br />
lange gut geht.“ Junkies seien auch darunter gewesen. „Aber<br />
in die Böschung gemacht haben auch Touristen und die<br />
Camper von nebenan“, sagt Wolfgang.<br />
Laut Aussage einiger Wohnmobilisten sind allein die<br />
Obdachlosen schuld. Der Platz sei „eine Schande für die<br />
Stadt. Dafür noch Geld zu nehmen ist nicht mehr nachvollziehbar,“<br />
poltert einer in einem Bewertungsportal und will<br />
„mindestens 50 Zelte“ gesehen haben. Das Thema ist erledigt.<br />
Bei Redaktionsschluss ist der Platz nach wie vor leer.<br />
Nachdem Wolfgang dort weg musste, ist er erst einmal<br />
ziellos mit seinem alten Hercules-Herrenrad herumgekurvt.<br />
„Wir wussten ja, wir müssen weiterziehen. Nur wohin?“ Die<br />
Frage stellt er sich seit vergangenem Winter ständig. Damals<br />
wurde er das erste Mal in seinem Leben obdachlos. „Ich<br />
weiß, dass ich eine Menge Fehler gemacht habe“, sagt der<br />
63-Jährige nachdenklich. Nach der Räumung vom Fischmarkt<br />
zog es ihn in Richtung Altes Land. Dabei wollte er,<br />
der im niedersächsischen Einbeck geboren ist, doch immer<br />
weg aus dem Kleinstadtmief. Hinter Finkenwerder hat er<br />
vorerst einen neuen Platz gefunden. Ruhig ist es da, aber<br />
Wolfgang muss jetzt täglich 30 Kilometer in die Stadt fahren.<br />
Für die Fähre reichte das Geld nur anfangs. Mit Pfandsammeln<br />
sei in der Ecke eh nichts zu machen, sagt er.<br />
Er war gerade mal drei Wochen auf seiner neuen Platte,<br />
als ein Bauer sich vors Zelt stellte. „Er hat gesagt, wir können<br />
da nicht bleiben. Da ist nur Platz für Libellen, nicht für uns.“<br />
Naturschutzgebiet. Er werde sich aber irgendwie durchwurschteln,<br />
sagt Wolfgang. Er braucht ja nicht viel. Eigentlich<br />
nur einen Ort, an dem er bleiben kann. Bloß ein kleines,<br />
sicheres Fleckchen. „Eine Wohnung zu finden“, sagt Wolfgang,<br />
„ist ja schon für normale Menschen in Hamburg verdammt<br />
schwer.“ •<br />
Kontakt: simone.deckner@hinzundkunzt.de<br />
Beauftragt vom Bezirk Altona schmeißen Mitarbeiter der Stadtreinigung Zelte und weitere Habseligkeiten<br />
der Obdachlosen am Fischmarkt weg. Ist das wirklich alles Müll, der von seinen Besitzern „aufgegeben“ wurde?
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Veranstaltungen<br />
im <strong>Oktober</strong><br />
und November<br />
Donnerstag, 18.10.<strong>2018</strong>, 19 Uhr<br />
Stadtumbau jetzt!<br />
Informations- und Diskussionsveranstaltung<br />
der Initiative „Altstadt<br />
für Alle!“<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Auf welcher rechtlichen<br />
Grundlage entsorgt die Stadt das Eigentum<br />
von Obdachlosen?<br />
MARTIN BILL: Da sind vor allem das Wegegesetz<br />
und das Kreislaufwirtschaftsgesetz<br />
zu nennen: Ein Zelt aufzubauen<br />
und darin zu übernachten, wird als<br />
„unerlaubte Sondernutzung“ im Wegegesetz<br />
gewertet – denn das ist genehmigungspflichtig.<br />
Im Kreislaufwirtschaftsgesetz<br />
wird Besitz, der „offensichtlich<br />
aufgegeben“ wurde, als Müll deklariert<br />
und entsorgt.<br />
Viele Leser haben uns nach der Räumung gefragt:<br />
Ist das Wegschmeißen nicht Diebstahl?<br />
Nein, wenn man der Argumentation<br />
folgt, dass es sich um eine „unerlaubte<br />
Sondernutzung“ oder um Müll handelt.<br />
Dabei muss die Stadt sich immer<br />
fragen: Welche Reaktion ist verhältnismäßig?<br />
Man muss gewährleisten, dass<br />
die Leute ihre Sachen mitnehmen können,<br />
bevor sie entsorgt werden.<br />
9<br />
Martin Bill ist<br />
Fachanwalt für<br />
Verwaltungsrecht.<br />
„Es gibt eine<br />
Durchsuchungspflicht“<br />
Rechtsanwalt Martin Bill zur Frage, ob der Bezirk<br />
das Hab und Gut von Obdachlosen wegschmeißen darf.<br />
INTERVIEW: SIMONE DECKNER<br />
FOTO: GUNNAR GARMS<br />
Und was ist mit einem Einkaufswagen voller<br />
Dinge, die mit einer Plane abgedeckt sind?<br />
Ist das auch Müll?<br />
Es kommt immer auf den Gesamteindruck<br />
an. Eine illegale Müllhalde<br />
würde ich vermutlich nicht mit einer<br />
Plane sichern. Auch wenn jemand seine<br />
Sachen mit einem Schloss versieht,<br />
signalisiert er damit, dass er sie nicht<br />
auf geben will und es kein Schrott ist.<br />
Gesetzt den Fall, der Rucksack eines<br />
Obdachlosen mitsamt Personalausweis<br />
wird weggeschmissen (siehe S. 7). Könnte<br />
der Betroffene gegen die Stadt klagen?<br />
Es gibt eine Durchsuchungspflicht.<br />
Wenn ich sehe, dass sich Taschen oder<br />
Rucksäcke in einem Zelt befinden, kann<br />
ich die nicht einfach wegschmeißen,<br />
sondern muss sie vorher durchsuchen.<br />
Ein Personalausweis hat ja einen sehr<br />
viel höheren Wert als ein Zelt. Aber es<br />
kommt fast nie vor, dass sich Obdachlose<br />
wehren und auf ihr Recht pochen. •<br />
Foto: Karin Desmarowitz<br />
Donnerstag, 25.10.<strong>2018</strong>, 18 Uhr<br />
Tafelsilber und Betongold –<br />
Ausverkauf der europäischen Stadt<br />
Vorträge und Diskussion<br />
In Kooperation mit dem Denkmalrat<br />
Hamburg und dem Denkmalverein<br />
Hamburg<br />
Dienstag, 30.10.<strong>2018</strong>, 19 Uhr<br />
Zur historischen Bedeutung der<br />
Reformation<br />
Vortrag von Prof. Dr. Volker<br />
Gerhardt, anschließend Podiumsgespräch<br />
Donnerstag, 01.11.<strong>2018</strong>, 18 Uhr<br />
Verleihung des 10. Holger-Cassens-<br />
Preises<br />
In Kooperation mit der Mara und<br />
Holger Cassens-Stiftung<br />
Montag, 05.11.<strong>2018</strong>, 19 Uhr<br />
<br />
Eine Veranstaltung des Arbeitskreises<br />
Denkmalschutz der Patriotischen<br />
Gesellschaft<br />
Eintritt frei zu allen Veranstaltungen,<br />
Anmeldung erbeten:<br />
www.patriotische-gesellschaft.de<br />
Patriotische Gesellschaft von 1765<br />
Trostbrücke 4-6, 20457 Hamburg
Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>308</strong>/OKTOBER <strong>2018</strong><br />
Machen statt labern:<br />
Mit diesem Motto<br />
wollen Linchen und<br />
Marcl durchstarten.<br />
10
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Früher machten<br />
sie Platte.<br />
Heute machen<br />
sie Druck.<br />
Schon sehr jung landeten Linchen und Marcl auf der Straße.<br />
Ihre Chancen auf ein besseres Leben standen schlecht.<br />
Fanden andere. Sie selbst glaubten an ihren Traum<br />
vom eigenen Modelabel. Noch immer arbeiten sie hart für<br />
den Erfolg – und zeigen allen Zweiflern den Mittelfinger.<br />
TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
F<br />
ür Linchen (20) und Marcl<br />
(27) ist jedes T-Shirt ein<br />
kleiner Triumph. Es geht voran<br />
in der Siebdruckwerkstatt<br />
ihres Labels „Middlefinger Streetwear“.<br />
Auch wenn früher kaum jemand<br />
an sie glaubte. Zwei Kids von<br />
der Straße mit einer fixen Idee vom eigenen<br />
Modelabel, aber null Fachkenntnis<br />
– manche hörten gar nicht erst hin,<br />
andere lachten nur. Für all diese Leute<br />
haben Linchen und Marcl nur eins<br />
übrig: den Mittelfinger.<br />
Für beide ging es lange Zeit nur<br />
bergab. Marcl arbeitete Vollzeit im Fassund<br />
Containergroßhandel und jobbte<br />
im Imbiss, um die Wohnung für seine<br />
kleine Familie einzurichten. Dann ging<br />
die Beziehung zu Bruch. Seine Ex-<br />
Freundin und deren Kind zogen aus,<br />
plötzlich war er allein. „Wohnung zu<br />
teuer, neue Küche noch nicht abbezahlt.<br />
Ich hab Angst vorm Briefkasten gekriegt“,<br />
sagt Marcl knapp. Er verschuldete<br />
sich, rutschte immer tiefer in die<br />
Krise. Sein Chef habe ihn gehalten, bis<br />
es nicht mehr ging, sagt Marcl. „Da hatten<br />
sie mich gerade übernommen, und<br />
ein halbes Jahr später war alles kaputt.“<br />
Als auch der Nebenjob weg war, stand<br />
er auf der Straße – mit 24 Jahren.<br />
Für Linchen kam die Not schleichend.<br />
„Anfangs habe ich mich auf der<br />
Straße ziemlich wohlgefühlt“, sagt sie.<br />
Schon als Jugendliche blieb sie oft über<br />
Nacht weg und traf Freunde, die Platte<br />
machten. Ihre Mutter nahm es hin,<br />
doch als Linchen zum Hafengeburtstag<br />
nach Hamburg fuhr und danach nur<br />
noch selten nach Hause kam, gab es<br />
Zoff. „Irgendwann hat sie mich rausgeschmissen“,<br />
sagt Linchen. Also blieb<br />
sie bei ihren Leuten auf der Reeperbahn.<br />
Draußen schlafen kannte sie<br />
schon mit ihren 17 Jahren, doch Platte<br />
Mit Halstüchern haben sie angefangen, heute kreieren Marcl und Linchen<br />
nicht nur eigene T-Shirts, sie übernehmen auch Auftragsarbeiten.<br />
11
Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>308</strong>/OKTOBER <strong>2018</strong><br />
Siebdruck ist<br />
Trumpf: Das<br />
Modelabel<br />
„Middlefinger“<br />
hat seine Linie<br />
gefunden.<br />
„Als ich sie zum ersten<br />
Mal gesehen habe, war<br />
mir klar: Hier passiert<br />
etwas Besonderes.“ MARCL ÜBER LINCHEN<br />
12
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
<br />
<br />
<br />
SchauSpielHaus<br />
machen zu müssen, fühlte sich härter<br />
an. „Ich hatte keinen Zufluchtsort<br />
mehr.“<br />
Dann lernte sie auf der Straße<br />
Marcl kennen. „Als ich sie zum ersten<br />
Mal gesehen habe, war mir sofort klar:<br />
Hier passiert gerade was Besonderes“,<br />
sagt er. Sie freundeten sich an, wurden<br />
ein Paar. Und sie fassten einen Plan:<br />
Weg von der Straße. Aber das war gar<br />
nicht so leicht.<br />
Sie beantragten Hartz IV, besichtigten<br />
Wohnung um Wohnung – mit<br />
immer weniger Hoffnung. „Logischerweise<br />
sind da auch immer Mütter mit<br />
Kindern oder Leute, die Arbeit haben“,<br />
sagt Marcl. „Wir hatten halt den<br />
schlechtesten Status.“ Spätestens als sie<br />
auf dem Bewerbungsbogen „ohne<br />
festen Wohnsitz“ eintragen mussten,<br />
war der Zug abgefahren, meint Linchen.<br />
Nach einem halben Jahr Suchen<br />
klappte es doch: Über eine Bekannte<br />
fanden sie eine kleine Dachgeschosswohnung<br />
in Harburg.<br />
Endlich wieder ein Zufluchtsort,<br />
endlich Ruhe zum Nachdenken: Wie<br />
geht es weiter? Die zündende Idee ließ<br />
nicht lange auf sich warten. Marcl<br />
spricht von „Vision“, wenn er beschreibt,<br />
was ihm damals im neuen<br />
Wohnzimmer alles durch den Kopf<br />
schoss: Ein Modelabel mit coolen<br />
Prints auf sportlichen Klamotten, mit<br />
eigenem Shop, ein unübersehbares<br />
Zeichen an alle da draußen. „Es hat<br />
mich getroffen wie ein Hammerschlag“,<br />
sagt Marcl. „Das war so heftig,<br />
ich musste sofort aufstehen.“ Dann<br />
sprudelte es aus ihm heraus. Und Linchen<br />
wusste: Das ist es.<br />
Ein eigenes Modelabel? „Middlefinger<br />
Streetwear“? Beim Jobcenter<br />
stieß die Frage nach Förderung auf<br />
taube Ohren. „Wir hatten eine Mappe<br />
mit all unseren Ideen, die wollten wir<br />
denen zeigen. Die haben gar nicht<br />
reingeguckt“, erzählt Marcl. Noch<br />
schlimmer waren die Reaktionen der<br />
früheren Weggefährten. „Den Leuten<br />
haben wir natürlich auch von der Idee<br />
erzählt“, sagt er. „Und dann lachen die<br />
einen aus.“<br />
Doch es gab auch andere. Über das<br />
Berufsnetzwerk Xing wurde Linchen<br />
auf die Modedesignerin Sarah Bürger<br />
aufmerksam, die den beiden einen<br />
Platz in der Ateliergemeinschaft<br />
„Formschoen“ in Eilbek verschaffte –<br />
mietfrei gegen Putzdienst. Sie half<br />
ihnen auch, ihre Ideen zu sortieren und<br />
klein anzufangen. „Wir haben erst mal<br />
ein paar Bettlaken versiebt“, sagt<br />
Marcl. „Um die Technik zu lernen.“<br />
So entstand das erste Produkt von<br />
„Middlefinger Streetwear“: Siebgedruckte<br />
Halstücher. Mithilfe eines<br />
Freundes kam der Webshop dazu, das<br />
erste Fotoshooting, die Steuernummer<br />
– und die ersten Kunden.<br />
Heute drucken die beiden nicht<br />
nur T-Shirts, sondern auch Auftragsarbeiten.<br />
Gerade sind 20 Aufnäher fertig<br />
geworden. Das Motiv kommt vom<br />
Kunden, das Sieb dazu stellen Linchen<br />
und Marcl selbst her. Gedruckt wird<br />
bei „Middlefinger Streetwear“ auf fair<br />
gehandelter Biobaumwolle. Dass die<br />
teurer ist als Massenware, nehmen die<br />
beiden in Kauf – auch wenn sie selbst<br />
noch immer regelmäßig zur Tafel müssen,<br />
weil sie mit ihrer Mode bislang<br />
kaum etwas verdienen. Ohne Hartz IV<br />
geht es noch nicht. „Manchmal fühlt es<br />
sich an, als hätten wir noch nichts<br />
geschafft“, sagt Linchen. Die zwei<br />
machen trotzdem weiter. Auch um es<br />
der Welt zu zeigen, wie Marcl sagt:<br />
„Hinschmeißen kann jeder.“ •<br />
Kontakt: annabel.trautwein@hinzundkunzt.de<br />
Linchen und Marcl erreichen Sie unter:<br />
contact@middlefinger-streetwear.com<br />
Mehr Modebilder: www.instagram.com/<br />
middlefingerstreetwear<br />
13
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Zahlen des Monats<br />
Notstand im Krankenhaus<br />
Mehr Pflegekräfte<br />
müssen her!<br />
13<br />
Patienten muss eine deutsche Krankenschwester im Durchschnitt gleichzeitig versorgen.<br />
Damit arbeiten Pflegerinnen hierzulande unter deutlich schlechteren Bedingungen als<br />
anderswo: In US-amerikanischen Krankenhäusern kommen 5,3 Patienten auf eine Fachkraft,<br />
in den Niederlanden 7, in Schweden 7,7 und in der Schweiz 7,9. „Zwischen 1 zu 4 und 1 zu 7<br />
sollte der Personalschlüssel auf Normalstationen liegen“, sagt Michael Simon. Entsprechende<br />
verbindliche Standards sind international verbreitet, so der Wissenschaftler in einer Studie im<br />
Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung – und manchmal lebensrettend: „Sie mindern das Risiko<br />
von Infektionen, Thrombosen und Todesfällen durch zu spät erkannte Komplikationen.“<br />
Nachdem sich Krankenhäuser und Krankenkassen nicht auf Standards einigen konnten,<br />
hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) eine Verordnung erlassen. Sie legt für vier<br />
Bereiche Personalvorgaben fest: Auf Intensivstationen darf eine Pflegekraft tagsüber künftig<br />
höchstens zwei Patienten versorgen, in der Nachtschicht nicht mehr als drei.<br />
In der Unfallchirurgie sind maximal zehn Patienten pro Pfleger zulässig, nachts dürfen es hier<br />
höchstens 20 sein. Auch für Geriatrie und Kardiologie gelten ab Januar Personalschlüssel.<br />
Zudem soll ab 2019 jede zusätzliche Fachkraft voll von den Krankenkassen bezahlt werden.<br />
Ein entsprechender Gesetzentwurf wird derzeit im Bundestag beraten. Ab 2020 will die<br />
Bundesregierung die Krankenhauspflege grundsätzlich neu regeln: Unabhängig von<br />
Fallpauschalen soll jedes Haus ein Budget für Pflege bekommen, das die realen Kosten deckt.<br />
Dem „Hamburger Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus“ gehen die Pläne nicht weit<br />
genug: „Wir müssen die Krankenhäuser als Ganzes betrachten, um das Verschieben von<br />
Personal zu verhindern“, sagt Sprecher Christoph Kranich. Weil unklar sei, wie das<br />
Bundesgesetz am Ende aussieht, fordert das Bündnis eine Hamburger Lösung und hat eine<br />
Volksinitiative gestartet. Forderungen: verbindliche Personalvorgaben für alle Krankenhausbereiche<br />
und bessere Arbeits- und Ausbildungsbedingungen für Pflegerinnen. Nachdem<br />
Gespräche mit SPD und Grünen gescheitert sind, will das Bündnis nun einen Volksentscheid.<br />
Bundesweit 11.000 offene Stellen können nicht besetzt werden, weil Fachkräfte fehlen. Die<br />
Diakonie hält von Personalschlüsseln deshalb wenig: „Sie könnten dazu führen, dass Krankenhäuser<br />
ganze Stationen schließen müssen“, so Dirk Ahrens, Hamburger Diakonie-Chef.<br />
Nach einer Berechnung von Krankenhausexperte Simon fehlen an deutschen Kliniken<br />
mindestens 100.000 Fachkräfte. Derzeit gibt es dort 370.000 Vollzeitstellen für Pflegekräfte.<br />
Etwa die Hälfte der Beschäftigten arbeitet in Teilzeit, gut 80 Prozent sind Frauen. •<br />
TEXT: ULRICH JONAS<br />
ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />
Mehr Infos im Internet unter www.huklink.de/krankenhauspflege<br />
15
Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>308</strong>/OKTOBER <strong>2018</strong><br />
Erich Heeder<br />
im Offenen<br />
Atelier in<br />
Mümmelmannsberg,<br />
das er mit<br />
anderen<br />
Künstlern teilt.<br />
Aufgepasst!<br />
Erich Heeder bekommt nur Grundsicherung. Trotzdem hat er es geschafft, für<br />
Notfälle im Alter vorzusorgen. Doch das Ersparte zu behalten war nicht einfach.<br />
TEXT: ULRICH JONAS<br />
FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
Sorgt für eure Rente vor!“ Erich<br />
Heeder hat diesen Politiker-Satz<br />
ernst genommen. Obwohl der<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufer seit Jahrzehnten<br />
auf Hilfe vom Staat angewiesen ist,<br />
hat der 65-Jährige etwas Geld fürs Alter<br />
beiseitegelegt: erst 22 Euro im Monat,<br />
eine klassische Zusatzversicherung. In<br />
die hat er 25 Jahre lang eingezahlt –<br />
auch wenn das Geld oft knapp war.<br />
Zehn Jahre hat er auch noch geriestert,<br />
mit weiteren 20 Euro monatlich.<br />
Knapp 10.000 Euro hat er auf diese<br />
Weise zusammengespart. Doch als im<br />
Mai die Auszahlung ansteht, stellt sich<br />
die Frage: Was wird aus diesem Geld?<br />
5000 Euro, so steht es im Gesetz,<br />
darf der Hilfeempfänger auf jeden Fall<br />
behalten. Doch was ist mit den restlichen<br />
4916 Euro? Erich Heeder geht<br />
zum Grundsicherungsamt. Dort heißt<br />
es: Das Geld wird als Einkommen gewertet,<br />
die staatliche Hilfe entsprechend<br />
gekürzt. Heeder ist empört: „Ich<br />
habe das angespart, weil ich wusste,<br />
dass meine Rente gering ausfällt. Soll<br />
ich das nun in einem Schwung verbal-<br />
lern?“ Das will der Hinz&Künztler auf<br />
keinen Fall.<br />
Der Zorn des streitbaren Mannes<br />
scheint nachzuhallen. Im Amt setzen<br />
sie sich offenbar zusammen – und laden<br />
Die Rechtslage<br />
Laut Sozialgesetzbuch (SGB) XII muss ein Hilfeempfänger sein gesamtes<br />
Vermögen einsetzen, bevor er staatliche Unterstützung bekommt. Allerdings gilt<br />
ein sogenannter Vermögensschonbetrag in Höhe von 5000 Euro für Sozialhilfeempfänger<br />
(bei Hartz-IV-Empfängern sind es je nach Alter rund 10.000 Euro).<br />
Paragraf 90 Absatz 2 des SGB XII legt die Ausnahmen fest: etwa für monatliche<br />
Auszahlungen aus Altersvorsorgeversicherungen, Geld für „angemessenen<br />
Hausrat“ oder „Familien- und Erbstücke, deren Veräußerung … eine besondere<br />
Härte bedeuten würde“.<br />
Hartz-IV-Empfänger dürfen 100 Euro im Monat anrechnungsfrei hinzuverdienen.<br />
Höheres Einkommen wird mit der staatlichen Hilfe verrechnet.<br />
Grundsicherungsempfänger dürfen von 100 Euro hingegen nur 30 behalten,<br />
in Ausnahmen 50. Mehr Infos im Internet unter www.huklink.de/sozialhilfe und<br />
www.huklink.de/schonvermögen<br />
16
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Erich Heeder zum Gespräch. Er wird<br />
nach seinen Lebensumständen befragt.<br />
Der Stadtteilkünstler erzählt: dass er ein<br />
Auto mieten müsse, um seine Werke zu<br />
einer Ausstellung zu schaffen. Dass er<br />
bald einen neuen Kühlschrank brauche.<br />
Und dass er auch gerne mal in den<br />
Urlaub fahren würde.<br />
Ende Juli dann die frohe Kunde:<br />
Das Amt erhöht die Vermögensfreigrenze<br />
ausnahmsweise um weitere 4222<br />
Euro: „… in Ihrem besonderen Einzelfall<br />
… für die Deckung einmaliger<br />
altersbedingter Bedarfe zur Kontaktpflege“,<br />
wie es umständlich heißt. Was<br />
genau die Behörde wie berechnet hat,<br />
ergibt sich aus dem Bescheid nicht.<br />
„Warum haben<br />
die mir das nicht<br />
gleich gesagt?“<br />
ERICH HEEDER<br />
Erich Heeder ist erleichtert, bekommt<br />
er nun doch nur noch knapp 700 Euro<br />
des ersparten Geldes von der Hilfe<br />
abgezogen.<br />
Fragen bleiben dennoch offen.<br />
„Warum haben die mir nicht gleich<br />
gesagt, dass es Möglichkeiten gibt,<br />
mehr Geld zu behalten?“, fragt sich der<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufer. „Ich kann<br />
doch nicht den ganzen Paragrafen-<br />
Dschungel kennen!“ Die Sozialbehörde<br />
erklärt dazu: „Von Seiten des Gesetzgebers<br />
ist gewollt, dass ein bestimmtes<br />
Vermögen verschont wird, dieser Betrag<br />
ist jedoch auf 5000 Euro begrenzt.“<br />
Eine Erhöhung des Freibetrags<br />
sei nur in Einzelfällen möglich (siehe<br />
Infokasten). Und für Rentner gelte: „Ist<br />
die Altersgrenze überschritten, müssen<br />
Altersvorsorge-Beiträge eingesetzt oder<br />
verbraucht werden.“<br />
Erich Heeder sagt: „Wenn ich nicht<br />
gekämpft hätte, wäre mein Freibetrag<br />
nie erhöht worden.“ Er wünscht sich,<br />
dass andere Betroffene seinem Beispiel<br />
folgen. •<br />
Kontakt: ulrich.jonas@hinzundkunzt.de<br />
Stadtgespräch<br />
Meldungen (1)<br />
Niedriglöhne<br />
Altersarmut wird zur Regel<br />
Mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen,<br />
die bald in Ruhestand gehen,<br />
werden ihren Lebensstandard im<br />
Alter deutlich absenken müssen. Das<br />
hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung<br />
(DIW) auf Basis von<br />
Rentenansprüchen errechnet. Um so<br />
zu leben wie derzeit, werden 58 Prozent<br />
der heute 55- bis 64-Jährigen im<br />
Schnitt 700 Euro monatlich fehlen, so<br />
die Forscher. Selbst wenn die Betroffenen<br />
ihr Privatvermögen einsetzten,<br />
würden gut 40 Prozent ihren Lebensstandard<br />
nicht halten können. Von<br />
Altersarmut bedroht seien vor allem<br />
Menschen, die sich ausschließlich auf<br />
die gesetzliche Rentenversicherung<br />
verlassen, so das DIW. Derweil<br />
verweist die Gewerkschaft IG BAU<br />
auf eine Statistik der Arbeitsagentur,<br />
nach der 98.600 Vollzeitbeschäftigte<br />
in Hamburg weniger als 2200 Euro<br />
brutto im Monat verdienen. Damit<br />
seien 15 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten<br />
„mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />
im Alter auf staatliche Stütze angewiesen“,<br />
so der Hamburger IG-BAU-<br />
Vorsitzende Matthias Maurer – „ein<br />
unhaltbarer Zustand“. UJO<br />
•<br />
Politik & Soziales<br />
Schuldnerberater fordern bessere Hilfen<br />
Zahl der Stromsperren weiterhin hoch<br />
Die Zahl der Stromsperren in Hamburg bewegt sich weiterhin auf hohem<br />
Niveau. In den ersten acht Monaten dieses Jahres bekamen 5835 Haushalte<br />
den Strom abgeklemmt, so der Senat. Da die Zahl der Sperren in kalten<br />
Monaten erfahrungsgemäß ansteigt, dürfte die Jahresbilanz erneut bei 9000<br />
bis 10.000 liegen. 2015 waren es 6688 Sperren gewesen, danach stieg die Zahl<br />
auf mehr als 10.000 jährlich an. Da oft Hilfeempfänger betroffen sind, fordern<br />
Schuldnerberater und Sozialverbände seit Jahren, die staatlichen Hilfen zu<br />
erhöhen: „Wenn ich an allen Ecken und Enden zu wenig habe, muss ich<br />
irgendwo sparen“, sagt Matthias Butenob von der Landesarbeitsgemeinschaft<br />
Schuldnerberatung. Die Linke forderte erneut die Einrichtung von Clearingstellen<br />
oder eines Runden Tisches. Ein entsprechender Bürgerschaftsantrag<br />
war 2016 am Widerstand der anderen Parteien gescheitert. UJO<br />
•<br />
Bericht der Armutskonferenz<br />
Doppelt so viele Erwerbsarme<br />
Jeder zehnte Erwerbstätige in<br />
Deutschland ist ein „working poor“.<br />
Darauf hat die Nationale Armutskonferenz<br />
(nak) hingewiesen. Damit<br />
habe sich die Erwerbsarmut innerhalb<br />
von zehn Jahren verdoppelt.<br />
„Armut in Deutschland ist Realität“,<br />
sagte nak-Sprecherin Barbara<br />
Eschen. „Leider gilt weiterhin, dass<br />
Armutsbekämpfung von der Bundesregierung<br />
sträflich vernachlässigt<br />
wird.“ In dem 28-seitigen Bericht<br />
listet die nak auf, in welcher Weise<br />
Armut hierzulande ein menschenrechtliches<br />
Problem darstellt.<br />
Sanktionen gegen Hilfeempfänger<br />
etwa seien „äußerst fraglich“. Anlass<br />
der Veröffentlichung war eine Anhörung<br />
der Bundesregierung vor dem<br />
Sozialausschuss der Vereinten Nationen.<br />
Jeder Staat, der den UN-Sozialpakt<br />
unterzeichnet hat, muss alle fünf<br />
Jahre darüber berichten, was er getan<br />
hat, um die im Pakt beschriebenen<br />
Rechte zu verwirklichen. UJO<br />
•<br />
Mehr Infos und Nachrichten unter:<br />
www.hinzundkunzt.de<br />
17
So sehen die<br />
Verkaufsaus weise<br />
von Hinz&<strong>Kunzt</strong> aus.<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong> intern<br />
Verkäufer leiden unter Konkurrenzdruck<br />
Immer mehr Menschen ohne Verkaufsausweis nutzen unser Magazin zum Betteln<br />
oder verkaufen es aufdringlich. Einige bieten es auch nur scheinbar zum Kauf an.<br />
Offizielle Verkäufer und Verkäuferinnen, die sich der Konkurrenz nicht gewachsen<br />
fühlen, ziehen sich zurück. „Die Hamburger sollten darauf achten, dass<br />
ein Verkäufer einen Ausweis hat“, sagt Geschäftsführer Jens Ade. „Wir gehen<br />
davon aus, dass auch Verkäufer ohne Ausweis aus einer Notlage heraus handeln,<br />
doch das darf nicht 530 Hinz&Künztler in Schwierigkeiten bringen.“ BELA<br />
•<br />
Winternotprogramm<br />
Senat will Unterkünfte nur nachts öffnen<br />
Zahlreiche Initiativen fordern in einem offenen Brief, das Winternotprogramm<br />
auch tagsüber zu öffnen. Die Tage auf der Straße oder auf dem Weg von einer<br />
Tagesaufenthaltsstätte zur nächsten zu verbringen, zehre „an den ohnehin nicht<br />
selten schwachen Reserven“ der Obdachlosen, heißt es. Hinz&<strong>Kunzt</strong> fordert die<br />
24-Stunden-Öffnung seit Jahren, Online-Petitionen scheiterten. Laut Senat sollen<br />
die Unterkünfte weiterhin zwischen 9.30 und 17 Uhr geschlossen bleiben. BELA<br />
•<br />
Antrag von SPD und Grünen<br />
Jubiläum bei der Diakonie<br />
Obdachlose bekommen<br />
50 Jahre Hilfe für Obdachlose<br />
psychiatrische Hilfe<br />
Bereits seit 50 Jahren betreut die Diakonie<br />
Obdachlose in ihrer Tagesauf-<br />
In Hamburgs Notunterkünften und<br />
Tagesaufenthaltsstätten werden enthaltsstätte TAS in der Bundesstraße.<br />
Dort bietet sie unter anderem<br />
psychiatrische Sprechstunden für<br />
Obdachlose eingeführt. Obwohl laut Duschen, mehrsprachige Sozialberatung,<br />
Freizeitangebote und eine<br />
Studien zwei Drittel aller Obdachlosen<br />
an psychischen Krankheiten hausärztliche Sprechstunde an.<br />
wie Persönlichkeitsstörungen (55 Prozent)<br />
oder Depressionen (40 Prozent) kamen auch Sozialsenatorin Melanie<br />
Zum Jubiläumsfestakt im September<br />
leiden, mangelt es bislang an niedrigschwelligen<br />
Angeboten für sie. BELA<br />
Leonhard, Bischöfin Kirsten Fehrs<br />
•<br />
18<br />
Schleswig-Holstein<br />
Diakonie: Mehr Wohnungslose<br />
Auch in Schleswig-Holstein hat der<br />
Mangel an bezahlbaren Wohnungen<br />
dramatische Folgen: 7980 Menschen<br />
haben dort 2017 die Angebote der<br />
diakonischen Wohnungslosenhilfe<br />
genutzt. Wie die Diakonie jetzt mitteilte,<br />
waren das 467 mehr als 2016<br />
und sogar 2579 mehr als noch 2014.<br />
Dabei handele es sich um Wohnungslose<br />
oder Menschen, die von Wohnungslosigkeit<br />
bedroht seien. Amtlich<br />
wird ihre Zahl nach Auskunft der<br />
Landesregierung nicht erfasst. Städte<br />
wie Kiel sind laut Diakonie Brennpunkte,<br />
aber auch im ländlichen<br />
Raum stiegen die Zahlen an. BELA<br />
•<br />
Köln<br />
Unterkunft für EU-Ausländer<br />
Die Stadt Köln eröffnet im <strong>Oktober</strong><br />
eine neue Notunterkunft für obdachlose<br />
EU-Bürger, die keinen Anspruch<br />
auf Sozialleistungen haben. Die ehemalige<br />
Flüchtlingsunterkunft soll<br />
ganzjährig geöffnet sein und 80<br />
Menschen Platz bieten. Tagsüber gibt<br />
es eine Aufenthaltsmöglichkeit mit<br />
Beratungen, warmen Mahlzeiten,<br />
Duschmöglichkeiten, medizinischer<br />
Grundversorgung und einer Kleiderkammer.<br />
BELA<br />
•<br />
Mehr Infos: www.huklink.de/koeln<br />
Auswahlverfahren beendet<br />
50 Holzhäuser für gute Zwecke<br />
Schulen, Sportvereine und die Feuerwehrschule:<br />
Sie alle werden eines<br />
oder mehrere der 50 Holzhäuser<br />
bekommen, die Hamburg nicht mehr<br />
für die Unterbringung von Geflüchteten<br />
braucht. Auch eine Initiative,<br />
die in mehreren Häusern Flüchtlinge<br />
beraten will, bekam den Zuschlag,<br />
warte aber noch auf die nötige<br />
Baugenehmigung, teilte die Stadt mit.<br />
Eine Kirchengemeinde, die gleich in<br />
20 der Holzhäuser Geflüchtete unterbringen<br />
wollte, konnte „leider“ die<br />
hohen Transportkosten nicht aufbringen,<br />
sagte ein Sprecher. Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
hätte gerne Häuser für Obdachlose<br />
genutzt. Allerdings fehlte es an einer<br />
Fläche zum Aufstellen. UJO<br />
•<br />
und Landespastor Dirk Ahrens. BELA<br />
•<br />
Stadtgespräch<br />
FOTO: SYBILLE ARENDT
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Bundesregierung verspricht mehr Engagement<br />
1,5 Millionen neue Wohnungen?<br />
Mindestens eine Million Wohnungen fehlen in Deutschland, die Mieten in den<br />
Großstädten explodieren: Vor diesem Hintergrund haben Bund, Länder und<br />
Kommunen eine „Gemeinsame Wohnraumoffensive“ verkündet. Konkret will die<br />
Bundesregierung bis 2021 mindestens fünf Milliarden Euro für mehr als 100.000<br />
neue Sozialwohnungen bereitstellen. Kritiker halten das für viel zu wenig: Jährlich<br />
seien 80.000 bis 100.000 preiswerte Wohnungen nötig, so ein Bündnis aus Mieterbund,<br />
Gewerkschaften und Wohlfahrtsorganisationen. Dafür müssten Bund und<br />
Länder „mindestens sechs Milliarden Euro pro Jahr“ zur Verfügung stellen. Weitere<br />
Regierungsvorhaben: Wer bezahlbare Mietwohnungen baut, soll Kosten<br />
steuerlich stärker als bisher absetzen können. Mehr als 13 Milliarden Euro stehen<br />
für die Städtebauförderung bereit, weitere 2,7 Milliarden Euro fürs Baukindergeld.<br />
Insgesamt sollen in den nächsten Jahren bundesweit 1,5 Millionen neue<br />
Wohnungen entstehen. Ein ehrgeiziges Vorhaben: Vergangenes Jahr wurden bundesweit<br />
285.000 Wohnungen fertiggestellt – „zum Großteil Ein- und Zweifamilienhäuser<br />
oder teure Eigentumswohnungen“, wie die Kritiker anmerkten. UJO<br />
•<br />
Mietpreisbremse<br />
Neues Gesetz „zahnloser Tiger“?<br />
Innere Kraft - für dich & andere<br />
Qigong<br />
Taijiquan Meditation<br />
Barmbek, Bahrenfeld, Eimsbüttel<br />
040-205129<br />
www.tai-chi-lebenskunst.de<br />
Die Bundesregierung will die Mietpreisbremse verschärfen und Mieter besser<br />
vor Mieterhöhungen schützen. Bislang durften Eigentümer elf Prozent der Kosten<br />
einer Modernisierung dauerhaft auf die Miete draufschlagen. Ab kommendem<br />
Jahr soll die Umlage höchstens acht Prozent betragen. Zweite Veränderung:<br />
Vermieter sollen Wohnungsinteressenten unaufgefordert und vor Einzug Auskunft<br />
über die bisherige Miete erteilen. So soll jeder erkennen können, ob die Preisbremse<br />
eingehalten wird. Bislang erfahren Neumieter die Vormiete in der Regel<br />
nicht. Trotz der Änderungen bleibe die Mietpreisbremse „ein zahnloser Tiger“,<br />
kritisiert Eve Raatschen von Mieter helfen Mietern. Denn auch das neue<br />
Gesetz biete zu viele Ausnahmen und ermögliche massive Preissprünge bei Neuvermietungen.<br />
JOF/SIM<br />
•<br />
Miet- und Baulandpreise<br />
Wohnungsbau für Bedürftige<br />
Caritas sucht soziale Vermieter<br />
Die Hamburger Caritas hat den Senat<br />
aufgefordert, deutlich mehr Wohnungen<br />
speziell für Bedürftige wie etwa<br />
Obdachlose oder Jugendliche aus<br />
Hilfeeinrichtungen zu bauen. „Die<br />
Stadt baut viele Sozialwohnungen,<br />
aber das kommt bei unseren Leuten<br />
nicht an“, sagte der Hamburger Caritas-Leiter<br />
Michael Edele. Vielen, die<br />
bei der Caritas Hilfe suchten, könnten<br />
die Sozialarbeiter kein Wohnungsangebot<br />
vermitteln. Deswegen geht die<br />
Caritas nun einen ungewöhnlichen<br />
Schritt: Der Verband ruft Vermieter<br />
dazu auf, ihre Wohnungen für Bedürftige<br />
zur Verfügung zu stellen.<br />
Anfangs würde die Caritas die Mieter<br />
unterstützen und wäre Ansprechpartner<br />
für die Vermieter. BELA<br />
•<br />
Ungebremster Anstieg<br />
Seit 2013 sind die Mieten in Hamburg<br />
um 19 Prozent gestiegen. Das<br />
hat das Onlineportal Immowelt AG<br />
errechnet. In Berlin müssen Mieter im<br />
Schnitt sogar 52 Prozent mehr zahlen<br />
als vor fünf Jahren, in München 35<br />
Prozent. Auch die Bodenpreise steigen<br />
ungebremst: laut Bundesinstitut<br />
für Bau-, Stadt- und Raumforschung<br />
zwischen 2011 und 2016 im Bundesdurchschnitt<br />
um 27 Prozent. Noch<br />
deftiger fällt der Anstieg in Hamburg<br />
aus: Hier wurden Bauplätze für Geschosswohnungsbau<br />
zuletzt innerhalb<br />
eines Jahres 14 Prozent teurer. UJO<br />
•<br />
Mehr Infos und Nachrichten unter:<br />
www.hinzundkunzt.de<br />
JETZT<br />
SPENDEN<br />
Hamburger Sparkasse<br />
IBAN: DE5620050550<br />
1280167873<br />
BIC: HASPDEHHXXX<br />
19
Museumsreife für den<br />
Außerfriesischen<br />
<strong>2018</strong> ist das Jahr des lustigen Ostfriesen: Otto ist jetzt 70 Jahre alt und omnipräsent.<br />
Im Museum für Kunst und Gewerbe kann man seine Bilder sehen, seine Biografie<br />
ist ein Bestseller. Ganz unten war er nie, obwohl er als Kind nicht auf Rosen gebettet war.<br />
TEXT: SIMONE DECKNER<br />
FOTOS: DANIEL CRAMER (OBEN), JOACHIM HILTMANN/MKG,<br />
PRIVATARCHIV OTTO WAALKES<br />
20
Stadtgespräch<br />
Hierher gucken, Otto!“ Es blitzt im<br />
Sekundentakt, das Baby ist jetzt aufgewacht,<br />
es plärrt.<br />
Der Mann, der gerade die Bühne<br />
betreten hat, macht derweil entspannt<br />
seine Mätzchen, ruft „Holadihiti!“,<br />
reißt die Augen auf, schneidet Grimassen.<br />
Man könnte fast meinen, vor der<br />
Museumstür ist Hollywood, dabei ist es<br />
nur Hamburg.<br />
Die Presseprofis bei dieser Konferenz<br />
im September sind aus dem Häuschen.<br />
Für einen kurzen Moment vergessen<br />
sie, dass sie ja eigentlich von<br />
Berufs wegen jeglichem Spektakel kritisch<br />
distanziert gegenüberstehen sollten.<br />
Das Problem ist bloß: Da vorne<br />
steht Otto. Also eigentlich steht er kaum<br />
eine Sekunde still, jetzt macht er gerade<br />
„Zeichnen war<br />
eine Begabung –<br />
schon früh.“<br />
OTTO WAALKES<br />
Morgens im Museum: Journalisten rutschen<br />
auf unbequemen Stühlen herum.<br />
Fotografen drehen gedankenverloren<br />
an Kameraobjektiven. Fernsehteams<br />
fachsimpeln. Nur das Baby, das von<br />
s einem Vater im Gehen hin und her<br />
gewiegt wird, interessiert das alles nicht<br />
die Bohne: Es schläft.<br />
Dann: Bewegung. Unruhe. Manche<br />
klatschen. Die Fotografen reißen ihre<br />
Kameras nach oben, es sieht fast choreografiert<br />
aus. Die Kameras klicken,<br />
Rufe gellen durch den Raum: „Hier!<br />
Macht jeden Quatsch mit,<br />
nicht nur für die Foto grafen:<br />
Otto bei der Pressekonferenz zu<br />
seiner Ausstellung. Vergange -<br />
nen Monat hat der Komiker das<br />
Bundesverdienstkreuz erhal ten –<br />
für seine außerordentlichen<br />
künstlerischen Leistungen.<br />
21<br />
seine Häschenpose, ruft noch mal „Holadihiti!“,<br />
reckt den Zeigefinger nach<br />
oben. Otto. Der Otto.<br />
Der Mann, der im Juli dieses Jahres<br />
tatsächlich 70 Jahre alt geworden ist –<br />
das ist überhaupt der größte Witz von<br />
allen. Wie er da vorn Faxen macht, die<br />
Basecap mit dem orangenen „O“ auf<br />
dem Kopf und mit bunten Turnschuhen<br />
an den Füßen, wirkt er noch immer<br />
wie ein großes Kind, das zufällig in den<br />
Körper eines erwachsenen Emdeners<br />
geraten ist.<br />
„Ihnen wird zur Last gelegt, Sie<br />
hätten an dem Ast gesägt und dann<br />
auch noch den Mast zerlegt.“<br />
„Du, Susi? – Ja, wer spricht? – Ich.<br />
– Wer ich? – Ich, dein Föhn. – Mein<br />
Föhn kann sprechen?– Genau!“<br />
„Peter, Paul and Mary are planning<br />
a bankrobbery.“<br />
Ottos Sketche haben sich ins kollektive<br />
Gedächtnis gebrannt. Er hat das<br />
Humorverständnis von Generationen<br />
geprägt. Der überstrapazierte Begriff<br />
vom Kult-Komiker, bei Otto stimmt er<br />
ausnahmsweise. Otto, der Außerfriesische.<br />
Otto, der Blödelbarde. Otto, der<br />
Friesenjung. Otto, der Film. Otto, der<br />
unerschütterliche Optimist.<br />
Einem weniger bekannten Otto,<br />
nämlich Otto, dem Maler und Zeichner,<br />
ist nun eine große Ausstellung im<br />
Museum für Kunst und Gewerbe gewidmet.<br />
Mehr als 200 Exponate werden<br />
gezeigt: von den frühen Werken
Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>308</strong>/OKTOBER <strong>2018</strong><br />
Melancholischer Blick mit Ottifant: „Sitting in the Morning Sun“ ist 2014 entstanden –<br />
in Anlehnung an den von Otto verehrten amerikanischen Künstler Edward Hopper.<br />
des ehemaligen Hamburger Kunstpädagogikstudenten<br />
über die ersten Ottifanten-Skizzen<br />
aus den 60ern bis hin zu<br />
neuen Bildern, auf denen Otto die mittlerweile<br />
zur Popkultur gehörenden<br />
„Geld spielte<br />
keine Rolle, wir<br />
hatten ja keins.“<br />
OTTO WAALKES<br />
R üsselträger in bekannte Gemälde hineingeschmuggelt<br />
hat: in Edward Hoppers<br />
„Morning Sun“, die Pop-Art von<br />
Roy Lichtenstein oder in Pablo Picassos<br />
kubistische „Sylvette“ etwa. Er sei „verunsichert“,<br />
aber auch „sehr geehrt“<br />
darüber, dass seine Bilder nun in einem<br />
22<br />
„so ehrenwerten Haus abhängen dürfen“,<br />
sagt Otto bei der Pressekonferenz.<br />
Zeichnen konnte er schon früh, das<br />
sei „eine Begabung“ gewesen, hatte<br />
Otto Hinz&<strong>Kunzt</strong> schon zuvor in einem<br />
Fragebogen geantwortet. Der Wunsch<br />
nach einem persönlichen Treffen bleibt<br />
(leider) unerfüllt. Zu wenig Zeit, zu<br />
viele Anfragen: vom Fernsehen, von<br />
den überregionalen Magazinen, von<br />
überall her.<br />
In seiner im Mai erschienenen Biografie<br />
ist zu lesen, dass Otto schon früh<br />
mit dem Zeichnen anfing. Er kritzelte<br />
auf die Rückseiten von Tapetenbüchern,<br />
die sein Vater, der Malermeister<br />
war, mitbrachte. Ottos Zuhause war ein<br />
einfacher roter Klinkerbau im Emdener<br />
Stadtteil Transvaal, einer Wohnsiedlung,<br />
die für Werftarbeiter gebaut wurde.<br />
Dort lebte er mit Vater, Mutter, Bruder<br />
und Oma – auf 45 Quadratmetern<br />
in drei Zimmern. Obwohl er als Nachkriegskind<br />
in Trümmern spielte, hatte<br />
er stets das Gefühl, er lebe in einer „heilen<br />
Welt“, so Otto.<br />
Eine heile Welt, über die eine ebenso<br />
strenge wie herzliche Mutter wacht,<br />
der der Kirchgang jeden Sonntag heilig<br />
ist. Die die schon früh auftretenden<br />
Keckheiten ihres jüngsten Sohnes mit<br />
einem seufzenden „Das gehört sich<br />
nicht!“ kommentiert. Eine heile Welt<br />
mit einem Vater, den der Sohn aufrichtig<br />
bewundert: „Er konnte ja eigentlich<br />
alles“, schreibt Otto in seiner Biografie,<br />
„Geld spielte dabei keine Rolle,<br />
wir hatten ja keins.“<br />
Eine heile Welt, in der der ältere<br />
Bruder Karl-Heinz und seine Art, Leute<br />
zu foppen, zu Ottos großem Vorbild<br />
wird. Eine heile Welt trotz fünf Menschen<br />
auf engstem Raum. Oder vielleicht<br />
gerade deshalb? Eine heile Welt,<br />
weil die Familie zusammenhält und es<br />
immer etwas zu lachen gibt. Eine heile
Madonna hat die<br />
Haare schön – dank<br />
eines Ottifanten, der ein<br />
bisschen Wind macht.<br />
Auch ein Insiderwitz,<br />
denn: In Ottos<br />
bekanntem Sketch<br />
„Susi Sorglos<br />
und der Föhn“ kann der<br />
Föhn sprechen.<br />
Liebe geht nicht nur<br />
durch den Magen,<br />
sondern auf dem<br />
Bild „Love Is<br />
Everywhere“ auch<br />
wunderbar durch<br />
den Rüssel.<br />
Die knallige Pop-Art von Roy<br />
Lichtenstein war Vorbild für dieses<br />
Werk, in dem Otto sich selbst als<br />
skeptischen Liebhaber gezeichnet hat.<br />
Sadfasddfl m que non<br />
comnit et lautem assimint<br />
accatur aut eaquis<br />
magnis sam, qui<br />
nitatur sunt, ommo<br />
cus.Olest ped mod et<br />
et quis is et ab iminus<br />
quae eum<br />
Welt, in der es keinen Platz zum Gitarreüben<br />
gibt, außer man nimmt sie mit<br />
aufs Klo. Was Otto tut, wenn er nicht<br />
gerade Micky-Mouse-, Donald-Duckoder<br />
Tarzan-Comics durchblättert. In<br />
der Schule wird er mit seinem Zeichentalent<br />
und seinem losen Mundwerk<br />
schnell zum Klassenclown. Solide zu<br />
malen lernt Otto ab 1970 an der Hochschule<br />
für Bildende Künste. Lehrer wie<br />
23<br />
der Hyperrealist Rudolf Hausner und<br />
der Theoretiker Bazon Brock bestärken<br />
ihn in seiner Überzeugung, nur nicht<br />
„zu penibel“ zu malen. „Das kann ich<br />
nicht und ich möchte es auch gar<br />
nicht“, so Otto. Zu wissen, wie die<br />
Mischtechnik funktioniert, sei aber „augenöffnend“<br />
für ihn gewesen. Noch<br />
heute rasselt er Abstufungen und Sättigungsgrade<br />
von Farben problemlos herunter.<br />
An Ideen, was er malen könnte,<br />
mangelt es ihm ohnehin nie.<br />
Ein Bild aus dem Jahr 1972 zeigt etwa<br />
ein „Junges Mädchen mit Schal und<br />
Pelzmütze“, das wohl nur wenige Besucher<br />
der Ausstellung dem Mann zuordnen<br />
würden, über dessen Witze sie sich<br />
in den 80ern scheckig gelacht haben.<br />
Oder die Metal-Fans, die ihm in diesem<br />
Sommer beim „Wacken Open Air“ zu-
Stan Laurel und Oliver Hardy<br />
zählen zu Ottos prägenden<br />
Humor-Vorbildern.<br />
Seine Hommage mit einem<br />
Melone tragenden Ottifanten<br />
entstand im Jahr 2015.<br />
Irgendwas stimmt hier nicht,<br />
oder? Statt Hund Snoopy<br />
schläft ein Ottifant auf der<br />
bekannten Hundehütte.<br />
Charlie Brown (im Original<br />
von Charles M. Schulz) ist<br />
verwirrt. Und Otto freut sich.<br />
Indem er Ottifanten in bekannte<br />
Gemälde einbaut (wie hier in Picassos<br />
„Sylvette“), will Otto Kunst für alle<br />
zugänglicher machen – auch für Leute,<br />
die sich sonst nicht so dafür begeistern.<br />
jubelten, als er ihnen seinen nackten<br />
Bauch zeigte und zu der Melodie von<br />
Stings „Englishman in New York“ sang:<br />
„Bin ein Friesenjung / bin ein kleiner<br />
Friesenjung / und ich wohne hinterm<br />
Deich / everybody here we go.“ Otto ist<br />
auch schon in der Elphi aufgetreten. Er<br />
hat einen Schimpansen namens Ronny<br />
als Moderator einer Musiksendung synchronisiert,<br />
mit „Otto, der Film“ den<br />
bis heute erfolgreichsten deutschen<br />
Film seit 1968 ins Kino gebracht. Er<br />
war zu Gast bei der letzten „Wetten,<br />
dass …?“-Sendung, er hat die Berliner<br />
Symphoniker dirigiert, Jüngere kennen<br />
seine Stimme als Sid, das Faultier aus<br />
den „Ice Age“-Filmen – Genregrenzen<br />
scheint es für den Mann nicht zu geben,<br />
24<br />
alle halten es offensichtlich mit dem alten<br />
Werbeslogan eines (im Gegensatz<br />
zu ihm schon verblichenen) Katalogherstellers:<br />
Otto … find’ ich gut!<br />
Wer Otto fragt, wie er sich diese allumfassenden<br />
und anlässlich seines 70.<br />
Geburtstages wieder heftiger auftretenden<br />
Liebesbekundungen erklärt, bekommt<br />
eine überraschend ernsthafte
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Otto in Bild und Schrift<br />
Otto. Die Ausstellung, bis 17.2.2019,<br />
Museum für Kunst und Gewerbe,<br />
Steintorplatz, Di–So, 10–18 Uhr,<br />
Do, 10–21 Uhr, donnerstags an<br />
oder vor Feier tagen: 10–18 Uhr;<br />
Eintritt: 12/8 Euro, bis 17 Jahre frei.<br />
Otto-Biografie: „Kleinhirn an alle“,<br />
416 Seiten, Heyne Verlag, 22 Euro.<br />
Antwort: „Dafür habe ich keine Erklärung.<br />
Ich denke auch möglichst wenig<br />
darüber nach – vielleicht ist das mein<br />
Erfolgsgeheimnis“, schreibt er.<br />
Dieses „weniger nachdenken, mehr<br />
machen“ zieht sich wie ein roter Faden<br />
durch sein Leben. Es steht in seiner Biografie,<br />
er erzählt es jedem Interviewer,<br />
auch den jüngeren Journalisten, die immer<br />
nachbohren. Auch erklärt Otto geduldig,<br />
dass er wirklich keine dunkle<br />
Seite habe. Dann trinkt er noch einen<br />
Schluck Ostfriesentee.<br />
Otto ist Rampensau. Unterhaltungsprofi.<br />
Musiker. Zeichner. Aber<br />
trauriger Clown? Nein, er war einfach<br />
schon immer Optimist, sagt er. Daran<br />
haben weder berufliche Flops wie<br />
„Otto – Der neue Film“ (1987) oder<br />
zwei gescheiterte Ehen etwas geändert.<br />
Überhaupt: Wie kriegt man das hin, bei<br />
all dem Schlechten in der Welt immer<br />
positiv zu bleiben? Auch einer wie Otto<br />
muss sich dafür etwas anstrengen: Es sei<br />
nicht einfach, schreibt er, und dann<br />
steht da ein bemerkenswerter, weil entwaffnend<br />
ehrlicher Satz: „Vermutlich<br />
ist es so eine Mischung aus Verdrängen<br />
und Beschönigen. Scheuklappen als<br />
Selbstschutz sozusagen.“<br />
Das bezieht sich aber nicht auf die<br />
Menschen um ihn herum. Da ist Otto<br />
aufmerksam. Wenn er etwa in Hamburg<br />
Obdachlose sieht, geht er nicht<br />
achtlos vorbei: „Meist habe ich auch etwas<br />
Kleingeld in der Tasche. Wenn<br />
nicht, muss eben der einspringen, mit<br />
dem ich gerade unterwegs bin,“ sagt er.<br />
Er ist ja selbst nicht mit dem goldenen<br />
Löffel im Mund geboren. Als er nach<br />
seinen ersten Erfolgen irgendwann die<br />
Eintrittspreise leicht anhob, ätzte einer,<br />
er wolle sich „wohl die Jeansfransen<br />
vergolden lassen“. Der Vorwurf ärgert<br />
ihn bis heute.<br />
Otto weiß aber, dass er sich auf eins<br />
auch in schwierigen Zeiten verlassen<br />
kann: auf seinen Humor. Es gibt da ein<br />
durchaus drastisches Beispiel: „Wenn<br />
man am frischen Grab seines Vaters<br />
steht und am Zaun lauern ein paar Fans<br />
auf Autogramme – da hilft nur Humor.“<br />
Otto, der Lebenskünstler. Die<br />
Menschen werden dem Museum die<br />
Türen einrennen. •<br />
Kontakt: simone.deckner@hinzundkunzt.de<br />
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Lüneburger Str. 39<br />
Dieses Foto, das entweder 1970 oder 1971 entstand, zeigt den ehemaligen<br />
Kunstpädagogikstudenten Otto Waalkes in seinem kleinen Atelier.<br />
25<br />
stilbruch.de
Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>308</strong>/OKTOBER <strong>2018</strong><br />
„Unser Ziel sind<br />
lebenswerte Quartiere“<br />
Vorstand Wilfried Wendel über ehrgeizige Bauprojekte,<br />
widerspenstige Bürger und die besondere Rolle der Saga.<br />
INTERVIEW: JONAS FÜLLNER,<br />
ULRICH JONAS, BIRGIT MÜLLER<br />
FOTO: LENA MAJA WÖHLER<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Herr Wendel, die Saga soll<br />
mindestens 2000 Wohnungen pro Jahr<br />
bauen. Gleichzeitig gibt es oft Ängste und<br />
Widerstände vor Ort.<br />
WILFRIED WENDEL: Das ist richtig, vor allem<br />
in gutbürgerlichen Quartieren. Deshalb<br />
achten wir auf Qualität und eine gesunde<br />
Mischung. Größere Flächen entwickeln<br />
wir gemeinsam mit anderen Investoren.<br />
Wir bauen gerne öffentlich<br />
geförderte Wohnungen. Aber wir haben<br />
aus der Vergangenheit gelernt: Es ist<br />
nicht gut, wenn ausschließlich Menschen<br />
mit geringem Einkommen in einem<br />
Quartier leben – wie es nicht gut<br />
ist, wenn Reiche unter sich bleiben. Und<br />
wenn wir nachverdichten, muss das, was<br />
wir schaffen, besser sein als das, was vorher<br />
da war. Ziel ist es, für die Menschen<br />
lebenswerte Quartiere zu schaffen.<br />
Wo zum Beispiel?<br />
Nehmen wir die Washington-Höfe: Da<br />
verdoppeln wir die Wohnfläche. Trotzdem<br />
wird die Qualität höher sein<br />
als vorher – und das werden die Menschen<br />
auch wahrnehmen. Toll finde<br />
ich auch unsere „LeNa – Lebendige<br />
Nachbarschaft“-Projekte, mit denen<br />
wir es Menschen mit Unterstützungsbedarf<br />
und Senioren ermöglichen,<br />
selbstbestimmt und so lange wie möglich<br />
in ihrer vertrauten Umgebung<br />
wohnen zu bleiben.<br />
Aber Sie müssen ja schon im Vorwege Wider -<br />
stände überwinden, um bauen zu können.<br />
Deshalb müssen wir intensiv für unsere<br />
Projekte werben: bei den Mietern, bei<br />
den Nachbarn und bei der Politik. Unsere<br />
Projektentwickler führen regelmäßig<br />
abendfüllende Diskussionen. Es gibt<br />
immer Möglichkeiten, Sorgen und<br />
Ängste aufzugreifen, etwa Bauhöhen<br />
anzupassen. Manchmal scheinen die<br />
Argumente aber vorgeschoben: Da<br />
meinen Menschen etwas anderes, das<br />
sie nicht aussprechen. Etwa die Sorge,<br />
dass sich die Sozialstruktur zum Negativen<br />
verändert. Oder dass ihr Haus bald<br />
nicht mehr so viel wert ist wie zuvor.<br />
„Nur wegen<br />
Mietschulden<br />
wird nicht<br />
zwangs geräumt.“<br />
Und dann entscheiden die Gerichte, so wie<br />
in Dulsberg, wo Reihenhausbesitzer<br />
sieben Jahre lang den Bau von 21 Sozialwohnungen<br />
verhindert haben?<br />
Das passiert, ja. Im Ergebnis gewinnen<br />
wir diese Verfahren immer. Aber wir<br />
verlieren viel Zeit – und die Projekte<br />
werden teurer.<br />
Vor zwei Jahren hat der Senat die Idee des<br />
„Effizienzwohnungsbaus“ vorgestellt. Der<br />
26<br />
soll die Baukosten auf 1800 Euro und so die<br />
Mieten auf acht Euro kalt den Quadratmeter<br />
begrenzen. Zwei Modellvorhaben laufen,<br />
die Saga ist nicht beteiligt. Warum nicht?<br />
Wir wollen diese Ziele mit Systemwohnungsbau<br />
erreichen: standardisiertes<br />
Bauen, mit dem wir Einkaufsvorteile<br />
erzielen, das in der Gestaltung aber<br />
trotzdem vielfältig sein soll. Wir wollen<br />
das vor allem in Quartieren umsetzen,<br />
die als sogenannte B- oder C-Lage gelten.<br />
Dadurch können wir Wohnraum<br />
für Menschen mit mittlerem Einkommen<br />
zur Verfügung stellen, die nicht in<br />
die Einkommensgrenzen der Förderungen<br />
fallen, aber auch nicht 13 Euro kalt<br />
pro Quadratmeter zahlen können.<br />
Manche denken da schnell an die Bausünden<br />
aus den 1960er- und 1970er-Jahren.<br />
Auch die hochattraktiven Gründerzeitquartiere<br />
sind im Systemwohnungsbau<br />
entstanden: nach Schema F mit unterschiedlichen<br />
Fassaden und Dachformen,<br />
durch die Abwechslung und lebenswerter<br />
Charakter entstehen. Klar<br />
ist: Großwohnsiedlungen am Stadtrand<br />
wird in der Form wie damals niemand<br />
mehr bauen.<br />
Die Saga hat sich kürzlich verpflichtet, die<br />
Mietpreisbindung von neu gebauten Sozialwohnungen<br />
regelhaft auf 30 Jahre zu<br />
verlängern. Wie schwer ist Ihnen das gefallen?<br />
Nicht schwer. Die 30 Jahre werden von<br />
der Stadt ja entsprechend gefördert, wodurch<br />
der wirtschaftliche Nachteil der
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Mietpreisbindung ausgeglichen wird.<br />
Die Versorgung von Menschen mit kleinen<br />
und mittleren Einkommen gehört<br />
zum Geschäftsmodell der Saga.<br />
Die Linke meinte dazu, Hamburg hätte auch<br />
gleich dem Beispiel Wien folgen können:<br />
Dort bleibt eine Sozialwohnung immer eine<br />
Sozialwohnung.<br />
Für uns spielt es keine Rolle, ob eine<br />
Wohnung einer Preisbindung unterliegt<br />
oder nicht. Die Saga-Durchschnittsmiete<br />
lag 2017 bei 6,44 Euro kalt, unsere<br />
Mieten werden von Jobcenter oder<br />
Sozialamt in aller Regel übernommen.<br />
Bleibt das auch bei den neu gebauten<br />
Wohnungen so?<br />
Ja. Ein Großteil dieser Wohnungen<br />
wird öffentlich gefördert gebaut. Eine<br />
öffentlich geförderte Wohnung, die wir<br />
dieses Jahr finanzieren, werden wir mit<br />
einer Anfangsmiete von 6,50 Euro anbieten.<br />
Das ist für unsere Zielgruppe<br />
ein vernünftiger Preis.<br />
Laut des Kooperationsvertrags mit der Stadt<br />
versorgt die Saga 2000 besonders bedürftige<br />
Haushalte pro Jahr mit Wohnungen.<br />
Der Vertrag ist eine wunderbare Lösung:<br />
Er erlaubt es uns – unabhängig<br />
von der individuellen Bindung einzelner<br />
Objekte – unsere Belegungsverpflichtungen<br />
über unseren gesamten<br />
Bestand zu verteilen und unsere Quartiere<br />
gut zu durchmischen. Hinzu kommen<br />
1500 Vermietungen pro Jahr an<br />
Paragraf-5-Schein-Inhaber. Im Ergebnis<br />
vermieten wir fast jede zweite<br />
Wohnung an Menschen mit kleinem<br />
Einkommen. Die Saga versorgt im<br />
Übrigen mehr Haushalte, als sie laut<br />
Kooperationsvertrag müsste.<br />
Manchmal lässt sich Wohnungsnot durch<br />
den Tausch zweier Wohnungen lindern.<br />
Welche Ideen hat die Saga, um die optimale<br />
Nutzung ihres Wohnraums zu fördern?<br />
Die Umzugsbereitschaft der Menschen<br />
ist sehr gering, gerade bei Älteren. Wir<br />
begrüßen es, wenn Menschen ihre zu<br />
groß gewordene Wohnung gegen eine<br />
kleinere tauschen möchten, denn dadurch<br />
werden große Wohnungen wieder<br />
für Familien verfügbar. Ein Vorurteil<br />
ist: „Obwohl meine neue Wohnung<br />
kleiner ist, werde ich mehr Miete zah-<br />
len müssen.“ Das stimmt bei uns in der<br />
Regel nicht. Wir sagen grundsätzlich<br />
zu: Wer in eine Wohnung mit vergleichbarem<br />
Standard umzieht, darf seine<br />
bisherige Quadratmeter-Miete mitnehmen.<br />
Und wir verzichten auf die Einhaltung<br />
der Kündigungsfristen. Im Jahr<br />
2017 hatten wir rund 750 Wohnungstauscher,<br />
davon waren rund 100 älter<br />
als 65 Jahre.<br />
Jede dritte Zwangsräumung in Hamburg<br />
wird von der Saga veranlasst, vergangenes Jahr<br />
waren das 322. Sind das nicht viel zu viele?<br />
Wir haben die Zahl in den vergangenen<br />
zehn Jahren immerhin halbiert. Und ein<br />
Grundsatz bei uns ist: Nur wegen Mietschulden<br />
wird niemand zwangsgeräumt.<br />
Wir bieten sogar selbst eine<br />
Mietschuldnerberatung an. Trotzdem<br />
gibt es immer wieder Fälle, in denen wir<br />
räumen lassen müssen – weil das Wohnverhalten<br />
das Maß dessen überschreitet,<br />
Wilfried Wendel war zehn Jahre lang bei der Stuttgarter<br />
Wohnungs- und Städtebaugesellschaft SWSG tätig. Seit 2014<br />
ist der 55-jährige Saarländer Vorstandsmitglied der Saga.<br />
was tolerierbar ist. Das ist den Nachbarn<br />
dann nicht mehr zuzumuten.<br />
Wir fordern seit Langem: Jeder Zwangsräumung<br />
sollte mindestens ein erfolgreicher Hausbesuch<br />
vorangehen. Schließen Sie sich dem an?<br />
Wir versuchen die Menschen immer<br />
auch persönlich zu erreichen, durch unsere<br />
Schuldnerberater und auch durch<br />
unsere Hauswarte. Aber das gelingt uns<br />
leider nicht immer. •<br />
Kontakt: ulrich.jonas@hinzundkunzt.de<br />
Saga in Zahlen: Rund jede sechste<br />
Mietwohnung in Hamburg gehört<br />
der Saga – insgesamt gut 130.000.<br />
22 Prozent (knapp 30.000) davon sind<br />
Sozialwohnungen. Das städtische Unternehmen<br />
beschäftigt 940 Mitarbeiter.<br />
Mehr Infos unter www.saga.hamburg<br />
27
Geburtstagsfeier<br />
mit Hitgarantie<br />
Sorgen für Stimmung:<br />
Gustav Peter Wöhler<br />
(vorne) und Band.<br />
Viele kennen Gustav Peter Wöhler als Charakter-Schauspieler – doch der<br />
Wahl-Hamburger kann auch anders: Mit seiner Band wird er bei der Feier zum<br />
25. Geburtstag von Hinz&<strong>Kunzt</strong> die Markthalle rocken.<br />
TEXT: SIMONE DECKNER<br />
FOTO: IRENE ZANDEL<br />
Gustav Peter Wöhler und seine Band haben in 22<br />
gemeinsamen Jahren schon viele Bühnen gesehen:<br />
große wie die Elphi, aber auch kleine. Im September<br />
erst waren sie im Harburger Rieckhof zu Gast; spielten<br />
vor 300 Zuschauern: „Die ungewöhnlichste Bühne war aber<br />
in einem ehemaligen Pferdestall, da mussten wir immer aufpassen,<br />
dass wir uns nicht die Köpfe an der Decke stoßen“,<br />
sagt der 63-jährige Gustav Peter Wöhler.<br />
Der Gig zum Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Geburtstag in der Markthalle<br />
wird sicher auch unvergesslich, denn: „Es ist das erste<br />
Mal, dass ich dort auf der Bühne stehe, ich bin echt<br />
gespannt“, freut sich Wöhler. Die Gäste wiederum können<br />
sich auf Coverversionen großer Hits freuen. „Meine Band<br />
sagt immer, wir machen keinen Cover, wir interpretieren<br />
Songs neu, aber ich sehe das nicht so eng, Hauptsache, es<br />
fetzt“, so Wöhler. Unstrittig ist: Sie spielen nur Lieblingssongs<br />
– von Nick Drake über die Rolling Stones bis Nena.<br />
Möglich, dass Wöhler bei der Feier auch seinen<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Stammverkäufer trifft. Bei dem kauft er seit<br />
Jahren, aus Überzeugung. •<br />
Wir feiern Geburtstag: Di, 6.11., Markthalle, Klosterwall 11,<br />
ab 18.30 Uhr: Moderator Michel Abdollahi im Gespräch mit<br />
Hinz&Künztlern und Gästen. Danach: Release unseres Kochbuches<br />
„Willkommen in der <strong>Kunzt</strong>Küche!“ (siehe Anzeige S. 2),<br />
20 Uhr: Gustav Peter Wöhler Band; Eintritt gegen Spende<br />
28
Reetwerder<br />
Auch die Gutachterin<br />
kommt nicht ins Haus<br />
„Es gab keine Innenbesichtigung.“<br />
Mit diesen Worten<br />
kommentierte Heike Simon<br />
ihren Termin in Sachen<br />
Reetwerder 3 gegenüber<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Die Sachverständige<br />
ist vom Amtsgericht<br />
Bergedorf damit<br />
beauftragt worden, den<br />
Wert der Immobilie zu ermitteln<br />
– für die Zwangsversteigerung.<br />
Ihre Bewertung<br />
erfolge nun „nach<br />
dem äußeren Anschein“.<br />
In dem Mehrfamilienhaus<br />
hatten bis Mitte Mai rund<br />
160 Menschen gelebt,<br />
vorwiegend aus Rumänien,<br />
Bulgarien und der Türkei.<br />
Nachdem das Bezirksamt<br />
das Haus für unbewohnbar<br />
erklärt hatte, warten die<br />
Mieter bis heute auf<br />
Zugang zu ihrem Hab und<br />
Gut. Die Vermieterin<br />
weigert sich hartnäckig, das<br />
Eigentum herauszugeben<br />
(siehe H&K Nr. 307). UJO<br />
•<br />
Stadtgespräch<br />
Meldungen (2)<br />
Politik & Soziales<br />
Nach Abschreckungsversuch durch Getränkekette<br />
Solidarität für Pfandsammler<br />
Damit hatte Getränke Lehmann nicht gerechnet: Nachdem<br />
die Berliner Kette versucht hatte, Flaschensammler abzuschrecken,<br />
kassierte sie im Internet einen Shitstorm – und<br />
ruderte zurück. In einer „Hausinfo“ hatte der Geschäftsführer<br />
angeordnet, Pfandsammler wie Gewerbetreibende zu behandeln.<br />
„Wie alle Wiederverkäufer“ sollten sie Angaben zu<br />
Adresse und Umsatzsteuernummer machen und sich „gegebenenfalls<br />
ausweisen“. Unter der Überschrift „Wie soziale<br />
Ausgrenzung funktioniert“ hatte ein Rechtsanwalt die zweifelhafte<br />
Idee im Netz bekannt gemacht. Die folgenden Proteste<br />
zeigten Wirkung: Der Inhaber entschuldigte sich noch<br />
am selben Tag für das „Missverständnis“ und erklärte, der<br />
Geschäftsführer sei „mit sofortiger Wirkung beurlaubt“. SIM<br />
•<br />
Zwangsräumung<br />
Rentnerin stürzt sich<br />
in den Tod<br />
Offenbar, weil sie die bevorstehende<br />
Zwangsräumung<br />
ihrer Wohnung nicht miterleben<br />
wollte, hat sich eine<br />
Frau in Porta Westfalica<br />
(Nordrhein-Westfalen)<br />
umgebracht. Die 70-Jährige<br />
sprang vom Balkon ihrer<br />
Wohnung im siebten Stock<br />
eines Mehrfamilienhauses,<br />
so die Polizei Minden-Lübbecke.<br />
Ein Notarzt habe nur<br />
noch ihren Tod feststellen<br />
können. Zuvor hatten<br />
Mitarbeiter der Stadt, des<br />
Wohnungsunternehmens<br />
und der Polizei erfolglos<br />
geklingelt. Da die Frau nicht<br />
öffnete, holten sie einen<br />
Schlüsseldienst zur Hilfe.<br />
Nachdem dieser die<br />
Wohnungstür geöffnet hatte,<br />
stürzte sich die Frau in die<br />
Tiefe. UJO<br />
•<br />
Mehr Infos und Nachrichten<br />
unter: www.hinzundkunzt.de<br />
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Strom- und Wärmeversorgung.<br />
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Unser Rat zählt.<br />
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im Deutschen Mieterbund<br />
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Mitglied<br />
werden<br />
20097 Hamburg<br />
Der Kochwettbewerb!<br />
27. <strong>Oktober</strong> <strong>2018</strong>, ab 10 Uhr<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>, Schürings Chili und die<br />
Rindermarkthalle St. Pauli präsentieren das<br />
2. Hamburger Chili Cook-Off<br />
Am 27. <strong>Oktober</strong> wird es köstlich: Fünf hochmotivierte Chili-Teams<br />
kochen ab 10 Uhr um die Chili-Krone. Eine Fachjury entscheidet, wer<br />
das schmackhafteste Chili für die „Jury‘s Choice“ gekocht hat.<br />
Besonders wichtig: das Besucherurteil „The People’s Choice“!<br />
Die Erlöse werden an Hinz&<strong>Kunzt</strong> gespendet.<br />
Besucher sind willkommen, Eintritt frei.<br />
Infos unter www.rindermarkthalle-stpauli.de<br />
Jurymitglied Ole Plogstedt<br />
<br />
www.hinzundkunzt.de<br />
29
Kein Rezept<br />
gegen Armut<br />
In Äthiopien müsste niemand Hunger leiden.<br />
Dennoch tun es viele, auch weil die<br />
Regierung bislang Kleinbauern umgesiedelt<br />
und fruchtbares Land an internationale<br />
Investoren vergeben hat. So wie in der<br />
Region Gambela an der Grenze zum<br />
Südsudan, wo die Situation wegen der<br />
großen Zahl der Bürgerkriegsfl üchtlinge<br />
ohnehin angespannt ist. Ob der als radikaler<br />
Reformer umjubelte neue Premierminister für<br />
Verbesserung sorgt, bleibt abzuwarten.<br />
TEXT: KLAUS SIEG<br />
FOTOS: JÖRG BÖTHLING
Auslandsreportage<br />
Wenn der Kleinbauer<br />
Mark Ojulu sein Feld<br />
bearbeiten will, muss er<br />
einen langen Weg zurücklegen.<br />
In aller Frühe lässt sich der<br />
Fußmarsch ertragen. Noch steht die<br />
Sonne tief. Die Temperaturen sind<br />
kaum höher als an einem Sommertag<br />
in Deutschland. Ganz anders der<br />
Rückweg: Schweißperlen stehen auf<br />
der Stirn des 28-Jährigen, als er den<br />
Sack mit den Maiskolben schultert, die<br />
er heute Vormittag geerntet hat. „Zum<br />
Arbeiten ist es jetzt zu heiß“, sagt er<br />
und stapft los – zurück in sein Dorf.<br />
Über einen schmalen Weg marschiert<br />
er durch dichtes Schilfgras. Die scharfen<br />
Blätter schneiden in die Haut. Es<br />
ist Regenzeit. Feuchte Wärme steigt<br />
aus dem matschigen Boden. Eine<br />
knappe Stunde dauert der beschwerliche<br />
Fußweg.<br />
Fast alle im Dorf müssen so weit zu<br />
ihren Feldern laufen, seit sie vor sechs<br />
Jahren von der äthiopischen Regierung<br />
umgesiedelt wurden. Sie sind in der<br />
Region Gambela nicht die Einzigen:<br />
50.000 bis 70.000 Kleinbauern, die weit<br />
verstreut im sumpfigen Buschland an<br />
der Grenze zum Südsudan siedelten,<br />
mussten nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen<br />
ihre angestammten<br />
Höfe verlassen. Fortan müssen<br />
sie in zentralisierten Dörfern leben.<br />
Ojulu hat zumindest das Glück,<br />
auch nach der Umsiedlung den Acker<br />
seiner Familie bewirtschaften zu können.<br />
Anderen Familien wurde im Zuge<br />
der Villagization – so heißt das Umsiedlungsprogramm<br />
– auch ihr fruchtbares<br />
Land genommen. Sie müssen sich jetzt<br />
oft mit kargen Böden, wenig Wasser<br />
oder magerem Weideland begnügen.<br />
Die internationale Organisation<br />
Human Rights Watch spricht von Vertreibung,<br />
die zum Teil auch mit Gewalt<br />
durchgesetzt wurde. Dem widerspricht<br />
die Regierung in Addis Abeba vehement:<br />
Das Umsiedlungsprogramm<br />
bringe den Menschen mehr Bildung<br />
Mit seinem kleinen Maisfeld ernährt Mark<br />
Ojulu zwölf Menschen. Offiziell gehört der<br />
Acker der Regierung – für Mark ein Risiko.<br />
31
Eine Getreidemühle könnte den Dorfbewohnern das mühsame Stampfen<br />
der Maiskörner ersparen. Bisher warten sie vergeblich darauf.<br />
und medizinische Versorgung, Straßen,<br />
Getreidemühlen und besseren Schutz.<br />
„Die Versprechen, die sie uns gaben,<br />
wurden nicht eingelöst“, sagt Mark<br />
Ojulu, als er an den ersten Lehmhütten<br />
seines Dorfes vorbeikommt. Noch immer<br />
fehlt den Menschen eine Getreidemühle,<br />
die ihnen das beschwerliche<br />
Mahlen per Hand erspart. Und einen<br />
Arzt finden sie erst in der nächsten<br />
Kleinstadt, die etliche Kilometer Fußweg<br />
über staubige Pisten entfernt liegt.<br />
Das Maisfeld von Mark Ojulu ist<br />
kaum größer als ein halber Fußballplatz.<br />
Trotzdem kann er davon zwölf<br />
Menschen ernähren. Neben seinem<br />
kleinen Sohn, seiner Frau und deren<br />
Mutter sind das Verwandte und auch<br />
einige bedürftige Nachbarn. „Ohne das<br />
Land wären wir aufgeschmissen“, sagt<br />
er. Allerdings gehört offiziell alles Land<br />
der Regierung. Pachtverträge oder andere<br />
Sicherheiten gibt es für die Kleinbauern<br />
nicht. Und so befürchtet Ojulu,<br />
auch noch seinen Familienacker zu verlieren<br />
– so wie viele Kleinbauern in der<br />
Region.<br />
„Fast alle umgesiedelten Dorfbewohner<br />
kommen aus Gebieten, wo das<br />
Land an Investoren vergeben wurde“,<br />
„Die gegebenen<br />
Versprechen<br />
wurden nicht<br />
eingelöst.“ MARK OJULU<br />
sagt der Mitarbeiter einer lokalen<br />
Nichtregierungsorganisation (NGO),<br />
die mit Programmen zur ländlichen<br />
Entwicklung in der Region aktiv ist. Die<br />
Organisation möchte anonym bleiben.<br />
So wie auch Kleinbauer Mark Ojulu<br />
32<br />
und die weiteren Akteure dieser Reportage.<br />
Kritiker landen in Äthiopien<br />
schnell im Gefängnis.<br />
Was aber macht die weit entlegene<br />
Region für Agrarinvestoren attraktiv?<br />
Durch Gambelas Tiefland fließen mehrere<br />
Seitenarme des Blauen Nil. Die<br />
Flüsse schwemmen fruchtbare Sedimente<br />
an. Angelockt werden die Agrarkonzerne<br />
aber nicht nur von den guten<br />
Böden. Seit internationale Konzerne,<br />
Geschäftsleute und Finanzfonds Agrarland<br />
als Investment entdeckt haben,<br />
verpachtet Äthiopiens Regierung große<br />
Landstriche für wenige Dollar pro<br />
Hektar und Jahr. Davon erhofft sie sich<br />
einen Wirtschaftsaufschwung und sprudelnde<br />
Steuereinnahmen – mit denen<br />
sich, so der NGO-Mitarbeiter, nur die<br />
Eliten bereichern würden, während den<br />
kleinen Leuten durch die Landvergabe<br />
die Existenzgrundlage entzogen wird.<br />
Rund 50 Investoren sind inzwischen<br />
in dem ostafrikanischen Land aktiv, aus
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Auslandsreportage<br />
„Niemand<br />
schützt uns vor<br />
der Gewalt der<br />
Banden.“ EIN DORFBEWOHNER<br />
der Türkei, aus China, Indien oder Pakistan.<br />
Nach einem Bericht der Financial<br />
Times in London hat die Zentralregierung<br />
bislang fast die Fläche Belgiens<br />
verpachtet. Noch einmal so viel will sie<br />
in den nächsten Jahren vergeben. Und<br />
das, obwohl das Programm der Regierung<br />
nicht aufzugehen scheint.<br />
Tatsächlich ist industrielle Landwirtschaft<br />
in der weit entlegenen Region<br />
zu betreiben eine Herausforderung.<br />
Es gibt kaum asphaltierte Straßen, die<br />
den großen Maschinen oder Erntetrucks<br />
standhalten können. Die Hoffnung<br />
der Regierung, dass die Investoren<br />
in neue Infrastruktur investieren,<br />
wurde bislang nicht erfüllt. Stattdessen<br />
werden die Schlaglöcher auf den wenigen<br />
nicht asphaltierten Pisten durch die<br />
großen Erntemaschinen immer tiefer.<br />
Zudem sind Wetter und Klima in<br />
Gambela extrem. Hitze und Dürre<br />
wechseln sich mit sintflutartigen Regenfällen<br />
und Überschwemmungen ab. Ein<br />
großer Teil der Anbauflächen des indischen<br />
Investors Karuturi Global zum<br />
Beispiel sind regelrecht abgesoffen. Der<br />
weltgrößte Produzent von Schnittblumen<br />
und selbst ernannte König der<br />
Rosen wollte in Gambela Reis und Getreide<br />
anbauen. Nun liegen viele Tausend<br />
Hektar brach. Die Regierung will<br />
dem Konzern die Konzession zwar entziehen.<br />
Für das Land wird sich aber sicher<br />
ein neuer Investor finden, denn<br />
trotz der Schwierigkeiten bleiben die<br />
Großfarmen ein lohnendes Geschäft.<br />
Die Kleinbauern gehen leer aus. Die<br />
Folge: Immer mehr von ihnen können<br />
sich nicht mehr selbst versorgen.<br />
Für viele ist deshalb das Welternährungsprogramm<br />
der Vereinten Nationen<br />
(UN) die einzige Rettung. Seit<br />
Jahren versorgen die UN in Gambela<br />
Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge aus<br />
dem Südsudan. Zunächst flohen die<br />
Menschen aus dem Sudan vor den Unabhängigkeitskriegen<br />
des Südens gegen<br />
den Norden. Seit 2013 suchen sie<br />
Schutz vor dem mörderischen Bürgerkrieg<br />
im nun eigenständigen Südsudan.<br />
Fast 300.000 Südsudanesen leben<br />
in Gambela, die meisten in Camps. Beiderseits<br />
der Grenze leben mit den<br />
Anuak und den Nuer dieselben Ethnien.<br />
Sich als Flüchtling registrieren zu<br />
lassen, gelingt auch Einheimischen.<br />
Leere Getreidesäcke mit dem Logo des<br />
World Food Programme oder Dosen<br />
Die Bewohner<br />
bewaffnen<br />
sich, um sich<br />
vor Übergriffen<br />
zu schützen<br />
(oben). Erntefahrzeuge<br />
der<br />
Großfarmer<br />
ruinieren<br />
die wenigen<br />
Straßen.<br />
33<br />
von USAID mit Speiseöl aus Erdnüssen<br />
sind ein häufiger Anblick in den Dörfern.<br />
So geraten auch die Kleinbauern,<br />
die sich eigentlich selbst versorgen<br />
könnten, in Abhängigkeit von den UN,<br />
weil sie ihr Land verloren haben.<br />
Dabei sind gerade sie es, die in<br />
Äthiopien Menschen satt machen. Lediglich<br />
fünf Prozent der verbrauchten<br />
Lebensmittel im Land stammen von<br />
Großfarmen. Denn selbst wenn auf<br />
den weiten Flächen der Investoren alles<br />
nach Plan läuft, werden Reis, Mais oder<br />
Sojabohnen meist exportiert, weil sich
auf dem Weltmarkt ein besserer Preis<br />
erzielen lässt.<br />
Als Mark Ojulu endlich sein Haus<br />
erreicht, treibt er die Schafe und Ziegen<br />
zum Grasen aus dem Stall. Hinter<br />
dem Stall liegt das Haus seiner Nachbarin.<br />
Vor drei Jahren ist Achala Gora<br />
mit ihren vier Kindern aus dem Südsudan<br />
geflohen. Die Familie kam mit<br />
nichts außer ihrer Kleidung am Leib<br />
im Dorf an.<br />
„Wir rannten Hals über Kopf weg,<br />
als die Kämpfe zwischen der Armee<br />
und den Rebellen immer näherkamen.“<br />
34<br />
Witwe Achala<br />
Gora (oben) ist<br />
mit vier Kindern<br />
aus dem Südsudan<br />
geflüchtet.<br />
Wie die<br />
anderen Dorfbewohner<br />
muss auch sie<br />
stundenlange<br />
Wege zum<br />
nächsten<br />
Arzt in Kauf<br />
nehmen.<br />
Die 35-Jährige lehnt mit dem Rücken<br />
an der Wand ihres Hauses und schaut<br />
über den kleinen Hof. Hühner laufen<br />
gackernd umher. Hier im Dorf hat<br />
Achala Gora Verwandte. In ein Flüchtlingscamp<br />
wollte sie nicht. Dort gebe es<br />
„keine Möglichkeit, Vieh oder Hühner<br />
zu halten, etwas anzubauen und sich etwas<br />
aufzubauen“, erzählt sie.<br />
Die Verwandten stellten Achala<br />
Gora ein kleines Haus zur Verfügung.<br />
Trotz der Armut gibt es eine Kultur des<br />
Teilens. Aber natürlich sind Zehntausende<br />
Menschen, die mit kaum mehr<br />
als ihrer Kleidung am Leib über die<br />
Grenze fliehen, eine große Belastung.<br />
Häufig kommt es in den Dörfern zu<br />
Spannungen und Streit, um Ackeroder<br />
Weideland und Wasserstellen für<br />
das Vieh. Vor allem die jungen Männer<br />
geraten aneinander.<br />
Als die Sonne allmählich untergeht,<br />
taucht plötzlich einer der Dorfältesten<br />
aus der Dämmerung auf. Bewaffnete<br />
Männer wurden gesichtet. Zwischen
Auslandsreportage<br />
Vorsichtige Zuversicht<br />
Seit Beginn des Jahres hoffen viele Menschen in<br />
Äthiopien auf einen Aufbruch. Zunächst entließ der ehemalige<br />
Premierminister nach zwei Jahre währenden,<br />
blutigen Massenprotesten Hunderte politische Gefangene.<br />
Dann übernahm mit Abiy Ahmed im April erstmalig<br />
ein Vertreter der Mehrheitsethnie der Oromo die politische<br />
Führung und versprach, das Land umzukrempeln.<br />
Einiges deutet darauf hin, dass er es ernst meint.<br />
Im Sommer sicherte der neue Premier die Umsetzung<br />
des Friedensabkommens mit dem Dauerfeind Eritrea<br />
zu. Kurz zuvor hatte er in Äthiopien den Ausnahmezustand<br />
aufgehoben. Zudem will er staatliche<br />
Unternehmen in Sektoren wie Energie, Luftfahrt und<br />
Telekommunikation für private Investitionen öffnen.<br />
Schon seit Jahren ist die ostafrikanische Nation eine<br />
der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften<br />
Afrikas. Wird von nun an auch die Mehrheit der<br />
Äthiopier davon profitierten? Vielleicht sogar auch die<br />
Millionen Kleinbauern des Landes? Zum Neujahrsfest<br />
im September – Äthiopien hat einen eigenen Kalender<br />
– war die Stimmung verhalten optimistisch.<br />
Die Privatisierung von Staatsunternehmen führt nicht<br />
automatisch zu mehr Gerechtigkeit. Auch haben<br />
Angriffe militanter Oromo auf Angehörige anderer<br />
Volksgruppen für einen Dämpfer gesorgt.<br />
BUCERIUS<br />
KUNST<br />
FORUM<br />
KUNZTBUCHFLOHMARKT<br />
SO, 28. 10. <strong>2018</strong><br />
11:00 UHR<br />
Der <strong>Kunzt</strong>buchflohmarkt lädt zum Stöbern<br />
und Schnäppchenjagen ein. Ausgewählte<br />
Kunstbücher, Postkarten und mehr aus dem<br />
Bucerius Book Shop und dem Antiquariat<br />
der Rathauspassage können für kleines Geld<br />
ergattert werden. Die Erlöse des Flohmarkts<br />
kommen dem Hamburger Straßenmagazin<br />
Hinz & <strong>Kunzt</strong> und der Rathauspassage zugute.<br />
Thematisch passende und gut erhaltene<br />
Bücher, die nicht älter als 10 Jahre sind,<br />
können für den Flohmarkt gespendet und<br />
bis zum 25. 10. <strong>2018</strong> an folgenden Orten<br />
abgegeben werden:<br />
❶ Hinz & <strong>Kunzt</strong>: Altstädter Twiete 1–5<br />
❷ Bucerius Kunst Forum: Rathausmarkt 2<br />
❸ Rathauspassage: Unter dem Rathausmarkt<br />
Weitere Informationen<br />
buceriuskunstforum.de/kunztbuchflohmarkt<br />
Eine Kooperation mit<br />
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dem Dorf und der Grenze zum Südsudan gibt es nur<br />
noch Wald und Busch. Im vergangenen Jahr sind<br />
schon einmal Banden über die Grenze gekommen,<br />
haben nicht nur Vieh, sondern auch Kinder geraubt.<br />
Dabei töteten sie mehr als 180 Menschen. „Niemand<br />
schützt uns vor der Gewalt dieser Banden“, sagt einer<br />
der verwaisten Väter und schultert sein Gewehr.<br />
Gemeinsam mit zwei weiteren Bewaffneten bricht er<br />
auf, um die Gegend um das Dorf herum zu durchkämmen.<br />
Eigentlich war den Menschen im Zuge des<br />
Umsiedlungsprogramms auch mehr Sicherheit versprochen<br />
worden. Ein kleiner Trupp der Armee aber<br />
trifft erst viele Stunden später ein.<br />
Die Witwe Achala Gora bleibt an ihrer Feuerstelle<br />
sitzen. Bedrückt schaut sie zu Boden. Wird die<br />
Gewalt aus dem Südsudan sie und ihre Familie einholen?<br />
Die Sorge steht ihr ins Gesicht geschrieben.<br />
Neben den anderen großen Sorgen – ob sie die Kinder<br />
satt bekommt und ihr kleines Stück Land behalten<br />
kann. Oder es an Investoren verliert. Kann sie<br />
den Acker nicht behalten, wird auch sie in eines der<br />
Flüchtlingscamps gehen müssen. Und ihre Rationen<br />
von den Vereinten Nationen erhalten. •<br />
Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />
35<br />
SCHÖNER<br />
WOHNEN IN<br />
ALTONA?<br />
STADT------------><br />
-----ENTWICKLUNG<br />
IM 20. UND 21.<br />
JAHRHUNDERT<br />
29.09.<strong>2018</strong><br />
– 24.06.2019<br />
shmh.de
„LIEBER<br />
TOT ALS<br />
OBDACHLOS“<br />
Dass Depressionen ein ganzes Leben aus der Bahn werfen können,<br />
hat Reiner Ott selbst erfahren. Er hat alles hinter sich: Drogensucht<br />
und Jobverlust, drohende Obdachlosigkeit und versuchter Suizid.<br />
Heute arbeitet er als Genesungsbegleiter und unterstützt Menschen<br />
in psychischen Krisen.<br />
TEXT: MISHA LEUSCHEN<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE
Lebenslinie<br />
Reiner Otts Depression hört auf den Namen<br />
„Fiffi“. Wie ein großer schwarzer Hund legt die<br />
Krankheit sich ab und zu auf seine Seele. Fiffi<br />
bleibt Reiner Otts lebenslanger Begleiter, aber<br />
die Besuche sind seltener geworden „und nach ein paar<br />
Tagen geht Fiffi auch wieder“, sagt der 50-Jährige. Den<br />
verniedlichenden Namen hat er mit gutem Grund gewählt:<br />
„Die Depression wird immer ein Teil von mir bleiben, aber<br />
ich gebe ihr nicht mehr die Macht über mich.“<br />
Reiner Ott arbeitet als Genesungsbegleiter im Treffpunkt<br />
Wandsbek, einer Einrichtung der Sozialpsychiatrie des Rauhen<br />
Hauses. „Genesungsbegleiter haben selbst psychische<br />
Krisen erlebt, durchlebt und inzwischen gelernt, damit umzugehen“,<br />
heißt es auf dem Flyer, der für die Offene Sprechstunde<br />
in der Nebendahlstraße wirbt. Dort finden Menschen<br />
mit psychischen Erkrankungen oder in Krisen Unterstützung,<br />
sie können sich über Hilfsangebote informieren. Vor<br />
allem aber hört ihnen jemand zu, der weiß, wie es ihnen<br />
„Die Depression wird<br />
immer ein Teil<br />
von mir bleiben.“<br />
geht. „Jeder kann zu uns kommen“, erklärt Reiner Ott das<br />
niedrigschwellige Angebot – ohne Überweisung, und das bis<br />
zu fünf Mal, auf Wunsch komplett anonym. Hier können<br />
Menschen auch besprechen, wie es danach für sie weitergehen<br />
kann – eine schnelle Hilfe ohne monatelange Wartezeiten<br />
auf einen Termin beim Psychologen.<br />
Der freundliche Mann mit den hellen Augen und der angenehmen<br />
Stimme ist ein Mensch, zu dem man schnell Vertrauen<br />
fasst – ein guter Zuhörer, zugewandt und kompetent.<br />
Seine Arbeit als Genesungsbegleiter ist für ihn ein Sechser im<br />
Lotto. Was ihn daran besonders erfüllt? „Wir sind Hoffnungsgeber“,<br />
erklärt er. „Wenn ich es schaffen kann, mit meiner<br />
Erkrankung umzugehen, dann können das auch andere.“<br />
Man dürfe die Hoffnung nie aufgeben, egal wie mies die<br />
Situation sei, findet er und verzieht gleich das Gesicht: „Das<br />
lässt sich im Nachhinein leichter sagen, ich weiß.“<br />
Auch für Reiner Ott war es ein langer Weg, bis er mit seiner<br />
Erkrankung leben und seinen Frieden machen konnte.<br />
Seine Kindheit in Bad Homburg war schwierig, die Mutter<br />
war an Depressionen erkrankt, der Vater alkoholabhängig<br />
und gewalttätig. Vielleicht habe er deshalb im Leben so feine<br />
Antennen für Stimmungen entwickelt, überlegt er: „Ich bin<br />
zu feinfühlig.“<br />
Mit 13 war er, das jüngste von vier Geschwistern, Dauerschulschwänzer.<br />
Das führte zur Krise zu Hause, „der Kreislauf<br />
kam in Fahrt“. Mit 14, „einen Tag vor meinem Geburtstag“,<br />
kam er in ein Heim für schwer erziehbare Kinder, weil<br />
37
Lebenslinie<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>308</strong>/OKTOBER <strong>2018</strong><br />
„Die Natur ist mein Erste-Hilfe-Koffer“, sagt Reiner Ott.<br />
Wenn er draußen unterwegs ist, kann er runterkommen, Gedanken<br />
sammeln und seine Prioritäten neu ordnen.<br />
er nicht mehr zu bändigen war. „Das Kinderheim hat mir<br />
gut getan“, sagt er in der Rückschau. Er lernte, sich durchzusetzen,<br />
wurde selbstbewusster und schaffte die vierjährige<br />
Ausbildung zum Elektroinstallateur: „Mit der bestandenen<br />
Prüfung musste ich ausziehen.“ Das Jugendamt besorgte ihm<br />
eine Wohnung, „ich hatte eine tolle Sozialarbeiterin“, erinnert<br />
er sich.<br />
Er nahm einen Job in einem Versandlager an und schaffte<br />
es bis zur Leitung; dann zog das Unternehmen weg aus<br />
Deutschland. Reiner Ott wurde gekündigt, und das Leben<br />
kam ins Rutschen. Drogen machten den Alltag erträglicher.<br />
„Ich habe gekifft und gekokst, bis die Abfindung nach der<br />
Kündigung weg war“, sagt er. Ein neuer Job musste her. Als<br />
PC-Techniker bearbeitete er als Scheinselbstständiger für ein<br />
Sub-Sub-Unternehmen eines Konzerns Garantieaufträge:<br />
„Das ging auch bekifft.“ Sein Chef, eine windige Type, veruntreute<br />
in der Firma Geld und haute ins Ausland ab. Für<br />
Reiner Ott war niemand zuständig: Er hatte keinen Job,<br />
keine Perspektive und null Peilung, wie es weitergehen sollte.<br />
Das innere Durcheinander fand seinen Ausdruck im äußeren<br />
Chaos. Heute weiß er, dass er schon lange ein Messie<br />
war und immer noch ist. Damals, als seine Wohnung in Bad<br />
Homburg in Flohmarktware und alten Zeitungen unterzugehen<br />
drohte, hielt er sich einfach nur für unordentlich. Die<br />
Situation eskalierte, als er seine Miete nicht mehr zahlen<br />
konnte: Hals über Kopf flüchtete er aus seiner vermüllten<br />
Wohnung zu einer Internet-Bekanntschaft nach Berlin. Mit<br />
seiner neuen Liebe wollte er ein Internet-Café eröffnen – das<br />
ging gründlich schief. Nach einem halben Jahr waren Liebe<br />
und Geschäft im Eimer.<br />
„Damals war es nicht so schwer, in Berlin eine Wohnung<br />
zu finden“, erzählt Reiner Ott. Er kam in Spandau unter:<br />
„Erdgeschoss, Hinterhof, Ofenheizung, dunkelblaue Wände<br />
– ein echter Depressionslandeplatz.“ Reiner Ott flüchtete in<br />
die Arbeit, jobbte im Telefonmarketing, manchmal drei<br />
Schichten hintereinander, „um mich nicht mit mir selbst zu<br />
beschäftigen“. Soziale Kontakte waren auf ein Minimum<br />
beschränkt, „ab und zu ging ich auf Netzwerkpartys, das<br />
war’s“. Eine Zeitlang habe das funktioniert, dann kam der<br />
Zusammenbruch. Reiner Ott wurde Drehtürpatient in der<br />
Psychiatrie, er nahm Psychopharmaka.<br />
Sein Leben entglitt ihm immer mehr. Er hatte hohe<br />
Schulden, zahlte seine Miete nicht mehr. „Meine Zukunft<br />
war: Tod oder Obdachlosigkeit“, schildert er seine damalige<br />
Lage. Der Tod machte ihm weniger Angst als die bevorstehende<br />
Räumung seiner Wohnung. „Dann lieber Freitod,<br />
habe ich gedacht.“<br />
Seinen Suizid bereitete er akribisch vor, hatte fest eingeplant,<br />
dass man ihn finden würde, damit er nicht so lange tot<br />
herumliege und andere damit belästige. Das Los traf den<br />
Gerichtsvollzieher, der seinen Besuch angekündigt hatte.<br />
Reiner Otts Glück: Der Mann kam zu früh, „er hat mich reanimiert<br />
und mir zwei Rippen gebrochen“. Heute ist er froh,<br />
dass er es vermasselt hat, „damals hab ich mich gefühlt wie<br />
der Loser hoch zehn“.<br />
Sein Bruder holte ihn aus Berlin zu sich nach Hamburg<br />
und wendete so seine drohende Obdachlosigkeit ab. „Ein halbes<br />
Jahr hab ich auf seinem Sofa geschlafen“, erzählt er. Hier<br />
kam er zum ersten Mal zur Ruhe und fand im UKE die Unterstützung,<br />
die er brauchte. „Dort hat man mich ganzheitlich<br />
als Menschen gesehen“, sagt er dankbar. Tagesklinik und Therapie<br />
machten es möglich, dass Reiner Ott langsam wieder in<br />
den Alltag zurückfand, mit eigener Wohnung und Arbeit.<br />
„Wir Genesungsbegleiter<br />
sind Hoffnungsgeber.“<br />
Die Ausbildung zum Genesungsbegleiter wurde für ihn zum<br />
Schlüssel in ein Leben, das für ihn wieder einen Sinn und ein<br />
Ziel hat. Heute ist es für ihn heilend, Menschen in ihrer Entwicklung<br />
zu begleiten und ihnen mit seiner eigenen Erfahrung<br />
zur Seite stehen zu können. Seit vier Jahren arbeitet er<br />
nun hauptberuflich als Genesungsbegleiter.<br />
Noch immer setzen ihm die Nebenwirkungen der Psychopharmaka<br />
zu, die er bereits vor Jahren abgesetzt hat. Noch<br />
immer sammelt und hortet er, „Papier und Informationen<br />
sind mein Thema“. Und noch immer kommt ab und zu Fiffi<br />
vorbei, um ihn zu besuchen. Doch Reiner Ott kennt die<br />
Frühwarnzeichen und hat gelernt, dass er auf sich achten<br />
muss. Dann verzieht sich Fiffi auch wieder. •<br />
Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />
Offene Sprechstunde der Genesungsbegleitung:<br />
jeden Donnerstag, 13–14 Uhr, im Treffpunkt Wandsbek,<br />
Nebendahlstr. 7, Telefon 64 21 87-0.<br />
38
Ombudsstelle für Flüchtlingsarbeit<br />
„Eine wichtige<br />
Stimme“<br />
E X TR ACA R D<br />
170. So viele Menschen haben Annegrethe Stoltenberg<br />
und ihre beiden Mitarbeiterinnen in der<br />
Ombudsstelle für Flüchtlingsarbeit im ersten<br />
Jahr ihres Bestehens beraten. 170 Menschen,<br />
die sich mit Fragen, Wünschen, Kritik oder<br />
Konflikten an die Schlichtungsstelle gewendet<br />
haben. „Die Menschen vertrauen uns, wir sind<br />
eine wichtige Stimme“, sagt Stoltenberg nicht<br />
ohne Stolz.<br />
Ein Fall ist ihr besonders in Erinnerung geblieben.<br />
Ein Mann aus Syrien war seiner schwer<br />
kranken Frau und seinem Kind nach Hamburg<br />
gefolgt, zusammen wollten sie hier ein neues Leben<br />
beginnen. Doch als der Mann ankam, war<br />
seine Frau gestorben. In ihre Wohnung durfte er<br />
trotzdem nicht hinein. „Er sprach kein Wort<br />
Deutsch und verstand das alles nicht. Er hätte<br />
auf der Straße landen können“, sagt Annegrethe<br />
Stoltenberg. Die Ombudsstelle konnte das durch<br />
ihr Eingreifen verhindern.<br />
Oft geht es um die Wohnsituation. Nachdem<br />
viele Geflüchtete nicht mehr in provisorischen<br />
Erstaufnahmeeinrichtungen leben, habe sich die<br />
Lage insgesamt „entspannt“, so die ehemalige<br />
Landespastorin und Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Herausgeberin.<br />
Von den 55.916 Flüchtlingen in Hamburg leben<br />
rund 33.000 in öffentlichen Unterkünften.<br />
Ein weiterer Schwerpunkt sind Fragen rund<br />
um psychische Belastungen von Geflüchteten.<br />
Auch in diesem Punkt konnte die Ombudsstelle<br />
vielfach unterstützen, „auch wenn es den Betroffenen<br />
oft nicht schnell genug geht“. Die Ombudsfrau<br />
lobte das nach wie vor große Engagement<br />
von Hauptamtlichen und Freiwilligen in<br />
der Flüchtlingsarbeit. Derzeit gebe es einen großen<br />
Bedarf an lebensnahem Spracherwerb und<br />
praktischen Kursen, etwa, wie in Deutschland<br />
die Mülltrennung funktioniere.<br />
Die Laufzeit der Ombudsstelle ist zunächst<br />
auf zwei Jahre befristet, also bis 2019. Annegrethe<br />
Stoltenberg hofft jedoch, dass die Schlichtungsstelle<br />
bis Ende der Legislaturperiode 2020<br />
bestehen kann – mindestens. SIM<br />
•<br />
H<br />
I N Z & K U N Z T<br />
Hurra!<br />
HINZ&KUNZT<br />
UND<br />
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Ombudsfrau Annegrethe<br />
Stoltenberg<br />
Foto: Sinje Hasheider
Vorfreude vor dem Start (großes Foto links).<br />
Im Uhrzeigersinn von oben links: Gästeführerin<br />
Maike Brunk erklärt uns Hamburg –<br />
für einen Quiddje wie Verkäufer Vasile eine<br />
tolle Sache! Die Kai anlagen mit den großen<br />
Kränen sind sehr beeindruckend.<br />
Ziemlich relaxt sind Verkäufer Jan Sebastian<br />
und Meike vom Vertrieb (unten). Mit seinem<br />
kecken grünen Hütchen kann Verkäufer<br />
Michael nicht verloren gehen.<br />
Marcel macht sich als Galionsfigur schon<br />
ziemlich gut, während Sozialarbeiterin<br />
Ana-Maria und Sigi vom Vertriebsteam<br />
das Kaiser wetter genießen.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Freunde<br />
„Das müssten<br />
wir viel<br />
öfter machen“<br />
Hafenrundfahrt und Grillevent:<br />
70 Hinz&Künztler und ihre Hunde hatten einen<br />
Spitzen-Ausflugstag – nicht zuletzt dank der<br />
großzügigen Unterstützung von Barkassen-Meyer,<br />
Gästeführerin Maike Brunk und unserem<br />
Freundeskreismitglied Annemarie Ammon.<br />
TEXT: SYBILLE ARENDT<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
Unsere Gruppe ist ein echter<br />
Hingucker. Verkäufer Michael<br />
trägt ein keckes grünes<br />
Hütchen, André spielt lautstark<br />
Mundharmonika. Vertriebskollege<br />
Jürgen fährt Roller, ein Verkäufer sitzt<br />
im Rollstuhl. Und nicht zu vergessen<br />
die Hunde – vom Nackthund bis zum<br />
Großpudel ist alles dabei. 70 Verkäu -<br />
fer haben sich vor der Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />
Geschäftsstelle zum Verkäuferausflug<br />
versammelt, um gemeinsam eine Hafenrundfahrt<br />
zu machen und anschließend<br />
zu grillen.<br />
Die Kollegen vom Vertriebsteam<br />
laufen hektisch hin und her. Es ist wie<br />
bei einer Klassenreise. Sind alle da, die<br />
zugesagt haben? Einige Verkäufer melden<br />
sich noch spontan ab: Sie möchten<br />
doch lieber verkaufen. Wer braucht<br />
noch eine Fahrkarte? Und wo sind noch<br />
mal die Getränkemarken? Zum Glück<br />
ist Kaiserwetter.<br />
Mit der U-Bahn geht es bis zu den Landungsbrücken.<br />
Dann setzt sich unser<br />
bunter Haufen in Richtung Brücke 10<br />
in Bewegung. Touristen mustern uns<br />
„Ich wusste<br />
nicht, was mich<br />
hier erwarten<br />
würde.“<br />
VERKÄUFER VASILE<br />
neugierig. An der Barkasse angekommen,<br />
müssen wir uns gedulden: Die Getränke<br />
sind noch nicht an Bord. Aber<br />
sobald das Team von Barkassen-Meyer<br />
die eiskalten Flaschen mit Limo und<br />
Cola verstaut hat, dürfen wir an Bord.<br />
41<br />
„Alle mit Hunden zuerst. Und die müssen<br />
auf jeden Fall nach draußen“, ruft<br />
Vertriebskollegin Meike. Das nehmen<br />
alle gern in Kauf. Drinnen möchte bei<br />
dem Wetter sowieso niemand sitzen.<br />
Und dass die Tiere überhaupt beim<br />
Ausflug mit dabei sein dürfen, freut die<br />
Hinz&Künztler. Meist dürfen sie keine<br />
Hunde mitbringen. Auch bei unseren<br />
eigenen Ausflügen ist das manchmal so,<br />
zum Beispiel wenn wir einen Bus chartern<br />
wie im vergangenen Jahr.<br />
Ob vier oder zwei Beine: Alle stürmen<br />
aufs Deck der Barkasse. Die Sonne<br />
ist warm, der Himmel blau, Schäfchenwolken<br />
ziehen langsam vorbei. Ein perfekter<br />
Tag. Schnell finden sich Grüppchen<br />
zusammen. Manche sitzen auch<br />
allein. So wie Vasile. Der Rumäne, der<br />
seit zehn Jahren obdachlos ist und<br />
schon in mehreren Städten Europas<br />
Straßenmagazine verkauft hat, wollte<br />
erst gar nicht kommen. „Ich wusste
Josef (oben links) hat schon unseren Fotowettbewerb gewonnen – beim Ausflug hat er es auf Schiffe abgesehen. Vertriebsleiter Christian,<br />
Verkäufer Eugene und Gästeführerin Maike chillen im Schatten (oben rechts). Verkäufer Rainer ist vom Fach: Er war früher<br />
jahrelang als Binnenschiffer unterwegs (unten rechts). Nach der Hafenrundfahrt wartet Grillmeister Jürgen auf hungrige Ausflügler.<br />
nicht, was mich erwartet. Und ich habe<br />
noch keine Freunde bei Hinz&<strong>Kunzt</strong>“,<br />
sagt der 38-Jährige. „Aber das kommt<br />
schon noch.“ Vasile ist erst seit wenigen<br />
Monaten bei uns. Er schläft mit seinen<br />
beiden Hunden in einem Zelt. Heute<br />
genießt er mit Jack und Lilli die entspannte<br />
Zeit.<br />
Josef hingegen ist schwer in Action.<br />
Permanent macht der gebürtige Pole<br />
Fotos. Das kann er gut: Im vergangenen<br />
Jahr hat er den ersten Preis bei unserem<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Fotowettbewerb gewonnen<br />
und alle mit seinem Bild eines<br />
Kormorans beeindruckt. Heute hat er<br />
es auf die Schiffe abgesehen, an denen<br />
wir vorbeikommen. „Nach dem Ausflug<br />
hier habe ich eine Woche Arbeit:<br />
Ich muss die ganzen Fotos sichten“, erklärt<br />
der 50-Jährige. „Nur die besten<br />
hebe ich auf.“ Dann dreht er sich schon<br />
wieder um und hält sich die Kamera<br />
vors Gesicht. „Ich habe jetzt leider keine<br />
Zeit mehr zum Reden.“<br />
Jetzt ist sowieso Zuhören angesagt.<br />
Maike Brunk hat das Wort und erzählt<br />
spannende Dinge über den Hamburger<br />
Hafen, während wir an den dicken Pötten<br />
vorbeifahren. Die 46-Jährige hat<br />
„Einfach mal<br />
gemeinsam<br />
eine gute Zeit<br />
haben.“<br />
SOZIALARBEITERIN ISABEL<br />
2007 die Hamburger Elbinsel-Tour gegründet<br />
und ist eine gefragte Gästeführerin.<br />
Beim G20-Gipfel hatte sie zum<br />
Beispiel die Begleiterinnen der Teilnehmer<br />
an Bord. Auf die Hinz&Künztler<br />
hat sie sich besonders gefreut, weshalb<br />
42<br />
sie uns auch die Moderation schenkt.<br />
„Was ist ein Starter?“, fragt sie gerade<br />
in die Runde, als wir an der Insel der<br />
Autos am Kattwykhafen vorbeifahren.<br />
Niemand hat eine Idee. „Das sind Leute,<br />
die mit mobilen Batterien herumlaufen<br />
und versuchen, die alten Gurken<br />
wieder zum Laufen zu bringen“, erklärt<br />
Maike Brunk. Anerkennendes Nicken<br />
ringsherum.<br />
„Die Schiffstour ist so, wie sie Touristen<br />
nicht unbedingt zu sehen bekommen“,<br />
lobt Rainer. Der Hinz&Künztler<br />
kennt sich aus: Er war früher viele Jahre<br />
als Binnenschiffer unterwegs. Auch Verkäufer<br />
Jörg gefällt, was er hört. „Richtig<br />
klasse, und man wird nicht bedrängt.“<br />
Es gibt zwischendurch auch immer<br />
wieder Pausen, damit man nachdenken<br />
oder sich unterhalten kann. „Das müssten<br />
wir viel öfter machen“, meint Sozialarbeiterin<br />
Isabel und blinzelt vergnügt<br />
in die Sonne. „Einfach mal gemeinsam<br />
eine gute Zeit haben.“
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Freunde<br />
Nach knapp zwei Stunden machen wir<br />
am Anleger Neumühlen fest. Während<br />
des kleinen Fußmarsches zum Hafenbahnhof<br />
erzählt Verkäufer Marcel, dass<br />
er früher mal im Hafen gearbeitet habe.<br />
„Es hat sich so viel verändert, das hätte<br />
ich nicht gedacht.“ Auch Eugene hat einen<br />
besonderen Bezug zum Wasser.<br />
Der gebürtige Nigerianer war früher<br />
für seinen Job regelmäßig mit dem<br />
Schiff unterwegs. „Ich war selbstständig<br />
und habe in Italien Kleidung gekauft,<br />
um sie in Griechenland zu verkaufen“,<br />
erzählt der Hinz&Künztler.<br />
„Als die Wirtschaftskrise in Griechenland<br />
kam, konnte ich nichts mehr<br />
verdienen.“<br />
Beim Hafenbahnhof, einem urigen<br />
Rotklinkerhäuschen, in dem ein Musikclub<br />
untergebracht ist, stehen kühle Getränke<br />
und ein Grill bereit. Kollegin Susanne,<br />
sonst für die Buchhaltung<br />
zuständig, und Verkäufer Jürgen haben<br />
Salate vorbereitet und auch schon<br />
Fleisch und Würstchen auf den Rost<br />
gelegt. Die Kosten dafür hat Spenderin<br />
Annemarie Ammon übernommen. Ein<br />
bisschen Geduld müssen alle mitbringen.<br />
Das fällt nicht jedem leicht, und es<br />
fallen ein paar grobe Worte. Doch<br />
schnell sind ein paar Hinz&Künztler<br />
zur Stelle, die beruhigend einwirken.<br />
Plötzlich fährt mit Blaulicht und quietschenden<br />
Reifen ein Krankenwagen<br />
vor. Erster Gedanke: Da hat jemand einen<br />
über den Durst getrunken. Doch<br />
Vertriebskollegin Meike bringt die Sanitäter<br />
zu Verkäufer Kai, den eine Wespe<br />
in die Zunge gestochen hat. Kurze Untersuchung,<br />
dann gibt es Entwarnung.<br />
Kai muss nicht ins Krankenhaus. Gut<br />
so, denn der 43-Jährige schläft draußen<br />
und hätte nicht gewusst, wohin mit seinem<br />
Hund King Louis.<br />
Um 18 Uhr ist alles verputzt und<br />
die drei Getränkebons pro Person sind<br />
auch längst aufgebraucht. Zeit für den<br />
Heimweg. Grüppchenweise geht es per<br />
Bus nach Hause. Ein Dutzend Verkäufer<br />
macht sich mit Vertriebsleiter<br />
Christian auf den Weg zurück zu<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Wer draußen schläft,<br />
muss noch seine Sachen holen, die während<br />
des Ausflugs hier geparkt waren.<br />
Zufrieden und müde erreichen wir die<br />
Geschäftsstelle. Michael nimmt eine<br />
Riesentasche und rückt sein grünes<br />
Hütchen zurecht. Sein Schlafplatz ist<br />
direkt um die Ecke. Auch Vasile hat<br />
noch Gepäck und füllt seine Wasserflasche<br />
für seine Hunde. Er bedankt sich<br />
überschwänglich. Beim nächsten Mal<br />
ist er wieder dabei. Vielleicht hat er bis<br />
dahin auch Freunde gefunden. •<br />
Kontakt: sybille.arendt@hinzundkunzt.de<br />
JA,<br />
ICH WERDE MITGLIED<br />
IM HINZ&KUNZT-<br />
FREUNDESKREIS.<br />
Damit unterstütze ich die<br />
Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />
Meine Jahresspende beträgt:<br />
60 Euro (Mindestbeitrag für<br />
Schüler/Studenten/Senioren)<br />
100 Euro<br />
Euro<br />
Datum, Unterschrift<br />
Ich möchte eine Bestätigung<br />
für meine Jahresspende erhalten.<br />
(Sie wird im Februar des Folgejahres zugeschickt.)<br />
Meine Adresse:<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Nr.<br />
PLZ, Ort<br />
Telefon<br />
E-Mail<br />
Einzugsermächtigung:<br />
Ich erteile eine Ermächtigung zum<br />
Bankeinzug meiner Jahresspende.<br />
Ich zahle: halbjährlich jährlich<br />
IBAN<br />
Dankeschön<br />
BIC<br />
Bankinstitut<br />
Wir danken allen, die im September an<br />
uns gespendet haben, sowie allen<br />
Mitgliedern im Freundeskreis von Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
für die Unterstützung unserer Arbeit!<br />
DANKESCHÖN EBENFALLS AN:<br />
• IPHH • wk it services<br />
• Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />
• Hamburger Tafel •<br />
Axel Ruepp Rätselservice<br />
• Hamburger Kunsthalle<br />
• bildarchiv-hamburg.de • Röder-Stiftung<br />
• Die Firma Smith & Nephew für den Erlös<br />
aus dem B2B-Run<br />
• Maike Brunk • Annemarie Ammon<br />
• Dr. Jörg Nitschke und seinen Gästen<br />
für die Spendenaktion „Branca“<br />
NEUE FREUNDE:<br />
• Norbert Becker • Lore Beetz<br />
• Julia-Katharina Berndt • Ankie Borowski<br />
• Alexander Brandt • Magrit Delius<br />
• Niels Hackstein • Thekla Kersken<br />
• Milva Mitzlaff • Andrea Paaschburg<br />
• Karen Schulenburg<br />
Ich bin damit einverstanden, dass mein Name in<br />
der Rubrik „Dankeschön“ in einer Ausgabe des<br />
Hamburger Straßenmagazins veröffentlicht wird:<br />
Ja<br />
Nein<br />
Wir garantieren einen absolut vertraulichen<br />
Umgang mit den von Ihnen gemachten Angaben.<br />
Die übermittelten Daten werden nur zu internen<br />
Zwecken im Rahmen der Spendenverwaltung<br />
genutzt. Die Mitgliedschaft im Freundeskreis ist<br />
jederzeit kündbar. Wenn Sie keine Informationen<br />
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Unsere Datenschutzerklärung können Sie<br />
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Bitte Coupon ausschneiden und senden an:<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Freundeskreis<br />
Altstädter Twiete 1-5, 20095 Hamburg<br />
Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk<br />
43<br />
HK <strong>308</strong>
Buh&Beifall<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>308</strong>/OKTOBER <strong>2018</strong><br />
Was unsere Leser meinen<br />
„Ungerechtigkeit macht mich extrem wütend.“<br />
Was ist mit all den Handwerkern?<br />
H&K 307, „Happy Birthday, Veddel!“<br />
Beim Lesen zweier Artikel zur Veddel<br />
habe ich mich sehr geärgert: Darin<br />
wird suggeriert, dass der Besuch eines<br />
Gymnasiums oder einer Uni ein zeichen<br />
der „positiven Entwicklung“ eines<br />
Stadtteils sind. Solche Unverschämtheiten<br />
höre ich leider zu oft, in Ihrem<br />
Magazin aber enttäuschen sie mich<br />
besonders stark: Was ist mit den vielen<br />
jungen Menschen, die einen Beruf erlernen?<br />
Was ist mit all den Handwerkern<br />
und Handwerkerinnen? Mit dem<br />
Pflegepersonal, mit Friseuren und Friseurinnen?<br />
Mit den unzähligen Berufen,<br />
die keinen Besuch eines Gymnasiums<br />
oder einer Universität voraussetzen?<br />
Hört bitte auf, diese große und<br />
wichtige Gruppe Menschen zu diskriminieren.<br />
Danke.<br />
E. VICCARO<br />
Sie haben recht, wenn Sie darauf hinweisen,<br />
dass der Besuch eines Gymnasiums oder einer<br />
Uni nicht das einzige Merkmal für eine positive<br />
Entwicklung ist. Und dass eine Handwerkerkarriere<br />
wie jede andere nichtakademische<br />
Karriere genauso wertvoll ist. Wenn<br />
wir einen anderen Eindruck erweckt haben,<br />
bedauern wir das sehr.<br />
Wir haben diese Zahlen genannt, weil<br />
sie oft ein Indiz für ungleiche Bildungschancen<br />
sind.<br />
Die Redaktion<br />
Keine Neiddiskussionen<br />
H&K 306, „Lasst bitte nicht noch mehr<br />
ertrinken!“<br />
Besonders gut gefällt mir, dass in ihren<br />
Artikeln hilfebedürftige Bevölkerungsgruppen<br />
– egal, welcher Herkunft –<br />
nicht gegeneinander ausgespielt werden.<br />
Es gibt keine Neiddiskussionen<br />
und es wird nicht polarisiert – ganz<br />
anders erlebe ich es leider im privaten<br />
Umfeld gerade bei Menschen, die materiell<br />
im Überfluss leben und dennoch<br />
nicht teilen wollen.<br />
Das Titelthema der vorletzten<br />
Ausgabe verdeutlicht einmal mehr<br />
die humanitäre Einstellung von<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong> auch zur Flüchtlingsthematik.<br />
ANKE HORST<br />
Ich freue mich, dass Sie das Thema<br />
Seenotrettung aufgegriffen haben<br />
und klar Stellung beziehen! Der Beitrag<br />
des Seemannsdiakons Fiete Sturm ist<br />
Gold wert und sollte weit verbreitet<br />
werden. Ihm und auch Ihnen gilt mein<br />
ausdrücklicher Dank.<br />
PETRA STANG<br />
Leserbriefe geben die Meinung des Verfassers<br />
wieder, nicht die der Redaktion. Wir behalten<br />
uns vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />
„ICH WÜNSCHE MIR<br />
EINEN BRATEN UND EUCH<br />
SCHÖNE WEIHNACHTEN!“ HUND JACK<br />
HAMBURGER NEBENSCHAUPLÄTZE<br />
DER ETWAS ANDERE<br />
STADTRUNDGANG<br />
Wollen Sie Hamburgs City einmal mit anderen Augen sehen?<br />
Abseits der teuren Fassaden zeigt Hinz&<strong>Kunzt</strong> Orte, die in<br />
keinem Reiseführer stehen: Bahnhofs mission statt Rathausmarkt,<br />
Drogenberatungsstelle statt Alsterpavillon, Tages aufent halts stätte<br />
statt Einkaufspassage.<br />
Anmeldung: Bequem online buchen unter www.hinzundkunzt.de<br />
oder Telefon: 040/32 10 83 11, Kostenbeitrag: 10/5 Euro,<br />
nächste Termine: 14. + 28.10.<strong>2018</strong>, 15 Uhr<br />
Jack heißt unser diesjähriges Model für unseren Adventskalender.<br />
Er und sein Herrchen sind unzertrennlich. Deshalb ist Jack auch<br />
immer dabei, wenn Vasile Straßenmagazine verkauft. Hinter den<br />
24 Türchen verbergen sich allerdings keine Leckerlis für Hunde,<br />
sondern für Menschen.<br />
24 Türchen mit Bio-Fairtrade-Schokolade, ohne Plastikinlay, also<br />
komplett als Altpapier recycelbar. Von Postalo. Preis: 11,90 Euro.<br />
Schnell bestellen unter www.hinzundkunzt.de/shop<br />
mit Abschiedshaus
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Aus der Favela in die Elphi: Das Projekt Dorcas macht Kindern Hoffnung mit Musik (S. 46).<br />
Vom Armenquartier zum Szeneviertel: So wandelt sich Wohnen in Altona (S. 52).<br />
Glück auf der Straße: Hinz&Künztler Alexandru fi ndet Job bei der Stadtreinigung (S. 58).<br />
Nostalgie? Nein danke. Die Bücher des<br />
Krimiautoren Boris Meyn erzählen von einer<br />
Vergangenheit, die beklemmend aktuell ist –<br />
wie sein neues Werk „Fememord“, das zur Zeit<br />
der Weimarer Republik spielt. Beim Hamburger<br />
Krimifestival wird Boris Meyn daraus lesen.<br />
FOTO: ANDREAS HORNOFF
Beim Konzert in der<br />
Friedenskirche wird<br />
Adriano Blockflöte spielen.<br />
Am Cello ist er im<br />
Publikumsorchester der<br />
Elbphilharmonie zu hören.<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Happy End<br />
in der Favela<br />
Wie sich ein Junge aus einem brasilianischen Armenviertel<br />
in die Musik verliebt und jetzt in Hamburg in einer Kirche und<br />
in der Elbphilharmonie spielt.<br />
TEXT: BIRGIT MÜLLER<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
Adriano war zehn Jahre alt, als er<br />
sich so richtig verliebte. Vorher<br />
hatte der Junge aus einem<br />
brasilianischen Armenviertel noch nie<br />
etwas mit Musik zu tun gehabt. Aber<br />
dann hört er zum ersten Mal Blockflötenmusik.<br />
Er ist so begeistert, dass er<br />
nur noch eins machen will: selbst Flöte<br />
spielen. Inzwischen ist er 17 Jahre alt,<br />
lebt bei Hamburg. Blockflöte und Cello<br />
spielt er inzwischen auf einem so hohen<br />
Niveau, dass er in Hamburg bei Konzerten<br />
mitspielt. Zu verdanken hat er<br />
das seiner Leidenschaft, seinem Fleiß –<br />
und einem Projekt: Dorcas.<br />
Aber der Reihe nach. Adriano<br />
stammt aus einer Favela bei Curitiba,<br />
seine Mutter ist alleinerziehend und<br />
versucht ihr Bestes. Im Viertel, das ironischerweise<br />
Bonfim heißt – Happy<br />
End –, herrscht Arbeitslosigkeit. Perspektive?<br />
Oft ein Fremdwort. Viele Bewohner<br />
haben Probleme mit Drogen.<br />
Adriano sieht überall Drogenkranke<br />
oder Leute, die dealen. Paten haben<br />
den Stadtteil im Griff. „Für Jugendliche<br />
ist es schwer, ein gutes Vorbild zu haben“,<br />
sagt er, als wir uns in der Schanze<br />
auf einen Kaffee treffen.<br />
Viele Kinder gehen nicht zur Schule,<br />
und es gibt keine Erwachsenen, die<br />
sie unterstützen. „Wer weiß, was aus<br />
mir geworden wäre, wenn ich Dorcas<br />
nicht kennengelernt hätte“, sinniert er.<br />
Dorcas ist eine Art Jugendtreff, jenseits<br />
der Favela. Nur eine riesige Straße<br />
trennt die beiden Welten. Dorcas versucht,<br />
den Kindern den Glauben daran<br />
zu geben, dass sie eine Chance haben<br />
im Leben. Und das mit Sport, Bildung<br />
und Musik.<br />
Sport ist gar nichts für Adriano.<br />
Aber die Musik geht ihm durch und<br />
durch. Er darf Blockflöte lernen, und er<br />
lernt in Nullkommanix, Noten zu lesen.<br />
Es ist fast eine Art Rausch. Er übt und<br />
übt und will immer neue Noten. „Meine<br />
Mutter konnte es schon nicht mehr<br />
hören, ich bin zum Üben ins Bad gegangen,<br />
nach draußen, ich konnte einfach<br />
nicht mehr aufhören.“<br />
Adriano hat Glück. Über Dorcas<br />
bekommt er 2014 ein Stipendium für<br />
ein privates Gymnasium. Schon ein<br />
46
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Jahr zuvor hat er es auf eine Musikschule<br />
geschafft. Jetzt kann er intensiv<br />
Blockflöte lernen. Und nicht nur das.<br />
Er darf ein zweites Instrument lernen,<br />
Cello. Die Lehrerin ist so beeindruckt<br />
von diesem ernsten, dabei fröhlichen<br />
Kind, dass sie Adriano kostenlos unterrichtet.<br />
Auf dem Gymnasium lernt er<br />
auch Deutsch. Deutschland ist sowieso<br />
sein Sehnsuchtsort, „weil es ein gutes<br />
Adriano übt<br />
und übt. Es ist<br />
fast eine Art<br />
Rausch.<br />
Land für Musik ist“. Barock und Renaissance<br />
liebt er besonders. Deshalb ist<br />
er auch glücklich, als er ein Stipendium<br />
für ein Austauschjahr in Deutschland<br />
bekommt.<br />
Seit Januar <strong>2018</strong> wohnt er in der<br />
Nähe von Hamburg in einer Gastfamilie.<br />
Er kommt oft nach Hamburg – natürlich<br />
wegen der Musik. Hier kennt er<br />
den Kirchenmusiker Fernando Gabriel<br />
Swiech von der Friedenskirche in<br />
St. Pauli. Und die unterstützt Dorcas<br />
seit vielen Jahren. Demnächst organisiert<br />
Swiech ein Benefizkonzert. Und<br />
da spielt natürlich auch Adriano mit –<br />
auf der Blockflöte. Wofür der Erlös eingesetzt<br />
werden soll, ist auch schon klar:<br />
Dorcas will Nachhilfelehrer engagieren,<br />
damit Jugend liche aus Bonfim die<br />
Chance haben, die Aufnahmeprüfungen<br />
fürs Gymnasium zu schaffen. Auch<br />
Adriano hat früher davon profitiert.<br />
Eigentlich wäre Adrianos Austauschjahr<br />
im Januar 2019 zu Ende.<br />
Aber er bleibt. Denn am 26. Januar will<br />
er zum zweiten Mal in der Elbphilharmonie<br />
auf der Bühne stehen – mit dem<br />
Publikumsorchester.<br />
Und nicht nur das: „Ich werde nach<br />
Brasilien zurückfliegen“, sagt er. „Aber<br />
nur zu Besuch.“ Denn inzwischen hat<br />
er wieder ein Stipendium bekommen,<br />
kann ein Jahr auf die Jugendmusikschule<br />
gehen und sich auf die Musikhochschule<br />
vorbereiten. Zusätzlich kann er<br />
sogar noch Klavier und Cembalo lernen.<br />
Sein Lebensmittelpunkt wird die<br />
nächsten Jahre über Hamburg sein.<br />
„Ich möchte mir hier ein Leben als Musiker<br />
aufbauen“, sagt er ernst. „Ich will<br />
damit auch meiner Familie helfen – und<br />
Dorcas.“ •<br />
Kontakt: birgit.mueller@hinzundkunzt.de<br />
Konzert und Kulinarisches:<br />
„Brasilianische Kultur kompakt“ in der<br />
Friedenskirche, Otzenstr. 19, am Sa,<br />
20.10., 18 Uhr. Es spielen Adriano<br />
Trarbach (Blockflöte), Professor<br />
Clemens Malich (Violoncello), Ronaldo<br />
Steiner (Gesang), Paulo Gouveia (Flöte)<br />
und Fernando Swiech (Klavier). Eintritt<br />
frei, Spenden für Dorcas erbeten.<br />
Adriano Trarbach mit<br />
Darclê Cunha (Dorcas)<br />
und Fernando Swiech von<br />
der Friedenskirche. Beim<br />
Benefizkonzert zugunsten<br />
von Dorcas wird Adriano<br />
Blockflöte spielen.<br />
47
In seinem Haus finden sich jede<br />
Menge alte Kameras, alte Stereoanlagen<br />
und in seiner Garage alte<br />
Autos wie dieser legendäre Saab<br />
96: Boris Meyn liebt alles, was einen<br />
Hauch von Geschichte umweht.
Der Spaziergänger<br />
durch die Jahrzehnte<br />
Seit 15 Jahren schreibt Boris Meyn historische Kriminalromane<br />
und führt uns so durch Hamburgs Epochen. Nun nähert er sich<br />
langsam der NS-Zeit. Doch vorher lernen wir mit der emanzipierten<br />
Journalistin Ilka seine neue Heldin kennen.<br />
TEXT: FRANK KEIL<br />
FOTOS: ANDREAS HORNOFF
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Langsam erwacht die Speicherstadt,<br />
die backsteinroten<br />
Bauten schimmern malerisch<br />
im aufsteigenden Sommersonnenlicht.<br />
In den Kanälen werden<br />
aus den Schuten Lasten sacht angehoben,<br />
sie schweben langsam himmelwärts<br />
und verschwinden in den Speichern.<br />
Und so geht es hier schon Jahr -<br />
hunderte zu, könnte man meinen.<br />
Stimmt aber nicht: Wo sich heute<br />
die Speicherstadt so pittoresk erhebt,<br />
stand einst ein engbelegtes, verschattetes,<br />
aber quirliges Wohnviertel. Das<br />
Hamburgs Kaufleute ohne mit der<br />
Wimper zu zucken komplett abreißen<br />
ließen, nachdem sie vorher die hier<br />
wohnenden Hafenarbeiter samt ihren<br />
Familien rabiat vertrieben und in damals<br />
weit abgelegene Viertel wie Barmbek<br />
verfrachtet hatten, wobei man<br />
Barmbek noch mit ck schrieb: Barmbeck.<br />
So kann man es in Boris Meyns<br />
Roman „Die rote Stadt“ nachlesen.<br />
Die romantische Vorstellung einer<br />
frühen Speicherstadt, sie gerät beim<br />
Lesen ins Wanken. „Na, dann habe ich<br />
es ja genau richtig gemacht“, sagt<br />
Boris Meyn, in seinem Sessel, in seinem<br />
Arbeitszimmer, in seinem Haus und<br />
schlägt die Beine übereinander. „Mein<br />
Ziel ist es, die Menschen an die Hand<br />
zu nehmen und sie durch die Epochen<br />
Hamburgs zu führen, in denen städtebaulich<br />
Entscheidendes passiert ist.“<br />
Selbst wohnt er schon lange nicht<br />
mehr in Hamburg (dabei ist er Ur-<br />
Hamburger, Finkenauer, genau gesagt),<br />
sondern irgendwo am äußersten Rand<br />
von Schleswig-Holstein, und das hat<br />
50<br />
mit dem enormen Erfolg seiner Hamburg-Romane<br />
zu tun. Er holt tief Luft:<br />
„Ich bin Bauhistoriker und hatte es zunächst<br />
mit Fachliteratur versucht.“ Auflage:<br />
500, vielleicht 800 Stück. Bald<br />
hätte er keine Lust mehr darauf gehabt,<br />
auch sei es schwer, davon zu leben.<br />
Doch dann erscheint 1997 mit „Tod am<br />
Zollhaus“ der erste Roman von Petra<br />
Oelker und wird ein Riesenerfolg. „Die<br />
Verlage suchten nun händeringend, was<br />
heute in Hülle und Fülle vorhanden<br />
ist: Autoren für historische Kriminalromane“,<br />
erzählt Meyn weiter. Er selbst<br />
verfasst damals einen kleinen Krimi:<br />
„Just for fun, 60 Seiten, einseitig beschrieben,<br />
Schnellbindung. Ich hatte<br />
nicht die Idee, den zu veröffentlichen.“<br />
Aber er macht die Runde, landet bei<br />
einer Lektorin des Rowohlt Verlages.<br />
„Und die kam zu mir und sagte: ‚Das<br />
Ding machen wir!‘“, erzählt er. Und<br />
plötzlich war er, auch einer großangelegten<br />
Werbekampagne sei Dank,<br />
Bestsellerautor.<br />
Acht historische Kriminalromane<br />
mit Hamburg als Schauplatz hat er seitdem<br />
geschrieben, die sich bis heute gut<br />
verkaufen. „Mir scheint es zu gelingen,<br />
Realität und Fiktion ohne belehrenden<br />
Ton zu verweben“, sagt er. „Mir geht es<br />
darum, dass der Leser schnell und zügig<br />
durch einen Krimi marschiert.“ Mehr<br />
als zwei Tage solle man dafür nicht<br />
benötigen.<br />
Sein neuestes Werk mit dem Titel<br />
„Fememord“ führt nun ins Jahr 1925.<br />
Als die Weimarer Republik sich so etwa<br />
in ihrer Mitte befindet: Sieben Jahre zuvor,<br />
im November 1918, beginnt sie<br />
nach der Abdankung des Kaisers; etwas<br />
mehr als sieben Jahre später wird sie im<br />
Januar 1933 mit der Ernennung Adolf<br />
Hitlers zum Reichskanzler enden.<br />
Und mittendrin seine neue Ermittlerin:<br />
Ilka Bischop. Eine junge Journalistin,<br />
emanzipiert, auch sexuell selbstbewusst,<br />
außerdem leidenschaftliche<br />
Hobbyfliegerin. Gern in Künstlerkreisen<br />
unterwegs. So werden wir in den<br />
Hamburger Kammerspielen späteren<br />
Legenden wie Klaus Mann und Gustaf<br />
Gründgens begegnen, werden den oft<br />
kränkelnden Oberbaudirektor Fritz<br />
Schumacher besuchen, der damals begann,<br />
mit seiner Backsteinarchitektur<br />
die Stadt zu prägen. Dazu geschieht ein
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Mordfall in der Fliegerszene, dunkle<br />
Verbindungen zwischen der jungen,<br />
aufstrebenden Sowjetunion und dem<br />
deutschen Militär, das trotz der Versailler<br />
Verträge wieder aufrüsten will, deuten<br />
sich an. Gekonnt wird eine falsche<br />
Spur gelegt – und am Ende die Tat<br />
aufgeklärt.<br />
Sein nächster<br />
Krimi beschäftigt<br />
sich mit dem<br />
Antisemitismus.<br />
Für Boris Meyn immer wieder eine<br />
Herausforderung: bei den historischen<br />
Fakten zu bleiben, aber nicht die Zeit<br />
selbst zu verlassen, über die er da<br />
schreibt. Er nennt ein Beispiel: „Wir<br />
alle sprechen selbstverständlich vom<br />
Ersten Weltkrieg, aber nur weil wir heute<br />
wissen, dass es danach einen zweiten<br />
weltweiten Krieg gab, da geht es schon<br />
los.“ Und so deutet er in „Fememord“<br />
nur vage an, dass es eine Gruppierung<br />
gibt, die sich ‚Nationalsozialisten‘ nennt<br />
und die hier und da im Straßenbild auftaucht.<br />
„Wenn das Wissen durchschimmert,<br />
was später tatsächlich passiert ist,<br />
ist man als Autor geliefert“, sagt Meyn.<br />
Von daher könne er nicht mehr als<br />
Ängste benennen, dass es einen neuen<br />
Krieg geben könnte – mehr nicht.<br />
Was danach passieren wird, ist<br />
Thema des Folgebandes, an dem er bereits<br />
schreibt, der ins Jahr 1929 führen<br />
wird und unter dem Titel „Sturmzeichen“<br />
für das kommende Frühjahr angekündigt<br />
ist. Der Fall: Ein jüdischer<br />
Bankier wird ermordet aufgefunden.<br />
Und Ilka Bischop muss feststellen, dass<br />
sich Antisemitismus auch in ihrer eigenen<br />
Familie längst selbstverständlich<br />
breitgemacht hat.<br />
So stellt sich auch dieser Meyn-<br />
Krimi einer politischen Aufgabe: „Ich<br />
möchte sichtbar machen, aus welchen<br />
Gründen sich damals die politische<br />
Mitte von den Mitte-Parteien verabschiedet<br />
hat und an die Ränder geströmt<br />
ist und wie die bürgerlichen Par-<br />
51<br />
teien mit ihren eben noch 20 bis 30<br />
Prozent Stimmenanteil zu Splitterparteien<br />
wurden, während die linken Parteien<br />
sich heillos zerstritten“, sagt er.<br />
Und die Parallelen zu heute seien ja erschreckend:<br />
„Ich habe nie gedacht, dass<br />
wir eine solche Umschichtung erleben,<br />
wo Unzufriedenheit zu radikalen Positionen<br />
führt, so wie ich früher gedacht<br />
habe, 1933 wäre einmalig gewesen.“<br />
Und nun frage er sich: Wer wird möglicherweise<br />
der Rattenfänger sein?<br />
Bleibt noch zu erzählen, was sich in<br />
„Fememord“ so nebenbei Neues über<br />
Hamburg lernen lässt. Nämlich: In<br />
Altona-Övelgönne, an der Elbe, ziemlich<br />
auf Höhe des Ausflugslokals<br />
„Strandperle“ war mal eine Art kleiner<br />
Flughafen. Eine Anlage für Wasserflugzeuge,<br />
die immerhin die Linie Altona-<br />
Magdeburg-Dresden und zurück bedienten:<br />
die „Blaue Linie“. „Ich wusste<br />
das auch nicht“, lacht Meyn. Aber er<br />
hat zufällig bei seiner Recherche in einer<br />
Tageszeitung von damals entsprechende<br />
Angaben gefunden und dann<br />
genauer nachgeforscht.<br />
Also: In Altona plante man einst einen<br />
Konkurrenzflughafen zu Fuhlsbüttel,<br />
denn der Flughafen Fuhlsbüttel galt<br />
in den 1920er-Jahren für die Zukunft<br />
als zu klein – weil man noch nicht wissen<br />
konnte, dass durch die aerodynamisch<br />
verbesserten Flugzeugtypen die<br />
Lande- und Startbahnen sich deutlich<br />
verkürzen und der Platz dann wieder<br />
ausreichen würde. „Altona experimentierte<br />
daher mit dieser Wasserfluglinie,<br />
für normale Flugzeuge hatte man schon<br />
eine Fläche in Bahrenfeld ausgewählt.<br />
Aber dann kam 1937 das Groß-Hamburg-Gesetz,<br />
Altona wurde Teil von<br />
Hamburg, und damit erledigte sich das<br />
Thema“, schließt Meyn. •<br />
Kontakt: frank.keil@hinzundkunzt.de<br />
Boris Meyn erleben<br />
Boris Meyn liest am 7.11. um 18 Uhr<br />
beim Hamburger Krimifestival zusammen<br />
mit Nora Luttmer, Till Raether und<br />
Simone Buchholz auf Kampnagel,<br />
Jarrestr. 20, Eintritt: 16, 50 Euro.<br />
Sein Krimi „Fememord“ (9,99 Euro, 240<br />
Seiten) ist im Rowohlt Verlag erschienen.<br />
<br />
SEASICK STEVE<br />
<br />
AGAINST THE CURRENT<br />
<br />
PER GESSLE'S ROXETTE<br />
<br />
THE MYSTERY OF THE BULGARIAN<br />
VOICES FEAT. LISA GERRARD<br />
<br />
SASHA<br />
<br />
JESPER MUNK<br />
<br />
JOHN BUTLER TRIO<br />
<br />
NILS WÜLKER<br />
<br />
THE KILKENNYS<br />
<br />
ANGELO BRANDUARDI<br />
<br />
SHARON SHANNON + BAND<br />
<br />
JORJA SMITH<br />
<br />
METRIC<br />
<br />
ARRESTED DEVELOPMENT<br />
<br />
PETER CETERA<br />
<br />
KLAUS HOFFMANN & BAND<br />
<br />
VENNART<br />
<br />
NIGHTMARES ON WAX<br />
<br />
THE IRISH FOLK FESTIVAL<br />
<br />
LISA BASSENGE TRIO<br />
<br />
THE LAST BANDOLEROS<br />
<br />
BERNHOFT AND<br />
THE FASHION BRUISES<br />
<br />
KYLIE MINOGUE<br />
<br />
NICOLA CONTE & SPIRITUAL GALAXY<br />
<br />
NILS LANDGREN:<br />
CHRISTMAS WITH MY FRIENDS<br />
<br />
JUDITH HOLOFERNES<br />
<br />
CYPRESS HILL<br />
<br />
TORFROCK<br />
<br />
GOOD CHARLOTTE<br />
<br />
ERSTE ALLGEMEINE<br />
VERUNSICHERUNG<br />
<br />
JOOLS HOLLAND & MARC ALMOND<br />
TICKETS: KJ.DE
Kult<br />
Tipps für den<br />
Monat <strong>Oktober</strong>:<br />
subjektiv und<br />
einladend<br />
Ausstellung<br />
Altonaer Quartiere im Wandel<br />
Die ersten Bewohner der Neuen Mitte<br />
Altona sind eingezogen, ein weiteres<br />
Kapitel der Altonaer Wohnungsbaugeschichte<br />
ist damit abgeschlossen.<br />
Wie aber sah es im Stadtteil früher aus?<br />
Das Altonaer Museum wirft in einer<br />
Sonderausstellung einen Blick zurück:<br />
Auf die Wohnungsnot in den 1890ern,<br />
als Altonaer Familien Betten an wohnungslose<br />
„Schlafgänger“ vermieteten,<br />
oder auf solidarische Wohnkultur in<br />
den 1920ern. Auch die Pläne der Nazis,<br />
Altona zum Zentrum einer „Führerstadt“<br />
zu machen, werden gezeigt. Mit<br />
52<br />
„Urbanität durch Dichte“ sollten die Hochhaussiedlungen der 1960er<br />
schaffen. Doch sie brachten auch anonyme Wohnverhältnisse.<br />
Blick nach vorn lädt das Museum zur<br />
Diskussion ein: Die letzten Baustellen<br />
sind noch nicht abgearbeitet. •<br />
Altonaer Museum, Museumstraße 23,<br />
bis 24.6.2019., wochentags 10–17 Uhr,<br />
(Di geschlossen), Sa+So, 10–18 Uhr,<br />
8,50/5 Euro, www.altonaermuseum.de
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Beim Salon International<br />
treffen<br />
Kulturen aufeinander.<br />
Sieht gut aus.<br />
Literatur<br />
Lesestoff für die Herbstsaison<br />
Es wird kühl draußen – für Leseratten<br />
beginnt jetzt die schönste Zeit des<br />
Jahres. Im Literaturhaus präsentieren<br />
Annemarie Stoltenberg und Rainer<br />
Moritz flott und prägnant die besten<br />
Neuerscheinungen der Saison. •<br />
Literaturhaus, Schwanenwik 38,<br />
Do, 4.10., 19.30 Uhr, 12/8 Euro,<br />
www.literaturhaus-hamburg.de<br />
Bühne<br />
Pop in Aktion<br />
Worauf die Jugend von heute steht, weiß sie am besten selbst. Und macht sie auch<br />
selbst: Zum Daughterville stellen Jugendliche ein ganzes Festival auf die Beine,<br />
im LOLA Camp produzieren junge Musiker ihre eigenen Alben und bei Beat up<br />
stehen junge Filmemacher hinter der Kamera. Was sonst noch alles geht in den<br />
Projekten junger Popkulturmacher, zeigt die Werkschau von „Pop 2 Go“ mit Konzerten,<br />
Tanztheater, Filmdreh und Tipps für alle, die selbst aktiv werden wollen. •<br />
Fabrik, Barnerstraße 36, So, 14.10., ab 18 Uhr, Eintritt frei, www.poptogo.de<br />
Kinder<br />
Dinge mit Geschichte<br />
Neuer Name, neues Programm: Das<br />
MARKK (Ex-Völkerkundemuseum)<br />
befasst sich stärker damit, wie unser<br />
Bild von Kulturen entsteht. Dazu<br />
gehört ein kritischer Blick auf die<br />
eigene Sammlung: Wie sind all die<br />
Gegenstände ins Museum gekommen?<br />
Eine Führung für Kinder geht dem<br />
nach. Teilnehmer bringen ein oder<br />
zwei Dinge mit, die in 50 oder 100<br />
Jahren ausgestellt werden könnten. •<br />
MARKK, Rothenbaumchaussee 64,<br />
So, 7.10.,14.30 Uhr, 4 Euro,<br />
www.markk-hamburg.de<br />
FOTOS: NEUE HEIMAT/HAMBURGISCHES ARCHITEKTURARCHIV,<br />
RICA BLUNCK, WIKIMEDIA COMMONS/HEIKE HUSLAGE-KOCH<br />
Debatte<br />
Von Fremdsein und Heimweh<br />
Wie fühlt es sich an, unfreiwillig ein neues Leben in der Fremde anzufangen?<br />
„Der Körper befindet sich nun hier, das Herz ist aber dort“ – so beschreibt es<br />
Abbas Khider. Bevor er in Deutschland Schriftsteller wurde, kämpfte Khider<br />
gegen das Regime von Saddam<br />
Hussein in seiner irakischen Heimat,<br />
erlitt Gefängnisstrafen und Folter, war<br />
jahrelang auf der Flucht. Nun ist er<br />
Schirmherr der „Tage des Exils“,<br />
die das Körberforum auch diesen<br />
Herbst wieder veranstaltet.<br />
In vielen Vorträgen, Lesungen und<br />
Filmabenden erzählen Exilanten<br />
und Flüchtende davon, wie sie mit<br />
Fremdsein und Heimweh leben –<br />
direkt im Gespräch mit den Gästen<br />
oder durch ihre Bilder, Bücher und<br />
Musik. •<br />
Tage des Exils, an 45 Orten in Hamburg,<br />
ab Mo, 15.10., 19 Uhr, Eintritt bei<br />
vielen Veranstaltungen frei. Das ganze<br />
Programm: www.tagedesexils.de<br />
Schirmherr der Tage des Exils:<br />
der Schriftsteller Abbas Khider.<br />
Kino<br />
Filmabend zum Verlieben<br />
In Hamburg kann man sich schnell<br />
verknallen, merken die Helden in<br />
Lynda Bartniks Film „Schöne Aussicht“.<br />
Im Metropolis soll es auch im<br />
Saal knistern. Der Kinoabend „Verguckt“<br />
ist nur für Singles gedacht. •<br />
Metropolis, Kleine Theaterstraße 10,<br />
Di, 9.10., 19 Uhr, 10 Euro (VVK),<br />
www.metropoliskino.de<br />
Debatte<br />
Mittellos sterben<br />
Jeder Mensch hat ein Recht auf würdevolles<br />
Leben – bis zum letzten Tag.<br />
Über das Thema „Einsam und mittellos<br />
sterben“ diskutieren Stephan<br />
Karrenbauer, Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Sozialarbeiter,<br />
und andere im „Ausklang“. •<br />
Ausklang, Hans-Henny-Jahnn-Weg 67a,<br />
Do, 18.10., 19 Uhr, Eintritt frei; Hamburger<br />
Hospizwoche, 14.–21.10., Infos unter<br />
www.koordinierungsstelle-hospiz.de<br />
53
Ausstellung<br />
Dem Himmel ganz nah<br />
Möglichst weit weg von allem Bekannten<br />
wollte Dorothea Heinrich reisen.<br />
Sie fand, was sie suchte, in der Mongolei.<br />
In den Hochsteppen des Altai traf<br />
sie auf Menschen, die tatsächlich völlig<br />
anders leben als wir: Mit minimalem<br />
Besitz, viel Geduld und Gelassenheit<br />
ziehen die mongolischen Hirten mit<br />
ihren Herden von Ort zu Ort. Ihr<br />
Lebensraum ist geprägt von Kargheit:<br />
Unter dem gewaltigen Himmel bietet<br />
die Landschaft kaum Schutz. Umso<br />
wichtiger ist die Gastfreundschaft der<br />
Nomaden des Altai, die auch die Fotografin<br />
freundlich bei sich aufnahmen.<br />
Die Annäherung an ihre Gastgeber<br />
und ihre ungewohnte Lebensart<br />
dokumentierte Dorothea Heinrich mit<br />
ihrer Kamera. Nun sind die Bilder<br />
ihrer Reise im Westwerk zu sehen: Die<br />
54<br />
Ziegen, Himmel, Steppe – und eine starke Hirtin: Das Leben<br />
der Nomaden in der Mongolei ist einfach und oft beschwerlich.<br />
Ausstellung „close below the heavens“<br />
macht die schier unendliche Weite<br />
von Steppe und Himmel vorstellbar.<br />
Gleichzeitig lässt sie ein Gefühl von<br />
Nähe und Geborgenheit entstehen,<br />
die die Fotografin im einfachen Leben<br />
mit den Nomaden erfuhr. •<br />
Westwerk, Admiralitätsstraße 74, ab Fr,<br />
26.10., 19 Uhr, Di–Fr, 16–18 Uhr, Sa+So,<br />
15–18 Uhr, Eintritt frei, www.westwerk.org
FOTOS: DOROTHEA HEINRICH, BODYRHYTHM UNLIMITED, PRIVAT<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Festival<br />
Grenzenlos feiern<br />
Sind wir nicht alle ein bisschen anders? Das Festival „Grenzen sind relativ“ schafft<br />
eine Welt, in der es völlig egal ist, woher jemand kommt oder ob alle Sinne gleich<br />
ausgeprägt sind. Was zählt, ist Talent – und davon ist an diesem Tag eine Menge<br />
zu spüren. Neben Musik von Jan Plewka und Marco Schmedtje, Sebó, Kiddo<br />
Kat und vielen weiteren Ausnahmekünstlern gibt es Theater, Kunst, Kabarett<br />
und einen rhythmischen Schlagabtausch der besonderen Art: Das Hip-Hop-<br />
Kollektiv „Rapfugees“ trifft zum Battle mit Bodyrhythm Unlimited zusammen,<br />
die mit Geräten von der Straße und dem eigenen Körper Beats produzieren. •<br />
Fabrik, Barnerstraße 36, Sa, 20.10., 19 Uhr, 20 Euro, alle Infos und Programm:<br />
www.grenzensindrelativ.de<br />
Konzert<br />
Grußbotschaften an das Leben<br />
Rund um den Michel sind große Gefühle<br />
verewigt: Die Gravuren auf den<br />
Michel-Tafeln im Pflaster des Kirchplatzes<br />
erzählen von neugeborenen<br />
Urenkeln, 40 Jahren Eheglück, von<br />
Trauer oder der Liebe zu Hamburg.<br />
Die Botschaften der Michel-Tafeln<br />
werden nun musikalisch zum Klingen<br />
gebracht: Kirchenmusikdirektor<br />
Manuel Gera hat Gravurtexte vertont<br />
und mit bekannten Melodien verbunden.<br />
Dargeboten wird die Reise durch<br />
Höhen und Tiefen des Lebens von der<br />
Kantorei und dem Orchester des Michel,<br />
der Sopranistin Miriam Sharoni<br />
und dem Jugend-Kammerchor des<br />
Goethe-Gymnasiums. Die Geschichten<br />
hinter den Gravuren verraten<br />
Schauspieler Torsten Hamman und<br />
Hauptpastor Alexander Röder. •<br />
St. Michaelis, Englische Planke 1,<br />
Sa, 20.10.,19 Uhr, 22/17 Euro,<br />
www.st-michaelis.de.de<br />
Tanzen zu Musik,<br />
die beim Tanzen<br />
entsteht: das ist<br />
Bodyrhythm Unlimited.<br />
Konzert<br />
Tante Woo lädt zur Gala ein<br />
Von der Kunst leben ist nicht leicht –<br />
erst recht nicht mit einer psychischen<br />
Erkrankung. Der Verein Künstlerhilfe<br />
will, dass es trotzdem klappt: Mit Auftritten<br />
treiben Künstler Geld ein, um<br />
Kollegen eine Therapie zu ermöglichen<br />
– und können so selbst trotz Erkrankung<br />
auf der Bühne stehen. Nun<br />
laden Schirmherrin Tante Woo und<br />
ihr Partner Roman Who? zur großen<br />
Benefizgala ein. Auf der Bühne:<br />
Christine Prayon, Marcus Prell, Karmen<br />
im Nebel und Susanne Hayo. •<br />
Kukuun, Spielbudenplatz 21, Sa, 27.10.,<br />
20 Uhr, Eintritt frei, Spenden erbeten,<br />
www.kuenstlerhilfe-ev.de<br />
Zur Jubiläumsausgabe im November<br />
entfällt der Veranstaltungsteil.<br />
Über Tipps für Dezember freut sich<br />
Annabel Trautwein. Bitte bis 10.11.<br />
schicken: redaktion@hinzundkunzt.de<br />
Kinofilm des Monats<br />
Liebe in<br />
dunkler Zeit<br />
Mögen die Menschen im<br />
Sommer noch so viel flirten,<br />
spätestens im <strong>Oktober</strong> hat es<br />
sich ausgetindert. Dann zeigt<br />
die alte Grinsekatze, die in<br />
unseren Herzen wohnt, ihr<br />
wahres Gesicht. Bei abgestandener<br />
Heizungsluft muss<br />
sich der Wert der Beziehung<br />
beweisen. Auf dem Sofa.<br />
Beim muffeligen „Guten<br />
Morgen“ vor dem ersten<br />
Kaffee. Ist nie einfach …<br />
Dass das mit der Beziehung<br />
eine elende Plackerei<br />
ist, lernen auch die Iraner<br />
Kian und Mira im Film „Die<br />
defekte Katze“. Er lebt als<br />
Assistenzarzt schon länger in<br />
Deutschland, sie ist als Ingenieurin<br />
im Iran erfolgreich.<br />
Nur die Liebe suchen sie bislang<br />
vergeblich. Abhilfe soll<br />
eine arrangierte Ehe schaffen.<br />
Die zwei heiraten also,<br />
sehen sie einander nach einigen<br />
Eheanbahnungscastings<br />
wohl als kleinstes Übel.<br />
Hals über Kopf stürzen<br />
sie sich in die Beziehung.<br />
Und sind sich doch fremd.<br />
Erster Streit, erster Frust,<br />
erster Sex. Stellvertretend für<br />
das Auf und Ab der Gefühle<br />
ist die Katze, die Mira mit<br />
nach Hause bringt. Ein hässliches<br />
Viech. Pinkelt in Kians<br />
Hemden. Ein Störenfried.<br />
Und ein Zeichen dafür, dass<br />
sich Liebe auch dort zeigen<br />
muss, wo es weh tut. Der aufrichtige<br />
Versuch zweier Menschen,<br />
sich trotz allem nahezukommen,<br />
macht „Die defekte<br />
Katze“ zu einem Film,<br />
der nachwirkt, obwohl der<br />
Sommer längst vorbei ist. •<br />
André Schmidt<br />
geht seit<br />
Jahren für uns<br />
ins Kino.<br />
Er arbeitet in der<br />
PR-Branche.<br />
55
<strong>Kunzt</strong>&Comic<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>308</strong>/OKTOBER <strong>2018</strong><br />
56
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Rätsel<br />
ILLUSTRATION (BLEISTIFT IM IMPRESSUM): BERND MÖLCK-TASSEL<br />
Absteckpfahl<br />
der<br />
Landmesser<br />
Herzogin<br />
von York<br />
organische<br />
Verbindung<br />
Dauermiete<br />
für<br />
Theater<br />
(Kurzwort)<br />
Preisüberhöhung,<br />
Gaunerei<br />
englisch:<br />
groß<br />
bayrisch,<br />
österreichisch:<br />
Grasland<br />
7<br />
9<br />
5<br />
2<br />
3<br />
1<br />
untere<br />
Absender Juraabteilung<br />
6<br />
8<br />
1<br />
2<br />
6<br />
2<br />
von Neuem,<br />
erneut<br />
3<br />
3<br />
4<br />
6<br />
2<br />
9<br />
3<br />
alle,<br />
Kindeskind<br />
ohne<br />
Ausnahme<br />
Teilgebiet<br />
unseres<br />
Kontinents<br />
Fluss zur<br />
Ostsee<br />
(Pommern)<br />
9<br />
8<br />
5<br />
10<br />
4<br />
Mantel<br />
mit angeschnitt.<br />
Ärmeln<br />
8<br />
9<br />
5<br />
1<br />
5<br />
8<br />
5<br />
leichte<br />
Vertiefung<br />
Teilzahlung<br />
Verschwiegenheit<br />
Scherzname<br />
des<br />
Elefanten<br />
Falschheit,<br />
Boshaftigkeit<br />
Zeitmessgerät<br />
Kaufgeschäft<br />
2<br />
6<br />
9<br />
Kurzwort<br />
für das<br />
Alphabet<br />
Schreibutensil<br />
für Wandtafeln<br />
spanische<br />
Prinzessin<br />
lateinisch:<br />
im Jahre<br />
längster<br />
Fluss von<br />
Albanien<br />
dt. Fußballnationaltrainer<br />
(Joachim)<br />
Greifvogel<br />
Kriemhilds<br />
Mutter<br />
Muse der<br />
Sternkunde<br />
norddeutsch:<br />
Bauernstube<br />
Zart-,<br />
Feingefühl<br />
griechische<br />
Jugendgöttin<br />
griechische<br />
Anmutsgöttinnen<br />
Heiratsdokument<br />
Verwaltungseinheit<br />
in<br />
Schweden<br />
kurz für<br />
eine<br />
Stadt in<br />
Brasilien<br />
niederländ.<br />
Maler<br />
† 1680<br />
Gebirge<br />
auf Kreta<br />
englisch:<br />
innen<br />
Fluss zum<br />
Weißen<br />
Meer<br />
Milliardstel<br />
einer<br />
Einheit<br />
englisch:<br />
neu<br />
Lösungen an: Hinz&<strong>Kunzt</strong>, Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg,<br />
per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.<br />
Einsendeschluss: 30. <strong>Oktober</strong> <strong>2018</strong>. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />
Wer die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel einsendet, kann<br />
zwei Karten für die Hamburger Kunsthalle oder eins von drei Exemplaren<br />
des Buchs „Hamburgs Hafen im Wandel“ von Eckhard Freiwald und<br />
Gabriele Freiwald-Korth (Toro Verlag) gewinnen.<br />
Das September-Lösungswort beim Kreuzworträtsel lautete: Tiergarten.<br />
Die Sudoku-Zahlenreihe war: 294 871 536.<br />
6<br />
1<br />
9<br />
5<br />
2<br />
1<br />
4<br />
7<br />
8<br />
9<br />
4<br />
7<br />
AR1115-0618_09<br />
10<br />
Füllen Sie das Gitter so<br />
aus, dass die Zahlen von<br />
1 bis 9 nur je einmal in<br />
jeder Reihe, in jeder<br />
Spalte und in jedem<br />
Neun-Kästchen-Block<br />
vorkommen.<br />
Als Lösung schicken<br />
Sie uns bitte die farbig<br />
gerahmte, unterste<br />
Zahlenreihe.<br />
2<br />
5<br />
Impressum<br />
Redaktion und Verlag<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH<br />
Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg<br />
Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50<br />
Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01<br />
E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de<br />
Herausgeber<br />
Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg<br />
Externer Beirat<br />
Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW-Hamburg),<br />
Mathias Bach (Kaufmann), Dr. Marius Hoßbach (Rechtsanwalt),<br />
Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),<br />
Thomas Magold (BMW-Niederlassungsleiter i.R.),<br />
Beate Behn (Lawaetz-Service GmbH), Karin Schmalriede (Lawaetz-Stiftung),<br />
Dr. Bernd-Georg Spies (Russell Reynolds),<br />
Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)<br />
Geschäftsführung Dr. Jens Ade<br />
Redaktion Birgit Müller (bim; Chefredakteurin, v.i.S.d.P.),<br />
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Die Hinz&<strong>Kunzt</strong> gGmbH mit Sitz in Hamburg ist durch den aktuellen<br />
Freistellungsbescheid des Finanzamts Hamburg-Nord, Steuernummer<br />
17/414/00797, vom 15.11.2013 nach §5 Abs.1 Nr. 9<br />
des Körperschaftssteuergesetzes von der Körperschaftssteuer und nach<br />
§3 Nr. 6 des Gewerbesteuergesetzes von der Gewerbesteuer befreit.<br />
Geldspenden sind steuerlich nach §10 EStG abzugsfähig. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist als<br />
gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH im Handelsregister<br />
beim Amtsgericht Hamburg HRB 59669 eingetragen. Wir bestätigen,<br />
dass wir Spenden nur für die Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong> einsetzen.<br />
Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte weitergegeben.<br />
Beachten Sie unsere Datenschutzerklärung, abrufbar auf www.hinzundkunzt.de.<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist ein unabhängiges soziales Projekt, das obdachlosen und<br />
ehemals obdachlosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe bietet.<br />
Das Magazin wird von Journalisten geschrieben, Wohnungslose und<br />
ehemals Wohnungslose verkaufen es auf der Straße. Sozialarbeiter<br />
unterstützen die Verkäufer.<br />
Das Projekt versteht sich als Lobby für Arme.<br />
Gesellschafter<br />
Durchschnittliche monatliche<br />
Druckauflage 3. Quartal <strong>2018</strong>:<br />
61.666 Exemplare<br />
57
Momentaufnahme<br />
Zwischen den Welten<br />
Alexandru, 23, verkauft Hinz&<strong>Kunzt</strong> vor dem Rewe-Markt<br />
in der Dorotheenstraße.<br />
TEXT: ULRICH JONAS; ÜBERSETZUNG: ANA-MARIA ILISIU<br />
FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
Hat das geschafft,<br />
wovon viele Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />
Verkäufer träumen: einen<br />
Job auf dem ersten<br />
Arbeitsmarkt zu finden.<br />
Alexandrus Glück ist offensichtlich:<br />
Stolz betritt der 23-Jährige den Vertriebsraum<br />
von Hinz&<strong>Kunzt</strong> – in der<br />
orange leuchtenden Arbeitskleidung<br />
der Stadtreinigung. „Dieser Job ist perfekt!“,<br />
sagt der Rumäne. „Ich bekomme<br />
einen Plan, und dann erledige ich meine<br />
Aufgaben, ohne dass mir ständig jemand<br />
sagt, wie ich was zu tun habe.“<br />
Die Arbeit hat Alexandru so gefunden,<br />
wie er das Straßenmagazin verkauft:<br />
mit seiner Fähigkeit, Menschen<br />
zu gewinnen – auch wenn er Deutsch<br />
nur gebrochen spricht. Und das kam<br />
so: An einem Sonnabend steht der<br />
Hinz&Künztler vor einem Supermarkt<br />
in der Wandsbeker Chaussee. Ein Mann<br />
von der Stadtreinigung kommt vorbei<br />
und leert Mülleimer. Da er wie ein<br />
Landsmann aussieht, fragt Alexandru:<br />
„Hat deine Firma Arbeit für mich?“<br />
Der Mann verspricht nachzufragen.<br />
„Tags darauf saß ich bei einem Kollegen<br />
auf dem Sofa. Und Montagmorgen<br />
im Büro der Stadtreinigung.“<br />
Der Chef ist angetan von Alexandrus<br />
Arbeitsbereitschaft – und gibt ihm<br />
einen Vertrag für sechs Monate. Seitdem<br />
steht Alexandru jeden Morgen um<br />
3.30 Uhr auf und leert Mülleimer. Weil<br />
er noch keine Bleibe gefunden hat,<br />
übernachtet er in einem Achtbettzimmer<br />
im Pik As. Schlafen gerät hier zur<br />
Kunst: „Der Erste kommt um Mitternacht<br />
hereingepoltert, der Zweite um<br />
eins, der Dritte um drei, und dann muss<br />
ich schon wieder aufstehen.“ Ein Zimmer,<br />
eine Wohnung gar: „Das wär’ toll.“<br />
Vier Jahre ist es her, dass Alexandru<br />
nach Hamburg kam. In seiner Heimat,<br />
einem Dorf nordwestlich von Bukarest,<br />
gibt es keine Arbeit. „Und wenn du<br />
doch mal eine findest, dann in der<br />
nächsten Stadt. Da verdienst du 300<br />
Euro im Monat und musst allein für den<br />
Bus schon 70 Euro ausgeben.“<br />
Alexandru ist ein Pendler zwischen den<br />
Welten. In der Heimat warten Frau und<br />
Kind darauf, dass er ihnen eine Zukunft<br />
eröffnet – eine harte Zeit für alle. Kürzlich<br />
musste sein vier Monate alter Sohn<br />
ins Krankenhaus, ein Virus macht ihm<br />
schwer zu schaffen. Dem Vater treten<br />
Tränen in die Augen, weil er weit weg<br />
ist: „Ich bin ein bisschen verzweifelt.“<br />
Doch in Hamburg Arbeit, Auskommen<br />
und eine Bleibe für alle zu finden<br />
ist schwer. Anfangs schlägt Alexandru<br />
sich mit Flaschensammeln, Jobs auf<br />
dem Bau und Betteln durch, schläft in<br />
leer stehenden Häusern und bei Bekannten.<br />
Eine Zeitlang lebt auch seine<br />
Frau in Hamburg, sucht erfolglos Jobs.<br />
Da ergattert Alexandru Arbeit am Flughafen:<br />
Für einen Subunternehmer reinigt<br />
er Flugzeugkabinen. Doch der Job<br />
ist eine Katastrophe: „Wir wurden mit<br />
20 anderen in einer Wohnung untergebracht,<br />
immer drei bis vier in einem<br />
Zimmer. Für das Bett musste ich 300<br />
Euro zahlen, für das meiner Frau noch<br />
mal 300. Außerdem Geld für die Fahrt<br />
zur Arbeit. Am Ende blieben mir 300<br />
Euro Lohn für einen Monat Arbeit.“<br />
Bald wird Alexandrus Zeit als<br />
Hinz&Künztler enden. Er weiß, dass er<br />
jederzeit zurückkommen kann, falls er<br />
seinen Job verlieren sollte. Etwas traurig<br />
ist er dennoch, denn: „Ich mag den<br />
Kontakt mit meinen Kunden sehr!“ •<br />
Alexandru und alle anderen Hinz&Künztler<br />
erkennt man am Verkaufsausweis.<br />
Niemand kennt<br />
Hamburgs Straßen besser.<br />
Verkäuferausweis<br />
6366<br />
A. Beig<br />
Druckerei und Verlag<br />
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Damm 9-19, 25421 Pinneberg<br />
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Design: Wolfgang Vogler,<br />
Material: Esche geölt (aus heimischen Wäldern),<br />
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Hamburger Firma AHOI MARIE.<br />
Qualitätsporzellan von Kahla aus Thüringen.<br />
Design: Jan-Hendrik Holst.<br />
Keramischer Siebdruck.<br />
Maße: D: 9 cm, H: 9 cm,<br />
mikrowellen- und spülmaschinentauglich.<br />
Preis: 13,90 Euro<br />
5. Jubiläumsbonbons von Lutschebuller<br />
Lutschbonbons in den Geschmacksrichtungen<br />
Vanille-Zimt und Kaffee-Vanille.<br />
Hergestellt in Hamburg nach dänischem Rezept.<br />
Vegan, aber nicht zuckerfrei.<br />
Preis pro Glas: 3,95 Euro<br />
6. Haftnotizen<br />
Haftnotizpapier mit Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Logo fürs<br />
Büro, Zuhause und alle Lebenslagen, in denen<br />
Gedanken schnell festgehalten werden müssen.<br />
5 Blocks à 50 Blatt, 7 x 7 cm.<br />
Preis: 6,50 Euro<br />
7. „Ein mittelschönes Leben“<br />
Eine Geschichte für Kinder<br />
über Obdachlosigkeit von Kirsten Boie,<br />
illustriert von Jutta Bauer.<br />
Preis: 4,80 Euro<br />
4.<br />
6.<br />
7.<br />
5.
<strong>Oktober</strong> <strong>2018</strong><br />
Altersexperten und<br />
Regisseure<br />
und andere Menschen, die Hamburger bewegen<br />
Di 09.10. | 19.00 Uhr | Gespräch<br />
Von einer sorgenden Gesellschaft Kann ein soziales Miteinander die Pflegesituation ver bessern?<br />
Der Altersexperte Thomas Klie und Alexander Künzel von der Bremer Heimstiftung<br />
diskutieren, welche Rolle Zivilgesellschaft, Familie und Staat übernehmen können, um ein<br />
starkes Pflegenetzwerk aufzubauen.<br />
Do 11.10. | 19.00 Uhr | Diskussion<br />
Wird Wohnen unbezahlbar? Wer kann in Hamburg künftig noch leben, wenn die Mieten<br />
rasant steigen? Ob Wohnen in unserer Stadt zum Luxus wird, diskutieren Hamburgs Oberbaudirektor<br />
Franz-Josef Höing, Petra Barz vom Netzwerk »Recht auf Stadt« und Axel-H. Wittlinger,<br />
Geschäftsführer der Stöben Wittlinger GmbH. In Kooperation mit NDR 90,3.<br />
Mo 15.10. | 19.00 Uhr | Gespräch<br />
Zum Dort verflucht Mit 23 Jahren floh der Schriftsteller Abbas Khider aus dem Irak und kam<br />
im Jahr 2000 nach Deutschland. Als Schirmherr der Tage des Exils <strong>2018</strong> eröffnet er das mehrwöchige<br />
Veranstaltungsprogramm. Im Gespräch mit Daniel Kaiser, NDR 90,3, gibt er Einblicke<br />
in den Umgang mit der eigenen Vergangenheit. In Kooperation mit der Weichmann-Stiftung.<br />
Mo 22.10. | 19.00 Uhr | Gespräch<br />
Revolte im Theater – Was von ’68 bleibt Politische Themen und neue Arbeitsformen: Vor 50<br />
Jahren war das Theater in Aufruhr. Was ist davon heute noch zu spüren? Darüber sprechen die<br />
Schauspielerin Elisabeth Schwarz, die Theaterforscherin Barbara Müller-Wesemann und die<br />
Regisseure Niels-Peter Rudolph und Gernot Grünewald.<br />
Stand: September <strong>2018</strong>, Änderungen vorbehalten. groothuis.de Fotos: © Rainer Geue, dock europe e. V., Peter-Andreas Hassiepen, Krafft Angerer<br />
Eintritt frei, Anmeldung erforderlich: www.koerberforum.de<br />
KörberForum | Kehrwieder 12 | 20457 Hamburg | U Baumwall<br />
Telefon 040 · 80 81 92 - 0 | E-Mail info@koerberforum.de<br />
Veranstalter ist die gemeinnützige Körber-Stiftung.