Hinz&Kunzt 350 April 2022
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Das Hamburger<br />
Straßenmagazin<br />
Seit 1993<br />
N O 351<br />
Mai.22<br />
2,20 Euro<br />
Davon 1,10 Euro für<br />
unsere Verkäufer:innen<br />
Wie geht<br />
Frieden?
Editorial<br />
HINZ&KUNZT N°351/MAI <strong>2022</strong><br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Autorin<br />
Simone Deckner<br />
(rechts) war zu Besuch<br />
im Wohncontainer,<br />
in dem Gina den<br />
vergangenen Winter<br />
verbracht hat.<br />
Hallo!<br />
Dass wir als Monatsmagazin einen frühen Redaktionsschluss haben,<br />
verträgt sich oft nicht mit der Weltlage. So kam es, dass wir in unserer<br />
März-Ausgabe die russischen Bomben auf die Ukraine mit keinem<br />
Wort erwähnt haben, obwohl der Krieg längst wütete. Wie schön wäre<br />
es, wenn wir wieder zu spät dran wären: In dieser Ausgabe finden Sie<br />
einen Schwerpunkt zum Krieg gegen die Ukraine und dessen Folgen<br />
für uns alle. Vielleicht ist er ja schon vorbei, wenn Sie das hier lesen?<br />
Unwahrscheinlich, zugegeben. Und selbst wenn es so wäre, hätte er<br />
trotzdem tiefe Spuren hinterlassen. Kann man angesichts der<br />
Gräuel taten noch guten Gewissens pazifistisch bleiben? Darüber haben<br />
wir gesprochen mit dem ehemaligen Linken-Politiker Jan van Aken und<br />
Siemtje Möller (SPD), Staatssekretärin im Verteidigungsministerium.<br />
Wie dieser Krieg die Arbeit von Hilfsorganisationen für Obdachlose<br />
in der Ukraine verändert hat, lesen Sie in unserer Reportage. Und<br />
ein 33-jähriger Ukrainer erklärt, wieso er nicht sein Land verteidigt,<br />
sondern mit seiner Familie aus Kiew nach Berlin geflohen ist.<br />
Aber keine Sorge, es geht nicht nur um den Krieg. Im Rest des<br />
Magazins bringen wir Sie auf andere Gedanken: über den bildenden<br />
Künstler Erwin Wurm, die Arbeit mit gefährlichen Hunden und die<br />
Zukunft der Obdachlosenhilfe in Hamburg zum Beispiel.<br />
Übrigens: Unsere Hinz&Künztler:innen statten wir ab sofort<br />
mit neuen Verkaufsausweisen aus. Also bitte nicht wundern, wenn<br />
sie künftig einen QR-Code am Revers tragen. Und sollte Ihnen unser<br />
Titelmotiv von Street-Artist Neal gefallen: Sie können es als<br />
Kunstdruck in unserem Onlineshop kaufen.<br />
<br />
Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre!<br />
Ihr Benjamin Laufer<br />
Schreiben Sie uns an: briefe@hinzundkunzt.de<br />
FOTOS SEITE 2: DMITRIJ LELTSCHUK (UNTEN), IMKE LASS (OBEN)<br />
TITELBILD: NEAL<br />
2
06<br />
Schwerpunkt:<br />
Wie geht Frieden?<br />
Inhalt Mai <strong>2022</strong><br />
Wie geht Frieden?<br />
08 Lebenswichtige Hilfe im Krieg<br />
Für ukrainische Obdachlosenhelfer:innen ändert sich alles.<br />
12 Militär als letztes Mittel<br />
Verteidigungsstaatssekretärin Siemtje Möller (SPD) im Interview<br />
14 „Jede militärische Antwort ist falsch“<br />
Friedensaktivist Jan van Aken (Linke) spricht über Pazifismus.<br />
16 „Ich gehöre diesem Land nicht“<br />
Ein junger Ukrainer will nicht kämpfen und flieht nach Berlin.<br />
20 Fluchtgeschichten aus der Ich-Perspektive<br />
Zu Besuch beim Hamburger Magazin „Kohero“<br />
Reportage<br />
24 Zweite Chance für „Höllenhunde“<br />
Eine Hundetrainerin arbeitet mit gefährlichen Tieren.<br />
Stadtgespräch<br />
24<br />
Zweite Chance für<br />
gefährliche Hunde<br />
34 „Was kommt? Daran will ich nicht denken“<br />
Viele haben nach dem Winternotprogramm keine Perspektive.<br />
38 Langsam tut sich was<br />
Das Hilfesystem für Obdachlose wird weiterentwickelt.<br />
46<br />
Künstler Erwin<br />
Wurm im Porträt<br />
Freunde & Internes<br />
32 Neue Verkaufs-Ausweise<br />
So erkennen Sie künftig die Hinz&Künztler:innen.<br />
42 „Livemusik gibt Energie“<br />
Ein Hamburger Ehepaar hat Spenden für Hinz&<strong>Kunzt</strong> gesammelt.<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
46 „Raus zu den Menschen will ich“<br />
Der bildende Künstler Erwin Wurm hat eine soziale Ader.<br />
50 Tipps für den Mai<br />
54 Kolumne: Auf ein Getränk mit Jens Eisel<br />
56 Momentaufnahme: Hinz&Künztler Christian<br />
Rubriken<br />
04 Gut&Schön<br />
22 Zahlen des Monats<br />
33, 40 Meldungen<br />
44 Buh&Beifall<br />
55 Rätsel, Impressum<br />
56<br />
Neustart für<br />
Christian<br />
Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk
Ausgezeichnete Nachbarschaft<br />
2019 gründeten Anwohner:innen und Studierende in einem<br />
ehemaligen Toilettenhäuschen auf einer Verkehrsinsel in<br />
Rothenburgsort das Nachbarschaftszentrum „Mikropol“. Ihre<br />
Initiative „Start a Revolution: Get to know your Neighbour!“,<br />
durch die sich die Nachbarschaft stärker vernetzen soll,<br />
wurde Anfang <strong>April</strong> in der Hanseatischen Material-<br />
verwaltung mit dem Stadtteilkulturpreis ausgezeichnet.<br />
Herzlichen Glückwunsch! LG<br />
•<br />
Weitere Infos: www.mikropol.de
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Gut&Schön<br />
Zurück im Stadion<br />
Nach zwei Jahren<br />
Corona-Pause war es<br />
Anfang <strong>April</strong> endlich<br />
wieder so weit für<br />
Gabor, Chris, Reiner<br />
und Alfredo (von links):<br />
Die Hinz&Künztler<br />
konnten das<br />
Zweitliga-Spitzenspiel<br />
FC St. Pauli gegen<br />
Werder Bremen<br />
live am Millerntor<br />
verfolgen. Möglich<br />
machten das vier<br />
Tickets, die uns<br />
der Verein gesponsert<br />
hat. Wir sagen:<br />
Herzlichen Dank! LG<br />
•<br />
Corona-Strafen übernommen<br />
FOTOS: MIGUEL FERRAZ (LINKS), ABI (OBEN), FREIHEITSFONDS (UNTEN RECHTS),<br />
SILVIO ROSENTHAL/LUFTBILDCREW.DE (UNTEN LINKS)<br />
Festwochen im Stiftsviertel: Besuchen Sie uns!<br />
Vom 6. bis zum 24. Mai geht es rund im Stiftsviertel in St. Georg. Einmal im<br />
Jahr feiern die Institutionen und Stiftungen zwischen Berliner Tor, Steindamm,<br />
Lindenplatz und Lohmühlenpark sich selbst – und seit dem Umzug ins neue<br />
Haus gehört auch Hinz&<strong>Kunzt</strong> zur Feiergesellschaft. Teile des Programms sind<br />
eine Vernissage, auf der Bilder aus 40 Jahren Stiftsviertel gezeigt werden, oder<br />
die Jazzmeile des Kulturladens St. Georg. Highlight der Festwochen ist dann das<br />
Straßenfest am 15. Mai. Vor der Bühne am Kulturladen können Besucher:innen<br />
japanische Trommeln und mexikanische Tänze auf sich wirken lassen<br />
und gegen Abend Klezmer- und Ska-Konzerte erleben. Amalie Sieveking- und<br />
Hartwig-Hesse-Stiftung sowie Hinz&<strong>Kunzt</strong> gewähren außerdem einen Blick<br />
hinter die Kulissen. Weitere Infos: www.stiftsviertel-stgeorg.de LG<br />
•<br />
In Augsburg wurden mehrere<br />
Obdachlose zu Bußgeldern verdonnert,<br />
weil sie sich während<br />
des Lockdowns gemeinsam auf<br />
öffent lichen Plätzen aufhielten.<br />
Um sie vor dem Gefängnis zu bewahren,<br />
sammelten Schüler:innen<br />
575 Euro und übernahmen damit<br />
zwei der Strafen. Inspiration für die<br />
Aktion kam von Jan Böhmermann<br />
und „Frag den Staat“. Der Entertainer<br />
und die Internetplattform<br />
haben den „Freiheitsfonds“ auf<br />
die Beine gestellt, um Geldstrafen<br />
von Obdachlosen zu übernehmen –<br />
und sie so aus dem Gefängnis freizukaufen.<br />
Zur Nachahmung dringend<br />
empfohlen! LG<br />
•<br />
5
Wie geht<br />
Frieden?<br />
Obdachlosenhelfer:innen in der Ukraine<br />
arbeiten auch in Kriegszeiten weiter (S. 8).<br />
Staatssekretärin Siemtje Möller (SPD)<br />
und Friedensaktivist Jan van Aken (Linke)<br />
sprechen darüber, ob man angesichts<br />
des Krieges noch pazifistisch bleiben<br />
kann (S. 12). Ein junger Mann aus der<br />
Ukraine möchte nicht für sein Land kämpfen<br />
(S. 16). Und: Beim Hamburger Magazin<br />
„Kohero“ wissen Menschen mit eigener<br />
Fluchterfahrung, was für ein friedliches<br />
Zusammenleben wichtig ist (S. 20).
Nach dem Abzug der<br />
russischen Truppen bietet<br />
sich in Borodjanka bei Kiew<br />
ein Bild des Schreckens.<br />
FOTO: FABIAN BERG
„Wir werden erst<br />
gehen, wenn wir keine<br />
andere Wahl haben.“<br />
Millionen Menschen haben seit Beginn des russischen Angriffs auf die<br />
Ukraine ihr Zuhause verloren. Das britische Straßenmagazin „The Big Issue“<br />
hat mit Helfer:innen über Obdachlosenhilfe im Krieg gesprochen.<br />
TEXT: LIAM GERAGHTY<br />
ÜBERSETZUNG UND BEARBEITUNG: LUKAS GILBERT<br />
FOTOS: FABIAN BERG
Eine verwüstete<br />
Wohngegend in Borodjanka
In Kiew stehen Menschen bei der Organisation „Pomogi Bezdomnomu“ für Essen an.<br />
I<br />
m vergangenen bitterkalten Winter rettete die Obdachlosenhilfsorganisation<br />
„Pomogi Bezdomnomu“ das<br />
Leben von fünf Menschen. Mittlerweile ist Leben<br />
retten für die Organisation eine tägliche Notwendigkeit<br />
geworden. Die kleine Graswurzel-Organisation, deren<br />
Name auf Deutsch so viel wie „Hilf den Obdachlosen!“ bedeutet,<br />
feierte am 20. Februar ihren sechsten Geburtstag.<br />
Vier Tage später überfiel die russische Armee die Ukraine.<br />
„Meine erste Reaktion, als ich von der Invasion gehört<br />
habe, war eine tiefe Verwirrung“, sagt Olga Romenska,<br />
Co-Gründerin von Pomogi Bezdomnomu aus Kiew. „Mein<br />
Arbeitgeber hat uns informiert, dass das Büro an diesem Tag<br />
nicht öffnen würde. Wir wussten, dass Russland viele Truppen<br />
in Grenznähe zusammengezogen hatte, und dennoch<br />
war es schwer zu verstehen, dass dieser absurde Krieg<br />
tatsächlich beginnen konnte. Mitten im 21. Jahrhundert.“<br />
Vor sechs Jahren hatte sich die Marketing-Fachfrau<br />
Romenska entschieden, Menschen zu helfen, die auf den<br />
Straßen Kiews leben, und sie veröffentlichte einen Social-<br />
Media-Post zu ihrer Idee. Sie erwartete damals zwar „viele<br />
Likes, aber nichts darüber hinaus“. Doch Freund:innen und<br />
Kolleg:innen reagierten auf ihren Post, und gemeinsam begannen<br />
sie, Lebensmittel an Bedürftige auszugeben.<br />
Im November vergangenen Jahres eröffnete die Organisation<br />
schließlich ein eigenes Hostel, in dem 21 Menschen<br />
eine Unterkunft über den Winter fanden. Einer der Gäste<br />
bekam einen Job im Hostel. Noch im Februar versorgten<br />
Romenska und ihre Team Obdachlose mit warmem Essen,<br />
Medizin und allem, was die Menschen sonst zum Überleben<br />
auf der Straße benötigen. Bis zu 200 Menschen standen dort<br />
regelmäßig an.<br />
Heute sind die Arbeit dieser sechs Jahre – und das Leben von<br />
Romenska und den Menschen, denen sie hilft – in Gefahr.<br />
Zwar besteht das Hostel weiter, aber die lebenswichtige Arbeit<br />
auf den Straßen kann nicht wie gewohnt weitergehen. „Das<br />
erste Mal seit Gründung unserer Organisation konnten wir<br />
das Essen nicht so verteilen, wie wir es gewohnt waren“, sagt<br />
Romenska. „Zum einen ist es schwierig, das Essen inmitten<br />
des Krieges sicher zu verteilen. Zum anderen haben einige<br />
unserer freiwilligen Helfer:innen ihre Familien in Sicherheit<br />
gebracht.“ Dadurch fehle Personal. Selbst während der Pandemie<br />
hatten sie ihre Arbeit fortgesetzt. Doch im Krieg hätten<br />
sie diese zwischenzeitlich komplett einstellen müssen: „Das<br />
war eine wirklich harte Entscheidung, und es tut mir sehr leid,<br />
dass unsere Gäste von unserer Hilfe abgeschnitten waren.“<br />
„Wir versuchen,<br />
die Menschen in<br />
Sicherheit zu bringen.“<br />
PATER VITALY NOVAK<br />
Genaue Zahlen, wie viele Menschen in der Ukraine vor der<br />
russischen Invasion obdachlos waren, fehlen. Schätzungen aus<br />
dem Jahr 2015 gehen von etwa 200.000 Menschen aus. Doch<br />
schon damals galt das als eher konservativ geschätzt. Sicher<br />
ist: Der Konflikt mit Russland hat die Lage enorm verschärft.<br />
Die Annexion der Krim und der Donbasskonflikt seit<br />
dem Jahr 2014 haben die Ukraine zu einem der Länder mit<br />
der weltweit höchsten Zahl an Binnenflüchtlingen gemacht.<br />
10
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Wie geht Frieden?<br />
FOTO RECHTS UNTEN: DEPAUL INTERNATIONAL<br />
Etwa 1,5 Millionen Menschen verloren damals ihr Zuhause.<br />
Aufgrund des russischen Angriffs sind bis Anfang <strong>April</strong> mehr<br />
als vier Millionen Menschen ins sichere Ausland geflohen.<br />
Die humanitäre Krise zwingt Romenska und ihre<br />
Kolleg:innen zu Veränderungen: „Wir versuchen unsere<br />
Arbeit neu aufzustellen. Der Plan ist, das Hostel weiter zu<br />
betreiben und den obdachlosen Menschen weiter Essen<br />
anzubieten. Wenn auch in anderer Form.“ Statt warmer<br />
Suppen geben die Freiwilligen mittlerweile Lunchboxen aus –<br />
in Kiew und auch in zerstörten Nachbarstädten. Außerdem<br />
bereitet die Organisation jetzt auch Essen für die ukrainischen<br />
Streitkräfte zu.<br />
Hilfe für Obdachlose leisten noch andere in der Ukraine.<br />
Etwa die Organisation „Depaul International“, die<br />
Unterkünfte in Odessa und der zweitgrößten Stadt der<br />
Ukraine, Charkiw, betreibt. Vor allem Charkiw ist heftigen<br />
russischen Raketenangriffen ausgesetzt. Pater Vitaly Novak,<br />
Vorstandsmitglied von Depaul Ukraine, organisiert die<br />
Arbeit der NGO und fährt Lastwagen mit Hilfsgütern durch<br />
das Land. Trotz der ständigen Gefahr. „Vor dem Krieg habe<br />
ich für Obdachlose in verschiedenen ukrainischen Städten<br />
gearbeitet. Jetzt gibt es in der ganzen Ukraine ein Bedürfnis<br />
nach Hilfe. Mein Leben hat sich komplett geändert“, sagt<br />
Pater Novak. „In dieser Zeit des Krieges braucht jeder<br />
Mensch in erster Linie einen sicheren Ort zum Leben,<br />
Lebensmittel, Wasser, medizinische Versorgung. All das<br />
brauchen die Menschen, die weiterhin in den Städten sind,<br />
die weiterhin bombardiert werden. Sie haben all diese<br />
Bedürfnisse. Jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde.“<br />
Depaul konzentriert sich darauf, den Menschen zu helfen,<br />
denen der Krieg das Zuhause genommen hat. Die Organisation<br />
sammelt Spenden für provisorische Aufwärmstationen<br />
und stellt Lebensmittel für jene zur Verfügung, die auf der<br />
Straße leben. „Wir versuchen, so viel wie möglich zu organisieren,<br />
um die Menschen, insbesondere aus den Brennpunkten<br />
in der Ostukraine, in Sicherheit zu bringen“, sagt Pater<br />
Novak: „Es gibt Tausende von Menschen, die seit Wochen<br />
unterirdisch in der U-Bahn in Charkiw leben. Wir wollen<br />
diese Menschen so gut wie möglich erreichen.“<br />
Depaul hilft auch an der slowakischen Grenze, wohin<br />
viele Menschen geflohen sind. Die slowakische Regierung<br />
hatte zwar angekündigt, dass alle ukrainischen Flüchtlinge<br />
auch ohne gültige Reisedokumente ins Land einreisen können.<br />
Doch das war zunächst nicht möglich und führte zu langen<br />
Schlangen an der Grenze, sagt Juraj Barát, stellvertretender<br />
Direktor von Depaul Slovakia. „Es war schrecklich für<br />
Menschen mit Kindern. Es gab keine Toiletten, und wir<br />
hatten Glück, dass es nicht regnete. Es war eiskalt und fror<br />
immer noch über Nacht, und die Leute mussten dort<br />
warten“, sagt er. „Die Leute hatten Angst, auf die Toilette zu<br />
gehen oder Essen zu holen, weil sie ihren Platz nicht verlieren<br />
wollten.“ Auch in der Slowakei musste sich Depaul wegen<br />
des Krieges neu aufstellen.<br />
„Eigentlich sind wir ein sozialer Dienstleister und keine<br />
humanitäre Organisation. Aber das ändert sich jetzt.“ Die<br />
Freiwilligen seien kreativ und auch für riskante Einsätze<br />
offen. Alle paar Tage wagten sich Freiwillige in die Ukraine,<br />
um mit Hilfslieferungen zu unterstützen. „Es war nicht sehr<br />
schwer, die Menschen davon zu überzeugen, in die Ukraine<br />
zu gehen. Wir haben nur gefragt wer will, und die Leute<br />
haben ihre Hände gehoben“, sagt Barát.<br />
Auch angesichts der Schrecken des Krieges und der<br />
traumatischen, oft zermürbenden Arbeit: Viele Freiwillige,<br />
die ihr Leben der Hilfe von Menschen auf der Straße gewidmet<br />
haben, erhalten sich eine Art Trotz. „Die Helden sind<br />
Menschen, die in der Armee kämpfen, und alle, die für die<br />
Ukraine bleiben, die nicht aufgeben wollen. Alle sind jetzt<br />
vereint und tun alles, um unsere Heimat zu schützen“, sagt<br />
Pater Novak. „Wir stehen fest, halten unsere Obdachlosenheime<br />
und unsere Dienste am Laufen, damit wir die Menschen<br />
weiterhin unterstützen können. Es ist wichtiger denn je.<br />
Wir werden erst gehen, wenn wir keine andere Wahl haben.“ •<br />
lukas.gilbert@hinzundkunzt.de<br />
Olga Romenska und ihre Kolleg:innen verteilen Nahrungsmittel<br />
im zerstörten Borodjanka (oben). In Charkiw betreibt<br />
Depaul Unterkünfte und Luftschutzbunker (unten).<br />
11
Siemtje Möller (39) ist seit<br />
Dezember parlamentarische<br />
Staatssekretärin im<br />
Verteidigungsministerium.<br />
Militär als letztes Mittel<br />
Waffen sollen Atempausen verschaffen, damit zivile Organisationen<br />
für Frieden Sorgen können: Siemtje Möller (SPD) ist Staatssekretärin der<br />
Verteidigungsministerin und erklärt die Linie der Bundesregierung.<br />
INTERVIEW: BENJAMIN LAUFER<br />
FOTO: PICTURE ALLIANCE/DPA<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Frau Möller, wären Sie<br />
manchmal gerne eine Pazifistin?<br />
Siemtje Möller: Ich wünschte, ich würde<br />
in einer friedlichen Welt leben, in der<br />
man keine Not hätte, sich gegebenenfalls<br />
auch mit Gewalt wehren zu müssen.<br />
Aber das ist leider nicht der Fall,<br />
wie wir gerade beobachten müssen.<br />
Sie sind Parlamentarische Staatssekretärin<br />
im Verteidigungsministerium. Wie<br />
stellen Sie in Ihrem Job sicher, dass Sie<br />
nicht nur in militärischen Kategorien<br />
denken und zivile Konfliktlösungsstrategien<br />
aus dem Blick verlieren?<br />
Mein Verantwortungsbereich ist die<br />
Bundeswehr. Die Leitlinien der Bundesregierung<br />
besagen klar, dass Militär immer<br />
nur das letzte Mittel sein kann.<br />
Auch beim Russland-Ukraine-Konflikt<br />
hat man bis zum letzten Tag versucht,<br />
den Einsatz von militärischen Mitteln<br />
zu vermeiden. Es geht immer darum,<br />
Gewalt zu verhüten und nur, wenn es<br />
12<br />
nicht anders geht, mit militärischen<br />
Mitteln eine Atempause zu verschaffen,<br />
damit dann zivile Organisationen arbeiten<br />
können – das ist der sogenannte<br />
vernetzte Ansatz. Es ist klar, dass man<br />
mit militärischen Mitteln alleine keinen<br />
dauerhaften Frieden und eine gewaltfreie<br />
Gesellschaft schafft.<br />
Wir sprechen Anfang <strong>April</strong>, die ukrainische<br />
Armee konnte Gebiete zurückerobern.<br />
Kann sie den Krieg gewinnen?
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Wie geht Frieden?<br />
Gerade können die ukrainischen Soldatinnen<br />
und Soldaten ihr Recht auf<br />
Selbstverteidigung sehr effektiv durchsetzen.<br />
Allerdings werden die Teile<br />
der Ost-Ukraine, die von Russland militärisch<br />
kontrolliert werden, kaum zurückzugewinnen<br />
sein, dafür fehlen die<br />
Kräfte und das Material. Wir müssen<br />
Russland dazu bewegen, sich auf Verhandlungen<br />
einzulassen.<br />
Nach den Massakern von Butscha<br />
haben Sie selbst getwittert: „Mehr<br />
Waffen, mehr Sanktionen, mehr Geld.“<br />
Was aber bringen mehr Waffen, wenn<br />
der Krieg nicht militärisch gewonnen<br />
werden kann?<br />
Es gibt Zeiten, in denen man entscheiden<br />
muss, auf welcher Seite man steht.<br />
Es ist der absolut richtige Weg, sich in<br />
dieser Situation an die Seite der Ukraine<br />
zu stellen und dazu beizutragen, dass so<br />
wenig ukrainisches Gebiet wie möglich<br />
in russische Hände fällt, um weitere<br />
dieser absolut schrecklichen Gräueltaten<br />
zu verhindern.<br />
Wieso hören wir dann immer wieder<br />
Berichte, dass Deutschland bei Waffenlieferungen<br />
auf der Bremse steht?<br />
Die Bundesregierung unterstützt die<br />
Ukraine neben finanziellen Mitteln<br />
auch mit Waffen, mit denen sich die<br />
ukrainische Bevölkerung verteidigen<br />
kann. Die Bundeswehr prüft genau, was<br />
sie alles liefern kann, ohne die Gewährleistung<br />
der Sicherheit Deutschlands<br />
zu gefährden. Wir liefern alles, was<br />
möglich ist.<br />
Wenn Waffen allein nicht zum Ziel<br />
führen: Müssten jetzt nicht alle<br />
Register an Sanktionen gezogen<br />
werden, um den Krieg schnellstmöglich<br />
zu beenden? Nicht nur die Ukraine<br />
fordert einen Stopp aller Rohstoffimporte<br />
aus Russland.<br />
Wir werden die Abhängigkeit der Bundesrepublik<br />
von russischen Gas- und<br />
Ölimporten sukzessive reduzieren. Wir<br />
müssen aber auch die Frage im Blick<br />
behalten, inwiefern wir das der deutschen<br />
Bevölkerung zumuten können.<br />
Als Bundesregierung müssen wir die<br />
Sanktionspakete so schnüren, dass sie<br />
vor allem Russland treffen und nicht<br />
uns selbst.<br />
Ihre Regierung hat unter dem Eindruck<br />
des Angriffskrieges 100 Milliarden Euro<br />
Sondervermögen für die Bundeswehr<br />
angekündigt. Die Entscheidung kam<br />
quasi über Nacht – hätte man nicht<br />
eine breite gesellschaftliche Debatte<br />
führen müssen, bevor man so eine<br />
„Zeitenwende“ ausruft?<br />
Wir sehen sehr hohe Zustimmungswerte<br />
für das Sondervermögen der<br />
Bundeswehr. Die breite Mehrheit der<br />
Bevölkerung befürwortet die Erhöhung<br />
des Verteidigungsetats. Über viele Jahre<br />
wurde die Bundeswehr in dem Glauben<br />
an internationales Recht in Teilen zurückgebaut.<br />
Wir sehen jetzt, dass die<br />
Aggression nicht nur der Ukraine gilt,<br />
sondern auch unserer eigenen Sicherheit<br />
und unserer Art, wie wir leben wollen.<br />
Daher brauchen wir in dieser Zeit<br />
Streitkräfte, die dem Auftrag gerecht<br />
werden können, uns zu verteidigen.<br />
Der deutsche Verteidigungshaushalt<br />
belief sich 2014 noch auf 32 Milliarden<br />
Euro, bald sollen es 75 Milliarden Euro<br />
sein. Braucht die Bundeswehr wirklich<br />
so viel Geld für die Landesverteidigung?<br />
Meine Überzeugung ist, dass die Bundeswehr<br />
auch als Einsatzarmee in internationalen<br />
Konfliktgebieten stabilisierend<br />
wirken können muss. Zudem<br />
müssen wir selbst Wehrhaftigkeit ausstrahlen,<br />
um deutlich zu machen, dass<br />
wir uns im Ernstfall verteidigen können.<br />
Dafür müssen wir die Bundeswehr<br />
anders aufstellen. Wir brauchen mehr<br />
Waffen, mit denen wir üben können –<br />
in der Hoffnung, sie niemals zum Einsatz<br />
zu bringen. Das ist klassische<br />
Abschreckung.<br />
Wie wollen Sie verhindern, dass<br />
aus dem Ausrüsten der Bundeswehr<br />
ein neues Wettrüsten wird?<br />
13<br />
Es geht uns nicht um ein Wettrüsten<br />
oder ein Aufrüsten. Wie Russland darauf<br />
reagiert, ist aus meiner Sicht<br />
nachrangig. Putin ist ja derjenige, der<br />
uns dazu bringt, diese Schritte gehen<br />
zu müssen. Es führt kein Weg daran<br />
vorbei, zu zeigen, dass wir uns wehren<br />
können und wollen.<br />
„Es ist an<br />
Russland, den<br />
ersten Schritt<br />
zu gehen.“<br />
Blicken wir mal in die Zukunft:<br />
Was glauben Sie, wie kann eine neue<br />
Friedensordnung nach dem Ukraine-<br />
Krieg aussehen?<br />
Ich würde mir sehr wünschen, dass wir<br />
zu dem Status zurückkommen, bei dem<br />
wir vorher waren: Dass alle Länder dieser<br />
Welt die Grenzen anderer Staaten<br />
anerkennen und wir über internationale<br />
Organisationen und Verträge zu einem<br />
friedlichen Zusammenleben kommen.<br />
Momentan halte ich dies leider<br />
für relativ unrealistisch.<br />
Der Weg wäre also: Erst Stärke<br />
zeigen und auf dieser Basis zurück<br />
zur Diplomatie zu finden?<br />
Als Staatssekretärin im Verteidigungsministerium<br />
ist für mich die oberste<br />
Priorität die Sicherheit aller Menschen<br />
zu gewährleisten, die in Deutschland<br />
leben. Das ist auch die Aufgabe der<br />
Bundeswehr. Die Aufgabe der Bundesregierung<br />
wird zukünftig sein, nach<br />
dem Krieg auf dem internationalen<br />
Parkett Rüstungskontrolle und Abrüstung<br />
wieder zu fördern. Aber es ist an<br />
Russland, den ersten Schritt zu gehen. •<br />
benjamin.laufer@hinzundkunzt.de
Jan van Aken (61) saß von<br />
2009 bis 2017 für die<br />
Hamburger Linke im Bundestag.<br />
„Jede militärische<br />
Antwort ist falsch.“<br />
Jan van Aken war Biowaffeninspekteur der Vereinten Nationen<br />
und gilt als versierter Kritiker von Waffenlieferungen. Der Friedensaktivist<br />
plädiert für mehr Diplomatie – auch mit Blick auf den Krieg in der Ukraine.<br />
INTERVIEW: BENJAMIN LAUFER<br />
FOTOS: PICTURE ALLIANCE / PHOTOTHEK<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Herr van Aken, wie<br />
schwer ist es, dieser Tage pazifistisch<br />
zu bleiben?<br />
Jan van Aken: Für mich persönlich nicht<br />
schwer. Ich bin kein Radikalpazifist und<br />
finde es völlig in Ordnung, dass sich die<br />
Menschen in der Ukraine mit der Waffe<br />
in der Hand verteidigen. Pazifismus<br />
heißt für mich, dass wir in Deutschland<br />
darüber nachdenken, wie wir sie nichtmilitärisch<br />
unterstützen können. Die<br />
Bilder berühren mich emotional, aber<br />
ich bin ein unglaublich rationaler<br />
Mensch. Deswegen fällt es mir leicht,<br />
die Emotionalität beiseitezuschieben.<br />
Rational betrachtet ist jegliche militärische<br />
Antwort falsch.<br />
Unser Gespräch findet Anfang <strong>April</strong><br />
statt, die Bilder der Gräueltaten von<br />
14<br />
Butscha sind noch ganz frisch.<br />
Sie bleiben dennoch bei Ihrer Haltung,<br />
Waffenlieferungen in die Ukraine<br />
abzulehnen?<br />
Die Bilder gab es ja auch schon vorher,<br />
aus Mariupol. Das ist Krieg, und der ist<br />
grauenvoll. Natürlich haben sich die<br />
Menschen dort über Waffenlieferungen<br />
gefreut – eine Panzerfaust ist für sie<br />
besser als keine Panzerfaust. Aber die
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Wie geht Frieden?<br />
Frage ist doch: Was können wir sinnvoll<br />
tun, damit der Krieg so schnell wie<br />
möglich zu Ende geht? Und der geht<br />
dann zu Ende, wenn Russland endlich<br />
zu ernsthaften Verhandlungen bereit<br />
ist. Die Erfahrungen aller Kriege der<br />
vergangenen 50 Jahre zeigen: Militärisch<br />
endet ein Krieg erst, wenn beide<br />
Seiten kriegsmüde sind – und das<br />
dauert Jahre. Deswegen brauchen wir<br />
etwas, das schneller hilft.<br />
Die Verhandlungsposition der Ukraine<br />
ist doch aber umso stärker, je besser<br />
sie militärisch dasteht!<br />
Rein militärisch betrachtet führt militärische<br />
Stärke nicht zu einer Verhandlungslösung,<br />
weil einer immer gerade<br />
am Gewinnen ist und deswegen kein<br />
Interesse an Verhandlungen hat. Das<br />
denke ich mir nicht aus: Da kann ich<br />
nach Syrien gucken, da kann ich auf all<br />
die anderen Kriege gucken …<br />
Wie sieht denn Ihrer Ansicht nach<br />
die richtige Antwort auf den Krieg aus?<br />
Diplomatie?<br />
Ich frage mich seit Wochen, wieso alle<br />
nur über Russland und die Nato reden.<br />
Die Welt ist viel größer! China und Indien<br />
sind nicht glücklich mit dem Krieg.<br />
Man müsste eine diplomatische Offensive<br />
starten, damit sie eine Vermittlerrolle<br />
einnehmen.<br />
Aber China und Indien haben klar gemacht,<br />
dass sie weiter wirtschaftlich mit<br />
Russland zusammenarbeiten wollen …<br />
…und gerade China wird sich niemals<br />
gegen Russland stellen. Darum geht es<br />
nicht. Wenn Scholz und Macron da mit<br />
Angeboten anklopfen würden, könnte<br />
ich mir gut vorstellen, dass diese Länder<br />
bereit wären, Einfluss auf Russland<br />
auszuüben. Indien zum Beispiel hat aktuell<br />
Interesse an einem Wirtschaftsabkommen<br />
und an Technologietransfer,<br />
da könnte Europa Angebote machen.<br />
Das kann scheitern, aber ich finde es<br />
falsch, dass das nicht versucht wird. Das<br />
Zweite sind die Wirtschaftssanktionen ...<br />
... von denen Putin sich bislang offenbar<br />
nicht in seinem militärischen Handeln<br />
beeinflussen lässt.<br />
Weil sie ihn bislang nicht richtig treffen.<br />
Der Kreml hat sich auf genau dieses<br />
Szenario vorbereitet. Worauf er sich<br />
nicht vorbereitet hat, ist ein Importstopp<br />
von Kohle, Öl und Gas. Auch<br />
heute wurden wieder mehrere 100 Millionen<br />
Euro dafür nach Russland überwiesen.<br />
Jeden einzelnen Tag.<br />
Da würde Wirtschaftsminister Habeck<br />
entgegnen: Wenn wir das alles stoppen,<br />
haben wir Hunderttausende Arbeitslose<br />
zusätzlich.<br />
Dann muss man auch laut aussprechen:<br />
„Nein, wir wollen lieber, dass die Menschen<br />
in der Ukraine sterben, als dass<br />
wir hier 100.000 Arbeitslose haben!“<br />
Das ist gerade die Position in Deutschland,<br />
und ich finde die falsch. Der Importstopp<br />
würde nicht morgen und<br />
nicht übermorgen zum Kriegsende<br />
führen, aber es würde Putin relativ<br />
schnell so weh tun, dass die Wahrscheinlichkeit<br />
für eine Lösung steigt. Waffenlieferungen<br />
sind in dieser Situation ein<br />
Politikersatz.<br />
Sie haben einen Appell dagegen unterschrieben,<br />
dass die Bundeswehr ein<br />
Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden<br />
Euro bekommt. Finden Sie nicht,<br />
dass die Demokratie sich verteidigen<br />
können muss – und zwar auch gegen<br />
Feinde von außen?<br />
Doch, finde ich. Aber dafür braucht<br />
die Bundeswehr nicht mehr, sondern<br />
weniger Geld. Ich habe kein Problem<br />
mit einer Bundeswehr, die dafür ausgerüstet<br />
ist, dieses Land und seine Nachbarn<br />
im Osten zu verteidigen. Wir<br />
brauchen aber keine Bundeswehr, die<br />
15<br />
dazu in der Lage ist, an zwei Orten<br />
irgendwo in der Welt gleichzeitig Krieg<br />
zu führen. Es gibt sehr viele Waffensysteme,<br />
die wir nur für Auslandseinsätze<br />
und nicht für die Landesverteidigung<br />
brauchen – das macht die Bundeswehr<br />
so teuer.<br />
„Waffenlieferungen<br />
sind ein<br />
Politikersatz.“<br />
Wie kann man sicherstellen, dass<br />
aus dem Ausrüsten der Bundeswehr<br />
kein Wettrüsten wird?<br />
Gar nicht. Das Allerschlimmste an<br />
den 100 Milliarden ist, dass sie der<br />
Einstieg in ein neues Wettrüsten sind.<br />
Natürlich wird Russland dagegenhalten.<br />
Wir sind sofort wieder in den<br />
1970er-Jahren, in denen es eine Spirale<br />
ohne Ende gab. Wir müssen uns doch<br />
jetzt die Frage stellen, wie wir in<br />
50 Jahren leben wollen – hochgerüstet<br />
in einem kalten Krieg?<br />
Russland hat gerade alles Porzellan<br />
zerschlagen – schwer vorzustellen,<br />
wie eine stabile Nachkriegsordnung<br />
aussehen kann.<br />
Im Moment vertraue ich der russischen<br />
Regierung keinen Millimeter – und ohne<br />
Vertrauen kann man keine vernünftige<br />
Friedensordnung herstellen. Trotzdem:<br />
Wir müssen in der Nachkriegszeit<br />
langsam anfangen, dieses Vertrauen zu<br />
bilden. Und die 100 Milliarden würden<br />
genau das verhindern. •<br />
benjamin.laufer@hinzundkunzt.de
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Wie geht Frieden?<br />
„Ich gehöre<br />
diesem Land<br />
nicht.“<br />
Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht.<br />
Doch Männer aus der Ukraine dürfen nicht ausreisen.<br />
Artem ist 33 Jahre alt und hat es trotzdem getan. Nun<br />
weiß er nicht, ob er nach dem Krieg zurückkehren kann –<br />
und ob er das überhaupt will. Eine Begegnung in Berlin.<br />
TEXT: ANNA-ELISA JAKOB, FOTO: NEAL<br />
Natürlich gibt es so einige Dinge,<br />
die Artem, wie viele andere<br />
Menschen auch, an diesem<br />
Krieg fürchtet. Die Explosionen nahe<br />
seiner Wohnung zum Beispiel, die Sorge<br />
um seine Frau und seine Großeltern oder<br />
ja, der Gedanke daran, eine Schusswaffe<br />
in der Hand zu halten. Doch es gab noch<br />
einen anderen Moment, in dem ihn eine<br />
bislang unbekannte Angst überkam: „Als<br />
ich merkte, dass es für jemanden wie<br />
mich in meinem Land keinen Platz mehr<br />
gibt.“ Für einen Mann wie ihn, der nicht<br />
zur Waffe greifen möchte.<br />
Artem ist 33 Jahre alt und lebte bis vor<br />
Kurzem in Kiew. Er heißt eigentlich anders<br />
und möchte in diesem Text anonym<br />
bleiben, weil er die Hoffnung hat, irgendwann<br />
wieder nach Hause zurückkehren<br />
zu können. Was jedoch Konsequenzen für<br />
ihn haben könnte: Denn wer als Mann aus<br />
der Ukraine flieht, statt zu bleiben, um<br />
kämpfen zu können, begeht laut ukrainischem<br />
Staat in diesen Tagen ein Verbrechen.<br />
Das gilt für diejenigen, die jünger als<br />
60 Jahre sind oder die weniger als drei<br />
Kinder haben. Immer wieder wurde von<br />
Männern berichtet, die festgenommen<br />
und der Armee überstellt wurden. Artem<br />
müsste nach seiner Rückkehr wohl mit<br />
einer Strafverfolgung rechnen.<br />
An einem Sonntag in Berlin, 1365<br />
Kilometer von seiner alten Heimatstadt<br />
„Meine Frau<br />
sagte, sie würde<br />
nicht ohne<br />
mich gehen.“<br />
entfernt, sitzt Artem nun in einem Café,<br />
das sich „Geschmackssache“ nennt. Es ist<br />
<strong>April</strong>, wie zum Beweis wechselt die Sonne<br />
sich mit Schauern ab, und Artem sitzt da<br />
in seinem warmen Parka, mit Mütze und<br />
Schal, lächelt schüchtern und sagt auf<br />
Englisch: „Eigentlich hat man mir gesagt,<br />
in Deutschland wäre der Frühling schöner<br />
als in der Ukraine.“<br />
Artem mochte Berlin schon, bevor er<br />
vor ein paar Wochen hierher kam. Noch<br />
im Januar waren er und seine Frau zu<br />
Besuch bei seiner Mutter, die in der deutschen<br />
Hauptstadt lebt. Ihnen gefiel das<br />
Lebensgefühl, die öffentlichen Verkehrsmittel<br />
auch. Hier feierten sie den Beginn<br />
eines neuen Jahres – in ihrem „alten<br />
Leben“, wie Artem das sagt –, und waren<br />
ein bisschen wehmütig, als sie wieder<br />
in die Ukraine zurückkehrten. Nur für<br />
ein paar Wochen, doch das wussten sie<br />
damals noch nicht.<br />
17
Wie geht Frieden?<br />
HINZ&KUNZT N°351/MAI <strong>2022</strong><br />
„Ich wäre nicht gut<br />
darin, zu kämpfen.<br />
Es gibt viele andere, die<br />
darin ausgebildet sind.“<br />
Nun lebt Artem in Berlin, sitzt in diesem<br />
Café und erzählt die Geschichte<br />
seiner Flucht. Die ihn vor viele Ungewissheiten<br />
stellte und vor eine ihm bislang<br />
fremde Gewissheit: „Jetzt verbindet<br />
mich nichts mehr mit meinem Land.“<br />
Als Russland am 24. Februar die<br />
Ukraine angriff und Artem und seine<br />
Frau um fünf Uhr morgens die ersten<br />
Explosionen hörten, machten sie sich<br />
sofort auf den Weg. Sie riefen seine<br />
Groß eltern an, packten ihre Sachen in<br />
40 Minuten, sprangen in ihr Auto und<br />
fuhren Richtung Westen.<br />
Schon als sie dort zu viert im Auto<br />
saßen und Richtung Grenze fuhren, las<br />
Artem die ersten Nachrichten. Staatspräsident<br />
Wolodymyr Selenskyj hatte<br />
das Kriegsrecht ausgerufen und einen<br />
Ausreisestop für Männer zwischen 18<br />
und 60 Jahren angeordnet, um die Verteidigung<br />
des Landes zu sichern. Artem<br />
wurde klar: Seine Familie darf fliehen,<br />
doch er muss in der Ukraine bleiben.<br />
Also fuhr seine Frau erst einmal alleine<br />
über die Grenze. Brachte die<br />
Großeltern in Sicherheit, damit diese<br />
nach Berlin fahren konnten. Vor wenigen<br />
Jahren flohen er und seine Großeltern<br />
schon einmal vor einem russischen<br />
Angriff, von Donezk nach Kiew. Auch<br />
damals packte Artem die beiden in sein<br />
Auto und nahm sie mit in eine andere<br />
Stadt. In Kiew bauten sie sich ein neues<br />
Leben auf. Artem lernte seine Frau kennen,<br />
vor drei Jahren haben sie geheiratet.<br />
Kennengelernt hatten sie sich im<br />
Fitnessstudio und erst später gemerkt,<br />
dass sie noch etwas anderes verband:<br />
die erste Flucht, denn auch sie kam<br />
2014 von Donezk nach Kiew. „Meine<br />
Großeltern sprachen oft von ihrer<br />
alten Wohnung und den Nachbarn, sie<br />
haben ja ihr ganzes Leben dort verbracht“,<br />
sagt Artem.<br />
Doch auch diesmal blieben seine<br />
Großeltern ruhig. Er hingegen lag die<br />
ganze Nacht wach, als er wenig später,<br />
getrennt von ihnen, in einer Stadt in<br />
der Westukraine ausharrte und seine<br />
Frau, ebenfalls alleine, in einem Auto<br />
auf der anderen Seite der Grenze übernachtete.<br />
„Sie hätte auch fliehen können,<br />
aber sie sagte, dass sie ohne mich<br />
nicht gehen würde“, erzählt er. Sie fuhr<br />
wieder zurück über die Grenze, und<br />
dort blieben sie gemeinsam. „Es war<br />
schwierig, mit mir als Mann eine Unterkunft<br />
zu finden“, sagt Artem. Ungefähr<br />
drei Wochen waren sie unterwegs, leb-<br />
18<br />
ten mal im Auto, eine Zeit lang in einer<br />
Wohnung. Artem, der eigentlich gerne<br />
reist, sagt mit einem müden Lächeln:<br />
„Ein Roadtrip kommt für lange Zeit<br />
nicht mehr infrage.“<br />
Eines Nachts, so erzählt er es, gingen<br />
mehrere Männer um das Haus, in<br />
dem sie schliefen. Suchten sie nach Verweigerern<br />
wie ihm? Sie hatten beide<br />
Angst und versteckten sich in der Wohnung.<br />
Das war der Moment, in dem Artem<br />
merkte, dass er sich vor seinem eigenen<br />
Staat versteckte, dass sein Land<br />
ihn nicht mehr akzeptierte. Und dass er<br />
irgendwie versuchen musste, über die<br />
Grenze zu gelangen.<br />
In diesen Wochen traf er einen<br />
Mann, der sagte, er sei Anwalt. Sein<br />
Rat war: „Flucht ist ein Menschenrecht,<br />
man kann es dir nicht verbieten.“<br />
Er bestärkte Artem, dass die Rechtslage<br />
nicht so eindeutig sei, wie die ukrainische<br />
Regierung vorgebe. „Ich wusste<br />
nicht, ob er recht hat, ich wusste nur,<br />
dass ich den Weg in die EU nicht ohne<br />
einen offiziellen Stempel beginnen<br />
wollte“, sagt Artem. Illegal in sein neues<br />
Leben starten, das wollte er nicht.<br />
Eines Tages erfuhr Artem von einem<br />
Ort, der sein Schlupfloch wurde:<br />
Beamte auf der anderen Seite der<br />
Grenze halfen ihm und seiner Frau<br />
beim Ausfüllen ihrer Einreisepapiere.<br />
Und dort bekam Artem auch den Ausreisestempel<br />
in seinen Pass, der für ihn<br />
zumindest etwas Sicherheit bedeutet.<br />
Man könnte meinen, Artem würde<br />
seitdem oft gefragt: „Warum bist du<br />
nicht geblieben? Warum verteidigst du<br />
dein Land nicht?“ Doch Artem sagt, das<br />
habe eigentlich niemand wissen wollen,<br />
alle hätten sie Verständnis gezeigt. Die<br />
Menschen, die sie in Rumänien trafen,<br />
oder die Vermieterin von ihrem Airbnb<br />
in Berlin. Manche meinten: „Es ist ein<br />
Wunder, dass du hier bist.“ Er musste
Wie geht Frieden?<br />
also all die Dinge gar nicht sagen, mit denen er jetzt<br />
erklärt, warum er trotzdem geflohen ist: „Es war schon immer<br />
meine Position, dass ich nicht kämpfen möchte. Ich<br />
glaube auch, ich wäre nicht gut darin. Es gibt viele andere,<br />
die darin ausgebildet sind. Ich habe gearbeitet, ich habe<br />
Steuern dafür gezahlt, dass mein Land möglichst gut vorbereitet<br />
ist. Das würde ich jetzt weiter gerne machen:<br />
arbeiten, um die Ukraine zu unterstützen. Und natürlich<br />
meine Familie. Was wäre aus ihr geworden ohne mich?<br />
Am besten helfe ich, wenn ich ihr helfe.“<br />
Eine Stunde ist vergangen, doch Artem hat seinen<br />
Kaffee nicht mal angerührt. Sobald er die Tasse anhebt,<br />
fällt ihm sofort noch etwas ein. Er weiß, er ist nicht der<br />
Einzige, der so denkt: Viele seiner Freunde hatten dieselben<br />
Gedanken, auch andere wollten fliehen, manche haben es<br />
wohl auch geschafft.<br />
Natürlich leide er mit den Menschen in seiner Heimat.<br />
Mit den Freund:innen, mit denen er regelmäßig telefonierte,<br />
für die er und seine Frau auch Medikamente organisierten,<br />
denen sie bei der Flucht halfen. Aber an diesem<br />
Nach mittag in Berlin wirkt es auch, als versuche er sich<br />
von seiner Heimat zu lösen. Vielleicht wäre er zurückgekehrt<br />
oder gar nicht erst geflohen, irgendwo in der Westukraine<br />
geblieben, hätte versucht von dort zu helfen. Aber<br />
so? „Ich gehöre diesem Land nicht“, dieser Gedanke begleitet<br />
ihn, seit er im Auto gen Westen die Nachrichten las.<br />
An etwas muss er sich aber noch gewöhnen, und zwar an<br />
die Behäbigkeit Berlins. Alles sei so langsam hier. „Ja, in<br />
Kiew geht alles viel schneller, die Läden sind immer geöffnet,<br />
sofort bekommst du alles, was du brauchst“, sagt er. Hier<br />
müssten sie zwei Wochen auf eine Bankkarte warten, ihr<br />
Deutschkurs beginnt im Mai. „Es ist eine komische Situation<br />
für mich, noch nie war ich ohne Arbeit und ohne Heimat“,<br />
sagt Artem. Pünktlich zum nächsten <strong>April</strong>regen verschwindet<br />
er in den Straßen von Berlin, einer unter vielen. •<br />
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Anna-Elisa Jakob beobachtet in diesen Wochen,<br />
wie sich Männer in ihrem Bekanntenkreis gegenseitig<br />
die Frage stellen: Würdest du kämpfen?<br />
Und oft ganz andere Antworten geben als gedacht.<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
Leichte Sprache:<br />
Es gibt den Text auch in Leichter<br />
Sprache. Scannen Sie den QR-Code<br />
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öffnet sich. Oder Sie gehen auf unsere<br />
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Hussam Al Zaher und<br />
Natalia Grote leiten<br />
die Textredaktion von<br />
Kohero, Sarah Zaheer<br />
(Bildschirm) betreut<br />
die Podcasts.<br />
Fluchtgeschichten<br />
aus der Ich-Perspektive<br />
Mit Geflüchteten sprechen, sie selbst schreiben lassen:<br />
Das Hamburger Magazin „Kohero“ macht vor, wie Berichterstattung<br />
über Flucht und Migration den Menschen gerecht wird.<br />
TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN, FOTOS: ANDREAS HORNOFF<br />
E<br />
ine Strandpromenade, es könnte<br />
Brasilien sein, auf dem Pflaster<br />
tanzt ein Paar – das Wandbild<br />
im Hinterhof der „Kohero“-Redaktion<br />
weckt Urlaubsstimmung. Drinnen aber<br />
wird gearbeitet. Chefredakteur Hussam<br />
Al Zaher (34) und Natalia Grote (24),<br />
Leiterin der Onlineredaktion, sitzen an<br />
einer Ecke des Konferenztisches, die<br />
Fensterfront zum Hof im Rücken, vor<br />
sich ein Laptop: Sarah Zaheer (25),<br />
Podcast-Chefin, hat sich per Video<br />
zugeschaltet.<br />
„Multivitamin ist etwas schwierig<br />
gerade“, berichtet sie. Der Podcast für<br />
Flucht, Migration und Zusammenhalt<br />
ist das zentrale Audioformat von Kohero,<br />
ein Gespräch zum Thema Racial<br />
Profiling ist angefragt, die Antwort lässt<br />
auf sich warten. Dafür gibt es einen anderen<br />
Beitrag für den Schwerpunkt<br />
„Männlichkeiten im Kontext von Migration<br />
und Flucht“. Natalia hat gute<br />
Nach richten, viele der ehrenamtlichen<br />
Redaktionsmitglieder haben Beiträge<br />
für Online angeboten, die Situation der<br />
geflüchteten Ukrainer:innen bewegt offenbar<br />
viele. „Und: Wir haben wahrscheinlich<br />
drei Tandems diesen Monat.“<br />
Drei Tandems, das heißt: Drei<br />
Menschen mit Flucht- oder Einwanderungserfahrung<br />
werden ihre Geschich-<br />
20<br />
ten veröffentlichen können, obwohl sie<br />
sich noch schwer tun mit der deutschen<br />
Sprache. Beim Worte finden helfen<br />
deutschsprachige Partner:innen und<br />
journalistische Profis, die ihnen zur<br />
Seite stehen. Neben der Printredaktion,<br />
dem Onlinemagazin und den Podcasts<br />
sind die Schreibtandems nur eines<br />
der Projekte von Kohero, doch ideell<br />
gesehen sind sie das Herzstück: Dank<br />
der Tandems können Menschen, die in<br />
Deutschland noch als fremd gelten,<br />
öffentlich für sich selbst sprechen, ihre<br />
Geschichte erzählen, ihre Meinung<br />
äußern – statt nur Gegenstand der<br />
Berichterstattung zu sein.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Wie geht Frieden?<br />
„Wir wollen eben nicht die persönlichen<br />
Geschichten in einer Masse<br />
untergehen lassen“, erklärt Sarah. Die<br />
Idee haben inzwischen auch größere<br />
deutsche Medien verinnerlicht: Flüchtende<br />
aus der Ukraine kommen häufiger<br />
als Individuen vor. Die Kameras<br />
stehen auf Augenhöhe und zeigen<br />
öfter Menschen statt Massen. Und sie<br />
werden gefragt. „Ich hätte mir gewünscht,<br />
dass auch schon in anderen<br />
Situationen mehr mit den geflüchteten<br />
Menschen gesprochen wird“, sagt<br />
Natalia. Zum Beispiel 2015, als die<br />
Schutzsuchenden gezeigt wurden, die<br />
sich auf die deutschen Grenzen zubewegten<br />
– auf genommen aus der Luft,<br />
verschmolzen zur anonymen Menge.<br />
Sarah und Natalia sahen die Bilder im<br />
Fernsehen. Hussam war damals einer<br />
der Flüchtenden.<br />
„Ex-Geflüchteter“ – so bezeichnet<br />
sich der syrische Chefredakteur von<br />
Kohero heute selbst. Denn geflüchtet<br />
zu sein, sei Teil seiner Geschichte, es<br />
habe ihn geprägt. „Flucht macht<br />
fremd“, sagt Hussam. „Aber was ich<br />
vor sechs Jahren war, beschreibt nicht<br />
meine Situation jetzt.“ Er hat es<br />
geschafft, Wurzeln zu schlagen in dieser<br />
neuen Erde namens Deutschland, er<br />
hat etwas aufgebaut.<br />
Die Redaktion<br />
legt Wert<br />
auf wechselnde<br />
Perspektiven.<br />
Schon in seiner Heimatstadt Damaskus<br />
arbeitete Hussam Al Zaher als Journalist.<br />
Als er in Hamburg anfing, deutsche<br />
Medien zu lesen, fiel ihm vor allem auf,<br />
was er dort nicht erfuhr: Kaum O-Töne<br />
von den Geflüchteten selbst, keine Erfahrungsberichte<br />
aus den Erstaufnahmestellen.<br />
Hussam, der damals selbst in<br />
einer Unterkunft wohnte, beschloss,<br />
diese Lücke zu füllen: Anfang 2017<br />
gründete er das „Flüchtling“-Magazin,<br />
zuerst online, ein Jahr später auch<br />
als Heft. „Wir wollen und können zusammenleben“,<br />
schrieb er in der ersten<br />
Printausgabe.<br />
Es lief gut für das Projekt. Das<br />
Team der Haupt- und Ehrenamtlichen<br />
wuchs, gestärkt von Partnern, die Werbeanzeigen<br />
buchten oder die Redaktion<br />
mit Fördermitteln unterstützten. Auch<br />
die Menschen, von denen das Magazin<br />
berichtete, kamen voran und wurden<br />
heimisch. Bald wirkte der Name unpassend:<br />
„Flüchtling“ reichte nicht mehr<br />
aus, um sie angemessen zu beschreiben.<br />
Im September 2020 erschien die fünfte<br />
Printausgabe unter dem Titel Kohero –<br />
das Wort für „Zusammenhalt“ in der<br />
internationalen Sprache Esperanto.<br />
Die Menschen, von denen bei Kohero<br />
zu lesen und zu hören ist, sind nie<br />
nur Migrant:innen. Samira Al Mobaied<br />
aus Paris gibt ein Interview als Friedensaktivistin,<br />
ist aber auch Wissenschaftlerin,<br />
Feministin und Ex-Mitglied des<br />
syrischen Verfassungsausschusses. Der<br />
14-jährige Amir Reza Hosseinzadeh<br />
wird als Ringkämpfer porträtiert, er ist<br />
aus Afghanistan geflohen und möchte<br />
Polizist werden. Und der Hamburger<br />
Said Haider ist nicht wegen seiner Herkunft<br />
interessant, sondern weil er als<br />
Jurist einen Chatbot gegen Diskriminierung<br />
erfand. Auch bei den Nachrichten<br />
legt die Kohero-Redaktion Wert auf<br />
wechselnde Perspektiven – die flüchtenden<br />
Ukrainer:innen kommen vor, aber<br />
auch die russischen Akademiker:innen<br />
und Fachleute, die infolge des Ukraine-<br />
Krieges ihr Heimatland verlassen.<br />
Facettenreichtum und Diversität<br />
sind bei Kohero oberstes Gebot. Wie<br />
sieht es im Redaktionsteam selbst aus?<br />
„Wir sehen das Problem, dass wir nicht<br />
ganz vielfältig sind“, sagt Hussam.<br />
Längst nicht alle haben eine Fluchtoder<br />
Migrationsgeschichte. Menschen<br />
ukrainischer Herkunft sind noch gar<br />
nicht dabei, auch wenn ihre Sprachkenntnisse<br />
und ihre Erfahrungen gerade<br />
sehr wichtig wären. Allerdings: Fast<br />
alle bei Kohero arbeiten pro bono.<br />
Das grenzt den Kreis ein, erklärt<br />
Hussam: Ein Ehrenamt müsse man<br />
sich leisten können. Viele Geflüchtete<br />
können das nicht.<br />
„Die Integration damals hat geklappt<br />
wegen der Ehrenamtlichen“,<br />
21<br />
sagt Hussam. Jetzt, gegenüber den<br />
Ukrainer:innen, sei die Hilfsbereitschaft<br />
sogar noch größer als die, die er 2015<br />
erlebte. Aber die Beweggründe seien<br />
dieselben. „Die, die damals geholfen<br />
haben, werden jetzt auch helfen“, sagt<br />
er. Das Team von Kohero zählt dazu:<br />
Dienstags und donnerstags sind geflüchtete<br />
Journalist:innen aus der Ukraine<br />
eingeladen, die Redaktionsräume<br />
kostenlos zu nutzen. Damit auch ihre<br />
Stimmen besser gehört werden. •<br />
Annabel Trautwein<br />
Annabel Trautwein hat sich<br />
früher, etwa in Syrien,<br />
ganz gern mal fremd gefühlt.<br />
Und versteht jetzt:<br />
Wer Fremdsein so erlebt,<br />
muss ganz schön privilegiert sein.<br />
annabel.trautwein@hinzundkunzt.de<br />
Kriegerischer als beim<br />
Dosenwerfen wird es bei „Kohero“<br />
nicht. Hier geht es viel mehr um<br />
das bessere Leben im Frieden.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Zahlen des Monats<br />
Klimaschutz<br />
Bus und Bahn<br />
für alle!<br />
22 Prozent<br />
ihrer Wege legen Menschen in Hamburg mit dem öffentlichen Nahverkehr<br />
zurück. Zum Vergleich: In Wien liegt der ÖPNV-Anteil am sogenannten<br />
Modal-Mix bei 30 Prozent, vor Corona waren es sogar 40 Prozent. Die<br />
30-Prozent-Marke will auch der Hamburger Senat erreichen – allerdings<br />
erst in acht Jahren: 2030 soll jeder Fahrgast innerhalb von fünf Minuten<br />
Fußweg eine Bus- oder Bahnhaltestelle erreichen können.<br />
Kurzfristig soll eine Maßnahme der Bundesregierung den Öffis zu neuer<br />
Popularität verhelfen: das Neun-Euro-Ticket, das ab Juni drei Monate lang<br />
erhältlich sein soll und bundesweit auch in Nahverkehrszügen gilt. Die preiswerte<br />
Monatskarte ist Teil eines Entlastungspakets, mit dem die Bundesregierung<br />
die Folgen explodierender Energiepreise abfedern will. Laut HVV<br />
sollen Neukund:innen davon gleichermaßen profitieren wie Abonnent:innen.<br />
Und das Ticket werde nicht nur per App oder Onlineshop erhältlich sein,<br />
so ein Sprecher, sondern „auch über analoge Vertriebswege“. Ob damit<br />
Schalter, Automat oder Busfahrer:innen (oder alle drei) gemeint sind, war<br />
bei Redaktionsschluss noch offen. Klar war hingegen, so der Sprecher:<br />
„Sie brauchen nur neun Euro, sonst nichts.“<br />
Ob das Drei-Monats-Super-Sparangebot Menschen längerfristig dazu<br />
bewegen wird, Bus und Bahn häufiger zu nutzen, ist fraglich: Erfahrungen<br />
deuten darauf hin, dass der Preis nur einer von vielen entscheidenden<br />
Faktoren ist. „Wenn die Intervalle zu groß sind, die Fahrzeuge alt und die<br />
Infrastruktur ebenfalls nicht attraktiv, dann nützt das beste preisliche<br />
Angebot nichts“, sagt Daniel Amann, Sprecher der Wiener Linien.<br />
Infolge der Coronapandemie hat der Nahverkehr zuletzt deutlich an Fahrgästen<br />
verloren – rund jede:r Vierte ist aufs Auto umgestiegen. Um die<br />
Defizite aufzufangen, hat der Senat im November 200 Millionen Euro<br />
Zuschüsse für den HVV bereitgestellt. Das Neun-Euro-Ticket wird dem<br />
Verkehrsverbund laut einer Hochrechnung 130 Millionen Euro Einnahmeausfälle<br />
bescheren, die der Bund übernehmen wird. •<br />
TEXT: ULRICH JONAS<br />
ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />
Mehr Infos unter: www.hvv.de<br />
23
Zweite Chance für<br />
„Höllenhunde“<br />
Problemhunde sind ihre Leidenschaft: Vanessa Bokr schult schwierige<br />
Tiere so, dass sie wieder im normalen Alltag zurechtkommen.<br />
Das geht nur mit viel Geduld und Konsequenz.<br />
TEXT: FLORIAN STURM<br />
FOTOS: EVGENY MAKAROV
Heike Bernhard-<br />
Gothe hat Rüde Max<br />
von der Hellhound<br />
Foundation adoptiert.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Reportage<br />
Oben: Vanessa Bokr gönnt sich eine Pause. Unten: Bei der Hellhound-Foundation<br />
landen Tiere, mit denen Besitzer:innen und Veterinärämter überfordert sind.<br />
A<br />
ls sich der Schäferhund bellend<br />
in die Leine stürzt, will<br />
Rüde Max kontern. Doch<br />
ehe er zurückpöbeln kann,<br />
holt Heike Bernhard-Gothe ihren vierjährigen<br />
Hund nah an sich heran, baut<br />
sich vor ihm auf, ermahnt ihn und animiert<br />
zum Weiterlaufen. Es klappt: Statt<br />
sich in die Situation hineinzusteigern,<br />
folgt ihr Max bei Fuß in den Wald.<br />
Leinenaggression. Wer einen Hund<br />
hat, kennt dieses Verhalten. Max ist allerdings<br />
ein sogenannter Problemhund.<br />
Oder er war es zumindest. Früher wäre<br />
er noch ausgerastet, hätte versucht, den<br />
Schäferhund anzugreifen, um anschließend<br />
auch noch seine Besitzerin anzugehen.<br />
Dass es jetzt anders läuft, ist vor<br />
allem Vanessa Bokr zu verdanken.<br />
Die 34-Jährige leitet die Hellhound<br />
Foundation: eine tierheimähnliche Einrichtung<br />
in Bispingen, gut eine Autostunde<br />
südlich von Hamburg. Hier<br />
kümmern sich Bokr und ihr Team<br />
um aktuell 52 „verhaltensauffällige<br />
Hunde“. Hunde, die aggressiv sind, die<br />
gebissen haben. Für solche Hunde ist<br />
die Hellhound Foundation oft die letzte<br />
Chance. Ohne das Team wären viele<br />
einge schläfert worden.<br />
Auch Max lebte knapp zwei Jahre<br />
bei den „Höllenhunden“, bevor er von<br />
Heike Bernhard-Gothe adoptiert wurde.<br />
Sein Vorbesitzer war Alkoholiker. Einen<br />
Tag liebte er den Hund, im Rausch<br />
misshandelte er ihn. Kein Hund lässt<br />
sich das ewig gefallen. Als der Halter<br />
Max am Fell packte und zu Boden<br />
drückte, biss der in Hand und Arm.<br />
Der Besitzer sperrte Max ein und rief<br />
die Polizei. Die schickte Bokr. „Als ich<br />
vor der Badezimmertür stand, hörte ich<br />
ein tiefes, aggressives Knurren. Ich<br />
öffnete die Tür einen Spalt, hielt eine<br />
Salami ins Bad, und als Max interessiert<br />
zum Fressen kam, konnte ich ihm problemlos<br />
eine Schlinge um den Hals<br />
legen und ihn mitnehmen“, erzählt Bokr.<br />
Bokr, herzlicher, hessisch-unverblümter<br />
Ton und die dunklen Haare zu<br />
einem Dutt zusammengebunden, ist<br />
anders, als es ihre zierliche Figur auf<br />
den ersten Blick erahnen lässt. Robuster.<br />
Rauer. Direkter. Auch bei Tieren ist<br />
sie unkonventionell. Hält sich als Kind<br />
Spinnen und Blutegel, Krähen, Ratten,<br />
Füchse und sogar ein verletztes Wildschwein.<br />
Nach dem Abitur die Frage:<br />
Was mache ich beruflich? Tiere, das ist<br />
klar. Doch fürs Studium zur Veterinärmedizinerin<br />
reicht der Notenschnitt<br />
nicht aus. Der Impuls für die Höllenhunde<br />
kommt 2004 während eines<br />
Tierarztpraktikums: Jack, ein Altdeutscher<br />
Hütehund, soll eingeschläfert<br />
werden, weil er seinen Besitzer gebissen<br />
hatte. Bokr adoptiert den Hund und<br />
stellt sich immer häufiger die Frage:<br />
Sind manche Tiere wirklich von Grund<br />
auf böse? Mittlerweile ist sie überzeugt:<br />
„Es gibt wütende, hilflose, verängstigte<br />
Tiere, die in einem Konflikt entsprechend<br />
handeln. Aber sie tun das nie mit<br />
vorsätzlich bösen Gedanken.“<br />
2011 lässt sich Bokr als Hundetrainerin<br />
zertifizieren und schließt im selben<br />
Jahr ihr Kynologie-Studium ab, eine Art<br />
Expert:innenlehrgang zu Rassenlehre,<br />
Zucht, Pflege, Verhalten und Erziehung<br />
von Hunden. 2015 gründet sie die<br />
Hellhound Foundation. Der Name ist<br />
eine Botschaft: Diese Hunde haben eine<br />
schwierige, oft traumatische Vergangenheit.<br />
Die bringen sie auch in einen<br />
neuen Haushalt mit. „Wir kurieren oder<br />
27
Wer sich der Hellhound Foundation<br />
nähert, wird von Bellen und Knurren begrüßt.<br />
Die meisten Tiere tragen einen Maulkorb.<br />
28
Reportage<br />
resozialisieren hier kein Tier, sondern<br />
bereiten die Hunde auf ein Leben<br />
außer halb unseres geschützten Settings<br />
vor“, sagt Bokr. Es geht nicht um<br />
„Sitz!“ und „Platz!“, sondern darum, die<br />
Tiere im Umgang mit Menschen zu<br />
schulen und ihre Frustrationstoleranz<br />
zu erhöhen.<br />
Das braucht Zeit. Deshalb wird jeder<br />
neue Höllenhund zunächst drei<br />
Monate nur beobachtet: Wie verhält er<br />
sich in der Gruppe? Was sind seine Probleme?<br />
Wie reagiert er auf Konflikte?<br />
Zu den Hunden, die in die Hellhound<br />
Foundation kommen, gehören Schäferhunde,<br />
Malinois, Pitbulls oder nervenschwache<br />
Straßenhunde mit besonders<br />
kurzer Zündschnur. Sie gut einschätzen<br />
zu können, ist wichtig. Auf viele Menschen<br />
wirke das lange Zuschauen befremdlich,<br />
sagt Bokr: „Aber hier kannst<br />
du nur mit Ruhe und Geduld arbeiten.<br />
Denn du stehst vor Problemen, an<br />
denen andere vor dir gescheitert sind.“<br />
Veterinärämter und Tierheime sind<br />
mit solchen Hunden oft überfordert. In<br />
der Kurzbeschreibung heißt es dann<br />
häufig nur: Hund aus schwierigen Verhältnissen.<br />
Das sei unfair den Leuten<br />
gegenüber, die einem Tier helfen wollen,<br />
aber keine fachgerechte Aussage bekommen.<br />
Und gefährlich, findet Bokr. Sie<br />
fordert neben gewissenhafteren Vermittlungen<br />
auch eine Reform der Ausbildung<br />
zum Tierpfleger: „Nach drei<br />
Jahren kennst du die Grundlagen über<br />
Katzen, Hunde und Reptilien – weißt<br />
aber nicht, wie ein Hund guckt, wenn er<br />
dich fressen will. Über spezielle Fortbildungen<br />
ließe sich dieses Problem lösen.“<br />
Wer sich ihrer Anlage nähert, hört<br />
lautes, heftiges Bellen. Knapp ein Dutzend<br />
Hunde, fast alle tragen Maulkorb,<br />
stehen angespannt vor dem Eingang.<br />
Doch schon ein paar Minuten später:<br />
Ruhe. Die Hunde dösen auf der Terrasse<br />
oder schmiegen sich an einen Mitarbeiter.<br />
Aggression und Gelassenheit,<br />
beide Pole symbolisieren den Alltag<br />
ebenso wie die Charaktere der Hunde.<br />
„Wir haben hier außergewöhnlich viele<br />
Tiere, die intelligenter sind und deutlich<br />
mehr infrage stellen als ihre Artgenossen.<br />
Aus den verschiedensten Gründen<br />
haben sie verlernt, in Stresssituationen<br />
angemessen zu reagieren. Deswegen<br />
sind sie hier. Doch kein Hund will per<br />
29
Seit 2015 leitet<br />
Hundetrainerin<br />
Vanessa Bokr die<br />
Hellhound Foundation.<br />
manent ganz oben stehen oder ist dauerhaft<br />
auf 180“, sagt Bokr. Sie und ihr<br />
Team wissen, wie man den Tieren am<br />
besten begegnet: mit Vehemenz, Konsequenz<br />
und zur Not der passenden Lautstärke.<br />
„Wer versucht, diese Tiere nur<br />
mit Liebe und Leckerlis zu erziehen, ist<br />
früher oder später auf dem Weg ins<br />
Krankenhaus“, sagt Bokr. Wehrt sich<br />
ein besonders schwerer Fall beim Anlegen<br />
des Maulkorbs, dem täglichen<br />
Abtasten nach Krankheiten oder einer<br />
notwendigen medizinischen Versorgung<br />
mit allen Kräften und will zuschnappen,<br />
helfe nur eins, erklärt Bokr: Das Tier an<br />
Hals und Taille am Zaun fixieren.<br />
Der Bedarf an Einrichtungen wie<br />
den Hellhounds ist hoch, das Angebot<br />
gering. So lebten 2019 fast 120 Hunde<br />
bei den Hellhounds. Zu viele, fand auch<br />
das Veterinäramt und verordnete, den<br />
Bestand zu verringern. Die Aufgabe gelang<br />
und das Team weiß heute: Etwa 50<br />
Hunde, mehr gibt die Anlage nicht her.<br />
Derzeit prüft das Team einen neuen<br />
Standort mit besserer Unterbringung,<br />
größerer Freifläche für die Hunde<br />
und einem offenen Trainingsraum: der<br />
Kulisse einer Wohnung, mit Küchenzeile,<br />
Wohn- und Arbeitsbereich, um<br />
die Hunde ganztags als Gruppe an das<br />
Leben mit Menschen zu gewöhnen.<br />
Knapp 800 Höllenhunde leben inzwischen<br />
wieder in „normalen“ Haushalten.<br />
Klappt es nicht, nimmt Bokr die<br />
Tiere ein Leben lang kostenfrei zurück.<br />
Doch das sei fast nie nötig.<br />
Das gilt auch für Max. Er ist Bernhard-Gothes<br />
erster eigener Hund. Sie<br />
wollte unbedingt einen aus dem Tierschutz<br />
und stieß auf die Hellhound<br />
Foundation. Einige Male geht sie mit<br />
30<br />
Max spazieren, nimmt ihn für zwei<br />
Wochenenden mit nach Hause. Der<br />
Maulkorb bleibt angelegt. Bedenken<br />
der WG-Mitbewohner, so einen<br />
Hund aufzunehmen, werden schnell<br />
ausgeräumt. Zumal Bokr für alle Vermittlungen<br />
kostenlose Beratungen und<br />
Trainingsstunden garantiert.<br />
Nur einmal, ganz am Anfang, prügelte<br />
sich Max mit einem anderen<br />
Hund. Dass der Rüde hin und wieder<br />
Mülltüten aufreißt, deutet eher auf<br />
Hundeflausen hin. Wenn Bernhard-<br />
Gothe arbeitet, bleibt er in einer Box.<br />
„Ich hätte nicht erwartet, dass das Zusammenleben<br />
mit einem Höllenhund<br />
so unaufgeregt und normal sein kann“,<br />
sagt die 37-Jährige. Auch der Umgang<br />
mit den Kindern in der WG bereitet<br />
keine Probleme. „Klar, du musst dir<br />
der Vergangenheit von Max immer be
Wie klingt<br />
Hamburg?<br />
Schüler:innenwettbewerb von<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong> und AUDIYOU<br />
ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />
Wie klingt für euch Hamburg?<br />
Welche Menschen und Orte gehören dazu?<br />
Wir sind gespannt darauf, was für Persönlichkeiten,<br />
Geschichten oder auch Klänge ihr findet.<br />
Macht unsere Stadt hörbar!<br />
Gestaltet aus den Ideen einen Hörbeitrag, egal<br />
in welcher Form. Das kann eine kleine Geschichte,<br />
eine Reportage, ein Hörspiel, ein Song, ein Interview<br />
oder etwas anderes sein. Hauptsache, es ist hörbar<br />
und nicht länger als vier Minuten.<br />
Wir sind gespannt darauf! Aus allen Einsendungen<br />
wählt eine Expert:innen-Jury ihre Favoriten und<br />
stellt diese bei einer großen Abschlussveranstaltung<br />
für alle Teilnehmer:innen im Juni <strong>2022</strong> vor.<br />
Dabei gibt es viele Preise zu gewinnen.<br />
Einsendeschluss:<br />
2. Juni <strong>2022</strong><br />
Mehr Informationen, Teilnahmebedingungen<br />
und das Anmeldeformular gibt es<br />
unter hinzundkunzt@audiyou.de oder<br />
bei Stephanie Landa, Tel. 040 – 46 07 15 38.<br />
wusst sein. Einmal Hellhound, immer Hellhound.<br />
Aber wenn wir lernen, die Signale von Hunden<br />
besser zu lesen und darauf vorbereitet sind, entsprechend<br />
zu reagieren, kann jeder mit einem Hellhound<br />
umgehen.“ •<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
Herausfordernde Hunde in Hamburg<br />
Auch der Tierschutzverein in der Süderstraße vermittelt<br />
Hunde an die Hellhound Foundation – zuletzt 2019.<br />
Sein Ziel: herausfordernde Hunde an geeignete Privatleute<br />
oder Tierheime weiterzugeben, bei denen auch<br />
Hunde, die in Hamburg auf der „Rasseliste“ stehen und<br />
nur mit Sondererlaubnis gehalten werden dürfen, bessere<br />
Vermittlungschancen haben. Derzeit gelten 38 der<br />
139 Tierheimhunde als „gefährlich“ im Sinne des Hamburger<br />
Hundegesetzes. Sie werden intensiv betreut und<br />
müssen vor Abgabe einen Wesenstest bestehen. SIM<br />
31<br />
HAMBURGER NEBENSCHAUPLÄTZE<br />
DER ETWAS ANDERE<br />
STADTRUNDGANG<br />
Wollen Sie<br />
Hamburgs City<br />
einmal mit<br />
anderen Augen<br />
sehen? Abseits<br />
der glänzenden<br />
Fassaden zeigen wir<br />
Orte, die in keinem<br />
Reiseführer stehen:<br />
Bahnhofsmission<br />
statt Rathaus und<br />
Tagesaufenthaltsstätte<br />
statt Alster.<br />
Sie können mit<br />
unserem Stadtführer<br />
Chris zu Fuß auf<br />
Tour gehen, einzeln<br />
oder als Gruppe<br />
bis 25 Personen.<br />
Auch ein digitaler<br />
Rundgang ist<br />
möglich. Das ist fast<br />
genauso spannend.<br />
Offener Rundgang am Sonntag, 8.5. und 22.5.22, jeweils 15 Uhr,<br />
sowie am 15. Mai um 12 und 15 Uhr.<br />
Reguläre Rundgänge bequem selbst buchen unter:<br />
www.hinzundkunzt.de/stadtrundgang<br />
Digitale Rundgänge bei friederike.steiffert@hinzundkunzt.de oder<br />
Telefon: 040/32 10 84 04<br />
Kostenbeitrag: 5 Euro/10 Euro<br />
pro Person
Intern<br />
HINZ&KUNZT N°351/MAI <strong>2022</strong><br />
Foto und Nummer<br />
Foto und Verkäufer:innennummer bleiben<br />
auch auf dem neuen Ausweis erhalten.<br />
Original<br />
Durch den<br />
Aufdruck<br />
„Original“ werden<br />
die Ausweise<br />
sicherer vor<br />
Fälschungen.<br />
901<br />
QR-Code<br />
Über den Code ist<br />
bei manchen<br />
Verkäufer:innen<br />
künftig bargeldloses<br />
Zahlen<br />
möglich.<br />
05/2025<br />
Neue<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Ausweise<br />
Als treue Leser:innen wissen Sie es vermutlich:<br />
Offizielle Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufer:innen erkennen Sie am<br />
Verkaufsausweis. Dieser erhält nun einen frischen Anstrich.<br />
Befristung<br />
Die Ausweise sind<br />
nun befristet gültig.<br />
W<br />
er Hinz&<strong>Kunzt</strong> verkaufen<br />
möchte, einigt sich<br />
mit uns auf bestimmte<br />
Verhaltensregeln: Etwa<br />
darauf, beim Verkauf keinen Alkohol<br />
zu trinken, die Kundschaft nicht zu<br />
bedrängen, bereitwillig Magazin und<br />
Wechselgeld herauszugeben und das<br />
Magazin nicht zum Betteln zu nutzen.<br />
Der sicherste Weg, um offizielle<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufer:innen zu erkennen,<br />
ist deshalb der Ausweis, den sie<br />
beim Verkauf gut sichtbar bei sich tragen.<br />
Auch das gehört zu den abgesprochenen<br />
Verhaltensregeln. Nun haben<br />
wir uns entschieden, dem Ausweis ein<br />
Update zu verpassen. Das hat mehrere<br />
Gründe.<br />
TEXT: LUKAS GILBERT<br />
FOTO: HINZ&KUNZT<br />
Die Ausweise sind von nun an mit einem<br />
QR-Code versehen. Damit<br />
werden Sie in einigen Monaten bei<br />
manchen Hinz&Künztler:innen Ihr<br />
Straßenmagazin auch bargeldlos bezahlen<br />
können. Diese Verkäufer:innen<br />
werden einen sichtbaren Hinweis tragen.<br />
Wir sind gespannt, wie das Experiment<br />
von Ihnen angenommen wird.<br />
Außerdem sind die Ausweise in<br />
Zukunft befristet. Sobald der Ausweis<br />
abläuft, ist das für uns ein Anlass, mit<br />
den jeweiligen Verkäufer:innen zu klären,<br />
ob sie noch auf uns angewiesen<br />
sind. Denn Hinz&<strong>Kunzt</strong> soll bestenfalls<br />
ein Sprungbrett sein und keine<br />
dauerhafte Lösung. Dabei berücksichtigen<br />
wir, dass manche diesen Sprung<br />
32<br />
nicht machen können. Etwa weil kein<br />
gesicherter Wohnraum, feste Arbeit<br />
oder Leistungsanspruch entstanden<br />
sind. Diese Menschen können natürlich<br />
weiterhin Hinz&<strong>Kunzt</strong> verkaufen.<br />
Die gewohnte, fett gedruckte Verkäufer:innennummer<br />
und das Foto bleiben<br />
auch auf den neuen Ausweisen erhalten,<br />
deren Vorder- und Rückseite<br />
übrigens identisch sind. Gültig ist der<br />
Verkaufsausweis nur im Originalzustand<br />
als Kunststoffkarte. Fotografierte, laminierte<br />
oder folierte Ausweise können<br />
Hinweise auf Fälschungen sein, die in<br />
der Vergangenheit leider immer wieder<br />
vorkamen. Das gilt auch, wenn der Aufdruck<br />
„Original“ auf dem Verkäuferfoto<br />
nicht mehr sichtbar ist. •
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Meldungen (1)<br />
Politik & Soziales<br />
Neubau<br />
Keine Lösung für Sozialwohnungskrise<br />
Viele sozial orientierte Vermieter:innen legen Neubauprojekte auf Eis. Das ist das<br />
Ergebnis einer Umfrage des Verbands norddeutscher Wohnungsunternehmen<br />
(VNW). Wegen finanzieller Risiken schätzen 86 Prozent die Aussichten als<br />
„schlecht“ oder „sehr schlecht“ ein, 60 Prozent wollen Bauvorhaben verschieben<br />
oder ziehen das zumindest in Betracht. Ursachen sind gestiegene Baupreise, Lieferprobleme<br />
bei Holz, Stahl und Dämmstoffen sowie Personalmangel, sagt VNW-<br />
Direktor Andreas Breitner. In der Folge dürfte die Zahl der Sozialwohnungen in<br />
Hamburg weiter sinken. Weil jedes Jahr Tausende Wohnungen aus der Mietpreisbindung<br />
fallen, wird von den derzeit 78.000 in Hamburg 2030 wohl nur die Hälfte<br />
übrig sein. Neu gebaut wurden vergangenes Jahr nur 1895 Sozialwohnungen. ATW<br />
•<br />
Behörde<br />
Bezirk rügt Bund wegen Dauerleerstand<br />
Fast jede vierte Wohnung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) in<br />
Hamburg steht leer. Das erklärte die Bundesbehörde auf Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Nachfrage.<br />
Es geht um 61 von 264 Wohnungen, so ein Sprecher: 37 seien „wegen ungeklärter<br />
Erbbausituation bzw. ungeklärtem Planungsrecht“ nicht vermietet, 17 befänden<br />
sich „in der Sanierungsplanung“ und 2 „in der Verkaufsplanung“. 5 weitere sollen<br />
„zeitnah“ vermietet werden. Wie das Hamburger Abendblatt zuerst berichtete, hat<br />
das Bezirksamt Altona die BImA wegen andauernder Leerstände und mangelnder<br />
Informationen gerügt. Gegenüber Hinz&<strong>Kunzt</strong> versprach die Behörde Besserung:<br />
Die Stadt sei Mitte <strong>April</strong> „über den Status der Leerstände und die geplanten<br />
Maßnahmen informiert worden“. Saniert werde frühestens ab Juli und dann bis<br />
Sommer 2023. Ursprünglich sollte die Sanierung 2021 starten. UJO<br />
•<br />
Diakonie<br />
Mehr Wohnungslose?<br />
Die Diakonie Schleswig-Holstein<br />
befürchtet aufgrund anhaltender<br />
Pandemie und zunehmender Lebenshaltungskosten<br />
steigende Wohnungslosenzahlen.<br />
Das sagte Landespastor<br />
Heiko Naß. Vergangenes Jahr nutzten<br />
mehr als 7800 Menschen die Diakonie-Angebote<br />
für Wohnungslose in<br />
Schleswig-Holstein – so viele wie im<br />
Vor-Pandemiejahr 2019. Zugenommen<br />
habe die Zahl derer, denen eine<br />
Zwangsräumung oder -versteigerung<br />
bevorsteht, oft infolge von Jobverlust<br />
oder Kurzarbeit. Zudem seien immer<br />
mehr Hilfesuchende psychisch krank.<br />
„Wir müssen dringend gegensteuern“,<br />
erklärte der Diakonie-Vorsitzende.<br />
Konkret fordert Naß mehr Geld für<br />
die Wohnungslosenhilfe, etwa für<br />
Prävention, und Einzelzimmer in<br />
Wohnunterkünften. Zudem müsse<br />
der Hartz-IV-Regelsatz deutlich<br />
erhöht werden. Beim Bau neuer, bezahlbarer<br />
Wohnungen stünden Land<br />
und Kommunen in der Pflicht. UJO<br />
•
„Was kommt?<br />
Daran will<br />
ich lieber<br />
nicht denken.“<br />
Am 30. <strong>April</strong> endete das diesjährige<br />
Winternotprogramm. Für die obdachlosen<br />
Marcelo und Laura, Gina und Daniel hat damit<br />
eine ungewisse Zeit begonnen. Eine feste<br />
Bleibe hat niemand von ihnen gefunden –<br />
als Perspektive bleibt nur die Straße.<br />
TEXT: SIMONE DECKNER, ULRICH JONAS<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE (S. 36), IMKE LASS<br />
Vor dem Winter schlief<br />
Gina (50) auf der Straße.<br />
Jetzt droht ihr wieder<br />
dasselbe Schicksal.
Stadtgespräch<br />
„Ich wünsche<br />
mir einen Ort,<br />
an dem ich nicht<br />
frieren muss.“ LAURA<br />
E<br />
in Montagnachmittag Anfang<br />
<strong>April</strong>, es schüttet wie aus<br />
Eimern. Der Wind drückt die<br />
nass und nasser werdenden<br />
Klamotten gegen die Haut, es ist genau<br />
die Art Hamburger Wetter, bei der man<br />
keinen Hund vor die Tür jagt. „Uns<br />
macht das nichts aus, das ist für uns ein<br />
ganz normaler Tag“, sagt Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />
Verkäufer Marcelo. Der 42-jährige Lette<br />
lehnt sich an einen Fahrradständer unter<br />
der S-Bahn-Brücke in Hammerbrook,<br />
hier regnet es nur seitlich herein. Büroangestellte<br />
hasten vorbei in ihren Feierabend,<br />
die Augen aufs Smartphone<br />
gepinnt. Kaum jemand nimmt Notiz<br />
von dem großen, schlanken Mann<br />
mit der Brille und seiner schüchtern<br />
wirkenden Begleiterin, die sich auf<br />
ihrem Rollator abstützt.<br />
Marcelo und Laura warten darauf,<br />
dass es 17 Uhr wird und sie wieder ins<br />
Winternotprogramm in der Friesenstraße<br />
hineingelassen werden. Noch<br />
haben sie eine Bleibe für die Nacht,<br />
gemeinsam mit gut 300 anderen Obdachlosen.<br />
Doch wenn der städtische<br />
Erfrierungsschutz Ende <strong>April</strong> schließt,<br />
stehen die beiden wieder auf der<br />
Straße. Auch die Sozialarbeiter:innen<br />
bei Fördern&Wohnen (F&W) konnten<br />
dem Pärchen bislang keine Wohnung<br />
vermitteln, berichtet Marcelo. Man<br />
35
Laura und Marcelo schliefen im Winter<br />
in der Notunterkunft in der Friesenstraße.<br />
habe ihnen gesagt, dass zwar theoretisch<br />
die Möglichkeit bestünde. „Aber<br />
zurzeit könnt ihr es vergessen“, habe es<br />
geheißen.<br />
„Das Winternotprogramm ist ein<br />
Erfrierungsschutz. Selbstverständlich<br />
werden dort keine Jobs oder Wohnungen<br />
vermittelt“, sagt F&W-Sprecherin<br />
Susanne Schwendtke. Dafür gebe es andere<br />
Einrichtungen des Hamburger<br />
Hilfesystems. „Unsere Mitarbeitenden<br />
nennen den obdachlosen Menschen die<br />
richtigen Stellen, an die sie sich wenden<br />
können, und helfen auch bei Terminvereinbarungen“,<br />
so die Sprecherin.<br />
„Perspektivberatung“ nennt sich das.<br />
Marcelo und Laura sehen für sich<br />
derzeit jedoch nur eine Perspektive:<br />
„Zeltchen auf bauen“, sagt Marcelo. Er<br />
checkt gerade ein paar Orte aus. Laura,<br />
die bisher während des gesamten Gesprächs<br />
geschwiegen hat, sagt jetzt auch<br />
etwas: „Ich wünsche mir nur einen Ort,<br />
an dem ich nicht frieren muss.“<br />
Ein Hotel als<br />
Notunterkunft<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufer Daniel schläft<br />
im ehemaligen Hotel in der Halskestraße<br />
in Billbrook, das die Stadt vergangenen<br />
Herbst angemietet hat. Hier<br />
gibt es Platz für rund 300 Obdachlose,<br />
die in Einzel- und Doppelzimmern<br />
mit eigenem WC und Dusche untergebracht<br />
sind. Eine gute Sache sei das,<br />
36<br />
sagt der Rumäne. Das findet auch<br />
Stephan Karrenbauer, politischer<br />
Sprecher von Hinz&<strong>Kunzt</strong>: „Dass die<br />
Stadt ein Hotel angemietet hat, um<br />
Obdachlose in Einzelzimmern unterzubringen,<br />
ist ein Quantensprung“,<br />
sagt er.<br />
Problematisch findet er jedoch,<br />
dass auch dort jede Nacht sehr viele<br />
obdachlose Menschen in einem Haus<br />
untergebracht werden: „Es tut niemandem<br />
gut, jeden Abend mit mehreren<br />
hundert Menschen zusammenzukommen,<br />
die sich in einer Extremsituation<br />
befinden. Ich glaube, die<br />
Konfrontation mit der eigenen Krise<br />
hindert viele daran, ins Winternotprogramm<br />
zu gehen“, so Karrenbauer.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Das Hamburger Winternotprogramm<br />
Rund 1030 zusätzliche Übernachtungsplätze hielt die Stadt<br />
vergangenen Winter für obdachlose Menschen bereit, darunter<br />
auch 100 Plätze in Containern bei Kirchengemeinden.<br />
Wie viele Menschen insgesamt den Erfrierungsschutz nutzten<br />
(2020/21: mehr als <strong>350</strong>0) und wie hoch die Anzahl jener<br />
ist, die in Unterkünfte oder Wohnungen vermittelt werden konnten,<br />
war bei Redaktionsschluss noch nicht bekannt. Die Auswertung findet<br />
immer erst nach Abschluss des Winternotprogramms statt. SIM<br />
Die Perspektivberatung hilft auch<br />
Daniel nicht wirklich weiter. „Ich habe<br />
keine Meldebescheinigung und kein<br />
Geld für Miete“, sagt der Obdachlose.<br />
Auf Nachfrage hätten ihm die<br />
Sozialarbeiter:innen gesagt: „Du musst<br />
dich um Papiere und Job selbst kümmern.<br />
Und dann um eine Wohnung.<br />
Dabei können wir dir nicht helfen.“<br />
F&W-Sprecherin Susanne Schwendtke<br />
möchte das ebenso wenig kommentieren<br />
wie die Schilderungen von Marcelo<br />
und Laura: „Wir können nicht überprüfen,<br />
ob und wenn ja, in welchem<br />
Zusammenhang unsere Mitarbeitenden<br />
sich so geäußert haben.“ Daniel würde<br />
sich gern neue Ausweispapiere ausstellen<br />
lassen, aber er hat kein Geld für die<br />
Fahrt nach Berlin. Also bleibt er in<br />
Hamburg. Und macht wieder Platte.<br />
Wohnunterkunft<br />
als Dauerzustand<br />
Was erst einmal gut klingt: 730 Obdachlose<br />
hat die Stadt 2020 und 2021<br />
aus dem Notprogramm in städtische<br />
Wohnunterkünfte vermitteln können.<br />
Aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor.<br />
Voraussetzung für einen Platz ist jedoch,<br />
dass die Betroffenen Anspruch<br />
auf Sozialleistungen haben. Und da fallen<br />
viele Zugewanderte raus, die sich<br />
mit Gelegenheitsjobs oder Betteln über<br />
Wasser halten. Angesichts von mindestens<br />
2000 Obdachlosen (laut Zählung<br />
2018) in Hamburg bedeutet das: Hunderten<br />
bleibt nach dem Ende des Erfrierungsschutzes<br />
wieder nur ein Leben<br />
auf der Straße. Und selbst wer das<br />
Glück hat, einen Platz in einer städtische<br />
Wohnunterkunft zu ergattern, ist<br />
damit noch lange nicht aus dem Schneider:<br />
Im Schnitt mehr als vier Jahre<br />
lang müssen Menschen in Hamburg inzwischen<br />
in einer Unterkunft leben –<br />
weil es keine bezahlbaren Wohnungen<br />
für sie gibt.<br />
Ein Winter<br />
im Container<br />
Gina hat den Winter in einem Container<br />
in Bahrenfeld verbracht. Die<br />
schlichten, weißen Baucontainer aus<br />
Wellblech gelten unter Obdachlosen als<br />
Jackpot im Winternotprogramm, weil<br />
sie, anders als die Großunterkünfte,<br />
mehr Privatsphäre bieten. Beim Kemenate<br />
Tagestreff für obdachlose Frauen<br />
erfuhr Gina davon. Rund 100 Plätze<br />
wurden dieses Jahr verlost, der Andrang<br />
war groß. Gina hatte „das erste Mal<br />
Glück im Leben“, wie sie sagt. Drinnen<br />
im Container hat sie ein Kalenderblatt<br />
aufgehängt, auf dem ein gut gebauter<br />
junger Kerl mit nacktem Oberkörper<br />
posiert. „Man muss es sich ja schön machen“,<br />
sagt sie lächelnd.<br />
Anfangs sei es nur etwas gewöhnungsbedürftig<br />
gewesen, dass die Toiletten<br />
in einem anderen Container untergebracht<br />
sind. Morgens traf sie bei<br />
ihrem Weg dorthin schon mal auf<br />
Passant:innen. „Das war fast so, als<br />
würde ich noch auf der Straße schlafen“,<br />
sagt Gina. Wenn man mit der gepflegten<br />
50-Jährigen spricht, fällt es<br />
schwer, sich dieses Bild vorzustellen.<br />
Doch Gina machte bis Ende August<br />
Platte: auf einer Yogamatte, die ihr<br />
jemand in der Bahnhofsmission geschenkt<br />
hat, schlief sie im hell erleuchteten<br />
Eingang einer Versicherung.<br />
Bei einem dampfenden Früchtetee<br />
im Container erzählt sie von der Zeit,<br />
in der ihr Leben in geregelten Bahnen<br />
verlief: Wie sie mit Anfang 20 in Siebenbürgen<br />
Maschinenbau studierte,<br />
aber nie in diesem Job arbeitete („als<br />
Frau war ich damals eine Exotin“), später<br />
auf einem Kreuzfahrtschiff anheuerte,<br />
ihren Mann traf, zwei Kinder bekam<br />
und ein normales Familienleben<br />
führte, bis ihre Beziehung zerbrach. Sie<br />
fing völlig neu an in Hamburg, arbeitete<br />
jahrelang als private Haushaltshilfe,<br />
bis plötzlich die Kündigung kam und<br />
sie ihre Wohnung nicht mehr halten<br />
konnte. „Ich bin dann 2012 wieder zurück<br />
nach Rumänien zu meiner Mutter<br />
gegangen“, sagt sie. 2021 kam sie erneut<br />
nach Hamburg – mit Aussicht auf<br />
einen neuen Job: „Aber daraus wurde<br />
nichts, wegen Corona“, sagt sie. „Ich<br />
bin erst von einem Sofa auf das nächste<br />
gezogen, ich kenne ja noch viele Leute<br />
hier“, sagt Gina. Aber irgendwann<br />
wollten alle ihre Privatsphäre zurück.<br />
Die hat Gina in ihrem Container. Bis<br />
auf ein paar Regeln – drinnen nicht<br />
rauchen, regelmäßig sauber machen –<br />
kann sie tun und lassen, was sie will. Sie<br />
hat ihren eigenen Schlüssel, muss nicht<br />
tagsüber raus wie die Obdachlosen in<br />
den Großunterkünften.<br />
Was aber auch Gina fehlt, ist eine<br />
Bleibe für die Zeit nach <strong>April</strong>: „Was<br />
kommt, daran will ich lieber gar nicht<br />
denken“, sagt sie und wirkt auf einmal<br />
sehr ernst. Am liebsten hätte Gina ihre<br />
eigene Wohnung. „Aber das wollen<br />
ja viele Leute in Hamburg“, sagt sie.<br />
Ein Antrag auf eine Umschulung zur<br />
Gesundheits- und Altenpflegerin läuft.<br />
Wenn sie dafür grünes Licht bekommt,<br />
könnte sie sich eine kleine Miete sogar<br />
leisten, anspruchsberechtigt wäre sie.<br />
Bis dahin heißt es erst einmal:<br />
weitermachen. Gina atmet tief durch:<br />
„Irgendetwas wird sich ergeben, das<br />
hoffe ich.“ •<br />
simone.deckner@hinzundkunzt.de<br />
37
In diesem<br />
ehemaligen Hotel<br />
waren im Winter<br />
Obdachlose<br />
untergebracht.<br />
Langsam tut sich was<br />
Um Obdachlosigkeit ernsthaft zu bekämpfen,<br />
muss das Hilfesystem dringend weiterentwickelt werden.<br />
Das passiert auch, aber es dauert.<br />
TEXT: BENJAMIN LAUFER<br />
FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
Endlich können auch in Hamburg<br />
Obdachlose ohne viele Vorbedingungen<br />
eine eigene Wohnung<br />
bekommen. Denn was in anderen Ländern<br />
und auch einigen deutschen Städten<br />
längst erfolgreich umgesetzt wird,<br />
soll nun auch hier erprobt werden:<br />
Housing First. Die Sozialbehörde hat<br />
Diakonie, Behrens-Stiftung und den<br />
evangelisch-lutherischen Kirchenkreis<br />
Ost mit einem dreijährigen Modellprojekt<br />
beauftragt und stellt dafür rund<br />
880.000 Euro zur Verfügung. Es soll im<br />
Juli starten, erste Wohnungen werden<br />
aber wohl frühestens zum Jahresende<br />
an Langzeitobdachlose vergeben – fast<br />
drei Jahre also, nachdem Rot-Grün sich<br />
im Bürgerschaftswahlkampf mit der<br />
Ankündigung des Projekts den Applaus<br />
von Fachleuten gesichert hat. In der<br />
Wohnungslosenhilfe gilt Housing First<br />
schon lange als moderner Ansatz zur<br />
Bekämpfung von Obdachlosigkeit, in<br />
den viele Hoffnungen setzen.<br />
Nun ist die Rede von intensiven Vorbereitungen,<br />
die man getroffen habe. Zur<br />
Wahrheit gehört aber wohl auch, dass<br />
die Prioritäten im Haus von Sozialsenatorin<br />
Melanie Leonhard (SPD) während<br />
der Pandemie oft andere waren als<br />
Housing First ist<br />
keine Antwort<br />
auf alle Fragen.<br />
die Weiterentwicklung der Obdachlosenhilfe.<br />
Zwar wurde für das zurückliegende<br />
Winternotprogramm erstmals<br />
ein komplettes ehemaliges Hotel gemietet<br />
und damit der Standard im Verhältnis<br />
zu anderen Notunterkünften<br />
deutlich angehoben. Die große Weichenstellung,<br />
die angesichts von zuletzt<br />
38<br />
geschätzten 2000 obdachlosen Menschen<br />
in unserer Stadt nötig wäre, war<br />
das aber nicht. Dabei wurde genau die<br />
versprochen: Bundesregierung und<br />
Bundesländer kündigten im Winter<br />
unisono an, Obdachlosigkeit bis zum<br />
Jahr 2030 überwinden zu wollen.<br />
Die Sozialminister:innen der Länder<br />
äußerten auch schon eine Idee, wie das<br />
gelingen soll: mit Housing First.<br />
Doch der genaue Weg zur Abschaffung<br />
der Obdachlosigkeit bleibt auch<br />
ein halbes Jahr nach der Verkündung<br />
dieses Ziels vage: Aus der Sozialbehörde<br />
heißt es, Hamburg werde an der<br />
Entwicklung des Nationalen Aktionsplans,<br />
den die Bundesregierung versprochen<br />
hatte, mitwirken. Der Erarbeitungsprozess<br />
für diesen Plan soll<br />
„noch in diesem Jahr starten“, heißt<br />
es aus dem zuständigen Bundesministerium<br />
für Wohnen.<br />
Dabei bräuchte es schon mehr als<br />
das Buzzword Housing First, wenn man
Stadtgespräch<br />
es ernst meint. Denn so vielversprechend es auch<br />
sein mag, Obdachlosen auf Augenhöhe zu begegnen<br />
und es ihnen nicht mit unnötigen Hürden schwer zu<br />
machen: Eine Antwort auf alle Fragen ist auch<br />
Housing First nicht. Vor allem bekommt mit diesem<br />
Ansatz nur eine Wohnung, wer Anspruch auf Sozialleistungen<br />
hat – zumindest nach den Hamburger<br />
Plänen. Für viele Menschen, die hier auf der Straße<br />
leben, gilt das nicht – weil sie aus dem Ausland stammen<br />
und hier nie eine reguläre Arbeit gefunden haben.<br />
Doch auch an sie hatten SPD und Grüne<br />
im Wahlkampf gedacht: Eine Pension für Arbeitssuchende<br />
aus dem EU-Ausland sollte her, in der<br />
ihnen der Neustart in Hamburg erleichtert werden<br />
soll. Dafür gab es damals ebenfalls Applaus –<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong> hatte bereits 2016 ein solches „Ankunftshaus“<br />
vorgeschlagen.<br />
Doch auch dieses Projekt verzögert sich, bislang<br />
ist man in der Behörde über „konzeptionelle Überlegungen“<br />
nicht hinaus. Neben Corona ist inzwischen<br />
eine weitere Herausforderung hinzugekommen, die<br />
Ressourcen bindet: der Krieg gegen die Ukraine und<br />
die vielen Geflüchteten, die deshalb nach Hamburg<br />
kommen. Bei den Grünen glaubt man, daraus Lehren<br />
ziehen zu können: Womöglich könnte eines der<br />
Hotels, in dem derzeit Geflüchtete untergebracht<br />
sind, für die geplante Pension genutzt werden, dies<br />
hofft die sozialpolitische Sprecherin Mareike Engels.<br />
Hamburg kann gleichwohl nicht alle Probleme<br />
alleine lösen, die sich mit der Zuwanderung aus EU-<br />
Ländern ergeben. Darauf weist SPD-Sozialpolitiker<br />
Iftikhar Malik hin. Es sei erfreulich, dass die Bundesregierung<br />
eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Problematik<br />
der Obdachlosigkeit von EU-Bürger:innen<br />
einrichten will, meint er. Hamburg werde sich „konstruktiv<br />
kritisch“ einbringen.<br />
Ein weiteres Projekt soll im kommenden Januar,<br />
ebenfalls verspätet, starten: eine eigene Notschlafstätte<br />
für junge Erwachsene ohne Wohnung. Auch<br />
die war bereits im Wahlkampf Thema. Wie auch die<br />
Verdopplung der Wohnungen, die im Rahmen des<br />
sogenannten „Stufe 3“-Projekts an Wohnungslose<br />
vergeben werden, auf jährlich 300. Die Ausschreibung<br />
dafür läuft noch, aber immerhin sind<br />
2021 schon 21 zusätzliche Plätze hinzugekommen.<br />
Beim Housing-First-Projekt sollen übrigens<br />
zunächst nur 30 Menschen in Wohnungen vermittelt<br />
werden. Bevor das Prinzip ausgeweitet wird, will<br />
man untersuchen, ob es auch in Hamburg so gut<br />
funktioniert wie in anderen Städten. Mit Ergebnissen<br />
ist vor 2024 kaum zu rechnen. Dann bleiben nur<br />
noch sechs Jahre für die vollständige Abschaffung<br />
der Obdachlosigkeit. •<br />
benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />
39<br />
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anzeigen@hinzundkunzt.de<br />
Unser Rat<br />
zählt.<br />
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Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°351/MAI <strong>2022</strong><br />
Meldungen (2)<br />
Politik & Soziales<br />
Die Diakonie beobachtet<br />
Abschiebungen am<br />
Flughafen – und weist<br />
auf Missstände hin.<br />
Diakonie-Beobachter<br />
Jede dritte Abschiebung problematisch<br />
41 von 122 der vergangenes Jahr von der Diakonie am Hamburger Flughafen<br />
beobachteten Abschiebungen waren „diskussionswürdig“. Das geht aus dem<br />
Jahresbericht des Flughafenforums hervor. Gesprächsbedarf gab es wegen fehlender<br />
Dolmetscher:innen, unzureichender medizinischer Versorgung oder unnötigem<br />
Einsatz von Zwangsmitteln. Der Anteil problematischer Abschiebungen stieg<br />
mit 33,6 Prozent deutlich: 2019 lag er noch bei 13 Prozent, 2018 bei 16 Prozent<br />
(2020 wurde wegen der Coronapandemie nicht dokumentiert). Dirk Hauer,<br />
Leiter des zuständigen Diakonie-Fachbereichs, kritisierte, dass auch während der<br />
Corona pandemie regelmäßig Menschen abgeschoben wurden. Zudem sei die Abschiebebeobachtung<br />
auf den Flughafen beschränkt: „Insbesondere die Abholung<br />
aus Unterkünften und Wohnungen sowie die Zuführung zum Flughafen sind nach<br />
wie vor eine Black Box.“ Das Projekt am Flughafen bezahlt die Stadt. UJO<br />
•<br />
Entlastungspakete der Bundesregierung<br />
Hartz-IV-Empfänger:innen und Rentner:innen profitieren kaum<br />
Sozialverbände haben die Entlastungspakete der Ampel als unzureichend und<br />
unausgewogen kritisiert. „Während Erwerbstätige einen Energiekostenzuschlag<br />
von 300 Euro erhalten, bekommen Leistungsberechtigte in der Grundsicherung<br />
gerade einmal 200 Euro“, sagte Jürgen Schneider von der Nationalen Armutskonferenz.<br />
Bei allein lebenden Rentner:innen decken die Entlastungen und Zahlungen<br />
gerade mal 9 Prozent der zusätzlichen Kosten durch steigende Energiepreise<br />
ab, so Berechnungen des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung.<br />
Die Verbände fordern mehr Hilfe für Einkommensschwache. UJO<br />
•<br />
Stromsperren<br />
Rot-Grün will etwas helfen<br />
703 Haushalten in Hamburg wurde in<br />
den ersten drei Monaten des Jahres<br />
der Strom abgeklemmt, so Stromnetz<br />
Hamburg. Vergangenes Jahr waren<br />
6821 Haushalte betroffen. Angesichts<br />
steigender Strompreise dürfte die Zahl<br />
der Betroffenen bald zunehmen. In einem<br />
Bürgerschaftsantrag fordern die<br />
Regierungsfraktionen den Senat nun<br />
auf, mit den Grundversorgern „Härtefallregelungen<br />
zur Vermeidung von<br />
Energiesperren zu diskutieren“. Zudem<br />
übernahm Rot-Grün eine Forderung<br />
der Linksfraktion: Eine Hotline<br />
beim Grundversorger Vattenfall soll<br />
Schuldnerberater:innen ermöglichen,<br />
Betroffenen schneller zu helfen. Ein<br />
Verbot oder zumindest Aussetzen<br />
von Energiesperren lehnen SPD und<br />
Grüne weiterhin ab. UJO<br />
•<br />
Senat<br />
Es gibt hier keine Bettelbanden<br />
„Gewerbsmäßige Bettelei“ ist kein<br />
Thema in Hamburg. Das erklärte der<br />
Senat auf CDU-Anfrage. Die hatte<br />
von „offenkundig organisierten<br />
Bettlern“ gesprochen – solchen, die<br />
nicht aus Not betteln, sondern zur<br />
„Gewinnerzielung“ oder gar für<br />
zwielichtige Hintermänner. Diese Art<br />
Bettelei wurde 2020 und 2021 „in<br />
keinem Fall“ festgestellt, so der Senat.<br />
Anders stellt sich ein Fall dar, den<br />
europä ische Ermittlungsbehörden<br />
im <strong>April</strong> aufdeckten: Kriminelle<br />
sollen Obdachlose und Alkoholkranke<br />
in Deutschland, Österreich,<br />
Ungarn und Rumänien gezwungen<br />
haben, für sie zu betteln. Zwei der<br />
elf Opfer seien so schlecht behandelt<br />
worden, dass sie verstarben, so<br />
Europol. 90.000 Euro und ein<br />
Kilo Goldschmuck wurden beschlagnahmt,<br />
vier Menschen festgenommen.<br />
BELA<br />
•<br />
FOTO: CARL PHILIPP SCHOPF<br />
40
Was Obdachlose<br />
wirklich brauchen,<br />
wissen Obdachlose<br />
am besten!<br />
Das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Insiderwissen<br />
Spezial <strong>2022</strong>: Ab Mitte Mai bei den<br />
Hinz&Künztler:innen Ihres Vertrauens.<br />
Neu!
Freunde<br />
HINZ&KUNZT N°351/MAI <strong>2022</strong><br />
Sven Knigge und Julia<br />
Jungclaus-Knigge haben<br />
mehr als 800 Euro für<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong> gesammelt.<br />
„Livemusik gibt Energie“<br />
Kann ein Wohnzimmerkonzert auch per Videoschalte funktionieren?<br />
Die Gäste von Sven Knigge und Julia Jungclaus-Knigge waren<br />
begeistert – und haben Geld für Hinz&<strong>Kunzt</strong> gespendet.<br />
TEXT: MISHA LEUSCHEN<br />
FOTO: MIGUEL FERRAZ<br />
E<br />
ndlich mal wieder richtig feiern,<br />
ausgehen, tanzen, gemeinsam<br />
Party machen: Nach zwei langen<br />
Jahren Pandemie war die Sehnsucht<br />
nach Normalität bei Sven und Julia riesig.<br />
„Zu Geburtstagen oder Weihnachten<br />
schenken wir uns immer gemeinsame<br />
Unternehmungen“, sagt der 42-Jährige.<br />
Mittlerweile stapelten sich die Event-<br />
Gutscheine und Tickets für Konzerte,<br />
die dann doch nicht stattfinden konnten.<br />
Die Stimmung war im Keller.<br />
Rettung kam in Form einer Einladung<br />
von Julias Arbeitgeber zu einem Online-<br />
Konzert des Singer-Songwriters Johannes<br />
Kieper. „Ein echtes Highlight!<br />
Weil wir uns alle kannten, funktionierte<br />
die Interaktion untereinander richtig<br />
gut. Die Musik war toll, alle hatten Spaß,<br />
die Kinder haben auf den Tischen getanzt“,<br />
erzählen die beiden. Bei Sven<br />
wuchs nach diesem Abend die Idee, Julia<br />
zu Weihnachten ein solches Konzert zu<br />
schenken, „mit allem Drum und Dran“.<br />
42<br />
Als erstes kontaktierte er den Musiker<br />
Johannes Kieper, dessen Musik den beiden<br />
beim Online-Konzert so gut gefallen<br />
hatte, und engagierte ihn für sein eigenes<br />
Online-Wohnzimmerkonzert.<br />
Dann stellte er eine Gästeliste mit 50<br />
Haushalten zusammen, entwarf und<br />
druckte durchnummerierte Tickets („Julia<br />
bekam natürlich die Nummer 1!“)<br />
und schrieb alle Eingeladenen persönlich<br />
an. Die Idee kam sehr gut an. „Wir<br />
haben einen globalisierten Freundes-
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
kreis, bis in die USA und Australien –<br />
da können sonst nie alle dabei sein“,<br />
sagt Julia. „Aber online schon!“<br />
Schon zu seinem 40. Geburtstag<br />
hatte Sven anstelle von Geschenken um<br />
Spenden für die Tagesaufenthaltsstätte<br />
Alimaus gebeten. Das Thema Obdachlosigkeit<br />
beschäftigt ihn. „Es wird immer<br />
schlimmer, und die Stadt geht es einfach<br />
„Die Stadt geht<br />
das Thema<br />
Obdachlosigkeit<br />
nicht an.“ SVEN KNIGGE<br />
nicht an. Das ärgert mich.“ Julia fragt<br />
sich, wieso es erst durch Corona möglich<br />
wurde, dass Hilfe für Obdachlose in größerem<br />
Umfang umgesetzt wurde: „Warum<br />
geht das sonst nicht?“ Mit dem<br />
Wohnzimmerkonzert wollten die beiden<br />
Freunde<br />
deshalb diesmal für Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
sammeln.<br />
68 internationale Gäste waren<br />
schließlich zugeschaltet, um Julias Konzert<br />
vom heimischen Sofa aus mitzufeiern.<br />
Johannes Kieper spielte in seinem<br />
eigenen Wohnzimmer, „mit tollem<br />
Equipment für den richtigen Sound“,<br />
sagt Sven bewundernd und Julia ergänzt<br />
lachend: „Ein rüschiges Sofa hat<br />
er auch hingestellt, sehr gemütlich!“<br />
Es wurde ein denkwürdiger Abend.<br />
„Livemusik gibt Energie“, findet Julia,<br />
und so tobten Kinder und Erwachsene<br />
über Sofas, es wurde gelacht, gesungen<br />
und mit Diskobeleuchtung getanzt.<br />
„Wir haben so lange mit Corona gekämpft,<br />
alle sind so müde und haben<br />
eigentlich keinen Bock mehr auf Videocalls“,<br />
sagt Sven. „Aber der Funke<br />
ist übergesprungen, die digitale Gemeinschaft<br />
hat funktioniert.“ Und für<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong> sind mehr als 800 Euro<br />
zusammengekommen. •<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
JA,<br />
ICH WERDE MITGLIED<br />
IM HINZ&KUNZT-<br />
FREUNDESKREIS.<br />
Damit unterstütze ich die<br />
Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />
Meine Jahresspende beträgt:<br />
60 Euro (Mindestbeitrag für<br />
Schüler:innen/Student:innen/<br />
Senior:innen)<br />
100 Euro<br />
Euro<br />
Datum, Unterschrift<br />
Ich möchte eine Bestätigung<br />
für meine Jahresspende erhalten.<br />
(Sie wird im Februar des Folgejahres zugeschickt.)<br />
Meine Adresse:<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Nr.<br />
PLZ, Ort<br />
Telefon<br />
E-Mail<br />
Dankeschön<br />
Einzugsermächtigung:<br />
Ich erteile eine Ermächtigung zum<br />
Bankeinzug meiner Jahresspende.<br />
Ich zahle: halbjährlich jährlich<br />
Wir danken allen unseren Spender:innen,<br />
die uns im <strong>April</strong> <strong>2022</strong> unterstützt haben,<br />
sowie allen Mitgliedern im Freundeskreis<br />
von Hinz&<strong>Kunzt</strong>! Ausdrücklich danken wir<br />
allen Spender:innen – kleine Beträge und<br />
große Beträge werden geschätzt!<br />
Auch unseren Unterstützer:innen auf<br />
Facebook: ein großes Dankeschön!<br />
DANKESCHÖN EBENFALLS AN:<br />
• wk-it-consultants GmbH<br />
• die Hamburger Tafel<br />
• die Obstmonster GmbH<br />
• Hanseatic Help<br />
• Axel Ruepp Rätselservice<br />
• die Hamburger Kunsthalle<br />
• Passage gGmbH<br />
• die Gäste der Trauerfeier<br />
für Jürgen Winzig<br />
• die Blindenwerkstatt H. Sieben<br />
• den Pop-up-Store von Ladage & Oelke:<br />
Herzlichen Dank für die tolle Zusammenarbeit<br />
an das Team mit Oliver Gress, Thomas<br />
Kuschel, Selma und Thomas Wegmann!<br />
• das Levantehaus: Danke für die kostenlose<br />
Überlassung eines Ladenlokals!<br />
NEUE FREUNDE:<br />
• Alexandra Callenberg<br />
• Linda Dielenschneider<br />
• Stefanie Engler-Walsh<br />
• Theresia Freund • Thomas Kloppe<br />
• Gerhard Martens<br />
• Peter Nahke<br />
• Ursula Radtke • Svenja Rostosky<br />
• Christina Seyd • Anna Striecks<br />
• Gudrun Wirsching<br />
IBAN<br />
BIC<br />
Bankinstitut<br />
Ich bin damit einverstanden, dass mein Name in<br />
der Rubrik „Dankeschön“ in einer Ausgabe des<br />
Hamburger Straßenmagazins veröffentlicht wird:<br />
Ja<br />
Nein<br />
Wir garantieren einen absolut vertraulichen<br />
Umgang mit den von Ihnen gemachten Angaben.<br />
Die übermittelten Daten werden nur zu internen<br />
Zwecken im Rahmen der Spendenverwaltung<br />
genutzt. Die Mitgliedschaft im Freundeskreis ist<br />
jederzeit kündbar. Wenn Sie keine Informationen<br />
mehr von uns bekommen möchten, können<br />
Sie jederzeit bei uns der Verwendung Ihrer<br />
personenbezogenen Daten widersprechen.<br />
Unsere Datenschutzerklärung können Sie<br />
einsehen unter www.huklink.de/datenschutz<br />
Bitte Coupon ausschneiden und senden an:<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Freundeskreis<br />
Minenstraße 9, 20099 Hamburg<br />
Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk<br />
43<br />
HK 351
Buh&Beifall<br />
HINZ&KUNZT N°351/MAI <strong>2022</strong><br />
Was unsere Leser:innen meinen<br />
„Eine Abschaffprämie für Autos wäre ungerecht.“<br />
Ungerechte Prämie<br />
H&K <strong>350</strong>: Abschaffprämie für Autos<br />
Genauso ungerecht wie die Abwrackprämie.<br />
Damals haben Menschen mit<br />
genügend Geld in der Tasche einen<br />
Bonus bekommen. Von der Abschaffprämie<br />
würden Menschen, die zentral<br />
leben, profitieren. Die meisten von ihnen<br />
haben sowieso schon ein E-Lastenbike.<br />
Etwas, das sich Menschen am<br />
Stadtrand, die in drei Schichten arbeiten<br />
und jeden Morgen um halb fünf beten,<br />
dass das Auto anspringt, meist nicht<br />
leisten können. <br />
@BETTINADOERFLINGER VIA INSTAGRAM<br />
sen, um dann größere Einfamilienhäuser<br />
zu bauen. Was für eine Verschwendung!<br />
@DON_VAN_VIN VIA INSTAGRAM<br />
Für die Enkel nachgebaut<br />
H&K 346: Ran an Herd und Spüle!<br />
Eure Bauanleitung für eine Spielküche<br />
gefiel meiner Frau und mir so gut, dass<br />
wir uns gleich an die Arbeit gemacht<br />
haben und ebenfalls einen alten Stuhl<br />
recycelt haben. Unsere Enkel freuen<br />
sich über ihr neues Spielzeug. <br />
ANDREAS HIRZ VIA MAIL<br />
Demütigung bei der Tafel<br />
H&K online: Extra-Tafel für Ukrainer:innen<br />
Mein ukrainischer Bekannter hat bei<br />
der Tafel mehrere Stunden in der Kälte<br />
gestanden. Es waren mehrere hundert<br />
Ukrainerinnen und Ukrainer dort. Er<br />
hat nichts bekommen, weil es einfach<br />
Verschwendeter Neubau<br />
H&K <strong>350</strong>: Umbauen statt neu bauen<br />
Gerade vor meiner Haustüre werden<br />
kleine, von der Bausubstanz her gut<br />
aussehende Einfamilienhäuser abgeriszu<br />
viele Menschen waren. Er ist Jurist<br />
vom Beruf und es kostet sehr große<br />
Überwindung, dort so lange zu stehen<br />
und es grenzt dann an Demütigung. <br />
ANNA KUCHENBECKER VIA MAIL<br />
Leerstand zu Wohnraum!<br />
H&K online: Housing-First-Konferenz<br />
Ich würde mir wünschen, dass deutlich<br />
beherzter gegen Leerstand und Verfall<br />
von Häusern vorgegangen würde. Wenn<br />
alle leer stehenden Wohnungen bewohnbar<br />
gemacht werden, können vermutlich<br />
etliche Familien aus zu engen Wohnungen<br />
raus und Wohnungslose von den<br />
Platten runter. KATJA SIEVERITT VIA FACEBOOK<br />
Leser:innenbriefe geben die Meinung der<br />
Verfasser:innen wieder, nicht die der Redaktion.<br />
Wir behalten uns vor, Briefe zu kürzen. Über Post<br />
an briefe@hinzundkunzt.de freuen wir uns.<br />
<br />
<br />
ANKER<br />
DES LEBENS<br />
Wünschen Sie<br />
ein persönliches<br />
Gespräch?<br />
Kontaktieren Sie<br />
unseren Geschäftsführer<br />
Jörn Sturm.<br />
Tel.: 040/32 10 84<br />
03 oder E-Mail: joern.<br />
sturm@hinzundkunzt.de<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong> bietet obdachlosen Menschen Halt. Eine Art Anker<br />
für diejenigen, deren Leben aus dem Ruder gelaufen ist. Möchten<br />
Sie uns dabei unterstützen und gleichzeitig den Menschen,<br />
die bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> Heimat und Arbeit gefunden haben, helfen?<br />
Dann hinterlassen Sie etwas Bleibendes – berücksichtigen Sie<br />
uns in Ihrem Testament! Als Testamentsspender:in wird Ihr Name<br />
auf Wunsch auf unseren Gedenk-Anker in der Hafencity graviert.<br />
Ein maritimes Symbol für den Halt, den Sie den sozial<br />
Benachteiligten mit Ihrer Spende geben.
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Unnachahmlich: Die Skulpturen von Erwin Wurm fallen ins Auge (S. 46).<br />
Umwege: Der neue Roman von Jens Eisel entstand nicht wie geplant (S. 54).<br />
Urgestein: Christian ist seit 19 Jahren bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> – und jetzt in unser Haus gezogen (S. 56).<br />
In der Oberhafenkantine findet zum<br />
zweiten Mal die Incorporating Art Fair statt.<br />
Mit der Kunstmesse wollen die<br />
Macher:innen zeigen, dass Kunst und<br />
Kultur sehr wohl systemrelevant sind.<br />
Weitere Infos finden Sie auf Seite 50.<br />
FOTO: JULLY ACUÑA
„Raus zu den<br />
Menschen will ich“<br />
Zum ersten Mal wird eine Skulptur des renommierten<br />
österreichischen Künstlers Erwin Wurm im öffentlichen Raum in Hamburg<br />
stehen. Das Besondere: Er hat sie Hinz&<strong>Kunzt</strong> geschenkt.<br />
TEXT: MISHA LEUSCHEN<br />
46
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Aus einem alten VW-Bus kreierte Erwin Wurm (rechts)<br />
2018 einen aufgeblähten Hot-Dog-Wagen und stellte ihn<br />
vor der New Yorker Skyline aus.<br />
FOTOS: S. 46: LIZ LIGON, S. 47: JONATHAN WONG<br />
PICTURE ALLIANCE / NEWSCOM<br />
F<br />
ür Erwin Wurm haben Essiggurken<br />
und Menschen viel gemeinsam.<br />
Beide sind individuell<br />
verschieden, aber doch klar<br />
erkennbar als das, was sie sind, findet<br />
der Künstler und porträtierte sich selbst<br />
auch schon mal kurzerhand als Essiggurke.<br />
Ist das Kunst?<br />
Für Erwin Wurm kann alles zur<br />
Skulptur werden. Nicht nur Essiggurken,<br />
auch Alltagsobjekte verfremdet<br />
und deformiert er in seinen Arbeiten:<br />
Pistolen sind verfettet, Häuser stehen<br />
Kopf, Autos sind aufgebläht, riesige Bananen<br />
fliegen durch Fußgängerzonen.<br />
Erwin Wurm stellt die Wahrnehmung<br />
infrage und öffnet neue Sinnesebenen.<br />
Nichts ist so, wie es scheint, unter der<br />
Oberfläche lauert die Überraschung.<br />
Sein Humor ist speziell, eher ironisch<br />
als schenkelklopfend, oft spitz<br />
und entlarvend, wenn er sich die Obsessionen<br />
der Gesellschaft vornimmt:<br />
Schlankheitswahn und Fettsucht, Mode,<br />
Werbung und Konsumkult, Kapitalismus<br />
und Umweltzerstörung spießt er<br />
auf und hält den Menschen den Spiegel<br />
vor. Damit wurde der 1954 geborene<br />
Österreicher zu einem der bedeutendsten<br />
Künstler seiner Generation, international<br />
anerkannt für seinen einzigartigen<br />
Zugang zur Skulptur – durch die<br />
Verwendung von Video und 3D-Drucker,<br />
mit Zeichnungen, Fotografien und<br />
Performances hat er sie neu erfunden<br />
und gleichzeitig zugänglicher gemacht.<br />
Erwin Wurm wechselt Genres und<br />
Themen, Materialien und Techniken –<br />
und so ändert sich auch der Blickwinkel<br />
auf die Gesellschaft. Mit seinen fotografisch<br />
dokumentierten „One Minute<br />
Sculptures“ hat er sich final beim Publikum<br />
und in der globalen Kunstszene<br />
etabliert. Betrachter:innen werden Teil<br />
seiner Kunst, wenn sie sich darauf einlassen<br />
und Wurms Handlungsanweisungen<br />
folgen: Menschen interagieren<br />
47
Weltweite Bekanntheit erlangte Erwin Wurm auch mit seinen „One Minute Sculptures“.<br />
Für die Zeitschrift „Vogue“ machte er 2009 Claudia Schiffer zur Skulptur.<br />
auf absurde Weise mit Putztüchern,<br />
Tennisbällen oder Milchtüten – für eine<br />
Minute werden sie auf diese Weise zur<br />
lebenden Skulptur. So entstehen Situationen,<br />
die irritieren, Staunen und Heiterkeit<br />
erzeugen.<br />
Die Zeit, die Gesellschaft und ihre<br />
Menschen, das sind seine ständigen<br />
Themen. Dabei verzweifelt er manchmal.<br />
Es fasst ihn an, „wie Menschen<br />
sich gegenseitig behandeln“, sagt er<br />
beim Telefoninterview. Gerade ist er in<br />
Belgrad, um eine große Retrospektive<br />
vorzubereiten. Das fordere ihn sehr,<br />
sagt er und klingt müde. Die Politik befinde<br />
sich in einem Zustand riesiger<br />
geistiger Schwäche: „Das ist fatal. Die<br />
Unersättlichkeit der Reichen ist doch<br />
krank. Ich bange um den Westen, der<br />
gleichgültig, labil und verlogen ist.“<br />
Mit Kritik ist er nicht zimperlich<br />
und weiß doch um seine privilegierte<br />
Situation. Dass er mit seiner Arbeit auskömmlich<br />
Geld verdient, erlaubt ihm<br />
ein unabhängiges Schaffen – und gibt<br />
ihm die Möglichkeit, sich sozial zu engagieren.<br />
„Das Geschäft läuft, mir geht’s<br />
gut“, sagt er. Schon häufig habe er<br />
Arbeiten an soziale Vereine gespendet;<br />
das ist ihm wichtig, denn nicht immer<br />
ging es ihm so gut wie heute und er kann<br />
sich in Notlagen einfühlen. „Ich finde es<br />
wichtig, ihre Arbeit zu unterstützen,<br />
auch monetär“, sagt er. „Ich weiß selbst,<br />
wie schnell zum Beispiel Künstler verarmen<br />
können. Das geht schneller, als man<br />
denkt, und es ist sehr schwer, dann<br />
wieder Fuß zu fassen.“ Er habe nicht gezögert,<br />
als Hinz&<strong>Kunzt</strong> ihn gefragt hat,<br />
ob er sich vorstellen könne, das Straßenmagazin<br />
mit einer Skulptur in Hamburg<br />
zu würdigen. Dass sich ein Straßenmagazin<br />
für seine Kunst interessiere, sei eine<br />
positive Überraschung gewesen: „Damit<br />
hatte ich noch keine Erfahrung.“<br />
Er entschied sich für die Bronzeskulptur<br />
„Der Direktor“. Stattliche 1,90<br />
Meter ist sie hoch: Lange dünne Beine,<br />
die in eleganten Schuhen und schnieken<br />
Hosenbeinen stecken, enden dort, wo<br />
der Körper beginnen sollte, in einer<br />
prallen Aktentasche. „Für mich ist das<br />
ein Mahnmal“, sagt Erwin Wurm. „Der<br />
Direktor ist nur an Monetärem interessiert<br />
und hält all seine Handlungen für<br />
entschuldbar, allen Menschen gegenüber.<br />
Nur der Profit steht im Vorder<br />
Gurken ziehen sich schon lange durch<br />
das Werk des Österreichers. Rechts: Bei<br />
der Biennale 2017 in Venedig konnten<br />
Besucher:innen Teil von Erwin Wurms<br />
Skulpturen werden.<br />
grund.“ Ihm gefällt die Vorstellung, dass<br />
Aktentaschenträger:innen auf den Straßen<br />
Hinz&Künztler:innen begegnen –<br />
und ihre Aktentaschen dabei manches<br />
Mal zum Spenden oder Magazinkauf<br />
aufgehen.<br />
In Hamburg waren seine Werke zuletzt<br />
2007 bei einer Retrospektive in<br />
den Deichtorhallen zu sehen. In einer<br />
Hamburger Privatsammlung ist Erwin<br />
48
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Kunst für<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>:<br />
Die 1,90 Meter hohe Bronzeskulptur<br />
„Der Direktor“ hat Erwin<br />
Wurm an Hinz&<strong>Kunzt</strong> gespendet.<br />
Im Laufe des Mai <strong>2022</strong> wird<br />
das Kunstwerk in Hamburg<br />
erwartet und nimmt dann seinen<br />
Platz im Erdgeschoss des<br />
Levantehauses in der Mönckebergstraße<br />
ein. Dort können<br />
Interessierte das Kunstwerk<br />
kostenfrei bestaunen.<br />
Weitere Infos zur Arbeit<br />
von Erwin Wurm unter:<br />
www.erwinwurm.at<br />
Die<br />
Großuhrwerkstatt<br />
Bent Borwitzky<br />
Uhrmachermeister<br />
Telefon: 040/298 34 274<br />
www.grossuhrwerkstatt.de<br />
Verkauf und Reparatur<br />
von mechanischen Tisch-,<br />
Wand- und Standuhren<br />
Wurm ebenfalls vertreten. „Der Direktor“<br />
ist nun eine Premiere: Er wird, für<br />
alle zugänglich, sein neues Zuhause im<br />
Levantehaus finden: für alle zugänglich,<br />
aber bewacht, denn Bronze ist teuer<br />
und weckt unerwünschte Begehrlichkeiten.<br />
Die Möglichkeit des direkten<br />
Kontakts, den der öffentliche Raum<br />
bietet, nutzt Erwin Wurm schon lange.<br />
In Belgien steht eine von ihm gestaltete<br />
futuristische Frittenbude, in Salzburg<br />
warten lebensgroße Essiggurken auf<br />
dem Gehweg auf Passant:innen. Auch<br />
Zeitschriften, Videoclips oder das Internet<br />
gehören für ihn zum öffentlichen<br />
Raum, „nicht nur der Platz vor dem<br />
Museum“, wie er sagt. „Immer raus zu<br />
den Menschen will ich!“ •<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
49<br />
FOTOS: WOLFGANG ZAJC (S. 48 OBEN), ULRICH GHEZZI<br />
(S. 48 UNTEN UND S. 49 OBEN), EVA WÜRDINGER (S. 49 UNTEN)<br />
IN DER RUHE<br />
QIGONG<br />
TAIJIQUAN<br />
MEDITATION<br />
LIEGT DIE KRAFT<br />
JETZT AUCH<br />
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www.tai-chi- lebenskunst.de<br />
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Hamburger Sparkasse<br />
IBAN: DE56 20050550 1280 167873<br />
BIC: HASPDEHHXXX
Kult<br />
Tipps für den<br />
Monat Mai:<br />
Sie werden viel zu<br />
erzählen haben!<br />
Kunstmesse<br />
Zeitgenossen im Oberhafen<br />
Das Oberhafenquartier hat sich beinahe<br />
schon etabliert – als Schauplatz für<br />
Kunst, Konzerte, Kulinarik abseits der<br />
üblichen Ecken und Adressen. Wer die<br />
holperige Stockmeyerstraße noch nicht<br />
kennt: Bei der Incorporating Art Fair<br />
sind in den ehemaligen Lagerhallen vier<br />
50<br />
Julia Maier, Weltraum, Acryl auf Papier und Leinwand, 2021<br />
Tage lang über 100 Künstler:innen aller<br />
Genres aus ganz Europa zu Gast. Julia<br />
Maier (Werk oben) aus Berlin verfremdet<br />
Fotos aus Zeitungen: „Die Kunst ist<br />
meine Art, mit der globalen Medienflut<br />
umzugehen und sie zu reflektieren.“<br />
Die meisten Künstler:innen sind persönlich<br />
anwesend. Gucken, schnacken<br />
und klar – kaufen darf man auch. •<br />
Oberhafenquartier, Stockmeyerstraße 43,<br />
Vernissage: Do, 5.5., 19 Uhr, Fr, 6.5. und Sa,<br />
7.5., jeweils 11–20 Uhr, So, 8.5., 11–18 Uhr,<br />
Ticket 15 Euro, Jugendliche unter 16 Jahren<br />
kostenlos, www.inc-artfair.info
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Ein Recht auf<br />
Bildung ist<br />
verankert im<br />
Artikel 26 der<br />
Allgemeinen<br />
Erklärung der<br />
Menschenrechte.<br />
Open Air<br />
Vielstimmige<br />
Sommer begrüßung<br />
Rund 60 Grundschüler:innen singen<br />
Pop und Rock in dem etwas anderen<br />
Kinderchor „Tiny Wolves“. Was ins<br />
Programm kommt, das entscheiden<br />
sie ganz banddemokratisch. Die zweite<br />
Hälfte des Sets übernehmen die<br />
Großen: Der „Hamburger Kneipenchor“<br />
schmettert Lieblingshits auf<br />
der Außenbühne am Lattenplatz. •<br />
Knust, Neuer Kamp 30, Fr, 6.5., 18 Uhr,<br />
Ticket 11,50 Euro, www.knusthamburg.de<br />
Ausstellung<br />
Wenn Kinder arbeiten müssen<br />
Ja, das gibt es auch heute noch – und man kann nicht oft genug darüber sprechen<br />
und hinsehen: ausbeuterische Kinderarbeit. Sie kommt auch hier in Deutschland<br />
an, über diverse Lieferketten, versteckt in Kosmetikprodukten, Elektrogeräten,<br />
Lebensmitteln, Kleidung. Ein Teufelskreis aus Armut und mangelnder Bildung,<br />
der für die Arbeitenden oft über viele Generationen hinweg besteht. Das Ausstellungsprojekt<br />
„Unser Alltag mit Kinderarbeit – von Auto bis Zucker“ möchte<br />
die Besucher:innen sensibilisieren für Produkte, in denen womöglich Kinderarbeit<br />
steckt. Die Fabrik der Künste zeigt es gemeinsam mit dem Kinderhilfswerk<br />
terre des hommes, deckt die teils korrupten Machenschaften einer globalisierten<br />
Industrie auf und lässt arbeitende Kinder persönlich zu Wort kommen. •<br />
Fabrik der Künste, Kreuzbrook 10, Fr–So, 1.5.–12.6., Eintritt frei, www.fabrikderkuenste.de<br />
Benefiz<br />
Lesung fürs Ledigenheim<br />
Zu Gast im Kleinen Michel ist im Mai<br />
Michael Göring. Er war bis Ende 2021<br />
Vorsitzender des Vorstands der „Zeit“-<br />
Stiftung und hat sich zudem einen<br />
Namen als Romanautor gemacht.<br />
„Dresden – Roman einer Familie“<br />
heißt sein neuer Titel, angesiedelt in<br />
der „Ostzone“ der Vorwendezeit. •<br />
Kleiner Michel, Michaelisstraße 5,<br />
Fr, 20.5., 19 Uhr, Spende erwünscht, Infos<br />
und Anmeldung: www.stiftungros.org<br />
FOTOS: JULIA MAIER / WELTRAUM / <strong>2022</strong> (S. 50), TERRE DES HOMMES (OBEN), HERBERT LIST (UNTEN)<br />
Triennale der Photographie<br />
„Das magische Auge“<br />
Das war der Spitzname des 1903<br />
in Hamburg geborenen Fotografen<br />
Herbert List. Und so betitelt auch<br />
das Bucerius Kunst Forum die umfangreiche<br />
Retrospektive über ihn.<br />
Bekannt aus seinem Werk sind vor<br />
allem die Männerakte: Bekenntnis<br />
zur Homosexualität und bildgewordene<br />
Träume einer lebendigen<br />
Antike. Dass List auch ein scharfsinniger,<br />
mutiger Chronist war, zeigen<br />
Bilder vom kriegszerstörten München,<br />
versuchten Kunstrauben kurz<br />
vor der Befreiung der Stadt durch<br />
die Amerikaner, aber auch aus seinen<br />
frühen Jahren in Hamburg und<br />
von vielen Reisen durch Europa. •<br />
Bucerius Kunst Forum, Alter Wall 12,<br />
ab Sa, 14.5. bis 11.9., täglich 11–19<br />
Uhr, Do bis 21 Uhr, Eintritt 9/6 Euro,<br />
www.buceriuskunstforum.de<br />
Mehrdeutig: das Foto einer Familie in<br />
Rom benannte List „Der Gehörnte“<br />
51<br />
Konzert<br />
1. Arp-Schnitger-Festival<br />
Hamburg würdigt das Schaffen des<br />
Orgelbaumeisters Arp Schnitger mit<br />
einem Festival. Zum Auftakt findet<br />
am 26. Mai das Eröffnungskonzert<br />
in der Hauptkirche St. Jacobi statt,<br />
mit Werken von Bach, Buxtehude,<br />
Praetorius und Weckmann. •<br />
Hauptkirche St. Jacobi, Jakobikirchhof<br />
22, Do, 26.5., 19.30 Uhr,<br />
Eintritt ab 14 Euro, www.jacobus.de<br />
Ausflug<br />
Alternative Hafenrundfahrt<br />
Wer wissen will, wie und ob Hafenwirtschaft<br />
und Umweltschutz zusammengehen,<br />
der sollte mit der Initiative<br />
„Rettet die Elbe“ über selbige<br />
schippern. Seit 40 Jahren gibt es die<br />
Alternative Hafenrundfahrt bereits.<br />
Abfahrten: freitags um 17 Uhr. •<br />
Anleger Vorsetzen/City Sporthafen,<br />
Vorsetzen 1, z. B. Fr, 27.5., Eintritt 12/<br />
14 Euro, www.hafengruppe-hamburg.de
Neo Soul<br />
Unter die Haut<br />
Ihr Vater ist Ire, ihre Mutter stammt<br />
aus Bangladesch, sie selbst zählt derzeit<br />
zu den spannendsten Stimmen der<br />
sich neu formierenden britischen Soul-<br />
Szene: Joy Crookes. Der Sound der<br />
Singer-Songwriterin wurde oft mit Amy<br />
Winehouse verglichen, sie selbst bezeichnet<br />
die Jazzpionierin Nina Simone<br />
oder Billie Holiday als ihre Vorbilder.<br />
Aber spätestens seit Veröffentlichung<br />
ihres Albums „Skin“ ist klar: Die<br />
22-Jährige muss sich keinen Vergleichen<br />
unterziehen. Sie schafft ihre eigenen<br />
Kategorien. Ihre Themen sind modern<br />
und im urbanen Kosmos verankert, ihre<br />
teils nostalgischen Songs spielen mit<br />
elektronischen Effekten. Sie positioniert<br />
sich selbstbewusst als Teil einer diversen,<br />
multiethnischen britischen Gesellschaft.<br />
Das macht Spaß, hat Tiefe und ist auch<br />
Hat Haarpracht und Stimmlage perfekt im Griff: Joy Crookes<br />
live ein Genuss, klanglich wie optisch.<br />
Unser Anspiel- und Videotipp: „Feet<br />
Don’t Fail Me Now“, zu finden auf den<br />
gängigen Social-Media-Kanälen wie<br />
Youtube. Herrlich bunt, man möchte<br />
Blumenketten basteln und dabei<br />
elegant tanzen. Letzteres, ob elegant<br />
oder nicht, geht bestens im Mojo. •<br />
Mojo Club, Reeperbahn 1, Sa, 21.5.,<br />
19 Uhr, Eintritt 26,10 Euro, www.mojo.de<br />
52
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Kinotipp des Monats<br />
Monster im<br />
Metropolis<br />
FOTOS: SONY MUSIC UK (S. 52), ARNO DECLAIR (OBEN), PRIVAT<br />
Theater<br />
Witz & Wahn<br />
Straßenfest<br />
Kommt vorbei!<br />
Das Stiftsviertel St. Georg jubiliert:<br />
Der 2017 gegründete Zusammenschluss<br />
der zwischen Berliner Tor,<br />
Steindamm, Lindenplatz und Lohmühlenpark<br />
ansässigen Institutionen<br />
und Stiftungen feiert das Miteinander<br />
mit einer Festwoche vom 6. bis 24.<br />
Mai. Einer der Höhepunkte ist das<br />
bunte Straßenfest am 15. Mai. Live-<br />
Musik, Lesungen, Stadtrundgänge,<br />
Workshops, das Programm ist bunt<br />
und richtet sich an junge und ältere<br />
Gäste zugleich. Das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />
Team ist natürlich mit dabei, lädt Kids<br />
zur interaktiven Lesung mit Verkäufer<br />
Jan und lässt von 12 bis 17 Uhr im<br />
Rahmen eines Tags der offenen<br />
Tür den Blick hinter die Kulissen zu.<br />
Außerdem zeigt Chris „Nebenschauplätze“<br />
beim Stadtrundgang. •<br />
Stiftsviertel St. Georg Straßenfest,<br />
Alexanderstraße, So, 15.5., 12–20 Uhr,<br />
Eintritt frei, www.stiftsviertel-stgeorg.de<br />
Wahrheit und Weltflucht:<br />
verbales Kräftemessen<br />
Im Rahmen des Hamburger Theaterfestivals bringt das Deutsche Schauspielhaus<br />
mit Anne Lenks Version von Molières „Der Menschenfeind“ ein echtes Highlight<br />
auf die Bühne. Das Stück brilliert mit eleganten Dialogen und erstklassiger<br />
Darstellerriege wie Ulrich Matthes oder Franziska Machens. Genüsslich werden<br />
die Mechanismen des menschlichen Miteinanders zerlegt – sinnlich, zornig.<br />
Worte können scharfe Waffen sein. •<br />
Deutsches Schauspielhaus, Kirchenallee 39,<br />
Di, 31.5., Mi, 1.6., jeweils 19.30 Uhr, ab 18/10 Euro, www.hamburgertheaterfestival.de<br />
Festival<br />
Macht mit!<br />
Livemusik, vegane Leckereien und<br />
Programm rund um junges Engagement,<br />
Stadtplanung sowie Naturund<br />
Klimaschutz: Das Festival<br />
„Asphaltsprenger“ will verschiedene<br />
Initiativen vorstellen und zum<br />
Mitmachen einladen. Mit dabei<br />
sind Andreas Dorau, die Jugend der<br />
Naturschutzorganisation BUND,<br />
das Bündnis Rettet Hamburgs Natur<br />
und die BürgerStiftung Hamburg. •<br />
Apshaltsprenger, Alter Recyclinghof/Alster-Bille-Elbe<br />
Parks, Bullerdeich 6, und<br />
Hochwasserbassin, Süderstraße 112,<br />
Sa, 21.5., 14–22 Uhr, Eintritt frei,<br />
www.tagderstadtnaturhamburg.de<br />
Über Tipps für Juni freuen sich<br />
Simone Rickert und Regine Marxen.<br />
Bitte bis zum 10.5. schicken an:<br />
kult@hinzundkunzt.de<br />
Die Monsterfilmplakate des<br />
Bahnhofskinos in Bad Bramstedt<br />
– der Stadt, in der ich<br />
groß geworden bin – waren<br />
die Highlights meiner Kindheit.<br />
„King Kong“, „Godzilla“,<br />
„Die fliegenden Monster<br />
von Osaka“,… Die Kombination<br />
aus Grusel, handgemachten<br />
Animationen und<br />
Action übte eine in der Retrospektive<br />
ziemlich schräge<br />
Anziehungskraft auf mich<br />
aus. Im Vergleich zu modernen<br />
Special-Effects-Blockbustern<br />
wirken die Filme der<br />
1950er- bis 1970er-Jahre in<br />
etwa wie eine Schulaufführung<br />
in rhythmischer Sportgymnastik<br />
gegenüber dem<br />
Cirque de Soleil. Doch was<br />
an Perfektion und Realismus<br />
fehlt, machen liebevoll krude<br />
Stories, Kreativität und absurde<br />
Dialoge wieder wett.<br />
Im Metropolis, einem der<br />
schönsten Kinosäle Hamburgs,<br />
kommen ab dem<br />
5. Mai zehn rare Klassiker<br />
des Science Fiction-, Gruselund<br />
Monster-Kinos auf die<br />
Leinwand. Darunter Merkwürdigkeiten<br />
wie „Doc Savage<br />
– Der Mann aus Bronze“<br />
oder Meisterwerke wie „Der<br />
weiße Hai“. Ein Begleitprogramm<br />
ergänzt die Filme.<br />
Für ein authentisches Gesamtbild<br />
wird das Metropolis<br />
mit alten Filmplakaten und<br />
den damals noch üblichen<br />
Aushangbildern dekoriert.<br />
Wer sich dafür dann doch<br />
nicht alt genug findet, der<br />
war auch nicht dabei. Damals<br />
– in den großen Zeiten<br />
der Bahnhofskinos. •<br />
André Schmidt<br />
geht seit<br />
Jahren für uns<br />
ins Kino.<br />
Er arbeitet in der<br />
PR-Branche.<br />
53
Leselounge<br />
#6<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Auf ein Getränk mit …<br />
Jens Eisel<br />
Der Autor trifft unsere Kolumnistin auf eine<br />
Orangen limonade und spricht über<br />
die Genese seines neuen Romans „Cooper“.<br />
Jens Eisel wirkt fast entschuldigend,<br />
als er mir gesteht, dass er<br />
gar kein Lieblingsgetränk habe.<br />
Meist trinke er Wasser. Wir sitzen<br />
in der „Torrefaktum Kaffeerösterei“ in<br />
Altona und bestellen weder Kaffee noch<br />
Wasser, sondern Orangenlimonade. Ein<br />
wenig freue ich mich darüber, sie ist einfach<br />
ein makelloser Durstlöscher.<br />
Dan Cooper, um den es in Jens<br />
Eisels neuem Roman „Cooper“ geht,<br />
hätte wohl anstelle von Orangenlimonade<br />
einen Bourbon Soda bestellt.<br />
Jedenfalls ist das eines der wenigen<br />
Dinge, die man über Cooper weiß. Das,<br />
und dass er Stunden nach dieser Getränkebestellung<br />
in einer Boeing 727<br />
aus dem Flugzeug sprang, nachdem er<br />
TEXT: NEFELI KAVOURAS<br />
FOTOS: IMKE LASS<br />
es zuvor entführt, ein Lösegeld von etwa<br />
200.000 US-Dollar erpresst hatte und<br />
dann für immer verschwand.<br />
Man mag kaum glauben, dass Eisel<br />
sich nicht einfach eine Krimigeschichte<br />
ausgedacht hat, aber tatsächlich ereignete<br />
sich der Fall 1971 in den USA.<br />
Dan Cooper hinterließ viele Fragen,<br />
Jens Eisel hat sie literarisch beantwortet.<br />
Beinahe vier Jahre hat er an seinem<br />
Roman gearbeitet, dessen Handlung<br />
sich lediglich über einen Tag erstreckt.<br />
Jens Eisel ist dafür nach Amerika<br />
gereist, hat den Ort unter der vermeintlichen<br />
Absprungstelle Coopers<br />
und den Flughafen besucht, von dem<br />
die Maschine startete, und er hat in<br />
Motels geschlafen, die genauso aus<br />
HINZ&KUNZT N°351/MAI <strong>2022</strong><br />
sahen wie man sie aus amerikanischen<br />
Serien kennt.<br />
In „Cooper“ ist Dan Cooper nicht<br />
die klare Hauptfigur, der Roman wird<br />
kaleidoskopisch aus der Sicht des Flugzeugentführers<br />
Cooper, einer Stewardess<br />
und einem Piloten erzählt. Um<br />
sich für diese Erzählperspektive zu entscheiden,<br />
musste Jens Eisel einen Umweg<br />
nehmen. Er begann den Roman so<br />
zu schreiben, wie er seine vorherigen<br />
erarbeitet hat: aus einer Perspektive, in<br />
diesem Fall der von Cooper – bis er<br />
schlagartig merkte, dass er nicht das erzählte,<br />
was ihn eigentlich literarisch interessierte:<br />
welche Auswirkungen das<br />
Ereignis auf mehrere Figuren hat. „Ich<br />
hatte schon etwa 100 Seiten geschrieben,<br />
als ich merkte, dass es so nicht<br />
funktionierte. Alles musste verworfen<br />
werden.“ Die Limo hat er schon zur<br />
Hälfte ausgetrunken, als mir Jens Eisel<br />
vom Gefühl des Scheiterns erzählt.<br />
„Das war ein krasser Moment. Ich war<br />
mir sicher, ich würde den Roman nicht<br />
mehr hinkriegen. Ich dachte, meine<br />
Karriere als Schriftsteller ist vorbei.“<br />
Normalerweise arbeitet Jens Eisel<br />
mit einem Plan, den er durchzieht.<br />
Aber der Umweg hatte auch etwas Gutes:<br />
„Ich zweifle oft daran, ob ich einen<br />
Text nicht hätte besser machen können.<br />
Bei dem Roman dachte ich mir aber<br />
am Ende: Das hast du ganz schön gut<br />
gemacht. Eben weil ich durch dieses Tal<br />
des Scheiterns gegangen bin.“<br />
Die Glasflaschen sind leer, als wir<br />
darüber reden, dass im Scheitern auch<br />
etwas Schönes liegen kann, wenn man<br />
die Angst davor beiseitelässt. Und ich<br />
freue mich jetzt schon darauf zu hören,<br />
welche ungeplanten Umwege Jens Eisel<br />
in Zukunft noch beim Schreiben begegnen<br />
werden. •<br />
Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />
Lesetipp:<br />
Das Buch, das Jens<br />
Eisel am häufigsten<br />
gelesen hat, ist wohl<br />
„Der alte Mann<br />
und das Meer“ von<br />
Hemingway. Vor allem<br />
den Sound findet er wahnsinnig gut.<br />
54
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Rätsel<br />
Städtebund<br />
im<br />
Mittelalter<br />
einen<br />
Werkstoff<br />
formen<br />
Null beim<br />
Roulette<br />
Narzissengewächs<br />
Drachenechse<br />
Bewohner<br />
von Laos<br />
kurz für:<br />
um das<br />
mehr als<br />
feucht<br />
Sucht<br />
eine der<br />
nach dem<br />
Gezeiten<br />
Mammon<br />
Teil der<br />
Tennisanlage<br />
langsamer<br />
amerik.<br />
Tanz<br />
binäre<br />
Einheit<br />
(EDV)<br />
1<br />
2<br />
3<br />
1<br />
m. Gegenströmung<br />
Entrichtung<br />
von<br />
Raten<br />
1<br />
2<br />
1<br />
4<br />
5<br />
8<br />
2<br />
7<br />
Wasserstrudel<br />
Stadt im<br />
westlichen<br />
Erzgebirge<br />
3<br />
3<br />
6<br />
5<br />
3<br />
Stadt und<br />
Provinz<br />
in Spanien<br />
2<br />
3<br />
7<br />
4<br />
4<br />
8<br />
fest<br />
gespannt,<br />
nicht<br />
schlaff<br />
1<br />
8<br />
6<br />
10<br />
Ungar<br />
Hanswurst,<br />
Possenreißer<br />
Fruchtäther<br />
Prachtstraße<br />
(franz.)<br />
5<br />
4<br />
8<br />
1<br />
9<br />
3<br />
argent.<br />
Staatsmann<br />
† 1974<br />
alkoh.<br />
Mischgetränk<br />
(engl.)<br />
Hauptstadt<br />
von<br />
Tibet<br />
ältester<br />
Sohn<br />
Noahs<br />
(A. T.)<br />
umgangssprachlich:<br />
Prügel<br />
Fluss<br />
durch<br />
München<br />
9<br />
AR0909-1219_3sudoku<br />
Stadt in<br />
den Niederlanden<br />
(Porzellan)<br />
älteste<br />
latein. Bibelübersetzung<br />
Araberhengst<br />
bei Karl<br />
May<br />
alter<br />
Klavierjazz<br />
(Kurzwort)<br />
sich<br />
Wissen<br />
aneignen<br />
angebl.<br />
Schneemensch<br />
im<br />
Himalaja<br />
Kosename<br />
einer<br />
span.<br />
Königin †<br />
Ort auf<br />
Ameland<br />
(Niederlande)<br />
ital.<br />
Klosterbruder<br />
(Kurzwort)<br />
Nadelbaum<br />
umgangssprachl.:<br />
Haarknoten<br />
scheußliches<br />
Verbrechen<br />
Schlussexamen<br />
an<br />
höheren<br />
Schulen<br />
knopfartiger<br />
Griff<br />
Note beim<br />
Doktorexamen<br />
deutsche<br />
Vorsilbe<br />
Füllen Sie das Gitter<br />
so aus, dass die Zahlen<br />
von 1 bis 9 nur je einmal<br />
in jeder Reihe, in jeder<br />
Spalte und in jedem<br />
Neun-Kästchen-Block<br />
vorkommen.<br />
Als Lösung schicken<br />
Sie uns bitte die farbig<br />
gerahmte, unterste<br />
Zahlenreihe.<br />
Lösungen an: Hinz&<strong>Kunzt</strong>, Minenstraße 9, 20099 Hamburg,<br />
per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.<br />
Einsendeschluss: 27. Mai <strong>2022</strong>. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Wer<br />
die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel einsendet, kann<br />
zwei Karten für die Hamburger Kunsthalle gewinnen oder eines von<br />
drei Taschenbüchern „SCHLUSS MIT LUSTIG – St. Pauli im Stillstand“ von<br />
Michael Pasdzior (Ludwig Verlag).<br />
Das Lösungswort des Dezember-Kreuzwort rätsels war: Nachtfrost.<br />
Die Sudoku-Zahlenreihe lautete: 863 457 219.<br />
6<br />
2<br />
7<br />
2<br />
8<br />
7<br />
7<br />
8<br />
9<br />
9<br />
6<br />
5<br />
4<br />
12193 – raetselservice.de<br />
10<br />
Impressum<br />
Redaktion und Verlag<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH<br />
Minenstraße 9, 20099 Hamburg<br />
Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50<br />
Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01<br />
E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de<br />
Herausgeber<br />
Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg<br />
Externer Beirat<br />
Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW Hamburg),<br />
Mathias Bach (Kaufmann), Dr. Marius Hoßbach (Korten Rechtsanwälte AG),<br />
Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),<br />
Karin Schmalriede (ehemals Lawaetz-Stiftung, i.R.),<br />
Dr. Bernd-Georg Spies (Spies PPP),<br />
Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)<br />
Geschäftsführung Jörn Sturm<br />
Redaktion Lukas Gilbert (lg, stellv. CvD; V.i.S.d.P. für den Titel, Inhalt,<br />
Gut&Schön, Freunde, <strong>Kunzt</strong>&Kult, Reportage), Annette Woywode<br />
(abi, CvD), Ulrich Jonas (ujo, V.i.S.d.P. für die Zahlen des Monats,<br />
Buh&Beifall, Momentaufnahme, Stadtgespräch), Benjamin Laufer (bela,<br />
V.i.S.d.P. für den Schwerpunkt und das Editorial), Jonas Füllner (jof),<br />
Simone Deckner (sim), Kirsten Haake (haa), Misha Leuschen (leu),<br />
Annabel Trautwein (atw) Regine Marxen (rem), Simone Rickert (sr),<br />
Anna-Elisa Jacob (aej)<br />
Online-Redaktion Benjamin Laufer (CvD), Jonas Füllner, Lukas Gilbert<br />
Korrektorat Christine Mildner, Kerstin Weber<br />
Redaktionsassistenz Cedric Horbach,<br />
Sonja Conrad, Anja Steinfurth<br />
Artdirektion grafikdeerns.de<br />
Öffentlichkeitsarbeit Sybille Arendt, Friederike Steiffert<br />
Anzeigenleitung Sybille Arendt<br />
Anzeigenvertretung Gerald Müller,<br />
Wahring & Company, Tel. 040 284 09 418, g.mueller@wahring.de<br />
Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 27 vom 1. Januar <strong>2022</strong><br />
Vertrieb Christian Hagen (Leitung), Gabor Domokos,<br />
Meike Lehmann, Sergej Machov, Frank Nawatzki,<br />
Sigi Pachan, Reiner Rümke, Marcel Stein,<br />
Eugenia Streche, Cornelia Tanase, Silvia Zahn, Janina Marach<br />
Spendenmarketing Gabriele Koch<br />
Spendenverwaltung/Rechnungswesen Susanne Wehde<br />
Sozialarbeit Stephan Karrenbauer (Leitung), Jonas Gengnagel,<br />
Isabel Kohler, Irina Mortoiu<br />
Das Stadtrundgang-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />
Chris Schlapp<br />
Das BrotRetter-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />
Stefan Calin, Fred Houschka, Mandy Schulz<br />
Das Team von Spende Dein Pfand am Airport Hamburg<br />
Stephan Karrenbauer (Leitung), Uwe Tröger,<br />
Klaus Peterstorfer, Herbert Kosecki<br />
Litho PX2 Hamburg GmbH & Co. KG<br />
Produktion Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />
Druck und Verarbeitung A. Beig Druckerei und Verlag,<br />
Damm 9–15, 25421 Pinneberg<br />
QR Code ist ein eingetragenes Warenzeichen von Denso Wave Incorporated<br />
Leichte Sprache capito Hamburg, www.capito-hamburg.de<br />
Spendenkonto Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
IBAN: DE56 2005 0550 1280 1678 73<br />
BIC: HASPDEHHXXX<br />
Die Hinz&<strong>Kunzt</strong> gGmbH mit Sitz in Hamburg ist durch den aktuellen<br />
Freistellungsbescheid bzw. nach der Anlage zum Körperschaftssteuerbescheid<br />
des Finanzamts Hamburg-Nord, Steuernummer 17/414/00797,<br />
vom 15.3.2021 für das Jahr 2019 nach § 5 Abs.1 Nr. 9 des Körperschaftssteuergesetzes<br />
von der Körperschaftssteuer und nach<br />
§ 3 Nr. 6 des Gewerbesteuergesetzes von der Gewerbesteuer befreit.<br />
Geldspenden sind steuerlich nach §10 EStG abzugsfähig. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist als<br />
gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH im Handelsregister beim<br />
Amtsgericht Hamburg HRB 59669 eingetragen.<br />
Wir bestätigen, dass wir Spenden nur für die Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
einsetzen. Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte<br />
weitergegeben. Beachten Sie unsere Datenschutzerklärung, abrufbar auf<br />
www.hinzundkunzt.de. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist ein unabhängiges soziales Projekt, das<br />
obdachlosen und ehemals obdachlosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe bietet.<br />
Das Magazin wird von Journalist:innen geschrieben, Wohnungslose und<br />
ehemals Wohnungslose verkaufen es auf der Straße. Sozialarbeiter:innen<br />
unterstützen die Verkäufer:innen.<br />
Das Projekt versteht sich als Lobby für Arme.<br />
Gesellschafter<br />
Durchschnittliche monatliche<br />
Druckauflage 1. Quartal <strong>2022</strong>:<br />
55.333 Exemplare<br />
55
Endlich mal<br />
auf Wolke sieben<br />
Viele Jahre hat Christian in Heimen und auf Platte verbracht.<br />
Nun lebt er im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Haus – und ist dort Teil einer Wohngemeinschaft.<br />
TEXT: ULRICH JONAS<br />
FOTOS: MIGUEL FERRAZ<br />
56
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Momentaufnahme<br />
I<br />
n diesen Tagen schwebt Christian<br />
auf Wolke sieben. Im Februar ist<br />
der 39-Jährige seiner neuen<br />
Freundin begegnet und hat sich<br />
verliebt bis über beide Ohren. Und<br />
dann hat es auch noch mit den eigenen<br />
vier Wänden geklappt: Kürzlich zog<br />
Christian ins Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Haus, ins<br />
letzte freie Zimmer einer Wohngemeinschaft<br />
ehemals Obdach loser (siehe Info-<br />
Kasten). Für den Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufer<br />
kam die Anfrage von Sozialarbeiter<br />
Jonas Gengnagel gerade zur rechten<br />
Christian mit Mitbewohner Markus<br />
im Wohnzimmer der 5er-WG<br />
Zeit: Aus dem Wohnheim, in dem er<br />
zuletzt gelebt hat, musste er nach drei<br />
Jahren raus, weil längeres Wohnen dort<br />
nicht vor gesehen ist. Nun hat Christian<br />
einen unbefristeten Mietvertrag und<br />
sagt: „Man muss auch mal Glück<br />
haben!“<br />
In knappen Worten erzählt der jugendlich<br />
wirkende Mann die traurige<br />
Geschichte seiner Kindheit:<br />
Als er zweieinhalb<br />
Jahre alt ist, geben seine<br />
Eltern ihn weg – „meine<br />
Mutter war manisch-depressiv,<br />
mein Vater Alkoholiker<br />
und Spieler.“ Es<br />
folgen Jahre in einer Pflegefamilie,<br />
über die Christian<br />
nicht groß reden will:<br />
„Da gab es nur Schläge.“<br />
Als Elfjähriger haut er das<br />
erste Mal aus dem verhassten<br />
Zuhause ab, danach<br />
immer wieder. Mit 16<br />
kommt er in ein Heim.<br />
Trotz aller Not gibt es<br />
auch schöne Momente:<br />
Als 16-Jähriger segelt<br />
Christian als sogenannter<br />
schwer erziehbarer Jugendlicher<br />
über den Atlantik.<br />
Er soll unter fachkundiger<br />
Anleitung fürs<br />
Urgestein: Schon seit<br />
19 Jahren ist Christian<br />
bei Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />
Leben geschult werden – und büxt in<br />
Mexiko erneut aus, obwohl ihm der<br />
Trip gut gefällt. „Ich war ein Idiot“,<br />
sagt der Hinz&Künztler rückblickend<br />
und grinst. „Und ich hatte das Abhau-<br />
Syndrom.“ Für ein paar Wochen lebt<br />
er bei Fischern, die ihn liebevoll bei<br />
sich aufnehmen. Dann kommt die Polizei<br />
und steckt ihn in Abschiebehaft.<br />
Der Heimatlose muss zurück nach<br />
Deutschland.<br />
Christian pendelt viele Jahre zwischen<br />
verschiedenen Städten, lebt in<br />
Berlin, Hannover, München und Hamburg.<br />
Mal schläft er in Obdachlosenheimen,<br />
mal bei einer Freundin, mal auf<br />
der Straße und mal im Knast. Vor 19<br />
Jahren kommt er zu Hinz&<strong>Kunzt</strong>, ein<br />
Verkäufer hatte ihm von dem<br />
Projekt erzählt. „Ich möchte ein normales<br />
Leben führen“, erzählt Christian<br />
im Oktober 2004 in einem Interview.<br />
Dass der Weg dorthin so schwer ist,<br />
weiß er damals noch nicht.<br />
Bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> habe er immer<br />
wieder Hilfe bekommen, sagt Christian<br />
rückblickend. Und die Möglichkeit,<br />
sich etwas Geld hinzuzuverdienen.<br />
FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE
Momentaufnahme<br />
HINZ&KUNZT N°351/MAI <strong>2022</strong><br />
Beim Musizieren<br />
auf dem E-Piano<br />
kommt Christian<br />
zur Ruhe.<br />
Tag der offenen Tür<br />
bei Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
Am Sonntag, den 15. Mai,<br />
öffnen wir zwischen 12 und<br />
17 Uhr unsere Türen in der<br />
Minenstraße 9. Die Aktion<br />
ist Teil von „Das Stiftsviertel<br />
jubiliert“ (siehe Seite 5).<br />
Um 12 und um 15 Uhr lädt<br />
H&K zum Stadtrundgang.<br />
„Ich will für<br />
meine Gesundheit<br />
kämpfen.“<br />
Jahrelang prägt vor allem die Heroinsucht<br />
sein Leben – bis er eines Tages<br />
Hilfe findet und ins Polamidon-Programm<br />
aufgenommen wird. Bis heute<br />
ist er auf die Ersatzdroge angewiesen<br />
und froh darüber, dass es sie gibt. Über<br />
Heroin sagt er nur: „Zum Glück brauch<br />
ich den Scheiß nicht mehr.“<br />
Es gehe seit einigen Jahren bergauf<br />
bei ihm, sagt Christian und scherzt:<br />
„Im Alter wird man ruhiger und weiser.“<br />
Er will es künftig gut machen, mit<br />
sich selbst und den anderen: Am Tag<br />
des Einzugs in die WG haben seine<br />
Freundin und er erst mal Pizza für die<br />
neuen Mitbewohner gebacken. Gerade<br />
hat er sein nächstes Vorhaben gestartet:<br />
zehn Tage Leben ohne Alkohol. Für<br />
jemanden, der gewöhnlich „an die zehn<br />
Bier“ pro Tag trinkt, ein gewaltiges Projekt.<br />
Doch Christian hat einen klaren<br />
Plan: „Ich will das loswerden und für<br />
meine Gesundheit kämpfen.“<br />
Wer zu seinem Glück aktuell noch<br />
fehlt, ist Luna. Luna ist eine Ratte und<br />
seit gut zwei Jahren Christians Begleiterin.<br />
Derzeit ist sie bei einem Bekannten<br />
untergekommen. Christian muss den<br />
Käfig, der verwaist neben seinem Bett<br />
auf dem Boden steht, noch umbauen,<br />
bevor das Tierchen einzieht. Luna ist<br />
nämlich schlau: Sie kann ihre Käfigtür<br />
selbstständig öffnen. Aber sie soll die<br />
neuen menschlichen Mitbewohner<br />
nicht erschrecken – eine freilaufende<br />
Ratte in der Wohnung ist schließlich<br />
nicht jedermanns Sache. „Ich will ja keinen<br />
Ärger“, sagt Christian.<br />
Einen Hund hat er schon gehabt,<br />
eine Katze und auch Mäuse. Letztere<br />
saßen einst wie heute Luna am liebsten<br />
auf Christians Schulter: „Ich liebe<br />
Tiere.“ Und weil das so ist und er so gut<br />
mit ihnen kann, hat Christian einen<br />
58<br />
Traum: Er möchte eines Tages als Tierpfleger<br />
arbeiten. „Das ist ein schöner<br />
Job.“ Wie das klappen kann? Er will<br />
demnächst mal beim Tierheim nachfragen.<br />
Vielleicht kann er dort ein Praktikum<br />
machen oder ehrenamtlich aushelfen?<br />
Christian spürt, er braucht eine<br />
Aufgabe, die ihn erfüllt: „Dann habe<br />
ich was um die Ohren und komme<br />
nicht auf dumme Gedanken.“ •<br />
ulrich.jonas@hinzundkunzt.de<br />
Christian und alle anderen<br />
Hinz&Künztler:innen erkennt man<br />
am Verkaufsausweis.<br />
3229<br />
05/2025
KUNZT-<br />
KOLLEKTION<br />
BESTELLEN SIE DIESE UND WEITERE PRODUKTE BEI: Hinz&<strong>Kunzt</strong> gGmbH,<br />
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Gerechtigkeit entsteht nicht, wenn<br />
uns alles gleich ist, sondern indem<br />
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