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Hinz&Kunzt 350 April 2022

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Das Hamburger<br />

Straßenmagazin<br />

Seit 1993<br />

N O 351<br />

Mai.22<br />

2,20 Euro<br />

Davon 1,10 Euro für<br />

unsere Verkäufer:innen<br />

Wie geht<br />

Frieden?


Editorial<br />

HINZ&KUNZT N°351/MAI <strong>2022</strong><br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Autorin<br />

Simone Deckner<br />

(rechts) war zu Besuch<br />

im Wohncontainer,<br />

in dem Gina den<br />

vergangenen Winter<br />

verbracht hat.<br />

Hallo!<br />

Dass wir als Monatsmagazin einen frühen Redaktionsschluss haben,<br />

verträgt sich oft nicht mit der Weltlage. So kam es, dass wir in unserer<br />

März-Ausgabe die russischen Bomben auf die Ukraine mit keinem<br />

Wort erwähnt haben, obwohl der Krieg längst wütete. Wie schön wäre<br />

es, wenn wir wieder zu spät dran wären: In dieser Ausgabe finden Sie<br />

einen Schwerpunkt zum Krieg gegen die Ukraine und dessen Folgen<br />

für uns alle. Vielleicht ist er ja schon vorbei, wenn Sie das hier lesen?<br />

Unwahrscheinlich, zugegeben. Und selbst wenn es so wäre, hätte er<br />

trotzdem tiefe Spuren hinterlassen. Kann man angesichts der<br />

Gräuel taten noch guten Gewissens pazifistisch bleiben? Darüber haben<br />

wir gesprochen mit dem ehemaligen Linken-Politiker Jan van Aken und<br />

Siemtje Möller (SPD), Staatssekretärin im Verteidigungsministerium.<br />

Wie dieser Krieg die Arbeit von Hilfsorganisationen für Obdachlose<br />

in der Ukraine verändert hat, lesen Sie in unserer Reportage. Und<br />

ein 33-jähriger Ukrainer erklärt, wieso er nicht sein Land verteidigt,<br />

sondern mit seiner Familie aus Kiew nach Berlin geflohen ist.<br />

Aber keine Sorge, es geht nicht nur um den Krieg. Im Rest des<br />

Magazins bringen wir Sie auf andere Gedanken: über den bildenden<br />

Künstler Erwin Wurm, die Arbeit mit gefährlichen Hunden und die<br />

Zukunft der Obdachlosenhilfe in Hamburg zum Beispiel.<br />

Übrigens: Unsere Hinz&Künztler:innen statten wir ab sofort<br />

mit neuen Verkaufsausweisen aus. Also bitte nicht wundern, wenn<br />

sie künftig einen QR-Code am Revers tragen. Und sollte Ihnen unser<br />

Titelmotiv von Street-Artist Neal gefallen: Sie können es als<br />

Kunstdruck in unserem Onlineshop kaufen.<br />

<br />

Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre!<br />

Ihr Benjamin Laufer<br />

Schreiben Sie uns an: briefe@hinzundkunzt.de<br />

FOTOS SEITE 2: DMITRIJ LELTSCHUK (UNTEN), IMKE LASS (OBEN)<br />

TITELBILD: NEAL<br />

2


06<br />

Schwerpunkt:<br />

Wie geht Frieden?<br />

Inhalt Mai <strong>2022</strong><br />

Wie geht Frieden?<br />

08 Lebenswichtige Hilfe im Krieg<br />

Für ukrainische Obdachlosenhelfer:innen ändert sich alles.<br />

12 Militär als letztes Mittel<br />

Verteidigungsstaatssekretärin Siemtje Möller (SPD) im Interview<br />

14 „Jede militärische Antwort ist falsch“<br />

Friedensaktivist Jan van Aken (Linke) spricht über Pazifismus.<br />

16 „Ich gehöre diesem Land nicht“<br />

Ein junger Ukrainer will nicht kämpfen und flieht nach Berlin.<br />

20 Fluchtgeschichten aus der Ich-Perspektive<br />

Zu Besuch beim Hamburger Magazin „Kohero“<br />

Reportage<br />

24 Zweite Chance für „Höllenhunde“<br />

Eine Hundetrainerin arbeitet mit gefährlichen Tieren.<br />

Stadtgespräch<br />

24<br />

Zweite Chance für<br />

gefährliche Hunde<br />

34 „Was kommt? Daran will ich nicht denken“<br />

Viele haben nach dem Winternotprogramm keine Perspektive.<br />

38 Langsam tut sich was<br />

Das Hilfesystem für Obdachlose wird weiterentwickelt.<br />

46<br />

Künstler Erwin<br />

Wurm im Porträt<br />

Freunde & Internes<br />

32 Neue Verkaufs-Ausweise<br />

So erkennen Sie künftig die Hinz&Künztler:innen.<br />

42 „Livemusik gibt Energie“<br />

Ein Hamburger Ehepaar hat Spenden für Hinz&<strong>Kunzt</strong> gesammelt.<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

46 „Raus zu den Menschen will ich“<br />

Der bildende Künstler Erwin Wurm hat eine soziale Ader.<br />

50 Tipps für den Mai<br />

54 Kolumne: Auf ein Getränk mit Jens Eisel<br />

56 Momentaufnahme: Hinz&Künztler Christian<br />

Rubriken<br />

04 Gut&Schön<br />

22 Zahlen des Monats<br />

33, 40 Meldungen<br />

44 Buh&Beifall<br />

55 Rätsel, Impressum<br />

56<br />

Neustart für<br />

Christian<br />

Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk


Ausgezeichnete Nachbarschaft<br />

2019 gründeten Anwohner:innen und Studierende in einem<br />

ehemaligen Toilettenhäuschen auf einer Verkehrsinsel in<br />

Rothenburgsort das Nachbarschaftszentrum „Mikropol“. Ihre<br />

Initiative „Start a Revolution: Get to know your Neighbour!“,<br />

durch die sich die Nachbarschaft stärker vernetzen soll,<br />

wurde Anfang <strong>April</strong> in der Hanseatischen Material-<br />

verwaltung mit dem Stadtteilkulturpreis ausgezeichnet.<br />

Herzlichen Glückwunsch! LG<br />

•<br />

Weitere Infos: www.mikropol.de


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Gut&Schön<br />

Zurück im Stadion<br />

Nach zwei Jahren<br />

Corona-Pause war es<br />

Anfang <strong>April</strong> endlich<br />

wieder so weit für<br />

Gabor, Chris, Reiner<br />

und Alfredo (von links):<br />

Die Hinz&Künztler<br />

konnten das<br />

Zweitliga-Spitzenspiel<br />

FC St. Pauli gegen<br />

Werder Bremen<br />

live am Millerntor<br />

verfolgen. Möglich<br />

machten das vier<br />

Tickets, die uns<br />

der Verein gesponsert<br />

hat. Wir sagen:<br />

Herzlichen Dank! LG<br />

•<br />

Corona-Strafen übernommen<br />

FOTOS: MIGUEL FERRAZ (LINKS), ABI (OBEN), FREIHEITSFONDS (UNTEN RECHTS),<br />

SILVIO ROSENTHAL/LUFTBILDCREW.DE (UNTEN LINKS)<br />

Festwochen im Stiftsviertel: Besuchen Sie uns!<br />

Vom 6. bis zum 24. Mai geht es rund im Stiftsviertel in St. Georg. Einmal im<br />

Jahr feiern die Institutionen und Stiftungen zwischen Berliner Tor, Steindamm,<br />

Lindenplatz und Lohmühlenpark sich selbst – und seit dem Umzug ins neue<br />

Haus gehört auch Hinz&<strong>Kunzt</strong> zur Feiergesellschaft. Teile des Programms sind<br />

eine Vernissage, auf der Bilder aus 40 Jahren Stiftsviertel gezeigt werden, oder<br />

die Jazzmeile des Kulturladens St. Georg. Highlight der Festwochen ist dann das<br />

Straßenfest am 15. Mai. Vor der Bühne am Kulturladen können Besucher:innen<br />

japanische Trommeln und mexikanische Tänze auf sich wirken lassen<br />

und gegen Abend Klezmer- und Ska-Konzerte erleben. Amalie Sieveking- und<br />

Hartwig-Hesse-Stiftung sowie Hinz&<strong>Kunzt</strong> gewähren außerdem einen Blick<br />

hinter die Kulissen. Weitere Infos: www.stiftsviertel-stgeorg.de LG<br />

•<br />

In Augsburg wurden mehrere<br />

Obdachlose zu Bußgeldern verdonnert,<br />

weil sie sich während<br />

des Lockdowns gemeinsam auf<br />

öffent lichen Plätzen aufhielten.<br />

Um sie vor dem Gefängnis zu bewahren,<br />

sammelten Schüler:innen<br />

575 Euro und übernahmen damit<br />

zwei der Strafen. Inspiration für die<br />

Aktion kam von Jan Böhmermann<br />

und „Frag den Staat“. Der Entertainer<br />

und die Internetplattform<br />

haben den „Freiheitsfonds“ auf<br />

die Beine gestellt, um Geldstrafen<br />

von Obdachlosen zu übernehmen –<br />

und sie so aus dem Gefängnis freizukaufen.<br />

Zur Nachahmung dringend<br />

empfohlen! LG<br />

•<br />

5


Wie geht<br />

Frieden?<br />

Obdachlosenhelfer:innen in der Ukraine<br />

arbeiten auch in Kriegszeiten weiter (S. 8).<br />

Staatssekretärin Siemtje Möller (SPD)<br />

und Friedensaktivist Jan van Aken (Linke)<br />

sprechen darüber, ob man angesichts<br />

des Krieges noch pazifistisch bleiben<br />

kann (S. 12). Ein junger Mann aus der<br />

Ukraine möchte nicht für sein Land kämpfen<br />

(S. 16). Und: Beim Hamburger Magazin<br />

„Kohero“ wissen Menschen mit eigener<br />

Fluchterfahrung, was für ein friedliches<br />

Zusammenleben wichtig ist (S. 20).


Nach dem Abzug der<br />

russischen Truppen bietet<br />

sich in Borodjanka bei Kiew<br />

ein Bild des Schreckens.<br />

FOTO: FABIAN BERG


„Wir werden erst<br />

gehen, wenn wir keine<br />

andere Wahl haben.“<br />

Millionen Menschen haben seit Beginn des russischen Angriffs auf die<br />

Ukraine ihr Zuhause verloren. Das britische Straßenmagazin „The Big Issue“<br />

hat mit Helfer:innen über Obdachlosenhilfe im Krieg gesprochen.<br />

TEXT: LIAM GERAGHTY<br />

ÜBERSETZUNG UND BEARBEITUNG: LUKAS GILBERT<br />

FOTOS: FABIAN BERG


Eine verwüstete<br />

Wohngegend in Borodjanka


In Kiew stehen Menschen bei der Organisation „Pomogi Bezdomnomu“ für Essen an.<br />

I<br />

m vergangenen bitterkalten Winter rettete die Obdachlosenhilfsorganisation<br />

„Pomogi Bezdomnomu“ das<br />

Leben von fünf Menschen. Mittlerweile ist Leben<br />

retten für die Organisation eine tägliche Notwendigkeit<br />

geworden. Die kleine Graswurzel-Organisation, deren<br />

Name auf Deutsch so viel wie „Hilf den Obdachlosen!“ bedeutet,<br />

feierte am 20. Februar ihren sechsten Geburtstag.<br />

Vier Tage später überfiel die russische Armee die Ukraine.<br />

„Meine erste Reaktion, als ich von der Invasion gehört<br />

habe, war eine tiefe Verwirrung“, sagt Olga Romenska,<br />

Co-Gründerin von Pomogi Bezdomnomu aus Kiew. „Mein<br />

Arbeitgeber hat uns informiert, dass das Büro an diesem Tag<br />

nicht öffnen würde. Wir wussten, dass Russland viele Truppen<br />

in Grenznähe zusammengezogen hatte, und dennoch<br />

war es schwer zu verstehen, dass dieser absurde Krieg<br />

tatsächlich beginnen konnte. Mitten im 21. Jahrhundert.“<br />

Vor sechs Jahren hatte sich die Marketing-Fachfrau<br />

Romenska entschieden, Menschen zu helfen, die auf den<br />

Straßen Kiews leben, und sie veröffentlichte einen Social-<br />

Media-Post zu ihrer Idee. Sie erwartete damals zwar „viele<br />

Likes, aber nichts darüber hinaus“. Doch Freund:innen und<br />

Kolleg:innen reagierten auf ihren Post, und gemeinsam begannen<br />

sie, Lebensmittel an Bedürftige auszugeben.<br />

Im November vergangenen Jahres eröffnete die Organisation<br />

schließlich ein eigenes Hostel, in dem 21 Menschen<br />

eine Unterkunft über den Winter fanden. Einer der Gäste<br />

bekam einen Job im Hostel. Noch im Februar versorgten<br />

Romenska und ihre Team Obdachlose mit warmem Essen,<br />

Medizin und allem, was die Menschen sonst zum Überleben<br />

auf der Straße benötigen. Bis zu 200 Menschen standen dort<br />

regelmäßig an.<br />

Heute sind die Arbeit dieser sechs Jahre – und das Leben von<br />

Romenska und den Menschen, denen sie hilft – in Gefahr.<br />

Zwar besteht das Hostel weiter, aber die lebenswichtige Arbeit<br />

auf den Straßen kann nicht wie gewohnt weitergehen. „Das<br />

erste Mal seit Gründung unserer Organisation konnten wir<br />

das Essen nicht so verteilen, wie wir es gewohnt waren“, sagt<br />

Romenska. „Zum einen ist es schwierig, das Essen inmitten<br />

des Krieges sicher zu verteilen. Zum anderen haben einige<br />

unserer freiwilligen Helfer:innen ihre Familien in Sicherheit<br />

gebracht.“ Dadurch fehle Personal. Selbst während der Pandemie<br />

hatten sie ihre Arbeit fortgesetzt. Doch im Krieg hätten<br />

sie diese zwischenzeitlich komplett einstellen müssen: „Das<br />

war eine wirklich harte Entscheidung, und es tut mir sehr leid,<br />

dass unsere Gäste von unserer Hilfe abgeschnitten waren.“<br />

„Wir versuchen,<br />

die Menschen in<br />

Sicherheit zu bringen.“<br />

PATER VITALY NOVAK<br />

Genaue Zahlen, wie viele Menschen in der Ukraine vor der<br />

russischen Invasion obdachlos waren, fehlen. Schätzungen aus<br />

dem Jahr 2015 gehen von etwa 200.000 Menschen aus. Doch<br />

schon damals galt das als eher konservativ geschätzt. Sicher<br />

ist: Der Konflikt mit Russland hat die Lage enorm verschärft.<br />

Die Annexion der Krim und der Donbasskonflikt seit<br />

dem Jahr 2014 haben die Ukraine zu einem der Länder mit<br />

der weltweit höchsten Zahl an Binnenflüchtlingen gemacht.<br />

10


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Wie geht Frieden?<br />

FOTO RECHTS UNTEN: DEPAUL INTERNATIONAL<br />

Etwa 1,5 Millionen Menschen verloren damals ihr Zuhause.<br />

Aufgrund des russischen Angriffs sind bis Anfang <strong>April</strong> mehr<br />

als vier Millionen Menschen ins sichere Ausland geflohen.<br />

Die humanitäre Krise zwingt Romenska und ihre<br />

Kolleg:innen zu Veränderungen: „Wir versuchen unsere<br />

Arbeit neu aufzustellen. Der Plan ist, das Hostel weiter zu<br />

betreiben und den obdachlosen Menschen weiter Essen<br />

anzubieten. Wenn auch in anderer Form.“ Statt warmer<br />

Suppen geben die Freiwilligen mittlerweile Lunchboxen aus –<br />

in Kiew und auch in zerstörten Nachbarstädten. Außerdem<br />

bereitet die Organisation jetzt auch Essen für die ukrainischen<br />

Streitkräfte zu.<br />

Hilfe für Obdachlose leisten noch andere in der Ukraine.<br />

Etwa die Organisation „Depaul International“, die<br />

Unterkünfte in Odessa und der zweitgrößten Stadt der<br />

Ukraine, Charkiw, betreibt. Vor allem Charkiw ist heftigen<br />

russischen Raketenangriffen ausgesetzt. Pater Vitaly Novak,<br />

Vorstandsmitglied von Depaul Ukraine, organisiert die<br />

Arbeit der NGO und fährt Lastwagen mit Hilfsgütern durch<br />

das Land. Trotz der ständigen Gefahr. „Vor dem Krieg habe<br />

ich für Obdachlose in verschiedenen ukrainischen Städten<br />

gearbeitet. Jetzt gibt es in der ganzen Ukraine ein Bedürfnis<br />

nach Hilfe. Mein Leben hat sich komplett geändert“, sagt<br />

Pater Novak. „In dieser Zeit des Krieges braucht jeder<br />

Mensch in erster Linie einen sicheren Ort zum Leben,<br />

Lebensmittel, Wasser, medizinische Versorgung. All das<br />

brauchen die Menschen, die weiterhin in den Städten sind,<br />

die weiterhin bombardiert werden. Sie haben all diese<br />

Bedürfnisse. Jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde.“<br />

Depaul konzentriert sich darauf, den Menschen zu helfen,<br />

denen der Krieg das Zuhause genommen hat. Die Organisation<br />

sammelt Spenden für provisorische Aufwärmstationen<br />

und stellt Lebensmittel für jene zur Verfügung, die auf der<br />

Straße leben. „Wir versuchen, so viel wie möglich zu organisieren,<br />

um die Menschen, insbesondere aus den Brennpunkten<br />

in der Ostukraine, in Sicherheit zu bringen“, sagt Pater<br />

Novak: „Es gibt Tausende von Menschen, die seit Wochen<br />

unterirdisch in der U-Bahn in Charkiw leben. Wir wollen<br />

diese Menschen so gut wie möglich erreichen.“<br />

Depaul hilft auch an der slowakischen Grenze, wohin<br />

viele Menschen geflohen sind. Die slowakische Regierung<br />

hatte zwar angekündigt, dass alle ukrainischen Flüchtlinge<br />

auch ohne gültige Reisedokumente ins Land einreisen können.<br />

Doch das war zunächst nicht möglich und führte zu langen<br />

Schlangen an der Grenze, sagt Juraj Barát, stellvertretender<br />

Direktor von Depaul Slovakia. „Es war schrecklich für<br />

Menschen mit Kindern. Es gab keine Toiletten, und wir<br />

hatten Glück, dass es nicht regnete. Es war eiskalt und fror<br />

immer noch über Nacht, und die Leute mussten dort<br />

warten“, sagt er. „Die Leute hatten Angst, auf die Toilette zu<br />

gehen oder Essen zu holen, weil sie ihren Platz nicht verlieren<br />

wollten.“ Auch in der Slowakei musste sich Depaul wegen<br />

des Krieges neu aufstellen.<br />

„Eigentlich sind wir ein sozialer Dienstleister und keine<br />

humanitäre Organisation. Aber das ändert sich jetzt.“ Die<br />

Freiwilligen seien kreativ und auch für riskante Einsätze<br />

offen. Alle paar Tage wagten sich Freiwillige in die Ukraine,<br />

um mit Hilfslieferungen zu unterstützen. „Es war nicht sehr<br />

schwer, die Menschen davon zu überzeugen, in die Ukraine<br />

zu gehen. Wir haben nur gefragt wer will, und die Leute<br />

haben ihre Hände gehoben“, sagt Barát.<br />

Auch angesichts der Schrecken des Krieges und der<br />

traumatischen, oft zermürbenden Arbeit: Viele Freiwillige,<br />

die ihr Leben der Hilfe von Menschen auf der Straße gewidmet<br />

haben, erhalten sich eine Art Trotz. „Die Helden sind<br />

Menschen, die in der Armee kämpfen, und alle, die für die<br />

Ukraine bleiben, die nicht aufgeben wollen. Alle sind jetzt<br />

vereint und tun alles, um unsere Heimat zu schützen“, sagt<br />

Pater Novak. „Wir stehen fest, halten unsere Obdachlosenheime<br />

und unsere Dienste am Laufen, damit wir die Menschen<br />

weiterhin unterstützen können. Es ist wichtiger denn je.<br />

Wir werden erst gehen, wenn wir keine andere Wahl haben.“ •<br />

lukas.gilbert@hinzundkunzt.de<br />

Olga Romenska und ihre Kolleg:innen verteilen Nahrungsmittel<br />

im zerstörten Borodjanka (oben). In Charkiw betreibt<br />

Depaul Unterkünfte und Luftschutzbunker (unten).<br />

11


Siemtje Möller (39) ist seit<br />

Dezember parlamentarische<br />

Staatssekretärin im<br />

Verteidigungsministerium.<br />

Militär als letztes Mittel<br />

Waffen sollen Atempausen verschaffen, damit zivile Organisationen<br />

für Frieden Sorgen können: Siemtje Möller (SPD) ist Staatssekretärin der<br />

Verteidigungsministerin und erklärt die Linie der Bundesregierung.<br />

INTERVIEW: BENJAMIN LAUFER<br />

FOTO: PICTURE ALLIANCE/DPA<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Frau Möller, wären Sie<br />

manchmal gerne eine Pazifistin?<br />

Siemtje Möller: Ich wünschte, ich würde<br />

in einer friedlichen Welt leben, in der<br />

man keine Not hätte, sich gegebenenfalls<br />

auch mit Gewalt wehren zu müssen.<br />

Aber das ist leider nicht der Fall,<br />

wie wir gerade beobachten müssen.<br />

Sie sind Parlamentarische Staatssekretärin<br />

im Verteidigungsministerium. Wie<br />

stellen Sie in Ihrem Job sicher, dass Sie<br />

nicht nur in militärischen Kategorien<br />

denken und zivile Konfliktlösungsstrategien<br />

aus dem Blick verlieren?<br />

Mein Verantwortungsbereich ist die<br />

Bundeswehr. Die Leitlinien der Bundesregierung<br />

besagen klar, dass Militär immer<br />

nur das letzte Mittel sein kann.<br />

Auch beim Russland-Ukraine-Konflikt<br />

hat man bis zum letzten Tag versucht,<br />

den Einsatz von militärischen Mitteln<br />

zu vermeiden. Es geht immer darum,<br />

Gewalt zu verhüten und nur, wenn es<br />

12<br />

nicht anders geht, mit militärischen<br />

Mitteln eine Atempause zu verschaffen,<br />

damit dann zivile Organisationen arbeiten<br />

können – das ist der sogenannte<br />

vernetzte Ansatz. Es ist klar, dass man<br />

mit militärischen Mitteln alleine keinen<br />

dauerhaften Frieden und eine gewaltfreie<br />

Gesellschaft schafft.<br />

Wir sprechen Anfang <strong>April</strong>, die ukrainische<br />

Armee konnte Gebiete zurückerobern.<br />

Kann sie den Krieg gewinnen?


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Wie geht Frieden?<br />

Gerade können die ukrainischen Soldatinnen<br />

und Soldaten ihr Recht auf<br />

Selbstverteidigung sehr effektiv durchsetzen.<br />

Allerdings werden die Teile<br />

der Ost-Ukraine, die von Russland militärisch<br />

kontrolliert werden, kaum zurückzugewinnen<br />

sein, dafür fehlen die<br />

Kräfte und das Material. Wir müssen<br />

Russland dazu bewegen, sich auf Verhandlungen<br />

einzulassen.<br />

Nach den Massakern von Butscha<br />

haben Sie selbst getwittert: „Mehr<br />

Waffen, mehr Sanktionen, mehr Geld.“<br />

Was aber bringen mehr Waffen, wenn<br />

der Krieg nicht militärisch gewonnen<br />

werden kann?<br />

Es gibt Zeiten, in denen man entscheiden<br />

muss, auf welcher Seite man steht.<br />

Es ist der absolut richtige Weg, sich in<br />

dieser Situation an die Seite der Ukraine<br />

zu stellen und dazu beizutragen, dass so<br />

wenig ukrainisches Gebiet wie möglich<br />

in russische Hände fällt, um weitere<br />

dieser absolut schrecklichen Gräueltaten<br />

zu verhindern.<br />

Wieso hören wir dann immer wieder<br />

Berichte, dass Deutschland bei Waffenlieferungen<br />

auf der Bremse steht?<br />

Die Bundesregierung unterstützt die<br />

Ukraine neben finanziellen Mitteln<br />

auch mit Waffen, mit denen sich die<br />

ukrainische Bevölkerung verteidigen<br />

kann. Die Bundeswehr prüft genau, was<br />

sie alles liefern kann, ohne die Gewährleistung<br />

der Sicherheit Deutschlands<br />

zu gefährden. Wir liefern alles, was<br />

möglich ist.<br />

Wenn Waffen allein nicht zum Ziel<br />

führen: Müssten jetzt nicht alle<br />

Register an Sanktionen gezogen<br />

werden, um den Krieg schnellstmöglich<br />

zu beenden? Nicht nur die Ukraine<br />

fordert einen Stopp aller Rohstoffimporte<br />

aus Russland.<br />

Wir werden die Abhängigkeit der Bundesrepublik<br />

von russischen Gas- und<br />

Ölimporten sukzessive reduzieren. Wir<br />

müssen aber auch die Frage im Blick<br />

behalten, inwiefern wir das der deutschen<br />

Bevölkerung zumuten können.<br />

Als Bundesregierung müssen wir die<br />

Sanktionspakete so schnüren, dass sie<br />

vor allem Russland treffen und nicht<br />

uns selbst.<br />

Ihre Regierung hat unter dem Eindruck<br />

des Angriffskrieges 100 Milliarden Euro<br />

Sondervermögen für die Bundeswehr<br />

angekündigt. Die Entscheidung kam<br />

quasi über Nacht – hätte man nicht<br />

eine breite gesellschaftliche Debatte<br />

führen müssen, bevor man so eine<br />

„Zeitenwende“ ausruft?<br />

Wir sehen sehr hohe Zustimmungswerte<br />

für das Sondervermögen der<br />

Bundeswehr. Die breite Mehrheit der<br />

Bevölkerung befürwortet die Erhöhung<br />

des Verteidigungsetats. Über viele Jahre<br />

wurde die Bundeswehr in dem Glauben<br />

an internationales Recht in Teilen zurückgebaut.<br />

Wir sehen jetzt, dass die<br />

Aggression nicht nur der Ukraine gilt,<br />

sondern auch unserer eigenen Sicherheit<br />

und unserer Art, wie wir leben wollen.<br />

Daher brauchen wir in dieser Zeit<br />

Streitkräfte, die dem Auftrag gerecht<br />

werden können, uns zu verteidigen.<br />

Der deutsche Verteidigungshaushalt<br />

belief sich 2014 noch auf 32 Milliarden<br />

Euro, bald sollen es 75 Milliarden Euro<br />

sein. Braucht die Bundeswehr wirklich<br />

so viel Geld für die Landesverteidigung?<br />

Meine Überzeugung ist, dass die Bundeswehr<br />

auch als Einsatzarmee in internationalen<br />

Konfliktgebieten stabilisierend<br />

wirken können muss. Zudem<br />

müssen wir selbst Wehrhaftigkeit ausstrahlen,<br />

um deutlich zu machen, dass<br />

wir uns im Ernstfall verteidigen können.<br />

Dafür müssen wir die Bundeswehr<br />

anders aufstellen. Wir brauchen mehr<br />

Waffen, mit denen wir üben können –<br />

in der Hoffnung, sie niemals zum Einsatz<br />

zu bringen. Das ist klassische<br />

Abschreckung.<br />

Wie wollen Sie verhindern, dass<br />

aus dem Ausrüsten der Bundeswehr<br />

ein neues Wettrüsten wird?<br />

13<br />

Es geht uns nicht um ein Wettrüsten<br />

oder ein Aufrüsten. Wie Russland darauf<br />

reagiert, ist aus meiner Sicht<br />

nachrangig. Putin ist ja derjenige, der<br />

uns dazu bringt, diese Schritte gehen<br />

zu müssen. Es führt kein Weg daran<br />

vorbei, zu zeigen, dass wir uns wehren<br />

können und wollen.<br />

„Es ist an<br />

Russland, den<br />

ersten Schritt<br />

zu gehen.“<br />

Blicken wir mal in die Zukunft:<br />

Was glauben Sie, wie kann eine neue<br />

Friedensordnung nach dem Ukraine-<br />

Krieg aussehen?<br />

Ich würde mir sehr wünschen, dass wir<br />

zu dem Status zurückkommen, bei dem<br />

wir vorher waren: Dass alle Länder dieser<br />

Welt die Grenzen anderer Staaten<br />

anerkennen und wir über internationale<br />

Organisationen und Verträge zu einem<br />

friedlichen Zusammenleben kommen.<br />

Momentan halte ich dies leider<br />

für relativ unrealistisch.<br />

Der Weg wäre also: Erst Stärke<br />

zeigen und auf dieser Basis zurück<br />

zur Diplomatie zu finden?<br />

Als Staatssekretärin im Verteidigungsministerium<br />

ist für mich die oberste<br />

Priorität die Sicherheit aller Menschen<br />

zu gewährleisten, die in Deutschland<br />

leben. Das ist auch die Aufgabe der<br />

Bundeswehr. Die Aufgabe der Bundesregierung<br />

wird zukünftig sein, nach<br />

dem Krieg auf dem internationalen<br />

Parkett Rüstungskontrolle und Abrüstung<br />

wieder zu fördern. Aber es ist an<br />

Russland, den ersten Schritt zu gehen. •<br />

benjamin.laufer@hinzundkunzt.de


Jan van Aken (61) saß von<br />

2009 bis 2017 für die<br />

Hamburger Linke im Bundestag.<br />

„Jede militärische<br />

Antwort ist falsch.“<br />

Jan van Aken war Biowaffeninspekteur der Vereinten Nationen<br />

und gilt als versierter Kritiker von Waffenlieferungen. Der Friedensaktivist<br />

plädiert für mehr Diplomatie – auch mit Blick auf den Krieg in der Ukraine.<br />

INTERVIEW: BENJAMIN LAUFER<br />

FOTOS: PICTURE ALLIANCE / PHOTOTHEK<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Herr van Aken, wie<br />

schwer ist es, dieser Tage pazifistisch<br />

zu bleiben?<br />

Jan van Aken: Für mich persönlich nicht<br />

schwer. Ich bin kein Radikalpazifist und<br />

finde es völlig in Ordnung, dass sich die<br />

Menschen in der Ukraine mit der Waffe<br />

in der Hand verteidigen. Pazifismus<br />

heißt für mich, dass wir in Deutschland<br />

darüber nachdenken, wie wir sie nichtmilitärisch<br />

unterstützen können. Die<br />

Bilder berühren mich emotional, aber<br />

ich bin ein unglaublich rationaler<br />

Mensch. Deswegen fällt es mir leicht,<br />

die Emotionalität beiseitezuschieben.<br />

Rational betrachtet ist jegliche militärische<br />

Antwort falsch.<br />

Unser Gespräch findet Anfang <strong>April</strong><br />

statt, die Bilder der Gräueltaten von<br />

14<br />

Butscha sind noch ganz frisch.<br />

Sie bleiben dennoch bei Ihrer Haltung,<br />

Waffenlieferungen in die Ukraine<br />

abzulehnen?<br />

Die Bilder gab es ja auch schon vorher,<br />

aus Mariupol. Das ist Krieg, und der ist<br />

grauenvoll. Natürlich haben sich die<br />

Menschen dort über Waffenlieferungen<br />

gefreut – eine Panzerfaust ist für sie<br />

besser als keine Panzerfaust. Aber die


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Wie geht Frieden?<br />

Frage ist doch: Was können wir sinnvoll<br />

tun, damit der Krieg so schnell wie<br />

möglich zu Ende geht? Und der geht<br />

dann zu Ende, wenn Russland endlich<br />

zu ernsthaften Verhandlungen bereit<br />

ist. Die Erfahrungen aller Kriege der<br />

vergangenen 50 Jahre zeigen: Militärisch<br />

endet ein Krieg erst, wenn beide<br />

Seiten kriegsmüde sind – und das<br />

dauert Jahre. Deswegen brauchen wir<br />

etwas, das schneller hilft.<br />

Die Verhandlungsposition der Ukraine<br />

ist doch aber umso stärker, je besser<br />

sie militärisch dasteht!<br />

Rein militärisch betrachtet führt militärische<br />

Stärke nicht zu einer Verhandlungslösung,<br />

weil einer immer gerade<br />

am Gewinnen ist und deswegen kein<br />

Interesse an Verhandlungen hat. Das<br />

denke ich mir nicht aus: Da kann ich<br />

nach Syrien gucken, da kann ich auf all<br />

die anderen Kriege gucken …<br />

Wie sieht denn Ihrer Ansicht nach<br />

die richtige Antwort auf den Krieg aus?<br />

Diplomatie?<br />

Ich frage mich seit Wochen, wieso alle<br />

nur über Russland und die Nato reden.<br />

Die Welt ist viel größer! China und Indien<br />

sind nicht glücklich mit dem Krieg.<br />

Man müsste eine diplomatische Offensive<br />

starten, damit sie eine Vermittlerrolle<br />

einnehmen.<br />

Aber China und Indien haben klar gemacht,<br />

dass sie weiter wirtschaftlich mit<br />

Russland zusammenarbeiten wollen …<br />

…und gerade China wird sich niemals<br />

gegen Russland stellen. Darum geht es<br />

nicht. Wenn Scholz und Macron da mit<br />

Angeboten anklopfen würden, könnte<br />

ich mir gut vorstellen, dass diese Länder<br />

bereit wären, Einfluss auf Russland<br />

auszuüben. Indien zum Beispiel hat aktuell<br />

Interesse an einem Wirtschaftsabkommen<br />

und an Technologietransfer,<br />

da könnte Europa Angebote machen.<br />

Das kann scheitern, aber ich finde es<br />

falsch, dass das nicht versucht wird. Das<br />

Zweite sind die Wirtschaftssanktionen ...<br />

... von denen Putin sich bislang offenbar<br />

nicht in seinem militärischen Handeln<br />

beeinflussen lässt.<br />

Weil sie ihn bislang nicht richtig treffen.<br />

Der Kreml hat sich auf genau dieses<br />

Szenario vorbereitet. Worauf er sich<br />

nicht vorbereitet hat, ist ein Importstopp<br />

von Kohle, Öl und Gas. Auch<br />

heute wurden wieder mehrere 100 Millionen<br />

Euro dafür nach Russland überwiesen.<br />

Jeden einzelnen Tag.<br />

Da würde Wirtschaftsminister Habeck<br />

entgegnen: Wenn wir das alles stoppen,<br />

haben wir Hunderttausende Arbeitslose<br />

zusätzlich.<br />

Dann muss man auch laut aussprechen:<br />

„Nein, wir wollen lieber, dass die Menschen<br />

in der Ukraine sterben, als dass<br />

wir hier 100.000 Arbeitslose haben!“<br />

Das ist gerade die Position in Deutschland,<br />

und ich finde die falsch. Der Importstopp<br />

würde nicht morgen und<br />

nicht übermorgen zum Kriegsende<br />

führen, aber es würde Putin relativ<br />

schnell so weh tun, dass die Wahrscheinlichkeit<br />

für eine Lösung steigt. Waffenlieferungen<br />

sind in dieser Situation ein<br />

Politikersatz.<br />

Sie haben einen Appell dagegen unterschrieben,<br />

dass die Bundeswehr ein<br />

Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden<br />

Euro bekommt. Finden Sie nicht,<br />

dass die Demokratie sich verteidigen<br />

können muss – und zwar auch gegen<br />

Feinde von außen?<br />

Doch, finde ich. Aber dafür braucht<br />

die Bundeswehr nicht mehr, sondern<br />

weniger Geld. Ich habe kein Problem<br />

mit einer Bundeswehr, die dafür ausgerüstet<br />

ist, dieses Land und seine Nachbarn<br />

im Osten zu verteidigen. Wir<br />

brauchen aber keine Bundeswehr, die<br />

15<br />

dazu in der Lage ist, an zwei Orten<br />

irgendwo in der Welt gleichzeitig Krieg<br />

zu führen. Es gibt sehr viele Waffensysteme,<br />

die wir nur für Auslandseinsätze<br />

und nicht für die Landesverteidigung<br />

brauchen – das macht die Bundeswehr<br />

so teuer.<br />

„Waffenlieferungen<br />

sind ein<br />

Politikersatz.“<br />

Wie kann man sicherstellen, dass<br />

aus dem Ausrüsten der Bundeswehr<br />

kein Wettrüsten wird?<br />

Gar nicht. Das Allerschlimmste an<br />

den 100 Milliarden ist, dass sie der<br />

Einstieg in ein neues Wettrüsten sind.<br />

Natürlich wird Russland dagegenhalten.<br />

Wir sind sofort wieder in den<br />

1970er-Jahren, in denen es eine Spirale<br />

ohne Ende gab. Wir müssen uns doch<br />

jetzt die Frage stellen, wie wir in<br />

50 Jahren leben wollen – hochgerüstet<br />

in einem kalten Krieg?<br />

Russland hat gerade alles Porzellan<br />

zerschlagen – schwer vorzustellen,<br />

wie eine stabile Nachkriegsordnung<br />

aussehen kann.<br />

Im Moment vertraue ich der russischen<br />

Regierung keinen Millimeter – und ohne<br />

Vertrauen kann man keine vernünftige<br />

Friedensordnung herstellen. Trotzdem:<br />

Wir müssen in der Nachkriegszeit<br />

langsam anfangen, dieses Vertrauen zu<br />

bilden. Und die 100 Milliarden würden<br />

genau das verhindern. •<br />

benjamin.laufer@hinzundkunzt.de


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die andere an die Hilfsorganisation<br />

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Wie geht Frieden?<br />

„Ich gehöre<br />

diesem Land<br />

nicht.“<br />

Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht.<br />

Doch Männer aus der Ukraine dürfen nicht ausreisen.<br />

Artem ist 33 Jahre alt und hat es trotzdem getan. Nun<br />

weiß er nicht, ob er nach dem Krieg zurückkehren kann –<br />

und ob er das überhaupt will. Eine Begegnung in Berlin.<br />

TEXT: ANNA-ELISA JAKOB, FOTO: NEAL<br />

Natürlich gibt es so einige Dinge,<br />

die Artem, wie viele andere<br />

Menschen auch, an diesem<br />

Krieg fürchtet. Die Explosionen nahe<br />

seiner Wohnung zum Beispiel, die Sorge<br />

um seine Frau und seine Großeltern oder<br />

ja, der Gedanke daran, eine Schusswaffe<br />

in der Hand zu halten. Doch es gab noch<br />

einen anderen Moment, in dem ihn eine<br />

bislang unbekannte Angst überkam: „Als<br />

ich merkte, dass es für jemanden wie<br />

mich in meinem Land keinen Platz mehr<br />

gibt.“ Für einen Mann wie ihn, der nicht<br />

zur Waffe greifen möchte.<br />

Artem ist 33 Jahre alt und lebte bis vor<br />

Kurzem in Kiew. Er heißt eigentlich anders<br />

und möchte in diesem Text anonym<br />

bleiben, weil er die Hoffnung hat, irgendwann<br />

wieder nach Hause zurückkehren<br />

zu können. Was jedoch Konsequenzen für<br />

ihn haben könnte: Denn wer als Mann aus<br />

der Ukraine flieht, statt zu bleiben, um<br />

kämpfen zu können, begeht laut ukrainischem<br />

Staat in diesen Tagen ein Verbrechen.<br />

Das gilt für diejenigen, die jünger als<br />

60 Jahre sind oder die weniger als drei<br />

Kinder haben. Immer wieder wurde von<br />

Männern berichtet, die festgenommen<br />

und der Armee überstellt wurden. Artem<br />

müsste nach seiner Rückkehr wohl mit<br />

einer Strafverfolgung rechnen.<br />

An einem Sonntag in Berlin, 1365<br />

Kilometer von seiner alten Heimatstadt<br />

„Meine Frau<br />

sagte, sie würde<br />

nicht ohne<br />

mich gehen.“<br />

entfernt, sitzt Artem nun in einem Café,<br />

das sich „Geschmackssache“ nennt. Es ist<br />

<strong>April</strong>, wie zum Beweis wechselt die Sonne<br />

sich mit Schauern ab, und Artem sitzt da<br />

in seinem warmen Parka, mit Mütze und<br />

Schal, lächelt schüchtern und sagt auf<br />

Englisch: „Eigentlich hat man mir gesagt,<br />

in Deutschland wäre der Frühling schöner<br />

als in der Ukraine.“<br />

Artem mochte Berlin schon, bevor er<br />

vor ein paar Wochen hierher kam. Noch<br />

im Januar waren er und seine Frau zu<br />

Besuch bei seiner Mutter, die in der deutschen<br />

Hauptstadt lebt. Ihnen gefiel das<br />

Lebensgefühl, die öffentlichen Verkehrsmittel<br />

auch. Hier feierten sie den Beginn<br />

eines neuen Jahres – in ihrem „alten<br />

Leben“, wie Artem das sagt –, und waren<br />

ein bisschen wehmütig, als sie wieder<br />

in die Ukraine zurückkehrten. Nur für<br />

ein paar Wochen, doch das wussten sie<br />

damals noch nicht.<br />

17


Wie geht Frieden?<br />

HINZ&KUNZT N°351/MAI <strong>2022</strong><br />

„Ich wäre nicht gut<br />

darin, zu kämpfen.<br />

Es gibt viele andere, die<br />

darin ausgebildet sind.“<br />

Nun lebt Artem in Berlin, sitzt in diesem<br />

Café und erzählt die Geschichte<br />

seiner Flucht. Die ihn vor viele Ungewissheiten<br />

stellte und vor eine ihm bislang<br />

fremde Gewissheit: „Jetzt verbindet<br />

mich nichts mehr mit meinem Land.“<br />

Als Russland am 24. Februar die<br />

Ukraine angriff und Artem und seine<br />

Frau um fünf Uhr morgens die ersten<br />

Explosionen hörten, machten sie sich<br />

sofort auf den Weg. Sie riefen seine<br />

Groß eltern an, packten ihre Sachen in<br />

40 Minuten, sprangen in ihr Auto und<br />

fuhren Richtung Westen.<br />

Schon als sie dort zu viert im Auto<br />

saßen und Richtung Grenze fuhren, las<br />

Artem die ersten Nachrichten. Staatspräsident<br />

Wolodymyr Selenskyj hatte<br />

das Kriegsrecht ausgerufen und einen<br />

Ausreisestop für Männer zwischen 18<br />

und 60 Jahren angeordnet, um die Verteidigung<br />

des Landes zu sichern. Artem<br />

wurde klar: Seine Familie darf fliehen,<br />

doch er muss in der Ukraine bleiben.<br />

Also fuhr seine Frau erst einmal alleine<br />

über die Grenze. Brachte die<br />

Großeltern in Sicherheit, damit diese<br />

nach Berlin fahren konnten. Vor wenigen<br />

Jahren flohen er und seine Großeltern<br />

schon einmal vor einem russischen<br />

Angriff, von Donezk nach Kiew. Auch<br />

damals packte Artem die beiden in sein<br />

Auto und nahm sie mit in eine andere<br />

Stadt. In Kiew bauten sie sich ein neues<br />

Leben auf. Artem lernte seine Frau kennen,<br />

vor drei Jahren haben sie geheiratet.<br />

Kennengelernt hatten sie sich im<br />

Fitnessstudio und erst später gemerkt,<br />

dass sie noch etwas anderes verband:<br />

die erste Flucht, denn auch sie kam<br />

2014 von Donezk nach Kiew. „Meine<br />

Großeltern sprachen oft von ihrer<br />

alten Wohnung und den Nachbarn, sie<br />

haben ja ihr ganzes Leben dort verbracht“,<br />

sagt Artem.<br />

Doch auch diesmal blieben seine<br />

Großeltern ruhig. Er hingegen lag die<br />

ganze Nacht wach, als er wenig später,<br />

getrennt von ihnen, in einer Stadt in<br />

der Westukraine ausharrte und seine<br />

Frau, ebenfalls alleine, in einem Auto<br />

auf der anderen Seite der Grenze übernachtete.<br />

„Sie hätte auch fliehen können,<br />

aber sie sagte, dass sie ohne mich<br />

nicht gehen würde“, erzählt er. Sie fuhr<br />

wieder zurück über die Grenze, und<br />

dort blieben sie gemeinsam. „Es war<br />

schwierig, mit mir als Mann eine Unterkunft<br />

zu finden“, sagt Artem. Ungefähr<br />

drei Wochen waren sie unterwegs, leb-<br />

18<br />

ten mal im Auto, eine Zeit lang in einer<br />

Wohnung. Artem, der eigentlich gerne<br />

reist, sagt mit einem müden Lächeln:<br />

„Ein Roadtrip kommt für lange Zeit<br />

nicht mehr infrage.“<br />

Eines Nachts, so erzählt er es, gingen<br />

mehrere Männer um das Haus, in<br />

dem sie schliefen. Suchten sie nach Verweigerern<br />

wie ihm? Sie hatten beide<br />

Angst und versteckten sich in der Wohnung.<br />

Das war der Moment, in dem Artem<br />

merkte, dass er sich vor seinem eigenen<br />

Staat versteckte, dass sein Land<br />

ihn nicht mehr akzeptierte. Und dass er<br />

irgendwie versuchen musste, über die<br />

Grenze zu gelangen.<br />

In diesen Wochen traf er einen<br />

Mann, der sagte, er sei Anwalt. Sein<br />

Rat war: „Flucht ist ein Menschenrecht,<br />

man kann es dir nicht verbieten.“<br />

Er bestärkte Artem, dass die Rechtslage<br />

nicht so eindeutig sei, wie die ukrainische<br />

Regierung vorgebe. „Ich wusste<br />

nicht, ob er recht hat, ich wusste nur,<br />

dass ich den Weg in die EU nicht ohne<br />

einen offiziellen Stempel beginnen<br />

wollte“, sagt Artem. Illegal in sein neues<br />

Leben starten, das wollte er nicht.<br />

Eines Tages erfuhr Artem von einem<br />

Ort, der sein Schlupfloch wurde:<br />

Beamte auf der anderen Seite der<br />

Grenze halfen ihm und seiner Frau<br />

beim Ausfüllen ihrer Einreisepapiere.<br />

Und dort bekam Artem auch den Ausreisestempel<br />

in seinen Pass, der für ihn<br />

zumindest etwas Sicherheit bedeutet.<br />

Man könnte meinen, Artem würde<br />

seitdem oft gefragt: „Warum bist du<br />

nicht geblieben? Warum verteidigst du<br />

dein Land nicht?“ Doch Artem sagt, das<br />

habe eigentlich niemand wissen wollen,<br />

alle hätten sie Verständnis gezeigt. Die<br />

Menschen, die sie in Rumänien trafen,<br />

oder die Vermieterin von ihrem Airbnb<br />

in Berlin. Manche meinten: „Es ist ein<br />

Wunder, dass du hier bist.“ Er musste


Wie geht Frieden?<br />

also all die Dinge gar nicht sagen, mit denen er jetzt<br />

erklärt, warum er trotzdem geflohen ist: „Es war schon immer<br />

meine Position, dass ich nicht kämpfen möchte. Ich<br />

glaube auch, ich wäre nicht gut darin. Es gibt viele andere,<br />

die darin ausgebildet sind. Ich habe gearbeitet, ich habe<br />

Steuern dafür gezahlt, dass mein Land möglichst gut vorbereitet<br />

ist. Das würde ich jetzt weiter gerne machen:<br />

arbeiten, um die Ukraine zu unterstützen. Und natürlich<br />

meine Familie. Was wäre aus ihr geworden ohne mich?<br />

Am besten helfe ich, wenn ich ihr helfe.“<br />

Eine Stunde ist vergangen, doch Artem hat seinen<br />

Kaffee nicht mal angerührt. Sobald er die Tasse anhebt,<br />

fällt ihm sofort noch etwas ein. Er weiß, er ist nicht der<br />

Einzige, der so denkt: Viele seiner Freunde hatten dieselben<br />

Gedanken, auch andere wollten fliehen, manche haben es<br />

wohl auch geschafft.<br />

Natürlich leide er mit den Menschen in seiner Heimat.<br />

Mit den Freund:innen, mit denen er regelmäßig telefonierte,<br />

für die er und seine Frau auch Medikamente organisierten,<br />

denen sie bei der Flucht halfen. Aber an diesem<br />

Nach mittag in Berlin wirkt es auch, als versuche er sich<br />

von seiner Heimat zu lösen. Vielleicht wäre er zurückgekehrt<br />

oder gar nicht erst geflohen, irgendwo in der Westukraine<br />

geblieben, hätte versucht von dort zu helfen. Aber<br />

so? „Ich gehöre diesem Land nicht“, dieser Gedanke begleitet<br />

ihn, seit er im Auto gen Westen die Nachrichten las.<br />

An etwas muss er sich aber noch gewöhnen, und zwar an<br />

die Behäbigkeit Berlins. Alles sei so langsam hier. „Ja, in<br />

Kiew geht alles viel schneller, die Läden sind immer geöffnet,<br />

sofort bekommst du alles, was du brauchst“, sagt er. Hier<br />

müssten sie zwei Wochen auf eine Bankkarte warten, ihr<br />

Deutschkurs beginnt im Mai. „Es ist eine komische Situation<br />

für mich, noch nie war ich ohne Arbeit und ohne Heimat“,<br />

sagt Artem. Pünktlich zum nächsten <strong>April</strong>regen verschwindet<br />

er in den Straßen von Berlin, einer unter vielen. •<br />

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unabhängigem Literaturfestival<br />

Montag<br />

9. Mai, 19.30 Uhr<br />

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Eintritt frei<br />

FRISCH IN DEN FRÜHLING...<br />

Anna-Elisa Jakob beobachtet in diesen Wochen,<br />

wie sich Männer in ihrem Bekanntenkreis gegenseitig<br />

die Frage stellen: Würdest du kämpfen?<br />

Und oft ganz andere Antworten geben als gedacht.<br />

redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Leichte Sprache:<br />

Es gibt den Text auch in Leichter<br />

Sprache. Scannen Sie den QR-Code<br />

mit dem Handy. Dann klicken Sie auf<br />

den Link. Der Text in Leichter Sprache<br />

öffnet sich. Oder Sie gehen auf unsere<br />

Webseite www.hinzundkunzt.de und<br />

suchen dort nach „Leichte Sprache“.<br />

www.huklink.de/351-leichte-sprache<br />

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Hussam Al Zaher und<br />

Natalia Grote leiten<br />

die Textredaktion von<br />

Kohero, Sarah Zaheer<br />

(Bildschirm) betreut<br />

die Podcasts.<br />

Fluchtgeschichten<br />

aus der Ich-Perspektive<br />

Mit Geflüchteten sprechen, sie selbst schreiben lassen:<br />

Das Hamburger Magazin „Kohero“ macht vor, wie Berichterstattung<br />

über Flucht und Migration den Menschen gerecht wird.<br />

TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN, FOTOS: ANDREAS HORNOFF<br />

E<br />

ine Strandpromenade, es könnte<br />

Brasilien sein, auf dem Pflaster<br />

tanzt ein Paar – das Wandbild<br />

im Hinterhof der „Kohero“-Redaktion<br />

weckt Urlaubsstimmung. Drinnen aber<br />

wird gearbeitet. Chefredakteur Hussam<br />

Al Zaher (34) und Natalia Grote (24),<br />

Leiterin der Onlineredaktion, sitzen an<br />

einer Ecke des Konferenztisches, die<br />

Fensterfront zum Hof im Rücken, vor<br />

sich ein Laptop: Sarah Zaheer (25),<br />

Podcast-Chefin, hat sich per Video<br />

zugeschaltet.<br />

„Multivitamin ist etwas schwierig<br />

gerade“, berichtet sie. Der Podcast für<br />

Flucht, Migration und Zusammenhalt<br />

ist das zentrale Audioformat von Kohero,<br />

ein Gespräch zum Thema Racial<br />

Profiling ist angefragt, die Antwort lässt<br />

auf sich warten. Dafür gibt es einen anderen<br />

Beitrag für den Schwerpunkt<br />

„Männlichkeiten im Kontext von Migration<br />

und Flucht“. Natalia hat gute<br />

Nach richten, viele der ehrenamtlichen<br />

Redaktionsmitglieder haben Beiträge<br />

für Online angeboten, die Situation der<br />

geflüchteten Ukrainer:innen bewegt offenbar<br />

viele. „Und: Wir haben wahrscheinlich<br />

drei Tandems diesen Monat.“<br />

Drei Tandems, das heißt: Drei<br />

Menschen mit Flucht- oder Einwanderungserfahrung<br />

werden ihre Geschich-<br />

20<br />

ten veröffentlichen können, obwohl sie<br />

sich noch schwer tun mit der deutschen<br />

Sprache. Beim Worte finden helfen<br />

deutschsprachige Partner:innen und<br />

journalistische Profis, die ihnen zur<br />

Seite stehen. Neben der Printredaktion,<br />

dem Onlinemagazin und den Podcasts<br />

sind die Schreibtandems nur eines<br />

der Projekte von Kohero, doch ideell<br />

gesehen sind sie das Herzstück: Dank<br />

der Tandems können Menschen, die in<br />

Deutschland noch als fremd gelten,<br />

öffentlich für sich selbst sprechen, ihre<br />

Geschichte erzählen, ihre Meinung<br />

äußern – statt nur Gegenstand der<br />

Berichterstattung zu sein.


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Wie geht Frieden?<br />

„Wir wollen eben nicht die persönlichen<br />

Geschichten in einer Masse<br />

untergehen lassen“, erklärt Sarah. Die<br />

Idee haben inzwischen auch größere<br />

deutsche Medien verinnerlicht: Flüchtende<br />

aus der Ukraine kommen häufiger<br />

als Individuen vor. Die Kameras<br />

stehen auf Augenhöhe und zeigen<br />

öfter Menschen statt Massen. Und sie<br />

werden gefragt. „Ich hätte mir gewünscht,<br />

dass auch schon in anderen<br />

Situationen mehr mit den geflüchteten<br />

Menschen gesprochen wird“, sagt<br />

Natalia. Zum Beispiel 2015, als die<br />

Schutzsuchenden gezeigt wurden, die<br />

sich auf die deutschen Grenzen zubewegten<br />

– auf genommen aus der Luft,<br />

verschmolzen zur anonymen Menge.<br />

Sarah und Natalia sahen die Bilder im<br />

Fernsehen. Hussam war damals einer<br />

der Flüchtenden.<br />

„Ex-Geflüchteter“ – so bezeichnet<br />

sich der syrische Chefredakteur von<br />

Kohero heute selbst. Denn geflüchtet<br />

zu sein, sei Teil seiner Geschichte, es<br />

habe ihn geprägt. „Flucht macht<br />

fremd“, sagt Hussam. „Aber was ich<br />

vor sechs Jahren war, beschreibt nicht<br />

meine Situation jetzt.“ Er hat es<br />

geschafft, Wurzeln zu schlagen in dieser<br />

neuen Erde namens Deutschland, er<br />

hat etwas aufgebaut.<br />

Die Redaktion<br />

legt Wert<br />

auf wechselnde<br />

Perspektiven.<br />

Schon in seiner Heimatstadt Damaskus<br />

arbeitete Hussam Al Zaher als Journalist.<br />

Als er in Hamburg anfing, deutsche<br />

Medien zu lesen, fiel ihm vor allem auf,<br />

was er dort nicht erfuhr: Kaum O-Töne<br />

von den Geflüchteten selbst, keine Erfahrungsberichte<br />

aus den Erstaufnahmestellen.<br />

Hussam, der damals selbst in<br />

einer Unterkunft wohnte, beschloss,<br />

diese Lücke zu füllen: Anfang 2017<br />

gründete er das „Flüchtling“-Magazin,<br />

zuerst online, ein Jahr später auch<br />

als Heft. „Wir wollen und können zusammenleben“,<br />

schrieb er in der ersten<br />

Printausgabe.<br />

Es lief gut für das Projekt. Das<br />

Team der Haupt- und Ehrenamtlichen<br />

wuchs, gestärkt von Partnern, die Werbeanzeigen<br />

buchten oder die Redaktion<br />

mit Fördermitteln unterstützten. Auch<br />

die Menschen, von denen das Magazin<br />

berichtete, kamen voran und wurden<br />

heimisch. Bald wirkte der Name unpassend:<br />

„Flüchtling“ reichte nicht mehr<br />

aus, um sie angemessen zu beschreiben.<br />

Im September 2020 erschien die fünfte<br />

Printausgabe unter dem Titel Kohero –<br />

das Wort für „Zusammenhalt“ in der<br />

internationalen Sprache Esperanto.<br />

Die Menschen, von denen bei Kohero<br />

zu lesen und zu hören ist, sind nie<br />

nur Migrant:innen. Samira Al Mobaied<br />

aus Paris gibt ein Interview als Friedensaktivistin,<br />

ist aber auch Wissenschaftlerin,<br />

Feministin und Ex-Mitglied des<br />

syrischen Verfassungsausschusses. Der<br />

14-jährige Amir Reza Hosseinzadeh<br />

wird als Ringkämpfer porträtiert, er ist<br />

aus Afghanistan geflohen und möchte<br />

Polizist werden. Und der Hamburger<br />

Said Haider ist nicht wegen seiner Herkunft<br />

interessant, sondern weil er als<br />

Jurist einen Chatbot gegen Diskriminierung<br />

erfand. Auch bei den Nachrichten<br />

legt die Kohero-Redaktion Wert auf<br />

wechselnde Perspektiven – die flüchtenden<br />

Ukrainer:innen kommen vor, aber<br />

auch die russischen Akademiker:innen<br />

und Fachleute, die infolge des Ukraine-<br />

Krieges ihr Heimatland verlassen.<br />

Facettenreichtum und Diversität<br />

sind bei Kohero oberstes Gebot. Wie<br />

sieht es im Redaktionsteam selbst aus?<br />

„Wir sehen das Problem, dass wir nicht<br />

ganz vielfältig sind“, sagt Hussam.<br />

Längst nicht alle haben eine Fluchtoder<br />

Migrationsgeschichte. Menschen<br />

ukrainischer Herkunft sind noch gar<br />

nicht dabei, auch wenn ihre Sprachkenntnisse<br />

und ihre Erfahrungen gerade<br />

sehr wichtig wären. Allerdings: Fast<br />

alle bei Kohero arbeiten pro bono.<br />

Das grenzt den Kreis ein, erklärt<br />

Hussam: Ein Ehrenamt müsse man<br />

sich leisten können. Viele Geflüchtete<br />

können das nicht.<br />

„Die Integration damals hat geklappt<br />

wegen der Ehrenamtlichen“,<br />

21<br />

sagt Hussam. Jetzt, gegenüber den<br />

Ukrainer:innen, sei die Hilfsbereitschaft<br />

sogar noch größer als die, die er 2015<br />

erlebte. Aber die Beweggründe seien<br />

dieselben. „Die, die damals geholfen<br />

haben, werden jetzt auch helfen“, sagt<br />

er. Das Team von Kohero zählt dazu:<br />

Dienstags und donnerstags sind geflüchtete<br />

Journalist:innen aus der Ukraine<br />

eingeladen, die Redaktionsräume<br />

kostenlos zu nutzen. Damit auch ihre<br />

Stimmen besser gehört werden. •<br />

Annabel Trautwein<br />

Annabel Trautwein hat sich<br />

früher, etwa in Syrien,<br />

ganz gern mal fremd gefühlt.<br />

Und versteht jetzt:<br />

Wer Fremdsein so erlebt,<br />

muss ganz schön privilegiert sein.<br />

annabel.trautwein@hinzundkunzt.de<br />

Kriegerischer als beim<br />

Dosenwerfen wird es bei „Kohero“<br />

nicht. Hier geht es viel mehr um<br />

das bessere Leben im Frieden.


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Zahlen des Monats<br />

Klimaschutz<br />

Bus und Bahn<br />

für alle!<br />

22 Prozent<br />

ihrer Wege legen Menschen in Hamburg mit dem öffentlichen Nahverkehr<br />

zurück. Zum Vergleich: In Wien liegt der ÖPNV-Anteil am sogenannten<br />

Modal-Mix bei 30 Prozent, vor Corona waren es sogar 40 Prozent. Die<br />

30-Prozent-Marke will auch der Hamburger Senat erreichen – allerdings<br />

erst in acht Jahren: 2030 soll jeder Fahrgast innerhalb von fünf Minuten<br />

Fußweg eine Bus- oder Bahnhaltestelle erreichen können.<br />

Kurzfristig soll eine Maßnahme der Bundesregierung den Öffis zu neuer<br />

Popularität verhelfen: das Neun-Euro-Ticket, das ab Juni drei Monate lang<br />

erhältlich sein soll und bundesweit auch in Nahverkehrszügen gilt. Die preiswerte<br />

Monatskarte ist Teil eines Entlastungspakets, mit dem die Bundesregierung<br />

die Folgen explodierender Energiepreise abfedern will. Laut HVV<br />

sollen Neukund:innen davon gleichermaßen profitieren wie Abonnent:innen.<br />

Und das Ticket werde nicht nur per App oder Onlineshop erhältlich sein,<br />

so ein Sprecher, sondern „auch über analoge Vertriebswege“. Ob damit<br />

Schalter, Automat oder Busfahrer:innen (oder alle drei) gemeint sind, war<br />

bei Redaktionsschluss noch offen. Klar war hingegen, so der Sprecher:<br />

„Sie brauchen nur neun Euro, sonst nichts.“<br />

Ob das Drei-Monats-Super-Sparangebot Menschen längerfristig dazu<br />

bewegen wird, Bus und Bahn häufiger zu nutzen, ist fraglich: Erfahrungen<br />

deuten darauf hin, dass der Preis nur einer von vielen entscheidenden<br />

Faktoren ist. „Wenn die Intervalle zu groß sind, die Fahrzeuge alt und die<br />

Infrastruktur ebenfalls nicht attraktiv, dann nützt das beste preisliche<br />

Angebot nichts“, sagt Daniel Amann, Sprecher der Wiener Linien.<br />

Infolge der Coronapandemie hat der Nahverkehr zuletzt deutlich an Fahrgästen<br />

verloren – rund jede:r Vierte ist aufs Auto umgestiegen. Um die<br />

Defizite aufzufangen, hat der Senat im November 200 Millionen Euro<br />

Zuschüsse für den HVV bereitgestellt. Das Neun-Euro-Ticket wird dem<br />

Verkehrsverbund laut einer Hochrechnung 130 Millionen Euro Einnahmeausfälle<br />

bescheren, die der Bund übernehmen wird. •<br />

TEXT: ULRICH JONAS<br />

ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />

Mehr Infos unter: www.hvv.de<br />

23


Zweite Chance für<br />

„Höllenhunde“<br />

Problemhunde sind ihre Leidenschaft: Vanessa Bokr schult schwierige<br />

Tiere so, dass sie wieder im normalen Alltag zurechtkommen.<br />

Das geht nur mit viel Geduld und Konsequenz.<br />

TEXT: FLORIAN STURM<br />

FOTOS: EVGENY MAKAROV


Heike Bernhard-<br />

Gothe hat Rüde Max<br />

von der Hellhound<br />

Foundation adoptiert.


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Reportage<br />

Oben: Vanessa Bokr gönnt sich eine Pause. Unten: Bei der Hellhound-Foundation<br />

landen Tiere, mit denen Besitzer:innen und Veterinärämter überfordert sind.<br />

A<br />

ls sich der Schäferhund bellend<br />

in die Leine stürzt, will<br />

Rüde Max kontern. Doch<br />

ehe er zurückpöbeln kann,<br />

holt Heike Bernhard-Gothe ihren vierjährigen<br />

Hund nah an sich heran, baut<br />

sich vor ihm auf, ermahnt ihn und animiert<br />

zum Weiterlaufen. Es klappt: Statt<br />

sich in die Situation hineinzusteigern,<br />

folgt ihr Max bei Fuß in den Wald.<br />

Leinenaggression. Wer einen Hund<br />

hat, kennt dieses Verhalten. Max ist allerdings<br />

ein sogenannter Problemhund.<br />

Oder er war es zumindest. Früher wäre<br />

er noch ausgerastet, hätte versucht, den<br />

Schäferhund anzugreifen, um anschließend<br />

auch noch seine Besitzerin anzugehen.<br />

Dass es jetzt anders läuft, ist vor<br />

allem Vanessa Bokr zu verdanken.<br />

Die 34-Jährige leitet die Hellhound<br />

Foundation: eine tierheimähnliche Einrichtung<br />

in Bispingen, gut eine Autostunde<br />

südlich von Hamburg. Hier<br />

kümmern sich Bokr und ihr Team<br />

um aktuell 52 „verhaltensauffällige<br />

Hunde“. Hunde, die aggressiv sind, die<br />

gebissen haben. Für solche Hunde ist<br />

die Hellhound Foundation oft die letzte<br />

Chance. Ohne das Team wären viele<br />

einge schläfert worden.<br />

Auch Max lebte knapp zwei Jahre<br />

bei den „Höllenhunden“, bevor er von<br />

Heike Bernhard-Gothe adoptiert wurde.<br />

Sein Vorbesitzer war Alkoholiker. Einen<br />

Tag liebte er den Hund, im Rausch<br />

misshandelte er ihn. Kein Hund lässt<br />

sich das ewig gefallen. Als der Halter<br />

Max am Fell packte und zu Boden<br />

drückte, biss der in Hand und Arm.<br />

Der Besitzer sperrte Max ein und rief<br />

die Polizei. Die schickte Bokr. „Als ich<br />

vor der Badezimmertür stand, hörte ich<br />

ein tiefes, aggressives Knurren. Ich<br />

öffnete die Tür einen Spalt, hielt eine<br />

Salami ins Bad, und als Max interessiert<br />

zum Fressen kam, konnte ich ihm problemlos<br />

eine Schlinge um den Hals<br />

legen und ihn mitnehmen“, erzählt Bokr.<br />

Bokr, herzlicher, hessisch-unverblümter<br />

Ton und die dunklen Haare zu<br />

einem Dutt zusammengebunden, ist<br />

anders, als es ihre zierliche Figur auf<br />

den ersten Blick erahnen lässt. Robuster.<br />

Rauer. Direkter. Auch bei Tieren ist<br />

sie unkonventionell. Hält sich als Kind<br />

Spinnen und Blutegel, Krähen, Ratten,<br />

Füchse und sogar ein verletztes Wildschwein.<br />

Nach dem Abitur die Frage:<br />

Was mache ich beruflich? Tiere, das ist<br />

klar. Doch fürs Studium zur Veterinärmedizinerin<br />

reicht der Notenschnitt<br />

nicht aus. Der Impuls für die Höllenhunde<br />

kommt 2004 während eines<br />

Tierarztpraktikums: Jack, ein Altdeutscher<br />

Hütehund, soll eingeschläfert<br />

werden, weil er seinen Besitzer gebissen<br />

hatte. Bokr adoptiert den Hund und<br />

stellt sich immer häufiger die Frage:<br />

Sind manche Tiere wirklich von Grund<br />

auf böse? Mittlerweile ist sie überzeugt:<br />

„Es gibt wütende, hilflose, verängstigte<br />

Tiere, die in einem Konflikt entsprechend<br />

handeln. Aber sie tun das nie mit<br />

vorsätzlich bösen Gedanken.“<br />

2011 lässt sich Bokr als Hundetrainerin<br />

zertifizieren und schließt im selben<br />

Jahr ihr Kynologie-Studium ab, eine Art<br />

Expert:innenlehrgang zu Rassenlehre,<br />

Zucht, Pflege, Verhalten und Erziehung<br />

von Hunden. 2015 gründet sie die<br />

Hellhound Foundation. Der Name ist<br />

eine Botschaft: Diese Hunde haben eine<br />

schwierige, oft traumatische Vergangenheit.<br />

Die bringen sie auch in einen<br />

neuen Haushalt mit. „Wir kurieren oder<br />

27


Wer sich der Hellhound Foundation<br />

nähert, wird von Bellen und Knurren begrüßt.<br />

Die meisten Tiere tragen einen Maulkorb.<br />

28


Reportage<br />

resozialisieren hier kein Tier, sondern<br />

bereiten die Hunde auf ein Leben<br />

außer halb unseres geschützten Settings<br />

vor“, sagt Bokr. Es geht nicht um<br />

„Sitz!“ und „Platz!“, sondern darum, die<br />

Tiere im Umgang mit Menschen zu<br />

schulen und ihre Frustrationstoleranz<br />

zu erhöhen.<br />

Das braucht Zeit. Deshalb wird jeder<br />

neue Höllenhund zunächst drei<br />

Monate nur beobachtet: Wie verhält er<br />

sich in der Gruppe? Was sind seine Probleme?<br />

Wie reagiert er auf Konflikte?<br />

Zu den Hunden, die in die Hellhound<br />

Foundation kommen, gehören Schäferhunde,<br />

Malinois, Pitbulls oder nervenschwache<br />

Straßenhunde mit besonders<br />

kurzer Zündschnur. Sie gut einschätzen<br />

zu können, ist wichtig. Auf viele Menschen<br />

wirke das lange Zuschauen befremdlich,<br />

sagt Bokr: „Aber hier kannst<br />

du nur mit Ruhe und Geduld arbeiten.<br />

Denn du stehst vor Problemen, an<br />

denen andere vor dir gescheitert sind.“<br />

Veterinärämter und Tierheime sind<br />

mit solchen Hunden oft überfordert. In<br />

der Kurzbeschreibung heißt es dann<br />

häufig nur: Hund aus schwierigen Verhältnissen.<br />

Das sei unfair den Leuten<br />

gegenüber, die einem Tier helfen wollen,<br />

aber keine fachgerechte Aussage bekommen.<br />

Und gefährlich, findet Bokr. Sie<br />

fordert neben gewissenhafteren Vermittlungen<br />

auch eine Reform der Ausbildung<br />

zum Tierpfleger: „Nach drei<br />

Jahren kennst du die Grundlagen über<br />

Katzen, Hunde und Reptilien – weißt<br />

aber nicht, wie ein Hund guckt, wenn er<br />

dich fressen will. Über spezielle Fortbildungen<br />

ließe sich dieses Problem lösen.“<br />

Wer sich ihrer Anlage nähert, hört<br />

lautes, heftiges Bellen. Knapp ein Dutzend<br />

Hunde, fast alle tragen Maulkorb,<br />

stehen angespannt vor dem Eingang.<br />

Doch schon ein paar Minuten später:<br />

Ruhe. Die Hunde dösen auf der Terrasse<br />

oder schmiegen sich an einen Mitarbeiter.<br />

Aggression und Gelassenheit,<br />

beide Pole symbolisieren den Alltag<br />

ebenso wie die Charaktere der Hunde.<br />

„Wir haben hier außergewöhnlich viele<br />

Tiere, die intelligenter sind und deutlich<br />

mehr infrage stellen als ihre Artgenossen.<br />

Aus den verschiedensten Gründen<br />

haben sie verlernt, in Stresssituationen<br />

angemessen zu reagieren. Deswegen<br />

sind sie hier. Doch kein Hund will per­<br />

29


Seit 2015 leitet<br />

Hundetrainerin<br />

Vanessa Bokr die<br />

Hellhound Foundation.<br />

manent ganz oben stehen oder ist dauerhaft<br />

auf 180“, sagt Bokr. Sie und ihr<br />

Team wissen, wie man den Tieren am<br />

besten begegnet: mit Vehemenz, Konsequenz<br />

und zur Not der passenden Lautstärke.<br />

„Wer versucht, diese Tiere nur<br />

mit Liebe und Leckerlis zu erziehen, ist<br />

früher oder später auf dem Weg ins<br />

Krankenhaus“, sagt Bokr. Wehrt sich<br />

ein besonders schwerer Fall beim Anlegen<br />

des Maulkorbs, dem täglichen<br />

Abtasten nach Krankheiten oder einer<br />

notwendigen medizinischen Versorgung<br />

mit allen Kräften und will zuschnappen,<br />

helfe nur eins, erklärt Bokr: Das Tier an<br />

Hals und Taille am Zaun fixieren.<br />

Der Bedarf an Einrichtungen wie<br />

den Hellhounds ist hoch, das Angebot<br />

gering. So lebten 2019 fast 120 Hunde<br />

bei den Hellhounds. Zu viele, fand auch<br />

das Veterinäramt und verordnete, den<br />

Bestand zu verringern. Die Aufgabe gelang<br />

und das Team weiß heute: Etwa 50<br />

Hunde, mehr gibt die Anlage nicht her.<br />

Derzeit prüft das Team einen neuen<br />

Standort mit besserer Unterbringung,<br />

größerer Freifläche für die Hunde<br />

und einem offenen Trainingsraum: der<br />

Kulisse einer Wohnung, mit Küchenzeile,<br />

Wohn- und Arbeitsbereich, um<br />

die Hunde ganztags als Gruppe an das<br />

Leben mit Menschen zu gewöhnen.<br />

Knapp 800 Höllenhunde leben inzwischen<br />

wieder in „normalen“ Haushalten.<br />

Klappt es nicht, nimmt Bokr die<br />

Tiere ein Leben lang kostenfrei zurück.<br />

Doch das sei fast nie nötig.<br />

Das gilt auch für Max. Er ist Bernhard-Gothes<br />

erster eigener Hund. Sie<br />

wollte unbedingt einen aus dem Tierschutz<br />

und stieß auf die Hellhound<br />

Foundation. Einige Male geht sie mit<br />

30<br />

Max spazieren, nimmt ihn für zwei<br />

Wochenenden mit nach Hause. Der<br />

Maulkorb bleibt angelegt. Bedenken<br />

der WG-Mitbewohner, so einen<br />

Hund aufzunehmen, werden schnell<br />

ausgeräumt. Zumal Bokr für alle Vermittlungen<br />

kostenlose Beratungen und<br />

Trainingsstunden garantiert.<br />

Nur einmal, ganz am Anfang, prügelte<br />

sich Max mit einem anderen<br />

Hund. Dass der Rüde hin und wieder<br />

Mülltüten aufreißt, deutet eher auf<br />

Hundeflausen hin. Wenn Bernhard-<br />

Gothe arbeitet, bleibt er in einer Box.<br />

„Ich hätte nicht erwartet, dass das Zusammenleben<br />

mit einem Höllenhund<br />

so unaufgeregt und normal sein kann“,<br />

sagt die 37-Jährige. Auch der Umgang<br />

mit den Kindern in der WG bereitet<br />

keine Probleme. „Klar, du musst dir<br />

der Vergangenheit von Max immer be­


Wie klingt<br />

Hamburg?<br />

Schüler:innenwettbewerb von<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> und AUDIYOU<br />

ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />

Wie klingt für euch Hamburg?<br />

Welche Menschen und Orte gehören dazu?<br />

Wir sind gespannt darauf, was für Persönlichkeiten,<br />

Geschichten oder auch Klänge ihr findet.<br />

Macht unsere Stadt hörbar!<br />

Gestaltet aus den Ideen einen Hörbeitrag, egal<br />

in welcher Form. Das kann eine kleine Geschichte,<br />

eine Reportage, ein Hörspiel, ein Song, ein Interview<br />

oder etwas anderes sein. Hauptsache, es ist hörbar<br />

und nicht länger als vier Minuten.<br />

Wir sind gespannt darauf! Aus allen Einsendungen<br />

wählt eine Expert:innen-Jury ihre Favoriten und<br />

stellt diese bei einer großen Abschlussveranstaltung<br />

für alle Teilnehmer:innen im Juni <strong>2022</strong> vor.<br />

Dabei gibt es viele Preise zu gewinnen.<br />

Einsendeschluss:<br />

2. Juni <strong>2022</strong><br />

Mehr Informationen, Teilnahmebedingungen<br />

und das Anmeldeformular gibt es<br />

unter hinzundkunzt@audiyou.de oder<br />

bei Stephanie Landa, Tel. 040 – 46 07 15 38.<br />

wusst sein. Einmal Hellhound, immer Hellhound.<br />

Aber wenn wir lernen, die Signale von Hunden<br />

besser zu lesen und darauf vorbereitet sind, entsprechend<br />

zu reagieren, kann jeder mit einem Hellhound<br />

umgehen.“ •<br />

redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Herausfordernde Hunde in Hamburg<br />

Auch der Tierschutzverein in der Süderstraße vermittelt<br />

Hunde an die Hellhound Foundation – zuletzt 2019.<br />

Sein Ziel: herausfordernde Hunde an geeignete Privatleute<br />

oder Tierheime weiterzugeben, bei denen auch<br />

Hunde, die in Hamburg auf der „Rasseliste“ stehen und<br />

nur mit Sondererlaubnis gehalten werden dürfen, bessere<br />

Vermittlungschancen haben. Derzeit gelten 38 der<br />

139 Tierheimhunde als „gefährlich“ im Sinne des Hamburger<br />

Hundegesetzes. Sie werden intensiv betreut und<br />

müssen vor Abgabe einen Wesenstest bestehen. SIM<br />

31<br />

HAMBURGER NEBENSCHAUPLÄTZE<br />

DER ETWAS ANDERE<br />

STADTRUNDGANG<br />

Wollen Sie<br />

Hamburgs City<br />

einmal mit<br />

anderen Augen<br />

sehen? Abseits<br />

der glänzenden<br />

Fassaden zeigen wir<br />

Orte, die in keinem<br />

Reiseführer stehen:<br />

Bahnhofsmission<br />

statt Rathaus und<br />

Tagesaufenthaltsstätte<br />

statt Alster.<br />

Sie können mit<br />

unserem Stadtführer<br />

Chris zu Fuß auf<br />

Tour gehen, einzeln<br />

oder als Gruppe<br />

bis 25 Personen.<br />

Auch ein digitaler<br />

Rundgang ist<br />

möglich. Das ist fast<br />

genauso spannend.<br />

Offener Rundgang am Sonntag, 8.5. und 22.5.22, jeweils 15 Uhr,<br />

sowie am 15. Mai um 12 und 15 Uhr.<br />

Reguläre Rundgänge bequem selbst buchen unter:<br />

www.hinzundkunzt.de/stadtrundgang<br />

Digitale Rundgänge bei friederike.steiffert@hinzundkunzt.de oder<br />

Telefon: 040/32 10 84 04<br />

Kostenbeitrag: 5 Euro/10 Euro<br />

pro Person


Intern<br />

HINZ&KUNZT N°351/MAI <strong>2022</strong><br />

Foto und Nummer<br />

Foto und Verkäufer:innennummer bleiben<br />

auch auf dem neuen Ausweis erhalten.<br />

Original<br />

Durch den<br />

Aufdruck<br />

„Original“ werden<br />

die Ausweise<br />

sicherer vor<br />

Fälschungen.<br />

901<br />

QR-Code<br />

Über den Code ist<br />

bei manchen<br />

Verkäufer:innen<br />

künftig bargeldloses<br />

Zahlen<br />

möglich.<br />

05/2025<br />

Neue<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Ausweise<br />

Als treue Leser:innen wissen Sie es vermutlich:<br />

Offizielle Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufer:innen erkennen Sie am<br />

Verkaufsausweis. Dieser erhält nun einen frischen Anstrich.<br />

Befristung<br />

Die Ausweise sind<br />

nun befristet gültig.<br />

W<br />

er Hinz&<strong>Kunzt</strong> verkaufen<br />

möchte, einigt sich<br />

mit uns auf bestimmte<br />

Verhaltensregeln: Etwa<br />

darauf, beim Verkauf keinen Alkohol<br />

zu trinken, die Kundschaft nicht zu<br />

bedrängen, bereitwillig Magazin und<br />

Wechselgeld herauszugeben und das<br />

Magazin nicht zum Betteln zu nutzen.<br />

Der sicherste Weg, um offizielle<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufer:innen zu erkennen,<br />

ist deshalb der Ausweis, den sie<br />

beim Verkauf gut sichtbar bei sich tragen.<br />

Auch das gehört zu den abgesprochenen<br />

Verhaltensregeln. Nun haben<br />

wir uns entschieden, dem Ausweis ein<br />

Update zu verpassen. Das hat mehrere<br />

Gründe.<br />

TEXT: LUKAS GILBERT<br />

FOTO: HINZ&KUNZT<br />

Die Ausweise sind von nun an mit einem<br />

QR-Code versehen. Damit<br />

werden Sie in einigen Monaten bei<br />

manchen Hinz&Künztler:innen Ihr<br />

Straßenmagazin auch bargeldlos bezahlen<br />

können. Diese Verkäufer:innen<br />

werden einen sichtbaren Hinweis tragen.<br />

Wir sind gespannt, wie das Experiment<br />

von Ihnen angenommen wird.<br />

Außerdem sind die Ausweise in<br />

Zukunft befristet. Sobald der Ausweis<br />

abläuft, ist das für uns ein Anlass, mit<br />

den jeweiligen Verkäufer:innen zu klären,<br />

ob sie noch auf uns angewiesen<br />

sind. Denn Hinz&<strong>Kunzt</strong> soll bestenfalls<br />

ein Sprungbrett sein und keine<br />

dauerhafte Lösung. Dabei berücksichtigen<br />

wir, dass manche diesen Sprung<br />

32<br />

nicht machen können. Etwa weil kein<br />

gesicherter Wohnraum, feste Arbeit<br />

oder Leistungsanspruch entstanden<br />

sind. Diese Menschen können natürlich<br />

weiterhin Hinz&<strong>Kunzt</strong> verkaufen.<br />

Die gewohnte, fett gedruckte Verkäufer:innennummer<br />

und das Foto bleiben<br />

auch auf den neuen Ausweisen erhalten,<br />

deren Vorder- und Rückseite<br />

übrigens identisch sind. Gültig ist der<br />

Verkaufsausweis nur im Originalzustand<br />

als Kunststoffkarte. Fotografierte, laminierte<br />

oder folierte Ausweise können<br />

Hinweise auf Fälschungen sein, die in<br />

der Vergangenheit leider immer wieder<br />

vorkamen. Das gilt auch, wenn der Aufdruck<br />

„Original“ auf dem Verkäuferfoto<br />

nicht mehr sichtbar ist. •


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Meldungen (1)<br />

Politik & Soziales<br />

Neubau<br />

Keine Lösung für Sozialwohnungskrise<br />

Viele sozial orientierte Vermieter:innen legen Neubauprojekte auf Eis. Das ist das<br />

Ergebnis einer Umfrage des Verbands norddeutscher Wohnungsunternehmen<br />

(VNW). Wegen finanzieller Risiken schätzen 86 Prozent die Aussichten als<br />

„schlecht“ oder „sehr schlecht“ ein, 60 Prozent wollen Bauvorhaben verschieben<br />

oder ziehen das zumindest in Betracht. Ursachen sind gestiegene Baupreise, Lieferprobleme<br />

bei Holz, Stahl und Dämmstoffen sowie Personalmangel, sagt VNW-<br />

Direktor Andreas Breitner. In der Folge dürfte die Zahl der Sozialwohnungen in<br />

Hamburg weiter sinken. Weil jedes Jahr Tausende Wohnungen aus der Mietpreisbindung<br />

fallen, wird von den derzeit 78.000 in Hamburg 2030 wohl nur die Hälfte<br />

übrig sein. Neu gebaut wurden vergangenes Jahr nur 1895 Sozialwohnungen. ATW<br />

•<br />

Behörde<br />

Bezirk rügt Bund wegen Dauerleerstand<br />

Fast jede vierte Wohnung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) in<br />

Hamburg steht leer. Das erklärte die Bundesbehörde auf Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Nachfrage.<br />

Es geht um 61 von 264 Wohnungen, so ein Sprecher: 37 seien „wegen ungeklärter<br />

Erbbausituation bzw. ungeklärtem Planungsrecht“ nicht vermietet, 17 befänden<br />

sich „in der Sanierungsplanung“ und 2 „in der Verkaufsplanung“. 5 weitere sollen<br />

„zeitnah“ vermietet werden. Wie das Hamburger Abendblatt zuerst berichtete, hat<br />

das Bezirksamt Altona die BImA wegen andauernder Leerstände und mangelnder<br />

Informationen gerügt. Gegenüber Hinz&<strong>Kunzt</strong> versprach die Behörde Besserung:<br />

Die Stadt sei Mitte <strong>April</strong> „über den Status der Leerstände und die geplanten<br />

Maßnahmen informiert worden“. Saniert werde frühestens ab Juli und dann bis<br />

Sommer 2023. Ursprünglich sollte die Sanierung 2021 starten. UJO<br />

•<br />

Diakonie<br />

Mehr Wohnungslose?<br />

Die Diakonie Schleswig-Holstein<br />

befürchtet aufgrund anhaltender<br />

Pandemie und zunehmender Lebenshaltungskosten<br />

steigende Wohnungslosenzahlen.<br />

Das sagte Landespastor<br />

Heiko Naß. Vergangenes Jahr nutzten<br />

mehr als 7800 Menschen die Diakonie-Angebote<br />

für Wohnungslose in<br />

Schleswig-Holstein – so viele wie im<br />

Vor-Pandemiejahr 2019. Zugenommen<br />

habe die Zahl derer, denen eine<br />

Zwangsräumung oder -versteigerung<br />

bevorsteht, oft infolge von Jobverlust<br />

oder Kurzarbeit. Zudem seien immer<br />

mehr Hilfesuchende psychisch krank.<br />

„Wir müssen dringend gegensteuern“,<br />

erklärte der Diakonie-Vorsitzende.<br />

Konkret fordert Naß mehr Geld für<br />

die Wohnungslosenhilfe, etwa für<br />

Prävention, und Einzelzimmer in<br />

Wohnunterkünften. Zudem müsse<br />

der Hartz-IV-Regelsatz deutlich<br />

erhöht werden. Beim Bau neuer, bezahlbarer<br />

Wohnungen stünden Land<br />

und Kommunen in der Pflicht. UJO<br />


„Was kommt?<br />

Daran will<br />

ich lieber<br />

nicht denken.“<br />

Am 30. <strong>April</strong> endete das diesjährige<br />

Winternotprogramm. Für die obdachlosen<br />

Marcelo und Laura, Gina und Daniel hat damit<br />

eine ungewisse Zeit begonnen. Eine feste<br />

Bleibe hat niemand von ihnen gefunden –<br />

als Perspektive bleibt nur die Straße.<br />

TEXT: SIMONE DECKNER, ULRICH JONAS<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE (S. 36), IMKE LASS<br />

Vor dem Winter schlief<br />

Gina (50) auf der Straße.<br />

Jetzt droht ihr wieder<br />

dasselbe Schicksal.


Stadtgespräch<br />

„Ich wünsche<br />

mir einen Ort,<br />

an dem ich nicht<br />

frieren muss.“ LAURA<br />

E<br />

in Montagnachmittag Anfang<br />

<strong>April</strong>, es schüttet wie aus<br />

Eimern. Der Wind drückt die<br />

nass und nasser werdenden<br />

Klamotten gegen die Haut, es ist genau<br />

die Art Hamburger Wetter, bei der man<br />

keinen Hund vor die Tür jagt. „Uns<br />

macht das nichts aus, das ist für uns ein<br />

ganz normaler Tag“, sagt Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />

Verkäufer Marcelo. Der 42-jährige Lette<br />

lehnt sich an einen Fahrradständer unter<br />

der S-Bahn-Brücke in Hammerbrook,<br />

hier regnet es nur seitlich herein. Büroangestellte<br />

hasten vorbei in ihren Feierabend,<br />

die Augen aufs Smartphone<br />

gepinnt. Kaum jemand nimmt Notiz<br />

von dem großen, schlanken Mann<br />

mit der Brille und seiner schüchtern<br />

wirkenden Begleiterin, die sich auf<br />

ihrem Rollator abstützt.<br />

Marcelo und Laura warten darauf,<br />

dass es 17 Uhr wird und sie wieder ins<br />

Winternotprogramm in der Friesenstraße<br />

hineingelassen werden. Noch<br />

haben sie eine Bleibe für die Nacht,<br />

gemeinsam mit gut 300 anderen Obdachlosen.<br />

Doch wenn der städtische<br />

Erfrierungsschutz Ende <strong>April</strong> schließt,<br />

stehen die beiden wieder auf der<br />

Straße. Auch die Sozialarbeiter:innen<br />

bei Fördern&Wohnen (F&W) konnten<br />

dem Pärchen bislang keine Wohnung<br />

vermitteln, berichtet Marcelo. Man<br />

35


Laura und Marcelo schliefen im Winter<br />

in der Notunterkunft in der Friesenstraße.<br />

habe ihnen gesagt, dass zwar theoretisch<br />

die Möglichkeit bestünde. „Aber<br />

zurzeit könnt ihr es vergessen“, habe es<br />

geheißen.<br />

„Das Winternotprogramm ist ein<br />

Erfrierungsschutz. Selbstverständlich<br />

werden dort keine Jobs oder Wohnungen<br />

vermittelt“, sagt F&W-Sprecherin<br />

Susanne Schwendtke. Dafür gebe es andere<br />

Einrichtungen des Hamburger<br />

Hilfesystems. „Unsere Mitarbeitenden<br />

nennen den obdachlosen Menschen die<br />

richtigen Stellen, an die sie sich wenden<br />

können, und helfen auch bei Terminvereinbarungen“,<br />

so die Sprecherin.<br />

„Perspektivberatung“ nennt sich das.<br />

Marcelo und Laura sehen für sich<br />

derzeit jedoch nur eine Perspektive:<br />

„Zeltchen auf bauen“, sagt Marcelo. Er<br />

checkt gerade ein paar Orte aus. Laura,<br />

die bisher während des gesamten Gesprächs<br />

geschwiegen hat, sagt jetzt auch<br />

etwas: „Ich wünsche mir nur einen Ort,<br />

an dem ich nicht frieren muss.“<br />

Ein Hotel als<br />

Notunterkunft<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufer Daniel schläft<br />

im ehemaligen Hotel in der Halskestraße<br />

in Billbrook, das die Stadt vergangenen<br />

Herbst angemietet hat. Hier<br />

gibt es Platz für rund 300 Obdachlose,<br />

die in Einzel- und Doppelzimmern<br />

mit eigenem WC und Dusche untergebracht<br />

sind. Eine gute Sache sei das,<br />

36<br />

sagt der Rumäne. Das findet auch<br />

Stephan Karrenbauer, politischer<br />

Sprecher von Hinz&<strong>Kunzt</strong>: „Dass die<br />

Stadt ein Hotel angemietet hat, um<br />

Obdachlose in Einzelzimmern unterzubringen,<br />

ist ein Quantensprung“,<br />

sagt er.<br />

Problematisch findet er jedoch,<br />

dass auch dort jede Nacht sehr viele<br />

obdachlose Menschen in einem Haus<br />

untergebracht werden: „Es tut niemandem<br />

gut, jeden Abend mit mehreren<br />

hundert Menschen zusammenzukommen,<br />

die sich in einer Extremsituation<br />

befinden. Ich glaube, die<br />

Konfrontation mit der eigenen Krise<br />

hindert viele daran, ins Winternotprogramm<br />

zu gehen“, so Karrenbauer.


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Das Hamburger Winternotprogramm<br />

Rund 1030 zusätzliche Übernachtungsplätze hielt die Stadt<br />

vergangenen Winter für obdachlose Menschen bereit, darunter<br />

auch 100 Plätze in Containern bei Kirchengemeinden.<br />

Wie viele Menschen insgesamt den Erfrierungsschutz nutzten<br />

(2020/21: mehr als <strong>350</strong>0) und wie hoch die Anzahl jener<br />

ist, die in Unterkünfte oder Wohnungen vermittelt werden konnten,<br />

war bei Redaktionsschluss noch nicht bekannt. Die Auswertung findet<br />

immer erst nach Abschluss des Winternotprogramms statt. SIM<br />

Die Perspektivberatung hilft auch<br />

Daniel nicht wirklich weiter. „Ich habe<br />

keine Meldebescheinigung und kein<br />

Geld für Miete“, sagt der Obdachlose.<br />

Auf Nachfrage hätten ihm die<br />

Sozialarbeiter:innen gesagt: „Du musst<br />

dich um Papiere und Job selbst kümmern.<br />

Und dann um eine Wohnung.<br />

Dabei können wir dir nicht helfen.“<br />

F&W-Sprecherin Susanne Schwendtke<br />

möchte das ebenso wenig kommentieren<br />

wie die Schilderungen von Marcelo<br />

und Laura: „Wir können nicht überprüfen,<br />

ob und wenn ja, in welchem<br />

Zusammenhang unsere Mitarbeitenden<br />

sich so geäußert haben.“ Daniel würde<br />

sich gern neue Ausweispapiere ausstellen<br />

lassen, aber er hat kein Geld für die<br />

Fahrt nach Berlin. Also bleibt er in<br />

Hamburg. Und macht wieder Platte.<br />

Wohnunterkunft<br />

als Dauerzustand<br />

Was erst einmal gut klingt: 730 Obdachlose<br />

hat die Stadt 2020 und 2021<br />

aus dem Notprogramm in städtische<br />

Wohnunterkünfte vermitteln können.<br />

Aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor.<br />

Voraussetzung für einen Platz ist jedoch,<br />

dass die Betroffenen Anspruch<br />

auf Sozialleistungen haben. Und da fallen<br />

viele Zugewanderte raus, die sich<br />

mit Gelegenheitsjobs oder Betteln über<br />

Wasser halten. Angesichts von mindestens<br />

2000 Obdachlosen (laut Zählung<br />

2018) in Hamburg bedeutet das: Hunderten<br />

bleibt nach dem Ende des Erfrierungsschutzes<br />

wieder nur ein Leben<br />

auf der Straße. Und selbst wer das<br />

Glück hat, einen Platz in einer städtische<br />

Wohnunterkunft zu ergattern, ist<br />

damit noch lange nicht aus dem Schneider:<br />

Im Schnitt mehr als vier Jahre<br />

lang müssen Menschen in Hamburg inzwischen<br />

in einer Unterkunft leben –<br />

weil es keine bezahlbaren Wohnungen<br />

für sie gibt.<br />

Ein Winter<br />

im Container<br />

Gina hat den Winter in einem Container<br />

in Bahrenfeld verbracht. Die<br />

schlichten, weißen Baucontainer aus<br />

Wellblech gelten unter Obdachlosen als<br />

Jackpot im Winternotprogramm, weil<br />

sie, anders als die Großunterkünfte,<br />

mehr Privatsphäre bieten. Beim Kemenate<br />

Tagestreff für obdachlose Frauen<br />

erfuhr Gina davon. Rund 100 Plätze<br />

wurden dieses Jahr verlost, der Andrang<br />

war groß. Gina hatte „das erste Mal<br />

Glück im Leben“, wie sie sagt. Drinnen<br />

im Container hat sie ein Kalenderblatt<br />

aufgehängt, auf dem ein gut gebauter<br />

junger Kerl mit nacktem Oberkörper<br />

posiert. „Man muss es sich ja schön machen“,<br />

sagt sie lächelnd.<br />

Anfangs sei es nur etwas gewöhnungsbedürftig<br />

gewesen, dass die Toiletten<br />

in einem anderen Container untergebracht<br />

sind. Morgens traf sie bei<br />

ihrem Weg dorthin schon mal auf<br />

Passant:innen. „Das war fast so, als<br />

würde ich noch auf der Straße schlafen“,<br />

sagt Gina. Wenn man mit der gepflegten<br />

50-Jährigen spricht, fällt es<br />

schwer, sich dieses Bild vorzustellen.<br />

Doch Gina machte bis Ende August<br />

Platte: auf einer Yogamatte, die ihr<br />

jemand in der Bahnhofsmission geschenkt<br />

hat, schlief sie im hell erleuchteten<br />

Eingang einer Versicherung.<br />

Bei einem dampfenden Früchtetee<br />

im Container erzählt sie von der Zeit,<br />

in der ihr Leben in geregelten Bahnen<br />

verlief: Wie sie mit Anfang 20 in Siebenbürgen<br />

Maschinenbau studierte,<br />

aber nie in diesem Job arbeitete („als<br />

Frau war ich damals eine Exotin“), später<br />

auf einem Kreuzfahrtschiff anheuerte,<br />

ihren Mann traf, zwei Kinder bekam<br />

und ein normales Familienleben<br />

führte, bis ihre Beziehung zerbrach. Sie<br />

fing völlig neu an in Hamburg, arbeitete<br />

jahrelang als private Haushaltshilfe,<br />

bis plötzlich die Kündigung kam und<br />

sie ihre Wohnung nicht mehr halten<br />

konnte. „Ich bin dann 2012 wieder zurück<br />

nach Rumänien zu meiner Mutter<br />

gegangen“, sagt sie. 2021 kam sie erneut<br />

nach Hamburg – mit Aussicht auf<br />

einen neuen Job: „Aber daraus wurde<br />

nichts, wegen Corona“, sagt sie. „Ich<br />

bin erst von einem Sofa auf das nächste<br />

gezogen, ich kenne ja noch viele Leute<br />

hier“, sagt Gina. Aber irgendwann<br />

wollten alle ihre Privatsphäre zurück.<br />

Die hat Gina in ihrem Container. Bis<br />

auf ein paar Regeln – drinnen nicht<br />

rauchen, regelmäßig sauber machen –<br />

kann sie tun und lassen, was sie will. Sie<br />

hat ihren eigenen Schlüssel, muss nicht<br />

tagsüber raus wie die Obdachlosen in<br />

den Großunterkünften.<br />

Was aber auch Gina fehlt, ist eine<br />

Bleibe für die Zeit nach <strong>April</strong>: „Was<br />

kommt, daran will ich lieber gar nicht<br />

denken“, sagt sie und wirkt auf einmal<br />

sehr ernst. Am liebsten hätte Gina ihre<br />

eigene Wohnung. „Aber das wollen<br />

ja viele Leute in Hamburg“, sagt sie.<br />

Ein Antrag auf eine Umschulung zur<br />

Gesundheits- und Altenpflegerin läuft.<br />

Wenn sie dafür grünes Licht bekommt,<br />

könnte sie sich eine kleine Miete sogar<br />

leisten, anspruchsberechtigt wäre sie.<br />

Bis dahin heißt es erst einmal:<br />

weitermachen. Gina atmet tief durch:<br />

„Irgendetwas wird sich ergeben, das<br />

hoffe ich.“ •<br />

simone.deckner@hinzundkunzt.de<br />

37


In diesem<br />

ehemaligen Hotel<br />

waren im Winter<br />

Obdachlose<br />

untergebracht.<br />

Langsam tut sich was<br />

Um Obdachlosigkeit ernsthaft zu bekämpfen,<br />

muss das Hilfesystem dringend weiterentwickelt werden.<br />

Das passiert auch, aber es dauert.<br />

TEXT: BENJAMIN LAUFER<br />

FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Endlich können auch in Hamburg<br />

Obdachlose ohne viele Vorbedingungen<br />

eine eigene Wohnung<br />

bekommen. Denn was in anderen Ländern<br />

und auch einigen deutschen Städten<br />

längst erfolgreich umgesetzt wird,<br />

soll nun auch hier erprobt werden:<br />

Housing First. Die Sozialbehörde hat<br />

Diakonie, Behrens-Stiftung und den<br />

evangelisch-lutherischen Kirchenkreis<br />

Ost mit einem dreijährigen Modellprojekt<br />

beauftragt und stellt dafür rund<br />

880.000 Euro zur Verfügung. Es soll im<br />

Juli starten, erste Wohnungen werden<br />

aber wohl frühestens zum Jahresende<br />

an Langzeitobdachlose vergeben – fast<br />

drei Jahre also, nachdem Rot-Grün sich<br />

im Bürgerschaftswahlkampf mit der<br />

Ankündigung des Projekts den Applaus<br />

von Fachleuten gesichert hat. In der<br />

Wohnungslosenhilfe gilt Housing First<br />

schon lange als moderner Ansatz zur<br />

Bekämpfung von Obdachlosigkeit, in<br />

den viele Hoffnungen setzen.<br />

Nun ist die Rede von intensiven Vorbereitungen,<br />

die man getroffen habe. Zur<br />

Wahrheit gehört aber wohl auch, dass<br />

die Prioritäten im Haus von Sozialsenatorin<br />

Melanie Leonhard (SPD) während<br />

der Pandemie oft andere waren als<br />

Housing First ist<br />

keine Antwort<br />

auf alle Fragen.<br />

die Weiterentwicklung der Obdachlosenhilfe.<br />

Zwar wurde für das zurückliegende<br />

Winternotprogramm erstmals<br />

ein komplettes ehemaliges Hotel gemietet<br />

und damit der Standard im Verhältnis<br />

zu anderen Notunterkünften<br />

deutlich angehoben. Die große Weichenstellung,<br />

die angesichts von zuletzt<br />

38<br />

geschätzten 2000 obdachlosen Menschen<br />

in unserer Stadt nötig wäre, war<br />

das aber nicht. Dabei wurde genau die<br />

versprochen: Bundesregierung und<br />

Bundesländer kündigten im Winter<br />

unisono an, Obdachlosigkeit bis zum<br />

Jahr 2030 überwinden zu wollen.<br />

Die Sozialminister:innen der Länder<br />

äußerten auch schon eine Idee, wie das<br />

gelingen soll: mit Housing First.<br />

Doch der genaue Weg zur Abschaffung<br />

der Obdachlosigkeit bleibt auch<br />

ein halbes Jahr nach der Verkündung<br />

dieses Ziels vage: Aus der Sozialbehörde<br />

heißt es, Hamburg werde an der<br />

Entwicklung des Nationalen Aktionsplans,<br />

den die Bundesregierung versprochen<br />

hatte, mitwirken. Der Erarbeitungsprozess<br />

für diesen Plan soll<br />

„noch in diesem Jahr starten“, heißt<br />

es aus dem zuständigen Bundesministerium<br />

für Wohnen.<br />

Dabei bräuchte es schon mehr als<br />

das Buzzword Housing First, wenn man


Stadtgespräch<br />

es ernst meint. Denn so vielversprechend es auch<br />

sein mag, Obdachlosen auf Augenhöhe zu begegnen<br />

und es ihnen nicht mit unnötigen Hürden schwer zu<br />

machen: Eine Antwort auf alle Fragen ist auch<br />

Housing First nicht. Vor allem bekommt mit diesem<br />

Ansatz nur eine Wohnung, wer Anspruch auf Sozialleistungen<br />

hat – zumindest nach den Hamburger<br />

Plänen. Für viele Menschen, die hier auf der Straße<br />

leben, gilt das nicht – weil sie aus dem Ausland stammen<br />

und hier nie eine reguläre Arbeit gefunden haben.<br />

Doch auch an sie hatten SPD und Grüne<br />

im Wahlkampf gedacht: Eine Pension für Arbeitssuchende<br />

aus dem EU-Ausland sollte her, in der<br />

ihnen der Neustart in Hamburg erleichtert werden<br />

soll. Dafür gab es damals ebenfalls Applaus –<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> hatte bereits 2016 ein solches „Ankunftshaus“<br />

vorgeschlagen.<br />

Doch auch dieses Projekt verzögert sich, bislang<br />

ist man in der Behörde über „konzeptionelle Überlegungen“<br />

nicht hinaus. Neben Corona ist inzwischen<br />

eine weitere Herausforderung hinzugekommen, die<br />

Ressourcen bindet: der Krieg gegen die Ukraine und<br />

die vielen Geflüchteten, die deshalb nach Hamburg<br />

kommen. Bei den Grünen glaubt man, daraus Lehren<br />

ziehen zu können: Womöglich könnte eines der<br />

Hotels, in dem derzeit Geflüchtete untergebracht<br />

sind, für die geplante Pension genutzt werden, dies<br />

hofft die sozialpolitische Sprecherin Mareike Engels.<br />

Hamburg kann gleichwohl nicht alle Probleme<br />

alleine lösen, die sich mit der Zuwanderung aus EU-<br />

Ländern ergeben. Darauf weist SPD-Sozialpolitiker<br />

Iftikhar Malik hin. Es sei erfreulich, dass die Bundesregierung<br />

eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Problematik<br />

der Obdachlosigkeit von EU-Bürger:innen<br />

einrichten will, meint er. Hamburg werde sich „konstruktiv<br />

kritisch“ einbringen.<br />

Ein weiteres Projekt soll im kommenden Januar,<br />

ebenfalls verspätet, starten: eine eigene Notschlafstätte<br />

für junge Erwachsene ohne Wohnung. Auch<br />

die war bereits im Wahlkampf Thema. Wie auch die<br />

Verdopplung der Wohnungen, die im Rahmen des<br />

sogenannten „Stufe 3“-Projekts an Wohnungslose<br />

vergeben werden, auf jährlich 300. Die Ausschreibung<br />

dafür läuft noch, aber immerhin sind<br />

2021 schon 21 zusätzliche Plätze hinzugekommen.<br />

Beim Housing-First-Projekt sollen übrigens<br />

zunächst nur 30 Menschen in Wohnungen vermittelt<br />

werden. Bevor das Prinzip ausgeweitet wird, will<br />

man untersuchen, ob es auch in Hamburg so gut<br />

funktioniert wie in anderen Städten. Mit Ergebnissen<br />

ist vor 2024 kaum zu rechnen. Dann bleiben nur<br />

noch sechs Jahre für die vollständige Abschaffung<br />

der Obdachlosigkeit. •<br />

benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />

39<br />

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anzeigen@hinzundkunzt.de<br />

Unser Rat<br />

zählt.<br />

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Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°351/MAI <strong>2022</strong><br />

Meldungen (2)<br />

Politik & Soziales<br />

Die Diakonie beobachtet<br />

Abschiebungen am<br />

Flughafen – und weist<br />

auf Missstände hin.<br />

Diakonie-Beobachter<br />

Jede dritte Abschiebung problematisch<br />

41 von 122 der vergangenes Jahr von der Diakonie am Hamburger Flughafen<br />

beobachteten Abschiebungen waren „diskussionswürdig“. Das geht aus dem<br />

Jahresbericht des Flughafenforums hervor. Gesprächsbedarf gab es wegen fehlender<br />

Dolmetscher:innen, unzureichender medizinischer Versorgung oder unnötigem<br />

Einsatz von Zwangsmitteln. Der Anteil problematischer Abschiebungen stieg<br />

mit 33,6 Prozent deutlich: 2019 lag er noch bei 13 Prozent, 2018 bei 16 Prozent<br />

(2020 wurde wegen der Coronapandemie nicht dokumentiert). Dirk Hauer,<br />

Leiter des zuständigen Diakonie-Fachbereichs, kritisierte, dass auch während der<br />

Corona pandemie regelmäßig Menschen abgeschoben wurden. Zudem sei die Abschiebebeobachtung<br />

auf den Flughafen beschränkt: „Insbesondere die Abholung<br />

aus Unterkünften und Wohnungen sowie die Zuführung zum Flughafen sind nach<br />

wie vor eine Black Box.“ Das Projekt am Flughafen bezahlt die Stadt. UJO<br />

•<br />

Entlastungspakete der Bundesregierung<br />

Hartz-IV-Empfänger:innen und Rentner:innen profitieren kaum<br />

Sozialverbände haben die Entlastungspakete der Ampel als unzureichend und<br />

unausgewogen kritisiert. „Während Erwerbstätige einen Energiekostenzuschlag<br />

von 300 Euro erhalten, bekommen Leistungsberechtigte in der Grundsicherung<br />

gerade einmal 200 Euro“, sagte Jürgen Schneider von der Nationalen Armutskonferenz.<br />

Bei allein lebenden Rentner:innen decken die Entlastungen und Zahlungen<br />

gerade mal 9 Prozent der zusätzlichen Kosten durch steigende Energiepreise<br />

ab, so Berechnungen des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung.<br />

Die Verbände fordern mehr Hilfe für Einkommensschwache. UJO<br />

•<br />

Stromsperren<br />

Rot-Grün will etwas helfen<br />

703 Haushalten in Hamburg wurde in<br />

den ersten drei Monaten des Jahres<br />

der Strom abgeklemmt, so Stromnetz<br />

Hamburg. Vergangenes Jahr waren<br />

6821 Haushalte betroffen. Angesichts<br />

steigender Strompreise dürfte die Zahl<br />

der Betroffenen bald zunehmen. In einem<br />

Bürgerschaftsantrag fordern die<br />

Regierungsfraktionen den Senat nun<br />

auf, mit den Grundversorgern „Härtefallregelungen<br />

zur Vermeidung von<br />

Energiesperren zu diskutieren“. Zudem<br />

übernahm Rot-Grün eine Forderung<br />

der Linksfraktion: Eine Hotline<br />

beim Grundversorger Vattenfall soll<br />

Schuldnerberater:innen ermöglichen,<br />

Betroffenen schneller zu helfen. Ein<br />

Verbot oder zumindest Aussetzen<br />

von Energiesperren lehnen SPD und<br />

Grüne weiterhin ab. UJO<br />

•<br />

Senat<br />

Es gibt hier keine Bettelbanden<br />

„Gewerbsmäßige Bettelei“ ist kein<br />

Thema in Hamburg. Das erklärte der<br />

Senat auf CDU-Anfrage. Die hatte<br />

von „offenkundig organisierten<br />

Bettlern“ gesprochen – solchen, die<br />

nicht aus Not betteln, sondern zur<br />

„Gewinnerzielung“ oder gar für<br />

zwielichtige Hintermänner. Diese Art<br />

Bettelei wurde 2020 und 2021 „in<br />

keinem Fall“ festgestellt, so der Senat.<br />

Anders stellt sich ein Fall dar, den<br />

europä ische Ermittlungsbehörden<br />

im <strong>April</strong> aufdeckten: Kriminelle<br />

sollen Obdachlose und Alkoholkranke<br />

in Deutschland, Österreich,<br />

Ungarn und Rumänien gezwungen<br />

haben, für sie zu betteln. Zwei der<br />

elf Opfer seien so schlecht behandelt<br />

worden, dass sie verstarben, so<br />

Europol. 90.000 Euro und ein<br />

Kilo Goldschmuck wurden beschlagnahmt,<br />

vier Menschen festgenommen.<br />

BELA<br />

•<br />

FOTO: CARL PHILIPP SCHOPF<br />

40


Was Obdachlose<br />

wirklich brauchen,<br />

wissen Obdachlose<br />

am besten!<br />

Das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Insiderwissen<br />

Spezial <strong>2022</strong>: Ab Mitte Mai bei den<br />

Hinz&Künztler:innen Ihres Vertrauens.<br />

Neu!


Freunde<br />

HINZ&KUNZT N°351/MAI <strong>2022</strong><br />

Sven Knigge und Julia<br />

Jungclaus-Knigge haben<br />

mehr als 800 Euro für<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> gesammelt.<br />

„Livemusik gibt Energie“<br />

Kann ein Wohnzimmerkonzert auch per Videoschalte funktionieren?<br />

Die Gäste von Sven Knigge und Julia Jungclaus-Knigge waren<br />

begeistert – und haben Geld für Hinz&<strong>Kunzt</strong> gespendet.<br />

TEXT: MISHA LEUSCHEN<br />

FOTO: MIGUEL FERRAZ<br />

E<br />

ndlich mal wieder richtig feiern,<br />

ausgehen, tanzen, gemeinsam<br />

Party machen: Nach zwei langen<br />

Jahren Pandemie war die Sehnsucht<br />

nach Normalität bei Sven und Julia riesig.<br />

„Zu Geburtstagen oder Weihnachten<br />

schenken wir uns immer gemeinsame<br />

Unternehmungen“, sagt der 42-Jährige.<br />

Mittlerweile stapelten sich die Event-<br />

Gutscheine und Tickets für Konzerte,<br />

die dann doch nicht stattfinden konnten.<br />

Die Stimmung war im Keller.<br />

Rettung kam in Form einer Einladung<br />

von Julias Arbeitgeber zu einem Online-<br />

Konzert des Singer-Songwriters Johannes<br />

Kieper. „Ein echtes Highlight!<br />

Weil wir uns alle kannten, funktionierte<br />

die Interaktion untereinander richtig<br />

gut. Die Musik war toll, alle hatten Spaß,<br />

die Kinder haben auf den Tischen getanzt“,<br />

erzählen die beiden. Bei Sven<br />

wuchs nach diesem Abend die Idee, Julia<br />

zu Weihnachten ein solches Konzert zu<br />

schenken, „mit allem Drum und Dran“.<br />

42<br />

Als erstes kontaktierte er den Musiker<br />

Johannes Kieper, dessen Musik den beiden<br />

beim Online-Konzert so gut gefallen<br />

hatte, und engagierte ihn für sein eigenes<br />

Online-Wohnzimmerkonzert.<br />

Dann stellte er eine Gästeliste mit 50<br />

Haushalten zusammen, entwarf und<br />

druckte durchnummerierte Tickets („Julia<br />

bekam natürlich die Nummer 1!“)<br />

und schrieb alle Eingeladenen persönlich<br />

an. Die Idee kam sehr gut an. „Wir<br />

haben einen globalisierten Freundes-


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

kreis, bis in die USA und Australien –<br />

da können sonst nie alle dabei sein“,<br />

sagt Julia. „Aber online schon!“<br />

Schon zu seinem 40. Geburtstag<br />

hatte Sven anstelle von Geschenken um<br />

Spenden für die Tagesaufenthaltsstätte<br />

Alimaus gebeten. Das Thema Obdachlosigkeit<br />

beschäftigt ihn. „Es wird immer<br />

schlimmer, und die Stadt geht es einfach<br />

„Die Stadt geht<br />

das Thema<br />

Obdachlosigkeit<br />

nicht an.“ SVEN KNIGGE<br />

nicht an. Das ärgert mich.“ Julia fragt<br />

sich, wieso es erst durch Corona möglich<br />

wurde, dass Hilfe für Obdachlose in größerem<br />

Umfang umgesetzt wurde: „Warum<br />

geht das sonst nicht?“ Mit dem<br />

Wohnzimmerkonzert wollten die beiden<br />

Freunde<br />

deshalb diesmal für Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

sammeln.<br />

68 internationale Gäste waren<br />

schließlich zugeschaltet, um Julias Konzert<br />

vom heimischen Sofa aus mitzufeiern.<br />

Johannes Kieper spielte in seinem<br />

eigenen Wohnzimmer, „mit tollem<br />

Equipment für den richtigen Sound“,<br />

sagt Sven bewundernd und Julia ergänzt<br />

lachend: „Ein rüschiges Sofa hat<br />

er auch hingestellt, sehr gemütlich!“<br />

Es wurde ein denkwürdiger Abend.<br />

„Livemusik gibt Energie“, findet Julia,<br />

und so tobten Kinder und Erwachsene<br />

über Sofas, es wurde gelacht, gesungen<br />

und mit Diskobeleuchtung getanzt.<br />

„Wir haben so lange mit Corona gekämpft,<br />

alle sind so müde und haben<br />

eigentlich keinen Bock mehr auf Videocalls“,<br />

sagt Sven. „Aber der Funke<br />

ist übergesprungen, die digitale Gemeinschaft<br />

hat funktioniert.“ Und für<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> sind mehr als 800 Euro<br />

zusammengekommen. •<br />

redaktion@hinzundkunzt.de<br />

JA,<br />

ICH WERDE MITGLIED<br />

IM HINZ&KUNZT-<br />

FREUNDESKREIS.<br />

Damit unterstütze ich die<br />

Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />

Meine Jahresspende beträgt:<br />

60 Euro (Mindestbeitrag für<br />

Schüler:innen/Student:innen/<br />

Senior:innen)<br />

100 Euro<br />

Euro<br />

Datum, Unterschrift<br />

Ich möchte eine Bestätigung<br />

für meine Jahresspende erhalten.<br />

(Sie wird im Februar des Folgejahres zugeschickt.)<br />

Meine Adresse:<br />

Name, Vorname<br />

Straße, Nr.<br />

PLZ, Ort<br />

Telefon<br />

E-Mail<br />

Dankeschön<br />

Einzugsermächtigung:<br />

Ich erteile eine Ermächtigung zum<br />

Bankeinzug meiner Jahresspende.<br />

Ich zahle: halbjährlich jährlich<br />

Wir danken allen unseren Spender:innen,<br />

die uns im <strong>April</strong> <strong>2022</strong> unterstützt haben,<br />

sowie allen Mitgliedern im Freundeskreis<br />

von Hinz&<strong>Kunzt</strong>! Ausdrücklich danken wir<br />

allen Spender:innen – kleine Beträge und<br />

große Beträge werden geschätzt!<br />

Auch unseren Unterstützer:innen auf<br />

Facebook: ein großes Dankeschön!<br />

DANKESCHÖN EBENFALLS AN:<br />

• wk-it-consultants GmbH<br />

• die Hamburger Tafel<br />

• die Obstmonster GmbH<br />

• Hanseatic Help<br />

• Axel Ruepp Rätselservice<br />

• die Hamburger Kunsthalle<br />

• Passage gGmbH<br />

• die Gäste der Trauerfeier<br />

für Jürgen Winzig<br />

• die Blindenwerkstatt H. Sieben<br />

• den Pop-up-Store von Ladage & Oelke:<br />

Herzlichen Dank für die tolle Zusammenarbeit<br />

an das Team mit Oliver Gress, Thomas<br />

Kuschel, Selma und Thomas Wegmann!<br />

• das Levantehaus: Danke für die kostenlose<br />

Überlassung eines Ladenlokals!<br />

NEUE FREUNDE:<br />

• Alexandra Callenberg<br />

• Linda Dielenschneider<br />

• Stefanie Engler-Walsh<br />

• Theresia Freund • Thomas Kloppe<br />

• Gerhard Martens<br />

• Peter Nahke<br />

• Ursula Radtke • Svenja Rostosky<br />

• Christina Seyd • Anna Striecks<br />

• Gudrun Wirsching<br />

IBAN<br />

BIC<br />

Bankinstitut<br />

Ich bin damit einverstanden, dass mein Name in<br />

der Rubrik „Dankeschön“ in einer Ausgabe des<br />

Hamburger Straßenmagazins veröffentlicht wird:<br />

Ja<br />

Nein<br />

Wir garantieren einen absolut vertraulichen<br />

Umgang mit den von Ihnen gemachten Angaben.<br />

Die übermittelten Daten werden nur zu internen<br />

Zwecken im Rahmen der Spendenverwaltung<br />

genutzt. Die Mitgliedschaft im Freundeskreis ist<br />

jederzeit kündbar. Wenn Sie keine Informationen<br />

mehr von uns bekommen möchten, können<br />

Sie jederzeit bei uns der Verwendung Ihrer<br />

personenbezogenen Daten widersprechen.<br />

Unsere Datenschutzerklärung können Sie<br />

einsehen unter www.huklink.de/datenschutz<br />

Bitte Coupon ausschneiden und senden an:<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Freundeskreis<br />

Minenstraße 9, 20099 Hamburg<br />

Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk<br />

43<br />

HK 351


Buh&Beifall<br />

HINZ&KUNZT N°351/MAI <strong>2022</strong><br />

Was unsere Leser:innen meinen<br />

„Eine Abschaffprämie für Autos wäre ungerecht.“<br />

Ungerechte Prämie<br />

H&K <strong>350</strong>: Abschaffprämie für Autos<br />

Genauso ungerecht wie die Abwrackprämie.<br />

Damals haben Menschen mit<br />

genügend Geld in der Tasche einen<br />

Bonus bekommen. Von der Abschaffprämie<br />

würden Menschen, die zentral<br />

leben, profitieren. Die meisten von ihnen<br />

haben sowieso schon ein E-Lastenbike.<br />

Etwas, das sich Menschen am<br />

Stadtrand, die in drei Schichten arbeiten<br />

und jeden Morgen um halb fünf beten,<br />

dass das Auto anspringt, meist nicht<br />

leisten können. <br />

@BETTINADOERFLINGER VIA INSTAGRAM<br />

sen, um dann größere Einfamilienhäuser<br />

zu bauen. Was für eine Verschwendung!<br />

@DON_VAN_VIN VIA INSTAGRAM<br />

Für die Enkel nachgebaut<br />

H&K 346: Ran an Herd und Spüle!<br />

Eure Bauanleitung für eine Spielküche<br />

gefiel meiner Frau und mir so gut, dass<br />

wir uns gleich an die Arbeit gemacht<br />

haben und ebenfalls einen alten Stuhl<br />

recycelt haben. Unsere Enkel freuen<br />

sich über ihr neues Spielzeug. <br />

ANDREAS HIRZ VIA MAIL<br />

Demütigung bei der Tafel<br />

H&K online: Extra-Tafel für Ukrainer:innen<br />

Mein ukrainischer Bekannter hat bei<br />

der Tafel mehrere Stunden in der Kälte<br />

gestanden. Es waren mehrere hundert<br />

Ukrainerinnen und Ukrainer dort. Er<br />

hat nichts bekommen, weil es einfach<br />

Verschwendeter Neubau<br />

H&K <strong>350</strong>: Umbauen statt neu bauen<br />

Gerade vor meiner Haustüre werden<br />

kleine, von der Bausubstanz her gut<br />

aussehende Einfamilienhäuser abgeriszu<br />

viele Menschen waren. Er ist Jurist<br />

vom Beruf und es kostet sehr große<br />

Überwindung, dort so lange zu stehen<br />

und es grenzt dann an Demütigung. <br />

ANNA KUCHENBECKER VIA MAIL<br />

Leerstand zu Wohnraum!<br />

H&K online: Housing-First-Konferenz<br />

Ich würde mir wünschen, dass deutlich<br />

beherzter gegen Leerstand und Verfall<br />

von Häusern vorgegangen würde. Wenn<br />

alle leer stehenden Wohnungen bewohnbar<br />

gemacht werden, können vermutlich<br />

etliche Familien aus zu engen Wohnungen<br />

raus und Wohnungslose von den<br />

Platten runter. KATJA SIEVERITT VIA FACEBOOK<br />

Leser:innenbriefe geben die Meinung der<br />

Verfasser:innen wieder, nicht die der Redaktion.<br />

Wir behalten uns vor, Briefe zu kürzen. Über Post<br />

an briefe@hinzundkunzt.de freuen wir uns.<br />

<br />

<br />

ANKER<br />

DES LEBENS<br />

Wünschen Sie<br />

ein persönliches<br />

Gespräch?<br />

Kontaktieren Sie<br />

unseren Geschäftsführer<br />

Jörn Sturm.<br />

Tel.: 040/32 10 84<br />

03 oder E-Mail: joern.<br />

sturm@hinzundkunzt.de<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> bietet obdachlosen Menschen Halt. Eine Art Anker<br />

für diejenigen, deren Leben aus dem Ruder gelaufen ist. Möchten<br />

Sie uns dabei unterstützen und gleichzeitig den Menschen,<br />

die bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> Heimat und Arbeit gefunden haben, helfen?<br />

Dann hinterlassen Sie etwas Bleibendes – berücksichtigen Sie<br />

uns in Ihrem Testament! Als Testamentsspender:in wird Ihr Name<br />

auf Wunsch auf unseren Gedenk-Anker in der Hafencity graviert.<br />

Ein maritimes Symbol für den Halt, den Sie den sozial<br />

Benachteiligten mit Ihrer Spende geben.


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Unnachahmlich: Die Skulpturen von Erwin Wurm fallen ins Auge (S. 46).<br />

Umwege: Der neue Roman von Jens Eisel entstand nicht wie geplant (S. 54).<br />

Urgestein: Christian ist seit 19 Jahren bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> – und jetzt in unser Haus gezogen (S. 56).<br />

In der Oberhafenkantine findet zum<br />

zweiten Mal die Incorporating Art Fair statt.<br />

Mit der Kunstmesse wollen die<br />

Macher:innen zeigen, dass Kunst und<br />

Kultur sehr wohl systemrelevant sind.<br />

Weitere Infos finden Sie auf Seite 50.<br />

FOTO: JULLY ACUÑA


„Raus zu den<br />

Menschen will ich“<br />

Zum ersten Mal wird eine Skulptur des renommierten<br />

österreichischen Künstlers Erwin Wurm im öffentlichen Raum in Hamburg<br />

stehen. Das Besondere: Er hat sie Hinz&<strong>Kunzt</strong> geschenkt.<br />

TEXT: MISHA LEUSCHEN<br />

46


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Aus einem alten VW-Bus kreierte Erwin Wurm (rechts)<br />

2018 einen aufgeblähten Hot-Dog-Wagen und stellte ihn<br />

vor der New Yorker Skyline aus.<br />

FOTOS: S. 46: LIZ LIGON, S. 47: JONATHAN WONG<br />

PICTURE ALLIANCE / NEWSCOM<br />

F<br />

ür Erwin Wurm haben Essiggurken<br />

und Menschen viel gemeinsam.<br />

Beide sind individuell<br />

verschieden, aber doch klar<br />

erkennbar als das, was sie sind, findet<br />

der Künstler und porträtierte sich selbst<br />

auch schon mal kurzerhand als Essiggurke.<br />

Ist das Kunst?<br />

Für Erwin Wurm kann alles zur<br />

Skulptur werden. Nicht nur Essiggurken,<br />

auch Alltagsobjekte verfremdet<br />

und deformiert er in seinen Arbeiten:<br />

Pistolen sind verfettet, Häuser stehen<br />

Kopf, Autos sind aufgebläht, riesige Bananen<br />

fliegen durch Fußgängerzonen.<br />

Erwin Wurm stellt die Wahrnehmung<br />

infrage und öffnet neue Sinnesebenen.<br />

Nichts ist so, wie es scheint, unter der<br />

Oberfläche lauert die Überraschung.<br />

Sein Humor ist speziell, eher ironisch<br />

als schenkelklopfend, oft spitz<br />

und entlarvend, wenn er sich die Obsessionen<br />

der Gesellschaft vornimmt:<br />

Schlankheitswahn und Fettsucht, Mode,<br />

Werbung und Konsumkult, Kapitalismus<br />

und Umweltzerstörung spießt er<br />

auf und hält den Menschen den Spiegel<br />

vor. Damit wurde der 1954 geborene<br />

Österreicher zu einem der bedeutendsten<br />

Künstler seiner Generation, international<br />

anerkannt für seinen einzigartigen<br />

Zugang zur Skulptur – durch die<br />

Verwendung von Video und 3D-Drucker,<br />

mit Zeichnungen, Fotografien und<br />

Performances hat er sie neu erfunden<br />

und gleichzeitig zugänglicher gemacht.<br />

Erwin Wurm wechselt Genres und<br />

Themen, Materialien und Techniken –<br />

und so ändert sich auch der Blickwinkel<br />

auf die Gesellschaft. Mit seinen fotografisch<br />

dokumentierten „One Minute<br />

Sculptures“ hat er sich final beim Publikum<br />

und in der globalen Kunstszene<br />

etabliert. Betrachter:innen werden Teil<br />

seiner Kunst, wenn sie sich darauf einlassen<br />

und Wurms Handlungsanweisungen<br />

folgen: Menschen interagieren<br />

47


Weltweite Bekanntheit erlangte Erwin Wurm auch mit seinen „One Minute Sculptures“.<br />

Für die Zeitschrift „Vogue“ machte er 2009 Claudia Schiffer zur Skulptur.<br />

auf absurde Weise mit Putztüchern,<br />

Tennisbällen oder Milchtüten – für eine<br />

Minute werden sie auf diese Weise zur<br />

lebenden Skulptur. So entstehen Situationen,<br />

die irritieren, Staunen und Heiterkeit<br />

erzeugen.<br />

Die Zeit, die Gesellschaft und ihre<br />

Menschen, das sind seine ständigen<br />

Themen. Dabei verzweifelt er manchmal.<br />

Es fasst ihn an, „wie Menschen<br />

sich gegenseitig behandeln“, sagt er<br />

beim Telefoninterview. Gerade ist er in<br />

Belgrad, um eine große Retrospektive<br />

vorzubereiten. Das fordere ihn sehr,<br />

sagt er und klingt müde. Die Politik befinde<br />

sich in einem Zustand riesiger<br />

geistiger Schwäche: „Das ist fatal. Die<br />

Unersättlichkeit der Reichen ist doch<br />

krank. Ich bange um den Westen, der<br />

gleichgültig, labil und verlogen ist.“<br />

Mit Kritik ist er nicht zimperlich<br />

und weiß doch um seine privilegierte<br />

Situation. Dass er mit seiner Arbeit auskömmlich<br />

Geld verdient, erlaubt ihm<br />

ein unabhängiges Schaffen – und gibt<br />

ihm die Möglichkeit, sich sozial zu engagieren.<br />

„Das Geschäft läuft, mir geht’s<br />

gut“, sagt er. Schon häufig habe er<br />

Arbeiten an soziale Vereine gespendet;<br />

das ist ihm wichtig, denn nicht immer<br />

ging es ihm so gut wie heute und er kann<br />

sich in Notlagen einfühlen. „Ich finde es<br />

wichtig, ihre Arbeit zu unterstützen,<br />

auch monetär“, sagt er. „Ich weiß selbst,<br />

wie schnell zum Beispiel Künstler verarmen<br />

können. Das geht schneller, als man<br />

denkt, und es ist sehr schwer, dann<br />

wieder Fuß zu fassen.“ Er habe nicht gezögert,<br />

als Hinz&<strong>Kunzt</strong> ihn gefragt hat,<br />

ob er sich vorstellen könne, das Straßenmagazin<br />

mit einer Skulptur in Hamburg<br />

zu würdigen. Dass sich ein Straßenmagazin<br />

für seine Kunst interessiere, sei eine<br />

positive Überraschung gewesen: „Damit<br />

hatte ich noch keine Erfahrung.“<br />

Er entschied sich für die Bronzeskulptur<br />

„Der Direktor“. Stattliche 1,90<br />

Meter ist sie hoch: Lange dünne Beine,<br />

die in eleganten Schuhen und schnieken<br />

Hosenbeinen stecken, enden dort, wo<br />

der Körper beginnen sollte, in einer<br />

prallen Aktentasche. „Für mich ist das<br />

ein Mahnmal“, sagt Erwin Wurm. „Der<br />

Direktor ist nur an Monetärem interessiert<br />

und hält all seine Handlungen für<br />

entschuldbar, allen Menschen gegenüber.<br />

Nur der Profit steht im Vorder­<br />

Gurken ziehen sich schon lange durch<br />

das Werk des Österreichers. Rechts: Bei<br />

der Biennale 2017 in Venedig konnten<br />

Besucher:innen Teil von Erwin Wurms<br />

Skulpturen werden.<br />

grund.“ Ihm gefällt die Vorstellung, dass<br />

Aktentaschenträger:innen auf den Straßen<br />

Hinz&Künztler:innen begegnen –<br />

und ihre Aktentaschen dabei manches<br />

Mal zum Spenden oder Magazinkauf<br />

aufgehen.<br />

In Hamburg waren seine Werke zuletzt<br />

2007 bei einer Retrospektive in<br />

den Deichtorhallen zu sehen. In einer<br />

Hamburger Privatsammlung ist Erwin<br />

48


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Kunst für<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>:<br />

Die 1,90 Meter hohe Bronzeskulptur<br />

„Der Direktor“ hat Erwin<br />

Wurm an Hinz&<strong>Kunzt</strong> gespendet.<br />

Im Laufe des Mai <strong>2022</strong> wird<br />

das Kunstwerk in Hamburg<br />

erwartet und nimmt dann seinen<br />

Platz im Erdgeschoss des<br />

Levantehauses in der Mönckebergstraße<br />

ein. Dort können<br />

Interessierte das Kunstwerk<br />

kostenfrei bestaunen.<br />

Weitere Infos zur Arbeit<br />

von Erwin Wurm unter:<br />

www.erwinwurm.at<br />

Die<br />

Großuhrwerkstatt<br />

Bent Borwitzky<br />

Uhrmachermeister<br />

Telefon: 040/298 34 274<br />

www.grossuhrwerkstatt.de<br />

Verkauf und Reparatur<br />

von mechanischen Tisch-,<br />

Wand- und Standuhren<br />

Wurm ebenfalls vertreten. „Der Direktor“<br />

ist nun eine Premiere: Er wird, für<br />

alle zugänglich, sein neues Zuhause im<br />

Levantehaus finden: für alle zugänglich,<br />

aber bewacht, denn Bronze ist teuer<br />

und weckt unerwünschte Begehrlichkeiten.<br />

Die Möglichkeit des direkten<br />

Kontakts, den der öffentliche Raum<br />

bietet, nutzt Erwin Wurm schon lange.<br />

In Belgien steht eine von ihm gestaltete<br />

futuristische Frittenbude, in Salzburg<br />

warten lebensgroße Essiggurken auf<br />

dem Gehweg auf Passant:innen. Auch<br />

Zeitschriften, Videoclips oder das Internet<br />

gehören für ihn zum öffentlichen<br />

Raum, „nicht nur der Platz vor dem<br />

Museum“, wie er sagt. „Immer raus zu<br />

den Menschen will ich!“ •<br />

redaktion@hinzundkunzt.de<br />

49<br />

FOTOS: WOLFGANG ZAJC (S. 48 OBEN), ULRICH GHEZZI<br />

(S. 48 UNTEN UND S. 49 OBEN), EVA WÜRDINGER (S. 49 UNTEN)<br />

IN DER RUHE<br />

QIGONG<br />

TAIJIQUAN<br />

MEDITATION<br />

LIEGT DIE KRAFT<br />

JETZT AUCH<br />

ONLINE-KURSE<br />

www.tai-chi- lebenskunst.de<br />

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IBAN: DE56 20050550 1280 167873<br />

BIC: HASPDEHHXXX


Kult<br />

Tipps für den<br />

Monat Mai:<br />

Sie werden viel zu<br />

erzählen haben!<br />

Kunstmesse<br />

Zeitgenossen im Oberhafen<br />

Das Oberhafenquartier hat sich beinahe<br />

schon etabliert – als Schauplatz für<br />

Kunst, Konzerte, Kulinarik abseits der<br />

üblichen Ecken und Adressen. Wer die<br />

holperige Stockmeyerstraße noch nicht<br />

kennt: Bei der Incorporating Art Fair<br />

sind in den ehemaligen Lagerhallen vier<br />

50<br />

Julia Maier, Weltraum, Acryl auf Papier und Leinwand, 2021<br />

Tage lang über 100 Künstler:innen aller<br />

Genres aus ganz Europa zu Gast. Julia<br />

Maier (Werk oben) aus Berlin verfremdet<br />

Fotos aus Zeitungen: „Die Kunst ist<br />

meine Art, mit der globalen Medienflut<br />

umzugehen und sie zu reflektieren.“<br />

Die meisten Künstler:innen sind persönlich<br />

anwesend. Gucken, schnacken<br />

und klar – kaufen darf man auch. •<br />

Oberhafenquartier, Stockmeyerstraße 43,<br />

Vernissage: Do, 5.5., 19 Uhr, Fr, 6.5. und Sa,<br />

7.5., jeweils 11–20 Uhr, So, 8.5., 11–18 Uhr,<br />

Ticket 15 Euro, Jugendliche unter 16 Jahren<br />

kostenlos, www.inc-artfair.info


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Ein Recht auf<br />

Bildung ist<br />

verankert im<br />

Artikel 26 der<br />

Allgemeinen<br />

Erklärung der<br />

Menschenrechte.<br />

Open Air<br />

Vielstimmige<br />

Sommer begrüßung<br />

Rund 60 Grundschüler:innen singen<br />

Pop und Rock in dem etwas anderen<br />

Kinderchor „Tiny Wolves“. Was ins<br />

Programm kommt, das entscheiden<br />

sie ganz banddemokratisch. Die zweite<br />

Hälfte des Sets übernehmen die<br />

Großen: Der „Hamburger Kneipenchor“<br />

schmettert Lieblingshits auf<br />

der Außenbühne am Lattenplatz. •<br />

Knust, Neuer Kamp 30, Fr, 6.5., 18 Uhr,<br />

Ticket 11,50 Euro, www.knusthamburg.de<br />

Ausstellung<br />

Wenn Kinder arbeiten müssen<br />

Ja, das gibt es auch heute noch – und man kann nicht oft genug darüber sprechen<br />

und hinsehen: ausbeuterische Kinderarbeit. Sie kommt auch hier in Deutschland<br />

an, über diverse Lieferketten, versteckt in Kosmetikprodukten, Elektrogeräten,<br />

Lebensmitteln, Kleidung. Ein Teufelskreis aus Armut und mangelnder Bildung,<br />

der für die Arbeitenden oft über viele Generationen hinweg besteht. Das Ausstellungsprojekt<br />

„Unser Alltag mit Kinderarbeit – von Auto bis Zucker“ möchte<br />

die Besucher:innen sensibilisieren für Produkte, in denen womöglich Kinderarbeit<br />

steckt. Die Fabrik der Künste zeigt es gemeinsam mit dem Kinderhilfswerk<br />

terre des hommes, deckt die teils korrupten Machenschaften einer globalisierten<br />

Industrie auf und lässt arbeitende Kinder persönlich zu Wort kommen. •<br />

Fabrik der Künste, Kreuzbrook 10, Fr–So, 1.5.–12.6., Eintritt frei, www.fabrikderkuenste.de<br />

Benefiz<br />

Lesung fürs Ledigenheim<br />

Zu Gast im Kleinen Michel ist im Mai<br />

Michael Göring. Er war bis Ende 2021<br />

Vorsitzender des Vorstands der „Zeit“-<br />

Stiftung und hat sich zudem einen<br />

Namen als Romanautor gemacht.<br />

„Dresden – Roman einer Familie“<br />

heißt sein neuer Titel, angesiedelt in<br />

der „Ostzone“ der Vorwendezeit. •<br />

Kleiner Michel, Michaelisstraße 5,<br />

Fr, 20.5., 19 Uhr, Spende erwünscht, Infos<br />

und Anmeldung: www.stiftungros.org<br />

FOTOS: JULIA MAIER / WELTRAUM / <strong>2022</strong> (S. 50), TERRE DES HOMMES (OBEN), HERBERT LIST (UNTEN)<br />

Triennale der Photographie<br />

„Das magische Auge“<br />

Das war der Spitzname des 1903<br />

in Hamburg geborenen Fotografen<br />

Herbert List. Und so betitelt auch<br />

das Bucerius Kunst Forum die umfangreiche<br />

Retrospektive über ihn.<br />

Bekannt aus seinem Werk sind vor<br />

allem die Männerakte: Bekenntnis<br />

zur Homosexualität und bildgewordene<br />

Träume einer lebendigen<br />

Antike. Dass List auch ein scharfsinniger,<br />

mutiger Chronist war, zeigen<br />

Bilder vom kriegszerstörten München,<br />

versuchten Kunstrauben kurz<br />

vor der Befreiung der Stadt durch<br />

die Amerikaner, aber auch aus seinen<br />

frühen Jahren in Hamburg und<br />

von vielen Reisen durch Europa. •<br />

Bucerius Kunst Forum, Alter Wall 12,<br />

ab Sa, 14.5. bis 11.9., täglich 11–19<br />

Uhr, Do bis 21 Uhr, Eintritt 9/6 Euro,<br />

www.buceriuskunstforum.de<br />

Mehrdeutig: das Foto einer Familie in<br />

Rom benannte List „Der Gehörnte“<br />

51<br />

Konzert<br />

1. Arp-Schnitger-Festival<br />

Hamburg würdigt das Schaffen des<br />

Orgelbaumeisters Arp Schnitger mit<br />

einem Festival. Zum Auftakt findet<br />

am 26. Mai das Eröffnungskonzert<br />

in der Hauptkirche St. Jacobi statt,<br />

mit Werken von Bach, Buxtehude,<br />

Praetorius und Weckmann. •<br />

Hauptkirche St. Jacobi, Jakobikirchhof<br />

22, Do, 26.5., 19.30 Uhr,<br />

Eintritt ab 14 Euro, www.jacobus.de<br />

Ausflug<br />

Alternative Hafenrundfahrt<br />

Wer wissen will, wie und ob Hafenwirtschaft<br />

und Umweltschutz zusammengehen,<br />

der sollte mit der Initiative<br />

„Rettet die Elbe“ über selbige<br />

schippern. Seit 40 Jahren gibt es die<br />

Alternative Hafenrundfahrt bereits.<br />

Abfahrten: freitags um 17 Uhr. •<br />

Anleger Vorsetzen/City Sporthafen,<br />

Vorsetzen 1, z. B. Fr, 27.5., Eintritt 12/<br />

14 Euro, www.hafengruppe-hamburg.de


Neo Soul<br />

Unter die Haut<br />

Ihr Vater ist Ire, ihre Mutter stammt<br />

aus Bangladesch, sie selbst zählt derzeit<br />

zu den spannendsten Stimmen der<br />

sich neu formierenden britischen Soul-<br />

Szene: Joy Crookes. Der Sound der<br />

Singer-Songwriterin wurde oft mit Amy<br />

Winehouse verglichen, sie selbst bezeichnet<br />

die Jazzpionierin Nina Simone<br />

oder Billie Holiday als ihre Vorbilder.<br />

Aber spätestens seit Veröffentlichung<br />

ihres Albums „Skin“ ist klar: Die<br />

22-Jährige muss sich keinen Vergleichen<br />

unterziehen. Sie schafft ihre eigenen<br />

Kategorien. Ihre Themen sind modern<br />

und im urbanen Kosmos verankert, ihre<br />

teils nostalgischen Songs spielen mit<br />

elektronischen Effekten. Sie positioniert<br />

sich selbstbewusst als Teil einer diversen,<br />

multiethnischen britischen Gesellschaft.<br />

Das macht Spaß, hat Tiefe und ist auch<br />

Hat Haarpracht und Stimmlage perfekt im Griff: Joy Crookes<br />

live ein Genuss, klanglich wie optisch.<br />

Unser Anspiel- und Videotipp: „Feet<br />

Don’t Fail Me Now“, zu finden auf den<br />

gängigen Social-Media-Kanälen wie<br />

Youtube. Herrlich bunt, man möchte<br />

Blumenketten basteln und dabei<br />

elegant tanzen. Letzteres, ob elegant<br />

oder nicht, geht bestens im Mojo. •<br />

Mojo Club, Reeperbahn 1, Sa, 21.5.,<br />

19 Uhr, Eintritt 26,10 Euro, www.mojo.de<br />

52


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Kinotipp des Monats<br />

Monster im<br />

Metropolis<br />

FOTOS: SONY MUSIC UK (S. 52), ARNO DECLAIR (OBEN), PRIVAT<br />

Theater<br />

Witz & Wahn<br />

Straßenfest<br />

Kommt vorbei!<br />

Das Stiftsviertel St. Georg jubiliert:<br />

Der 2017 gegründete Zusammenschluss<br />

der zwischen Berliner Tor,<br />

Steindamm, Lindenplatz und Lohmühlenpark<br />

ansässigen Institutionen<br />

und Stiftungen feiert das Miteinander<br />

mit einer Festwoche vom 6. bis 24.<br />

Mai. Einer der Höhepunkte ist das<br />

bunte Straßenfest am 15. Mai. Live-<br />

Musik, Lesungen, Stadtrundgänge,<br />

Workshops, das Programm ist bunt<br />

und richtet sich an junge und ältere<br />

Gäste zugleich. Das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />

Team ist natürlich mit dabei, lädt Kids<br />

zur interaktiven Lesung mit Verkäufer<br />

Jan und lässt von 12 bis 17 Uhr im<br />

Rahmen eines Tags der offenen<br />

Tür den Blick hinter die Kulissen zu.<br />

Außerdem zeigt Chris „Nebenschauplätze“<br />

beim Stadtrundgang. •<br />

Stiftsviertel St. Georg Straßenfest,<br />

Alexanderstraße, So, 15.5., 12–20 Uhr,<br />

Eintritt frei, www.stiftsviertel-stgeorg.de<br />

Wahrheit und Weltflucht:<br />

verbales Kräftemessen<br />

Im Rahmen des Hamburger Theaterfestivals bringt das Deutsche Schauspielhaus<br />

mit Anne Lenks Version von Molières „Der Menschenfeind“ ein echtes Highlight<br />

auf die Bühne. Das Stück brilliert mit eleganten Dialogen und erstklassiger<br />

Darstellerriege wie Ulrich Matthes oder Franziska Machens. Genüsslich werden<br />

die Mechanismen des menschlichen Miteinanders zerlegt – sinnlich, zornig.<br />

Worte können scharfe Waffen sein. •<br />

Deutsches Schauspielhaus, Kirchenallee 39,<br />

Di, 31.5., Mi, 1.6., jeweils 19.30 Uhr, ab 18/10 Euro, www.hamburgertheaterfestival.de<br />

Festival<br />

Macht mit!<br />

Livemusik, vegane Leckereien und<br />

Programm rund um junges Engagement,<br />

Stadtplanung sowie Naturund<br />

Klimaschutz: Das Festival<br />

„Asphaltsprenger“ will verschiedene<br />

Initiativen vorstellen und zum<br />

Mitmachen einladen. Mit dabei<br />

sind Andreas Dorau, die Jugend der<br />

Naturschutzorganisation BUND,<br />

das Bündnis Rettet Hamburgs Natur<br />

und die BürgerStiftung Hamburg. •<br />

Apshaltsprenger, Alter Recyclinghof/Alster-Bille-Elbe<br />

Parks, Bullerdeich 6, und<br />

Hochwasserbassin, Süderstraße 112,<br />

Sa, 21.5., 14–22 Uhr, Eintritt frei,<br />

www.tagderstadtnaturhamburg.de<br />

Über Tipps für Juni freuen sich<br />

Simone Rickert und Regine Marxen.<br />

Bitte bis zum 10.5. schicken an:<br />

kult@hinzundkunzt.de<br />

Die Monsterfilmplakate des<br />

Bahnhofskinos in Bad Bramstedt<br />

– der Stadt, in der ich<br />

groß geworden bin – waren<br />

die Highlights meiner Kindheit.<br />

„King Kong“, „Godzilla“,<br />

„Die fliegenden Monster<br />

von Osaka“,… Die Kombination<br />

aus Grusel, handgemachten<br />

Animationen und<br />

Action übte eine in der Retrospektive<br />

ziemlich schräge<br />

Anziehungskraft auf mich<br />

aus. Im Vergleich zu modernen<br />

Special-Effects-Blockbustern<br />

wirken die Filme der<br />

1950er- bis 1970er-Jahre in<br />

etwa wie eine Schulaufführung<br />

in rhythmischer Sportgymnastik<br />

gegenüber dem<br />

Cirque de Soleil. Doch was<br />

an Perfektion und Realismus<br />

fehlt, machen liebevoll krude<br />

Stories, Kreativität und absurde<br />

Dialoge wieder wett.<br />

Im Metropolis, einem der<br />

schönsten Kinosäle Hamburgs,<br />

kommen ab dem<br />

5. Mai zehn rare Klassiker<br />

des Science Fiction-, Gruselund<br />

Monster-Kinos auf die<br />

Leinwand. Darunter Merkwürdigkeiten<br />

wie „Doc Savage<br />

– Der Mann aus Bronze“<br />

oder Meisterwerke wie „Der<br />

weiße Hai“. Ein Begleitprogramm<br />

ergänzt die Filme.<br />

Für ein authentisches Gesamtbild<br />

wird das Metropolis<br />

mit alten Filmplakaten und<br />

den damals noch üblichen<br />

Aushangbildern dekoriert.<br />

Wer sich dafür dann doch<br />

nicht alt genug findet, der<br />

war auch nicht dabei. Damals<br />

– in den großen Zeiten<br />

der Bahnhofskinos. •<br />

André Schmidt<br />

geht seit<br />

Jahren für uns<br />

ins Kino.<br />

Er arbeitet in der<br />

PR-Branche.<br />

53


Leselounge<br />

#6<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Auf ein Getränk mit …<br />

Jens Eisel<br />

Der Autor trifft unsere Kolumnistin auf eine<br />

Orangen limonade und spricht über<br />

die Genese seines neuen Romans „Cooper“.<br />

Jens Eisel wirkt fast entschuldigend,<br />

als er mir gesteht, dass er<br />

gar kein Lieblingsgetränk habe.<br />

Meist trinke er Wasser. Wir sitzen<br />

in der „Torrefaktum Kaffeerösterei“ in<br />

Altona und bestellen weder Kaffee noch<br />

Wasser, sondern Orangenlimonade. Ein<br />

wenig freue ich mich darüber, sie ist einfach<br />

ein makelloser Durstlöscher.<br />

Dan Cooper, um den es in Jens<br />

Eisels neuem Roman „Cooper“ geht,<br />

hätte wohl anstelle von Orangenlimonade<br />

einen Bourbon Soda bestellt.<br />

Jedenfalls ist das eines der wenigen<br />

Dinge, die man über Cooper weiß. Das,<br />

und dass er Stunden nach dieser Getränkebestellung<br />

in einer Boeing 727<br />

aus dem Flugzeug sprang, nachdem er<br />

TEXT: NEFELI KAVOURAS<br />

FOTOS: IMKE LASS<br />

es zuvor entführt, ein Lösegeld von etwa<br />

200.000 US-Dollar erpresst hatte und<br />

dann für immer verschwand.<br />

Man mag kaum glauben, dass Eisel<br />

sich nicht einfach eine Krimigeschichte<br />

ausgedacht hat, aber tatsächlich ereignete<br />

sich der Fall 1971 in den USA.<br />

Dan Cooper hinterließ viele Fragen,<br />

Jens Eisel hat sie literarisch beantwortet.<br />

Beinahe vier Jahre hat er an seinem<br />

Roman gearbeitet, dessen Handlung<br />

sich lediglich über einen Tag erstreckt.<br />

Jens Eisel ist dafür nach Amerika<br />

gereist, hat den Ort unter der vermeintlichen<br />

Absprungstelle Coopers<br />

und den Flughafen besucht, von dem<br />

die Maschine startete, und er hat in<br />

Motels geschlafen, die genauso aus­<br />

HINZ&KUNZT N°351/MAI <strong>2022</strong><br />

sahen wie man sie aus amerikanischen<br />

Serien kennt.<br />

In „Cooper“ ist Dan Cooper nicht<br />

die klare Hauptfigur, der Roman wird<br />

kaleidoskopisch aus der Sicht des Flugzeugentführers<br />

Cooper, einer Stewardess<br />

und einem Piloten erzählt. Um<br />

sich für diese Erzählperspektive zu entscheiden,<br />

musste Jens Eisel einen Umweg<br />

nehmen. Er begann den Roman so<br />

zu schreiben, wie er seine vorherigen<br />

erarbeitet hat: aus einer Perspektive, in<br />

diesem Fall der von Cooper – bis er<br />

schlagartig merkte, dass er nicht das erzählte,<br />

was ihn eigentlich literarisch interessierte:<br />

welche Auswirkungen das<br />

Ereignis auf mehrere Figuren hat. „Ich<br />

hatte schon etwa 100 Seiten geschrieben,<br />

als ich merkte, dass es so nicht<br />

funktionierte. Alles musste verworfen<br />

werden.“ Die Limo hat er schon zur<br />

Hälfte ausgetrunken, als mir Jens Eisel<br />

vom Gefühl des Scheiterns erzählt.<br />

„Das war ein krasser Moment. Ich war<br />

mir sicher, ich würde den Roman nicht<br />

mehr hinkriegen. Ich dachte, meine<br />

Karriere als Schriftsteller ist vorbei.“<br />

Normalerweise arbeitet Jens Eisel<br />

mit einem Plan, den er durchzieht.<br />

Aber der Umweg hatte auch etwas Gutes:<br />

„Ich zweifle oft daran, ob ich einen<br />

Text nicht hätte besser machen können.<br />

Bei dem Roman dachte ich mir aber<br />

am Ende: Das hast du ganz schön gut<br />

gemacht. Eben weil ich durch dieses Tal<br />

des Scheiterns gegangen bin.“<br />

Die Glasflaschen sind leer, als wir<br />

darüber reden, dass im Scheitern auch<br />

etwas Schönes liegen kann, wenn man<br />

die Angst davor beiseitelässt. Und ich<br />

freue mich jetzt schon darauf zu hören,<br />

welche ungeplanten Umwege Jens Eisel<br />

in Zukunft noch beim Schreiben begegnen<br />

werden. •<br />

Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Lesetipp:<br />

Das Buch, das Jens<br />

Eisel am häufigsten<br />

gelesen hat, ist wohl<br />

„Der alte Mann<br />

und das Meer“ von<br />

Hemingway. Vor allem<br />

den Sound findet er wahnsinnig gut.<br />

54


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Rätsel<br />

Städtebund<br />

im<br />

Mittelalter<br />

einen<br />

Werkstoff<br />

formen<br />

Null beim<br />

Roulette<br />

Narzissengewächs<br />

Drachenechse<br />

Bewohner<br />

von Laos<br />

kurz für:<br />

um das<br />

mehr als<br />

feucht<br />

Sucht<br />

eine der<br />

nach dem<br />

Gezeiten<br />

Mammon<br />

Teil der<br />

Tennisanlage<br />

langsamer<br />

amerik.<br />

Tanz<br />

binäre<br />

Einheit<br />

(EDV)<br />

1<br />

2<br />

3<br />

1<br />

m. Gegenströmung<br />

Entrichtung<br />

von<br />

Raten<br />

1<br />

2<br />

1<br />

4<br />

5<br />

8<br />

2<br />

7<br />

Wasserstrudel<br />

Stadt im<br />

westlichen<br />

Erzgebirge<br />

3<br />

3<br />

6<br />

5<br />

3<br />

Stadt und<br />

Provinz<br />

in Spanien<br />

2<br />

3<br />

7<br />

4<br />

4<br />

8<br />

fest<br />

gespannt,<br />

nicht<br />

schlaff<br />

1<br />

8<br />

6<br />

10<br />

Ungar<br />

Hanswurst,<br />

Possenreißer<br />

Fruchtäther<br />

Prachtstraße<br />

(franz.)<br />

5<br />

4<br />

8<br />

1<br />

9<br />

3<br />

argent.<br />

Staatsmann<br />

† 1974<br />

alkoh.<br />

Mischgetränk<br />

(engl.)<br />

Hauptstadt<br />

von<br />

Tibet<br />

ältester<br />

Sohn<br />

Noahs<br />

(A. T.)<br />

umgangssprachlich:<br />

Prügel<br />

Fluss<br />

durch<br />

München<br />

9<br />

AR0909-1219_3sudoku<br />

Stadt in<br />

den Niederlanden<br />

(Porzellan)<br />

älteste<br />

latein. Bibelübersetzung<br />

Araberhengst<br />

bei Karl<br />

May<br />

alter<br />

Klavierjazz<br />

(Kurzwort)<br />

sich<br />

Wissen<br />

aneignen<br />

angebl.<br />

Schneemensch<br />

im<br />

Himalaja<br />

Kosename<br />

einer<br />

span.<br />

Königin †<br />

Ort auf<br />

Ameland<br />

(Niederlande)<br />

ital.<br />

Klosterbruder<br />

(Kurzwort)<br />

Nadelbaum<br />

umgangssprachl.:<br />

Haarknoten<br />

scheußliches<br />

Verbrechen<br />

Schlussexamen<br />

an<br />

höheren<br />

Schulen<br />

knopfartiger<br />

Griff<br />

Note beim<br />

Doktorexamen<br />

deutsche<br />

Vorsilbe<br />

Füllen Sie das Gitter<br />

so aus, dass die Zahlen<br />

von 1 bis 9 nur je einmal<br />

in jeder Reihe, in jeder<br />

Spalte und in jedem<br />

Neun-Kästchen-Block<br />

vorkommen.<br />

Als Lösung schicken<br />

Sie uns bitte die farbig<br />

gerahmte, unterste<br />

Zahlenreihe.<br />

Lösungen an: Hinz&<strong>Kunzt</strong>, Minenstraße 9, 20099 Hamburg,<br />

per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.<br />

Einsendeschluss: 27. Mai <strong>2022</strong>. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Wer<br />

die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel einsendet, kann<br />

zwei Karten für die Hamburger Kunsthalle gewinnen oder eines von<br />

drei Taschenbüchern „SCHLUSS MIT LUSTIG – St. Pauli im Stillstand“ von<br />

Michael Pasdzior (Ludwig Verlag).<br />

Das Lösungswort des Dezember-Kreuzwort rätsels war: Nachtfrost.<br />

Die Sudoku-Zahlenreihe lautete: 863 457 219.<br />

6<br />

2<br />

7<br />

2<br />

8<br />

7<br />

7<br />

8<br />

9<br />

9<br />

6<br />

5<br />

4<br />

12193 – raetselservice.de<br />

10<br />

Impressum<br />

Redaktion und Verlag<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH<br />

Minenstraße 9, 20099 Hamburg<br />

Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50<br />

Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01<br />

E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de<br />

Herausgeber<br />

Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg<br />

Externer Beirat<br />

Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW Hamburg),<br />

Mathias Bach (Kaufmann), Dr. Marius Hoßbach (Korten Rechtsanwälte AG),<br />

Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),<br />

Karin Schmalriede (ehemals Lawaetz-Stiftung, i.R.),<br />

Dr. Bernd-Georg Spies (Spies PPP),<br />

Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)<br />

Geschäftsführung Jörn Sturm<br />

Redaktion Lukas Gilbert (lg, stellv. CvD; V.i.S.d.P. für den Titel, Inhalt,<br />

Gut&Schön, Freunde, <strong>Kunzt</strong>&Kult, Reportage), Annette Woywode<br />

(abi, CvD), Ulrich Jonas (ujo, V.i.S.d.P. für die Zahlen des Monats,<br />

Buh&Beifall, Momentaufnahme, Stadtgespräch), Benjamin Laufer (bela,<br />

V.i.S.d.P. für den Schwerpunkt und das Editorial), Jonas Füllner (jof),<br />

Simone Deckner (sim), Kirsten Haake (haa), Misha Leuschen (leu),<br />

Annabel Trautwein (atw) Regine Marxen (rem), Simone Rickert (sr),<br />

Anna-Elisa Jacob (aej)<br />

Online-Redaktion Benjamin Laufer (CvD), Jonas Füllner, Lukas Gilbert<br />

Korrektorat Christine Mildner, Kerstin Weber<br />

Redaktionsassistenz Cedric Horbach,<br />

Sonja Conrad, Anja Steinfurth<br />

Artdirektion grafikdeerns.de<br />

Öffentlichkeitsarbeit Sybille Arendt, Friederike Steiffert<br />

Anzeigenleitung Sybille Arendt<br />

Anzeigenvertretung Gerald Müller,<br />

Wahring & Company, Tel. 040 284 09 418, g.mueller@wahring.de<br />

Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 27 vom 1. Januar <strong>2022</strong><br />

Vertrieb Christian Hagen (Leitung), Gabor Domokos,<br />

Meike Lehmann, Sergej Machov, Frank Nawatzki,<br />

Sigi Pachan, Reiner Rümke, Marcel Stein,<br />

Eugenia Streche, Cornelia Tanase, Silvia Zahn, Janina Marach<br />

Spendenmarketing Gabriele Koch<br />

Spendenverwaltung/Rechnungswesen Susanne Wehde<br />

Sozialarbeit Stephan Karrenbauer (Leitung), Jonas Gengnagel,<br />

Isabel Kohler, Irina Mortoiu<br />

Das Stadtrundgang-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />

Chris Schlapp<br />

Das BrotRetter-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />

Stefan Calin, Fred Houschka, Mandy Schulz<br />

Das Team von Spende Dein Pfand am Airport Hamburg<br />

Stephan Karrenbauer (Leitung), Uwe Tröger,<br />

Klaus Peterstorfer, Herbert Kosecki<br />

Litho PX2 Hamburg GmbH & Co. KG<br />

Produktion Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />

Druck und Verarbeitung A. Beig Druckerei und Verlag,<br />

Damm 9–15, 25421 Pinneberg<br />

QR Code ist ein eingetragenes Warenzeichen von Denso Wave Incorporated<br />

Leichte Sprache capito Hamburg, www.capito-hamburg.de<br />

Spendenkonto Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

IBAN: DE56 2005 0550 1280 1678 73<br />

BIC: HASPDEHHXXX<br />

Die Hinz&<strong>Kunzt</strong> gGmbH mit Sitz in Hamburg ist durch den aktuellen<br />

Freistellungsbescheid bzw. nach der Anlage zum Körperschaftssteuerbescheid<br />

des Finanzamts Hamburg-Nord, Steuernummer 17/414/00797,<br />

vom 15.3.2021 für das Jahr 2019 nach § 5 Abs.1 Nr. 9 des Körperschaftssteuergesetzes<br />

von der Körperschaftssteuer und nach<br />

§ 3 Nr. 6 des Gewerbesteuergesetzes von der Gewerbesteuer befreit.<br />

Geldspenden sind steuerlich nach §10 EStG abzugsfähig. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist als<br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH im Handelsregister beim<br />

Amtsgericht Hamburg HRB 59669 eingetragen.<br />

Wir bestätigen, dass wir Spenden nur für die Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

einsetzen. Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte<br />

weitergegeben. Beachten Sie unsere Datenschutzerklärung, abrufbar auf<br />

www.hinzundkunzt.de. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist ein unabhängiges soziales Projekt, das<br />

obdachlosen und ehemals obdachlosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe bietet.<br />

Das Magazin wird von Journalist:innen geschrieben, Wohnungslose und<br />

ehemals Wohnungslose verkaufen es auf der Straße. Sozialarbeiter:innen<br />

unterstützen die Verkäufer:innen.<br />

Das Projekt versteht sich als Lobby für Arme.<br />

Gesellschafter<br />

Durchschnittliche monatliche<br />

Druckauflage 1. Quartal <strong>2022</strong>:<br />

55.333 Exemplare<br />

55


Endlich mal<br />

auf Wolke sieben<br />

Viele Jahre hat Christian in Heimen und auf Platte verbracht.<br />

Nun lebt er im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Haus – und ist dort Teil einer Wohngemeinschaft.<br />

TEXT: ULRICH JONAS<br />

FOTOS: MIGUEL FERRAZ<br />

56


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Momentaufnahme<br />

I<br />

n diesen Tagen schwebt Christian<br />

auf Wolke sieben. Im Februar ist<br />

der 39-Jährige seiner neuen<br />

Freundin begegnet und hat sich<br />

verliebt bis über beide Ohren. Und<br />

dann hat es auch noch mit den eigenen<br />

vier Wänden geklappt: Kürzlich zog<br />

Christian ins Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Haus, ins<br />

letzte freie Zimmer einer Wohngemeinschaft<br />

ehemals Obdach loser (siehe Info-<br />

Kasten). Für den Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufer<br />

kam die Anfrage von Sozialarbeiter<br />

Jonas Gengnagel gerade zur rechten<br />

Christian mit Mitbewohner Markus<br />

im Wohnzimmer der 5er-WG<br />

Zeit: Aus dem Wohnheim, in dem er<br />

zuletzt gelebt hat, musste er nach drei<br />

Jahren raus, weil längeres Wohnen dort<br />

nicht vor gesehen ist. Nun hat Christian<br />

einen unbefristeten Mietvertrag und<br />

sagt: „Man muss auch mal Glück<br />

haben!“<br />

In knappen Worten erzählt der jugendlich<br />

wirkende Mann die traurige<br />

Geschichte seiner Kindheit:<br />

Als er zweieinhalb<br />

Jahre alt ist, geben seine<br />

Eltern ihn weg – „meine<br />

Mutter war manisch-depressiv,<br />

mein Vater Alkoholiker<br />

und Spieler.“ Es<br />

folgen Jahre in einer Pflegefamilie,<br />

über die Christian<br />

nicht groß reden will:<br />

„Da gab es nur Schläge.“<br />

Als Elfjähriger haut er das<br />

erste Mal aus dem verhassten<br />

Zuhause ab, danach<br />

immer wieder. Mit 16<br />

kommt er in ein Heim.<br />

Trotz aller Not gibt es<br />

auch schöne Momente:<br />

Als 16-Jähriger segelt<br />

Christian als sogenannter<br />

schwer erziehbarer Jugendlicher<br />

über den Atlantik.<br />

Er soll unter fachkundiger<br />

Anleitung fürs<br />

Urgestein: Schon seit<br />

19 Jahren ist Christian<br />

bei Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />

Leben geschult werden – und büxt in<br />

Mexiko erneut aus, obwohl ihm der<br />

Trip gut gefällt. „Ich war ein Idiot“,<br />

sagt der Hinz&Künztler rückblickend<br />

und grinst. „Und ich hatte das Abhau-<br />

Syndrom.“ Für ein paar Wochen lebt<br />

er bei Fischern, die ihn liebevoll bei<br />

sich aufnehmen. Dann kommt die Polizei<br />

und steckt ihn in Abschiebehaft.<br />

Der Heimatlose muss zurück nach<br />

Deutschland.<br />

Christian pendelt viele Jahre zwischen<br />

verschiedenen Städten, lebt in<br />

Berlin, Hannover, München und Hamburg.<br />

Mal schläft er in Obdachlosenheimen,<br />

mal bei einer Freundin, mal auf<br />

der Straße und mal im Knast. Vor 19<br />

Jahren kommt er zu Hinz&<strong>Kunzt</strong>, ein<br />

Verkäufer hatte ihm von dem<br />

Projekt erzählt. „Ich möchte ein normales<br />

Leben führen“, erzählt Christian<br />

im Oktober 2004 in einem Interview.<br />

Dass der Weg dorthin so schwer ist,<br />

weiß er damals noch nicht.<br />

Bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> habe er immer<br />

wieder Hilfe bekommen, sagt Christian<br />

rückblickend. Und die Möglichkeit,<br />

sich etwas Geld hinzuzuverdienen.<br />

FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE


Momentaufnahme<br />

HINZ&KUNZT N°351/MAI <strong>2022</strong><br />

Beim Musizieren<br />

auf dem E-Piano<br />

kommt Christian<br />

zur Ruhe.<br />

Tag der offenen Tür<br />

bei Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

Am Sonntag, den 15. Mai,<br />

öffnen wir zwischen 12 und<br />

17 Uhr unsere Türen in der<br />

Minenstraße 9. Die Aktion<br />

ist Teil von „Das Stiftsviertel<br />

jubiliert“ (siehe Seite 5).<br />

Um 12 und um 15 Uhr lädt<br />

H&K zum Stadtrundgang.<br />

„Ich will für<br />

meine Gesundheit<br />

kämpfen.“<br />

Jahrelang prägt vor allem die Heroinsucht<br />

sein Leben – bis er eines Tages<br />

Hilfe findet und ins Polamidon-Programm<br />

aufgenommen wird. Bis heute<br />

ist er auf die Ersatzdroge angewiesen<br />

und froh darüber, dass es sie gibt. Über<br />

Heroin sagt er nur: „Zum Glück brauch<br />

ich den Scheiß nicht mehr.“<br />

Es gehe seit einigen Jahren bergauf<br />

bei ihm, sagt Christian und scherzt:<br />

„Im Alter wird man ruhiger und weiser.“<br />

Er will es künftig gut machen, mit<br />

sich selbst und den anderen: Am Tag<br />

des Einzugs in die WG haben seine<br />

Freundin und er erst mal Pizza für die<br />

neuen Mitbewohner gebacken. Gerade<br />

hat er sein nächstes Vorhaben gestartet:<br />

zehn Tage Leben ohne Alkohol. Für<br />

jemanden, der gewöhnlich „an die zehn<br />

Bier“ pro Tag trinkt, ein gewaltiges Projekt.<br />

Doch Christian hat einen klaren<br />

Plan: „Ich will das loswerden und für<br />

meine Gesundheit kämpfen.“<br />

Wer zu seinem Glück aktuell noch<br />

fehlt, ist Luna. Luna ist eine Ratte und<br />

seit gut zwei Jahren Christians Begleiterin.<br />

Derzeit ist sie bei einem Bekannten<br />

untergekommen. Christian muss den<br />

Käfig, der verwaist neben seinem Bett<br />

auf dem Boden steht, noch umbauen,<br />

bevor das Tierchen einzieht. Luna ist<br />

nämlich schlau: Sie kann ihre Käfigtür<br />

selbstständig öffnen. Aber sie soll die<br />

neuen menschlichen Mitbewohner<br />

nicht erschrecken – eine freilaufende<br />

Ratte in der Wohnung ist schließlich<br />

nicht jedermanns Sache. „Ich will ja keinen<br />

Ärger“, sagt Christian.<br />

Einen Hund hat er schon gehabt,<br />

eine Katze und auch Mäuse. Letztere<br />

saßen einst wie heute Luna am liebsten<br />

auf Christians Schulter: „Ich liebe<br />

Tiere.“ Und weil das so ist und er so gut<br />

mit ihnen kann, hat Christian einen<br />

58<br />

Traum: Er möchte eines Tages als Tierpfleger<br />

arbeiten. „Das ist ein schöner<br />

Job.“ Wie das klappen kann? Er will<br />

demnächst mal beim Tierheim nachfragen.<br />

Vielleicht kann er dort ein Praktikum<br />

machen oder ehrenamtlich aushelfen?<br />

Christian spürt, er braucht eine<br />

Aufgabe, die ihn erfüllt: „Dann habe<br />

ich was um die Ohren und komme<br />

nicht auf dumme Gedanken.“ •<br />

ulrich.jonas@hinzundkunzt.de<br />

Christian und alle anderen<br />

Hinz&Künztler:innen erkennt man<br />

am Verkaufsausweis.<br />

3229<br />

05/2025


KUNZT-<br />

KOLLEKTION<br />

BESTELLEN SIE DIESE UND WEITERE PRODUKTE BEI: Hinz&<strong>Kunzt</strong> gGmbH,<br />

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Tel. 040 – 32 10 83 11. Preise zzgl. Versandkostenpauschale 4 Euro, Ausland auf Anfrage.<br />

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Lüneburg. www.salzmuseum.de,<br />

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In Kooperation mit dem<br />

Spicy’s Gewürzmuseum,<br />

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Bergtee vom Olymp* (40 %),<br />

Zitronenverbene* (40 %),<br />

Johanniskraut* (20 %), von Aroma Olymp,<br />

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*aus kontrolliert biologischer Landwirtschaft<br />

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Die Schrift wurde im Handsiebdruckverfahren<br />

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Meerseifen-Manufaktur an der Ostsee.<br />

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100 g, Preis: 7 Euro<br />

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Geröstet in der Quijote-Rösterei<br />

in Hamburg-Rothenburgsort.<br />

www.quijote-kaffee.de,<br />

Preis: je 6 Euro<br />

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Erde drücken, bis zum Keimen feucht halten.<br />

Preis: 5,90 Euro


Foto: Katharina Lotter<br />

Das ist<br />

nicht egal!<br />

Gerechtigkeit entsteht nicht, wenn<br />

uns alles gleich ist, sondern indem<br />

wir Unterschiede anerkennen.<br />

Wolf Lotters Essay ist ein Lob dieser<br />

Unterschiede, die unser Leben um<br />

Vielfalt und Freiheit bereichern.<br />

328 Seiten | Gebunden mit Schutzumschlag | € 20,– (D)<br />

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