Hinz&Kunzt_354_August
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Das Hamburger<br />
Straßenmagazin<br />
Seit 1993<br />
N O <strong>354</strong><br />
Aug.22<br />
2,20 Euro<br />
Davon 1,10 Euro für<br />
unsere Verkäufer:innen<br />
So schaffen wir die<br />
Obdachlosigkeit ab
Editorial<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>354</strong>/AUGUST 2022<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Redakteur<br />
Lukas Gilbert im<br />
Gespräch mit dem<br />
Ex-Obdachlosen Viljo<br />
(Mitte), der in Helsinki<br />
eine Wohnung nach<br />
dem Housing-First-<br />
Konzept gefunden<br />
hat. Onni (rechts) ist<br />
Ansprechpartner für<br />
die Bewohner:innen.<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
wer durch die finnische Hauptstadt Helsinki schlendert, gerät ins Staunen:<br />
Anders als in vielen anderen Großstädten sind hier keine verelendeten<br />
Menschen auf den Straßen zu sehen. Verantwortlich dafür ist eine Sozialpolitik,<br />
die Obdach- und Wohnungslosigkeit möglichst bald abschaffen<br />
will und europaweit als Vorbild gilt. Ob und wie das mit Housing First<br />
gelingt und was wir von Finnland lernen können, lesen Sie in unserem<br />
Schwerpunkt.<br />
Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) hat uns besucht! Sie wolle<br />
die Stippvisite als Zeichen dafür verstanden wissen, dass sie das Thema<br />
Obdachlosigkeit ernst nehme, sagte die Ministerin. Sie ist verantwortlich<br />
dafür, einen Aktionsplan aufzusetzen, um Obdach- und Wohnungslosigkeit<br />
in Deutschland bis 2030 zu beseitigen. Das ist nämlich erklärtes Ziel<br />
von Bundesregierung und Europäischer Union. Wie das gelingen soll, hat<br />
sie uns im Interview erklärt. Wir werden die Umsetzung kritisch<br />
begleiten.<br />
Einen Blick zurück werfen wir in unserer Geschichte über Menschen,<br />
die die rassistischen Übergriffe in Rostock-Lichtenhagen, die sich<br />
in diesem Monat zum 30. Mal jähren, hautnah miterlebt haben. Ihre bedrückenden<br />
Schilderungen der Gewaltexzesse sind eine Mahnung, auch<br />
heute und morgen den Anfängen zu wehren.<br />
Welche Richtung Einzelne gesellschaftlichen Veränderungen geben<br />
können und wo sie an Grenzen stoßen, zeigt unser Porträt der Hamburger<br />
Künstlerin Hanadi Chawaf. Die gebürtige Syrerin thematisiert in<br />
ihren Arbeiten die Zeit des Arabischen Frühlings. Gemeinsam mit anderen<br />
Werken sind diese nun in einer Ausstellung zu sehen und zeigen, wie<br />
Street-Art die Proteste begleitet und dokumentiert hat.<br />
<br />
Viel Spaß beim Lesen!<br />
Ihr Ulrich Jonas<br />
Redaktion<br />
Schreiben Sie uns an: briefe@hinzundkunzt.de<br />
FOTOS SEITE 2: DMITRIJ LELTSCHUK (UNTEN), KATJA TÄHJÄ (OBEN)<br />
TITELFOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
2
Inhalt <strong>August</strong> 2022<br />
34<br />
Streitthema<br />
Stadttauben<br />
Stadtgespräch<br />
06 30 Jahre Rostock Lichtenhagen<br />
Rückblick auf das Unfassbare<br />
14 Männer in High Heels<br />
Aljosha Muttardi über queere Sichtbarkeit<br />
34 Die große Flatter<br />
Wie umgehen mit den vielen Tauben in der Stadt?<br />
28<br />
Im Interview:<br />
Bauministerin<br />
Klara Geywitz<br />
Obdachlosigkeit abschaffen<br />
20 Das System auf den Kopf stellen<br />
Finnland setzt erfolgreich auf Housing First.<br />
28 Auf dem Weg zum Ende der Obdachlosigkeit?<br />
Bundesbauministerin Klara Geywitz im Interview<br />
32 Lasst uns loslegen!<br />
Ein Kommentar von Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Geschäftsführer Jörn Sturm<br />
Freunde<br />
40 Anstoß zum Spenden<br />
Peter Meyer ist neu im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Freundeskreis.<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
44 „Wie sollte ich schon rebellieren?“<br />
Hanadi Chawaf über Street-Art als Protestform<br />
50 „Tanz schafft Zugehörigkeit“<br />
Yolanda Morales und die Kraft des Tanzes<br />
52 Tipps für den <strong>August</strong><br />
56 Gartenkolumne: Wieso mein Garten Punkrock ist<br />
58 Momentaufnahme: Hinz&Künztler Dieter<br />
14<br />
Aljoscha Muttardi<br />
über queere<br />
Sichtbarkeit<br />
Rubriken<br />
04 Gut&Schön<br />
10 Zahl des Monats<br />
12, 18 Meldungen<br />
42 Buh&Beifall<br />
57 Rätsel, Impressum<br />
06<br />
Vor 30 Jahren:<br />
Pogrome in Rostock<br />
Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk
Ausgezeichnete Kids<br />
Viele kreative Einsendungen machten es der<br />
Jury beim Hörwettbewerb von „Audiyou“ und<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong> nicht leicht. „Wie klingt Ham-<br />
burg?“ lautete die Aufgabe für Kinder und<br />
Jugendliche. Der Liebling der Jury war einstim-<br />
mig der Song der 1. Klasse des Regionalen<br />
Bildungs- und Beratungszentrums (ReBBZ)<br />
Billstedt. Ihr Beitrag „Ene mene Billstedt“ hat<br />
das Zeug zur Stadtteilhymne und landete auf<br />
dem 1. Platz. Ein Highlight der Preisverleihung<br />
in den Hamburger Bücherhallen am Hühner-<br />
posten waren die Klänge vom Kinder- und<br />
Jugendmandolinenorchester SOL (Foto) – ein<br />
kostenloses Musikangebot des Kulturladens<br />
St. Georg. ART<br />
ART<br />
•<br />
Weitere Infos: www.kulturladen.com, www.audiyou.de<br />
FOTO: DMITRIJ LELTSCHUK
Ein Plattenbau, drei Sonnenblumen<br />
an der Fassade, Feuer in<br />
den Fenstern. Ein betrunkener<br />
Mann mit eingenässter Jogginghose, die<br />
Hand zum Hitlergruß erhoben. Polizisten,<br />
die vor jugendlichen Schlägern fliehen.<br />
Die Tonspur dazu: Johlen, Pfiffe,<br />
„Deutschland den Deutschen“ und<br />
„Gleich werdet ihr geröstet“.<br />
Die Szenen sind bekannt, es sind<br />
Bruchstücke eines tagelangen Pogroms<br />
gegen obdachlose Roma und vietnamesische<br />
Arbeitsmigrant:innen in der jungen<br />
Bundesrepublik. Trotzdem bleibt<br />
auch heute unfassbar, was im <strong>August</strong><br />
1992 in Rostock-Lichtenhagen geschah.<br />
Wieso stoppte niemand die<br />
Rechtsextremen, die Steine und Brandsätze<br />
auf wehrlose Menschen schleuderten?<br />
Wie konnten sich 3000 Schaulustige<br />
dazustellen, klatschen und<br />
jubeln? Während im Hochhaus Männer,<br />
Frauen und Kinder Todesangst erlitten,<br />
versorgten draußen Imbiss- und<br />
Getränkestände den Mob mit Bier und<br />
Wurst. 30 Jahre später blickt Deutschland<br />
mit Entsetzen zurück. Doch vieles<br />
bleibt ungeklärt.<br />
6<br />
„Roma werden aufgeklatscht“<br />
So kündigten es anonyme Informanten<br />
in der Ostsee-Zeitung an. Ziel der<br />
Rechten war demnach die Zentrale<br />
Aufnahmestelle für Flüchtlinge, kurz:<br />
ZAST, Hausnummer 18 des Sonnenblumenhauses<br />
an der Mecklenburger<br />
Allee. Sie war das einzige Aufnahmelager<br />
für Geflüchtete in Mecklenburg-<br />
Vorpommern, bis zu 300 Menschen<br />
lebten dort, viele aus Osteuropa. Im<br />
Sommer 1992 wurde die ZAST zum<br />
Ort vergeblichen Hoffens für Hunderte<br />
asylsuchende Familien aus Rumänien.
Rubrik<br />
Tagelang wüten Rechtsextreme<br />
1992 in Rostock-Lichtenhagen<br />
unter dem Beifall Schaulustiger.<br />
Alles Geschichte?<br />
Vor 30 Jahren versuchten Rechtsextreme in Rostock-Lichtenhagen, Hunderte<br />
Roma und Vietnames:innen zu töten. Viele sahen zu, klatschten Beifall, andere<br />
sahen weg. Bis heute ist nicht geklärt: Wie konnte es so weit kommen?<br />
TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN<br />
FOTOS: PICTURE ALLIANCE / ASSOCIATED PRESS<br />
Pauschal abgewiesen wurden sie ohne<br />
Schutz und Obdach alleingelassen. Wochenlang<br />
harrten die Geflüchteten im<br />
Freien aus. „Es war katastrophal“, berichtet<br />
ein rumänischer Geflüchteter in<br />
der Dokumentation „Die Wahrheit lügt<br />
(liegt) in Rostock“, die 1993 he rauskam.<br />
„Wir wurden erniedrigt, wir hatten<br />
Hunger. Und wir waren schmutzig. Wir<br />
wollten etwas Wärme und einen Platz,<br />
wo wir mit unseren Kindern bleiben<br />
konnten.“ Anwohner:innen, die das<br />
Elend nicht mehr ertragen, versuchen,<br />
die Behörden in die Pflicht zu nehmen.<br />
Doch bevor diese reagieren, bricht der<br />
Hass gegen die Schutzsuchenden los.<br />
Am Samstagabend, 22. <strong>August</strong>, starten<br />
rund 200 gewalttätige Rechte ihren Angriff.<br />
„Du wirst sehen, die Leute, die<br />
hier wohnen, werden aus den Fenstern<br />
schauen und Beifall klatschen“, zitiert<br />
die Ostsee-Zeitung einen Rechtsradikalen.<br />
Und so kam es.<br />
7<br />
„Die Dynamik irgendwie<br />
unterbrechen“<br />
„Lichtenhagen war nicht der Anfang“,<br />
sagt Peer. „Angriffe von Nazis gegen alternative<br />
Jugendliche, aber vor allem<br />
gegen Migrantinnen und Migranten,<br />
waren an der Tagesordnung.“ Peer, damals<br />
19, hatte seinen Freundeskreis im<br />
antifaschistischen Jugendalternativzentrum<br />
(JAZ) in Rostock. Auch die damals<br />
16-jährige Katja gehörte dazu. Beide<br />
werden nur mit Vornamen genannt –<br />
sie möchten mit ihrer Biografie nicht<br />
für alle, die diesen Text lesen, identifizierbar<br />
sein. „Wir haben zu keinem<br />
Zeitpunkt das Ausmaß der Pogrome<br />
und die historische Dimension absehen<br />
können“, sagt Katja. Aber dass die
Das Sonnenblumenhaus: Schauplatz<br />
der Pogrome (links). Vor der zentralen<br />
Erstaufnahmestelle in Rostock<br />
campieren Asylsuchende (rechts).<br />
rechte Szene in Lichtenhagen zuschlagen<br />
würde, sei schon lange vorher klar<br />
gewesen. Die Leute aus dem JAZ hielten<br />
sich bereit, riefen Freund:innen in<br />
anderen Bundesländern an, baten um<br />
Verstärkung. „Das Ziel war: Wir gehen<br />
da hin und intervenieren durch Masse.<br />
Wir wollten die Dynamik irgendwie unterbrechen“,<br />
erklärt Peer. Doch das war<br />
nicht einfach: Viele der zugereisten<br />
Antifaschist:innen kannten weder die<br />
Stadt noch ihre Mitstreitenden, Smartphones<br />
gab es noch nicht, zum Autofahren<br />
waren viele zu jung. Nicht alle<br />
hatten Erfahrung damit, Neonazis körperlich<br />
entgegenzutreten. Und sie waren<br />
zu wenige, die Rechten zu viele.<br />
Trotzdem versuchten die jungen Linken<br />
es am Sonntag erneut, mehrmals,<br />
bis in die Nacht hinein. „Es war stockduster,<br />
überall hat es geraucht, gebrannt,<br />
man hat nichts mehr gesehen“,<br />
erzählt Katja. Polizei habe sie nirgends<br />
sehen können. „Bürgerkrieg ist immer<br />
so ein hartes Wort. Aber von der Atmosphäre<br />
her, von der Angst her, die in der<br />
Luft lag und die man auch selber hatte...<br />
Wir waren 200 bis 300 und wir<br />
wussten ja: Am Tag standen da bis zu<br />
3000 Zuschauer und Applaudierende<br />
und wer weiß wie viele hart organisierte<br />
Nazis.“ Als die Antifaschist:innen eine<br />
spontane Gegendemo starteten, wurden<br />
sie selbst festgenommen – auch<br />
Katja und Peer. „Ich konnte es nicht<br />
glauben“, erzählt sie. „Ich wusste ja: Ich<br />
mache etwas total Richtiges.“ Als sie<br />
am Montag aus der Gefangenensammelstelle<br />
kamen, stand das Sonnenblumenhaus<br />
längst in Flammen.<br />
Die Rolle der Polizei: ungeklärt<br />
30 Polizisten gegen rund 2000 rechtsgesinnte<br />
Gewalttäter:innen und Sympathisierende<br />
– so sah die Einsatzlage aus,<br />
als die ersten Steine flogen. Wieso gelang<br />
es der Polizei nicht, das Pogrom zu<br />
stoppen? War es eine fatale Fehleinschätzung<br />
der Polizeiführung? Oder bewusstes<br />
Wegsehen? Rechtlich sind diese<br />
Fragen bis heute ungeklärt. Klar ist: Als<br />
sich die rechte Szene formierte, waren<br />
entscheidende Politiker und Beamte abwesend.<br />
Der Innensenator war ebenso<br />
im Wochenendurlaub wie der Rostocker<br />
Polizeidirektor und der Einsatzleiter<br />
– Letzterer hatte die Verantwortung<br />
an einen Kollegen übertragen, der noch<br />
in der Ausbildung war. Als der Einsatzleiter<br />
am Sonntag zurückkehrte, war<br />
die Lage schon eskaliert: Die Polizei,<br />
durchgehend in der Unterzahl, ließ sich<br />
von Neonazis verprügeln, zurückdrängen,<br />
schaffte es nicht, die Lage unter<br />
Kontrolle zu bringen. Wasserwerfer<br />
mussten vor jedem Einsatz erst aus<br />
8<br />
Schwerin herbeigerufen werden und erzielten<br />
kaum Wirkung, im Gegenteil:<br />
Die offensichtliche Machtlosigkeit der<br />
Polizei bescherte den Rechten einen<br />
Triumph. Es dauerte bis Montag,<br />
15 Uhr, die Geflüchteten aus der ZAST<br />
zu evakuieren. Als kurz darauf der Angriff<br />
auf das Wohnheim der Viet names:innen<br />
begann, hatte sich die Polizei<br />
vollständig zurückgezogen.<br />
„Uns schützen, wie auch immer“<br />
Von den ehemaligen vietnamesischen<br />
Vertragsarbeiter:innen möchte heute<br />
kaum jemand mit der Presse sprechen.<br />
„Sehr oft wurden Menschen, wenn sie<br />
öffentlich mit Namen über das Pogrom<br />
berichtet haben, anschließend verfolgt,<br />
verprügelt oder es wurde ihnen üble<br />
Nachrede vorgeworfen“, erklärt der<br />
Regisseur Dan Thy Nguyen. Für sein<br />
Theaterstück und Hörspiel „Sonnenblumenhaus“<br />
konnte der Hamburger<br />
mit einigen Betroffenen sprechen. Die<br />
Zeitzeug:innen berichten nahezu unkommentiert,<br />
wie sie den Brandstiftern<br />
und Schlägern entkamen. Dem Bild der<br />
wehrlosen Opfer in der Falle eines brennenden<br />
Hochhauses setzen sie ein anderes<br />
entgegen: Sie erzählen, wie sie<br />
sich organisierten, Etage für Etage evakuierten,<br />
unter höchster Kraftanstrengung<br />
die Zugangstür zum Dachaufgang<br />
und die stählerne Dachluke aufbrachen<br />
und letztendlich alle retten konnten.
Schnell<br />
schalten<br />
Anzeigen: 040/28 40 94-0<br />
anzeigen@hinzundkunzt.de<br />
„we had joy, we had fun,<br />
we had seasons in the sun“<br />
Terry Jacks<br />
Wie sie vergeblich an den Türen der deutschen<br />
Nachbar:innen klopften – „nur zwei Familien haben uns<br />
aufgemacht“, berichtet ein Zeitzeuge. Die Angst, das Entsetzen<br />
haben kaum Platz in den Erzählungen. Dafür<br />
kommen Hintergründe zur Sprache, die viel verraten<br />
über den Nährboden, in dem der Rassismus in Lichtenhagen<br />
wurzelte. „Wenn wir nur über das Pogrom sprechen,<br />
vergessen wir den Rassismus und die unmenschlichen<br />
Arbeitsbedingungen der Vertragsarbeiter:innen in<br />
der DDR. Das zu erzählen, war ihnen sehr wichtig“, erklärt<br />
der Regisseur. Allerdings seien viele der Überlebenden<br />
auch mürbe geworden. „Sie sagen selbst: ,Wir haben<br />
schon so viel geredet, und es verändert sich nichts.‘“<br />
Gedenken: Mehr als ein Ritual?<br />
Was sind die Lehren aus Lichtenhagen? Dan Thy Nguyen<br />
überlegt sehr lange. „Ich glaube, es gibt keinen Lerneffekt,<br />
weil es keine nachhaltige Erinnerungskultur gibt“, sagt er.<br />
Das Gedenken gleiche einem Ritual, aber es gebe keine<br />
Aufarbeitung. „Das ist gefährlich.“ Peer und Katja haben<br />
ebenfalls noch offene Fragen, auch zu ihrer eigenen Rolle.<br />
Aber sie sehen auch, dass die Ereignisse in Rostock nicht<br />
ganz folgenlos blieben. Bündnisse wie „Bunt statt Braun“,<br />
an denen sich unterschiedlichste zivilgesellschaftliche<br />
Gruppen beteiligten, hätten einiges bewirken können.<br />
„Das sind aus meiner Sicht die Lehren aus Lichtenhagen“,<br />
sagt Katja. „Wir hätten damals schon zusammenstehen<br />
müssen.“ • Annabel Trautwein fragte auch bei einem<br />
vietnamesischen Kulturverein nach Kontakt zu<br />
Zeitzeug:innen – und ahnte beim Seufzen ihrer<br />
Gesprächspartnerin, wie sehr das nerven muss:<br />
Zum Jahrestag meldet sich die Presse.<br />
annabel.trautwein@hinzundkunzt.de<br />
trostwerk.de ● andere bestaungen ● 040 43 27 44 11<br />
Anker<br />
des Lebens<br />
Wünschen Sie<br />
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Gespräch?<br />
Kontaktieren Sie<br />
unseren Geschäftsführer<br />
Jörn Sturm.<br />
Tel.: 040/32 10 84 03<br />
oder E-Mail: joern.<br />
sturm@hinzundkunzt.de<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong> bietet obdachlosen Menschen Halt. Eine Art Anker<br />
für diejenigen, deren Leben aus dem Ruder gelaufen ist. Möchten<br />
Sie uns dabei unterstützen und gleichzeitig den Menschen,<br />
die bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> Heimat und Arbeit gefunden haben, helfen?<br />
Dann hinterlassen Sie etwas Bleibendes – berücksichtigen Sie<br />
uns in Ihrem Testament! Als Testamentsspender:in wird Ihr Name<br />
auf Wunsch auf unseren Gedenk-Anker in der Hafencity graviert.<br />
Ein maritimes Symbol für den Halt, den Sie den sozial<br />
Benachteiligten mit Ihrer Spende geben.<br />
9
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Zahlen des Monats<br />
Trinkwasserspender<br />
Ein Tropfen<br />
auf den heißen Stein<br />
27<br />
öffentliche Trinkwasserspender gibt es in Hamburg: vier Trinkwassersäulen und<br />
23 Zapfhähne an Toilettenanlagen der Stadtreinigung. Bei 1,8 Millionen<br />
Einwohner:innen sind Trinkwasserstellen damit sehr rar gesät – dabei ist ein einfacher<br />
Zugang zu kostenlosem Wasser besonders für Obdachlose an Hitzetagen<br />
lebenswichtig. Bis 2027 sollen 27 weitere Toilettenanlagen mit einem Trinkwasserhahn<br />
ausgestattet werden, so die Stadtreinigung. Dann läge die Zahl der<br />
öffentlichen Wasserstellen bei 54. Zum Vergleich: In Wien, das fast genauso viele<br />
Einwohner:innen wie Hamburg hat, gibt es rund 1300 öffentliche Trinkwasserspender.<br />
Berlin hat immerhin 196 und München 60.<br />
David Kappenberg, Sprecher der Umweltbehörde, verweist darauf, dass die Trinkwasserversorgung<br />
über die Einrichtungen der Wohlfahrtspflege und Essensausgabestellen<br />
der Stadt „grundsätzlich sichergestellt“ werde, aber: „Es ist wichtig,<br />
das Trinkwasserangebot im öffentlichen Raum so zu verbessern, dass sich auch<br />
Personen ohne festen Wohnsitz noch besser als zurzeit kostenlos mit Wasser versorgen<br />
können.“ Bis Mitte Januar 2023 muss auch Hamburg eine EU-Richtlinie zur<br />
Wasserversorgung umsetzen. Städte werden darin verpflichtet, den Zugang zu<br />
Trinkwasser für die Bevölkerung zu verbessern und im öffentlichen Raum Trinkwasser<br />
im Innen- und Außenbereich bereitzustellen.<br />
Derweil versuchen ehrenamtliche Helfer:innen den Durst zu stillen. An heißen<br />
Tagen verteilen allein die Ehrenamtlichen der Bergedorfer Engel bis zu<br />
500 Wasserflaschen. „Wenn man die anderen Helfer:innen in der Stadt dazuzählt,<br />
kommt man ganz schnell auf 10.000 Flaschen und mehr“, sagt Gründer Thorsten<br />
Bassenberg.<br />
Die Karin und Walter Blüchert Gedächtnisstiftung koordiniert auch in diesem<br />
Jahr wieder die #hitzehilfe. Neben Verteilaktionen auf öffentlichen Plätzen wie<br />
der Reeperbahn werden Hamburger:innen per Social Media aufgerufen, an Hitzetagen<br />
morgens eine zusätzliche Wasserflasche mit aus dem Haus zu nehmen und<br />
sie einem Obdachlosen zu geben: „Eine kleine Geste, die Leben retten kann.“ •<br />
TEXT: SIMONE DECKNER<br />
ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />
Mehr Infos unter: www.huklink.de/wasserspender<br />
11
Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>354</strong>/AUGUST 2022<br />
Meldungen<br />
Auch am Fischmarkt wurde<br />
jüngst eine Obdachlose<br />
von ihrer Platte vertrieben.<br />
Vertreibung<br />
70 Obdachlosen-Schlafplätze geräumt<br />
Seit Jahresbeginn hat die Stadt mindestens 70 Obdachlosen-Platten räumen lassen.<br />
Das ergibt sich aus Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Recherchen und der Senatsantwort auf eine<br />
Bürgerschaftsanfrage der Linken. Die tatsächliche Zahl der Vertriebenen ist weitaus<br />
größer: Wie die vorliegenden Daten zeigen, verlassen Obdachlose in mindestens<br />
drei von vier Fällen ihre Platte, wenn ihnen eine Räumung angekündigt wird<br />
– deren Durchführung ist dann gar nicht mehr nötig. Bei vorsichtiger Hochrechnung<br />
sind allein in der ersten Hälfte dieses Jahres 280-mal Menschen in Hamburg<br />
von ihren Schlafplätzen vertrieben worden. Vollständige Zahlen lieferten allerdings<br />
nur drei Bezirke. Unisono erklärten die Ämter, die Betroffenen würden in<br />
mehrsprachigen Schreiben auf „alternative Übernachtungsmöglichkeiten“ und<br />
Hilfsangebote für Obdachlose hingeweisen. Sozialarbeiter:innen seien bei den<br />
Räumungen in der Regel nicht vor Ort, ebensowenig Dolmetscher:innen. UJO<br />
•<br />
Langzeitarbeitslose<br />
Ampel plant Kürzungen bei sozialem Arbeitsmarkt<br />
Die Bundesregierung will weniger Geld in Jobs für Langzeitarbeitslose investieren.<br />
Das geht aus aktuellen Haushaltsplänen hervor. Demnach sollen die sogenannten<br />
Leistungen zur Eingliederung in Arbeit von derzeit 4,8 Milliarden Euro<br />
auf 4,2 Milliarden in 2023 und 2,5 Milliarden in 2024 gekürzt werden. Das<br />
Bundesarbeitsministerium erklärte dazu, der pro Kopf zur Verfügung stehende<br />
Betrag sei kommendes Jahr trotzdem immer noch höher als im Vor-Corona-Jahr<br />
2019, da die Zahl der Leistungsberechtigten gesunken sei. Laut So zialbehörde<br />
sind seit Einführung des Teilhabechancengesetzes 2019 in Hamburg 1200 Menschen<br />
gefördert worden. Der Deutsche Gewerkschaftsbund erklärte, angesichts<br />
von gut 24.000 Langzeitarbeitslosen sei das „nicht so viel“. UJO<br />
•<br />
Energiesperren<br />
Moratorium gefordert<br />
Verbraucherschutzministerin Steffi<br />
Lemke (Grüne) will dafür sorgen, dass<br />
Strom- und Gassperren ausgesetzt<br />
werden, wenn die Energiepreise weiter<br />
steigen. Es dürfe niemandem „in<br />
solch einer Krisensituation der Strom<br />
oder das Gas abgestellt werden, weil<br />
er mit der Rechnung in Verzug ist“,<br />
sagte die Ministerin Mitte Juli in einem<br />
Zeitungsinterview. Der Sozialverband<br />
VdK Deutschland fordert einen<br />
Kündigungsschutz für Mieter:innen in<br />
Härtefällen: „Niemand darf seine<br />
Wohnung verlieren, weil Heizkosten,<br />
die oft Bestandteil der Miete sind,<br />
nicht beglichen werden können“, sagte<br />
VdK-Präsidentin Verena Bentele. In<br />
Hamburg wurde in den ersten sechs<br />
Monaten dieses Jahres 1791 Haushalten<br />
der Strom gesperrt und 35 das<br />
Gas. Im Vorjahr gab es 6821 Stromund<br />
138 Gassperren. UJO<br />
•<br />
Zweckentfremdung<br />
2610 Wohnungen stehen leer<br />
Derzeit stehen offiziell 2610 Wohnungen<br />
in Hamburg leer. Wie der Senat<br />
auf CDU-Anfrage weiter mitteilte,<br />
herrschen bei den Bezirksämtern erhebliche<br />
Erkenntnislücken. So können<br />
einige Ämter nichts darüber sagen,<br />
wie lange Wohnungen leer stehen oder<br />
aus welchen Gründen. Und Nord dokumentiert<br />
nur neue Fälle, erfasst aber<br />
nicht, wenn ein Leerstand beendet ist.<br />
CDU-Fachsprecher André Trepoll<br />
forderte von den Bezirken mehr Engagement:<br />
„Gerade vor dem Hintergrund,<br />
dass der Senat die Wohnungsbauziele<br />
im letzten Jahr erheblich<br />
verfehlt hat, ist es umso wichtiger, dass<br />
Bestandswohnungen nicht jahrelang<br />
leer stehen.“ Der Senat verwies darauf,<br />
dass die Leerstandsquote mit<br />
0,26 Prozent in keinem Bundesland so<br />
niedrig sei wie in Hamburg. UJO<br />
•<br />
FOTO: LEBEN IM ABSEITS E.V.<br />
12
Stadtgespräch<br />
Bundesverfassungsgericht<br />
Sozialverbände klagen gegen Grundsicherung<br />
Die Regelsätze für die bundesweit sieben Millionen Menschen,<br />
die von Hartz IV oder Grundsicherung im Alter<br />
leben müssen, sind verfassungswidrig. Denn sie sichern das<br />
Existenzminimum nicht mehr. Mit dieser Begründung<br />
wollen die Sozialverbände VdK und SoVD Klage beim<br />
Bundesverfassungsgericht einreichen. Ihr Argument:<br />
Steigen die Preise für Lebensmittel und Energie so extrem<br />
wie aktuell, dürfe der Gesetzgeber nicht auf die nächste reguläre<br />
Erhöhung der Grundsicherung warten. Berechnet<br />
wurden die derzeitigen Sätze zwischen Juni 2020 und<br />
Juli 2021, in Pandemiezeiten also. Damals war die Mehrwertsteuer<br />
reduziert worden, die Preisentwicklung niedrig.<br />
Mitglieder der Bundesregierung verwiesen zuletzt auf das<br />
geplante Bürgergeld und weitere Hilfspakete. AEJ<br />
•<br />
Studie<br />
Einkommensschwachen besser helfen<br />
Einkommensschwache Haushalte werden durch die Politik<br />
der Bundesregierung nur unzureichend entlastet. Das ist<br />
das Ergebnis einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung<br />
(DIW) für die Diakonie. Die Entlastungspakete<br />
würden zwar Wirkung zeigen, die existenzbedrohende<br />
Belastung der einkommensschwächsten Haushalte<br />
aber nicht ausgleichen. Die Diakonie Deutschland fordert<br />
bessere Hilfen: Stelle der Bundestag eine „Notlage von<br />
nationaler Tragweite“ fest, so ihr Vorschlag, sollten<br />
Hilfeempfänger:innen sechs Monate lang mindestens<br />
100 Euro monatlich zusätzlich ausgezahlt bekommen. UJO<br />
•<br />
Armutsbericht<br />
13,8 Millionen Deutsche sind arm<br />
Jeder sechste Mensch in Deutschland ist von Armut betroffen.<br />
Das zeigt der jüngste Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands.<br />
Demnach ist die Quote noch nie so rasant<br />
angestiegen wie in den vergangenen zwei Pandemie-<br />
Jahren. Bundesweit seien 13,8 Millionen Menschen von<br />
Armut betroffen, 300.000 mehr als im Vorjahr und<br />
600.000 mehr als vor Corona. In Hamburg liegt das<br />
Armutsrisiko mit 17,3 Prozent noch höher als im Bundesdurchschnitt,<br />
dort sind es 16,7 Prozent. Konkret wächst<br />
die Armut in Hamburg unter zwei Gruppen: Bei<br />
Rentner:innen, also Menschen über 65 Jahren, lebt heute<br />
schon fast jede:r Fünfte in Armut. Doch auch Erwerbstätige<br />
sind zunehmend betroffen. Unter Selbstständigen stieg<br />
das Armutsrisiko seit 2006 um 30 Prozent. AEJ<br />
•<br />
13<br />
ANTIKRIEGSTAG 2022<br />
ALLE KRIEGE<br />
BEENDEN!<br />
Für Waffenstillstand und<br />
Verhandlungen!<br />
Gegen Aufrüstung und<br />
Waffenlieferungen!<br />
Atomwaffenverbotsvertrag<br />
unterzeichen!<br />
Hamburger Forum für Völkerverständigung<br />
und weltweite Abrüstung e.V.<br />
www.hamburgerforum.org<br />
Demonstration<br />
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Stadtgespräch<br />
„Warum dürfen<br />
Männer nicht mal<br />
High Heels tragen?“<br />
Influencer, Arzt und Aktivist Aljosha Muttardi will, dass queere Menschen<br />
sich nicht mehr verstecken müssen. Ein Gespräch über Sichtbarkeit,<br />
Schwulen-Klischees und eine sensiblere Art, miteinander zu sprechen.<br />
INTERVIEW: SIMONE DECKNER<br />
FOTOS: IMKE LASS<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Das Doku-Format „Queer<br />
Eye“ läuft seit 2018 sehr erfolgreich<br />
beim Streaminganbieter Netflix. Darin<br />
kümmern sich fünf queere Menschen<br />
mit viel Herz um die kleinen und großen<br />
Probleme ihrer Mitmenschen. Dieses<br />
Jahr startete der deutsche Ableger, in<br />
dem Sie mitwirken. Die Reaktionen auf<br />
„Queer Eye Germany“ waren durchweg<br />
positiv. Hat Sie das überrascht?<br />
Aljosha Muttardi: Ich habe nicht damit<br />
gerechnet, dass das Feedback so positiv<br />
wird – erst recht nicht medial. Gerade<br />
bei den konservativen Zeitschriften<br />
dachte ich, die verreißen uns. Aber ich<br />
habe nichts Negatives gefunden. Deutsche<br />
Formate, die etwas nachzuahmen<br />
versuchen, sind ja oft cringe (peinlich,<br />
Red.). Das war auch meine größte Sorge.<br />
Aber „Queer Eye Germany“ ist<br />
wirklich superschön und authentisch<br />
geworden.<br />
Wie hat sich Ihr Leben seit der<br />
Ausstrahlung verändert?<br />
Ich bin ein arrogantes Arschloch geworden<br />
(lacht). Nein, es hat sich gar<br />
nicht so stark verändert, außer dass ich<br />
jetzt vielleicht ein bisschen öfter erkannt<br />
werde. Ich hatte schon davor eine große<br />
Plattform durch „Vegan ist ungesund“<br />
(YouTube-Kanal und Podcast über vegane<br />
Ernährung, Red.).<br />
Sie haben in Interviews gesagt,<br />
dass Sie beim Dreh das erste Mal<br />
in Ihrem Leben das Gefühl hatten,<br />
sich nicht verstellen zu müssen. Sie<br />
konnten sich ausprobieren, Make-up<br />
tragen, die Fingernägel lackieren – tatsächlich<br />
zum ersten Mal?<br />
Ja, durch die Dreharbeiten ist mir vieles<br />
bewusst geworden, was meine eigene<br />
Identität, mein Leben und meine Vergangenheit<br />
angeht. Ich habe ja vorher<br />
im Krankenhaus gearbeitet. Dort ist es<br />
sehr hetero-normativ, hierarchisch und<br />
männerdominiert. Die Strukturen sind<br />
auf Effizienz und Leistung ausgerichtet.<br />
Ich wäre dort nie mit Make-up rumgelaufen,<br />
ich wäre nicht mal auf die Idee<br />
gekommen. Auch bei den Dreharbeiten<br />
hat sich das langsam entwickelt. Es war<br />
ein bisschen wie auf dem Christopher<br />
Street Day. Dort sind die Verhältnisse ja<br />
auch umgekehrt. Man ist plötzlich nicht<br />
mehr in der Minderzahl, man kann<br />
machen, was man möchte. Dann werden<br />
einem auch die Machtverhältnisse<br />
klar, die sonst herrschen, wenn nicht<br />
CSD oder Pride ist.<br />
Am 6. <strong>August</strong> findet die diesjährige<br />
Hamburger Christopher-Street-Day-<br />
Parade statt, bei der es immer auch um<br />
Sichtbarkeit von queeren Menschen<br />
Aljosha Muttardi im<br />
Gespräch mit Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />
Autorin Simone Deckner
Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>354</strong>/AUGUST 2022<br />
geht. Das ist auch eines eines Ihrer<br />
großen Themen. Warum?<br />
Sichtbarkeit schafft Normalität. Und<br />
das ist ja das, was wir uns alle wünschen.<br />
Normalität meine ich im Sinne<br />
von: was wir häufig sehen und womit<br />
wir häufig konfrontiert werden. Wenn<br />
ich in der Kindheit gesehen hätte, dass<br />
Männer Männer lieben und Frauen<br />
Frauen, dass es bi und trans Menschen<br />
gibt, dann hätte ich nicht das Gefühl<br />
gehabt: Ich bin falsch. Es geht darum<br />
zu zeigen, dass man nicht alleine ist.<br />
Was ist mit Künstler:innen wie<br />
Elton John, Boy George oder Melissa<br />
Etheridge?<br />
Die habe ich nicht wahrgenommen.<br />
Das ist ja immer auch eine Frage, in<br />
welcher Blase man aufwächst. In Zeitschriften,<br />
im Fernsehen oder in der<br />
Werbung habe ich eigentlich nur heterosexuelle,<br />
meist weiße Menschen gesehen.<br />
Queere Menschen wurden meistens<br />
karikaturistisch dargestellt. Ich<br />
erinnere mich an die „Wochenshow“<br />
mit Bastian Pastewka. Als Brisko<br />
Schneider hat er da so super überspitzt<br />
geredet (verstellt seine Stimme und redet nasal).<br />
Ich fand das lustig, aber das ist halt<br />
das Klischeebild davon, wie Schwule so<br />
sind. Und ich bin einfach mit Eltern<br />
aufgewachsen, die wenig Kontakt mit<br />
dem Thema hatten, genauso wenig wie<br />
mein Freundeskreis. Es gab keine einzige<br />
offen queere Person in meiner katholischen<br />
Schule. Darüber wurde nur<br />
gemunkelt.<br />
Heute heißt es oft: „Ich habe nichts dagegen,<br />
wenn jemand queer ist, aber<br />
müssen die mir das dauernd aufs Brot<br />
schmieren?“ Wie reagieren<br />
Sie darauf?<br />
Je nach Tagesform. Meist versuche ich<br />
aufzuklären, dass das eine sehr privilegierte<br />
Position ist. Diese Menschen fühlen<br />
sich überfordert, weil neue Themen<br />
in ihr Leben kommen. Wieso fühlen sie<br />
sich überfordert? Ich muss jeden Tag<br />
mit Diskriminierungserfahrungen und<br />
Ängsten leben, aber sie überfordert,<br />
dass ich jetzt darüber spreche? Wow!<br />
Ihr Outing lief nach Ihren eigenen Worten<br />
nicht ideal. Ihre Familie hat nicht<br />
gesagt: „Alles bestens!“, sondern sich<br />
gefragt, was sie bei Ihrer Erziehung<br />
wohl falsch gemacht haben könnte.<br />
Was hat Ihnen in dieser Situation<br />
geholfen?<br />
Zeit, eigentlich nur die Zeit. Ich hatte<br />
damals keinen Kontakt mit Menschen,<br />
die sich geoutet haben. Ich war alleine<br />
damit. Danach war ich der eine Schwu-<br />
FOTO: NETFLIX/THOMAS SCHENK<br />
Die „Fab 5“ von Queer Eye<br />
(von links nach rechts):<br />
Jan-Henrik Scheper-Stuke,<br />
Avi Jakobs, Ayan Yuruk, Leni Bolt<br />
und Aljosha Muttardi
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
le in einem super heterosexuellen Umfeld.<br />
Alle mussten sich erst mal „an<br />
mich gewöhnen“. Ich habe meine Gefühle<br />
voll hintangestellt und wollte<br />
möglichst wenig Widerstand und Diskussionen<br />
um mich herum. Nach dem<br />
Motto: Alles cool! Lasst uns am besten<br />
nicht so viel darüber reden! Inzwischen<br />
sind meine Eltern aber die größten Verbündeten<br />
und stehen voll hinter mir.<br />
Nutzen Sie Ihre Bekanntheit heute<br />
auch, um queeren Menschen zu zeigen:<br />
Du bist nicht allein?<br />
Voll! Ich habe auch auf YouTube ein<br />
Video über mein Coming-out veröffentlicht.<br />
Da haben mir so viele Leute<br />
geschrieben, dass ihnen das super viel<br />
Kraft gegeben hat. Das ist, glaube ich,<br />
bei jedem Menschen so, der in der Öffentlichkeit<br />
steht und sich dazu positioniert.<br />
Dadurch ist mir das mit dem<br />
Thema Sichtbarkeit auch noch mal<br />
sehr klar geworden. Ich sage vermeintlich<br />
banale Sätze und werde dann so<br />
behandelt, als hätte ich gerade etwas<br />
total Weises gesagt. Die Menschen wollen<br />
einfach das Gefühl haben, dass sie<br />
nicht allein mit ihren Themen sind.<br />
Queere Menschen sind oft Gewalt<br />
ausgesetzt. In Oslo wurden unlängst<br />
zwei schwule Männer erschossen,<br />
in Istanbul gab es<br />
Übergriffe der Polizei auf Pride-<br />
Aktivist:innen, aber auch in Hamburg<br />
wurden 2020 insgesamt 30<br />
Straftaten im sogenannten Themenfeld<br />
„Geschlecht/Sexuelle Identität“<br />
registriert, darunter 16 Gewaltdelikte.<br />
Haben Sie selbst schon Gewalterfahrungen<br />
gemacht aufgrund Ihrer Sexualität?<br />
Ich habe Übergriffigkeiten erfahren.<br />
Aber viele Menschen, die mich auf der<br />
Straße sehen, lesen mich nicht sofort<br />
als schwul oder queer. Ich wirke relativ<br />
heterosexuell. Das war für mich lange<br />
Zeit auch ein Schutzschild. Ich weiß<br />
auch nicht, ob das ein Mechanismus<br />
ist, um dazuzugehören, oder ob<br />
ich wirklich so bin. Als Jugendlicher<br />
wollte ich mich auch immer von<br />
diesen etwas feminin wirkenden<br />
Menschen distanzieren. Ich habe<br />
immer gesagt: „Nee, so bin ich<br />
Zur Person:<br />
Aljosha Muttardi (34) ist einem größeren<br />
Publikum als Gesundheits-Coach in<br />
der Netflix-Serie „Queer Eye Germany“<br />
bekannt geworden. Bis 2021 betrieb er<br />
mit dem ironisch betitelten „Vegan ist<br />
ungesund“ einen der größten YouTube-<br />
Kanäle zum Thema Veganismus<br />
gemeinsam mit Gordon Prox. Muttardi<br />
ist Facharzt für Anästhesie und hat<br />
sieben Jahre lang in einem Hamburger<br />
Krankenhaus gearbeitet. Sein Zuhause<br />
teilt sich der gebürtige Düsseldorfer<br />
mit Dackel Henry.<br />
nicht!“ Aber warum dürfen Männer<br />
nicht mal Schmuck tragen oder High<br />
Heels ausprobieren? Warum dürfen<br />
Männer nicht Männer küssen, einfach<br />
nur, weil sie es mal ausprobieren und<br />
Spaß haben wollen?<br />
Ändert sich da nicht gerade etwas?<br />
Langsam. In den Großstädten (lacht).<br />
Sie wollen etwas verändern, indem Sie<br />
über Diskriminierung reden – und das<br />
durchaus lautstark.<br />
Es geht ja auch um etwas. Du darfst alles<br />
sagen, du darfst mich Schwuchtel<br />
nennen, du darfst super sexistisch sein,<br />
aber du musst auch mit den Konsequenzen<br />
leben, dass wir lauter werden<br />
und uns beschweren. Ich möchte dafür<br />
sensibilisieren, dass alles, was wir sagen,<br />
Konsequenzen hat. Dieser vermeintliche<br />
Mehraufwand, auch in der Sprache<br />
sensibel zu sein und zum Beispiel Pronomen<br />
zu benutzen, ist gar nicht so<br />
krass. Er lohnt sich. Man kann auch<br />
einfach mal nett zueinander sein.<br />
Und wann kommt nun die zweite Staffel<br />
von „Queer Eye Germany“?<br />
Ich weiß leider selbst noch nicht, ob es<br />
weitergeht. Aber ich wäre sofort dabei. •<br />
Hamburg Pride Week:<br />
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Aljosha Muttardi auf Instagram:<br />
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17
Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>354</strong>/AUGUST 2022<br />
Meldungen<br />
Politik & Soziales<br />
Senat<br />
Sieben Punkte, kein Plan?<br />
Mit einem Sieben-Punkte-Plan<br />
möchte der Senat mehr für Menschen<br />
in Wohnungsnot tun. Fast 13.000<br />
sogenannte vordringlich wohnungssuchende<br />
Haushalte konnten vergangenes<br />
Jahr nicht mit Wohnraum versorgt<br />
werden, 1000 mehr als 2020,<br />
heißt es in einem Bericht für die Bürgerschaft.<br />
Mit dem Begriff sind etwa<br />
Menschen gemeint, die wegen einer<br />
drohenden Räumung dringend eine<br />
neue Wohnung benötigen. Um die<br />
Lage zu verbessern, will der Senat<br />
mehr geförderte Wohnungen bauen<br />
lassen und Belegungsbindungen ankaufen.<br />
Zudem soll das städtische<br />
Unternehmen Fördern & Wohnen<br />
bei der Vergabe von Grundstücken<br />
häufiger bedacht werden.<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Geschäftsführer Jörn<br />
Sturm kritisierte den Senatsplan als<br />
nicht konkret genug: „Es ist völlig unklar,<br />
wie das vom EU-Parlament und<br />
der Ampel-Koalition vorgegebene politische<br />
Ziel der Abschaffung der Obdach-<br />
und Wohnungslosigkeit damit<br />
bis 2030 erreicht werden soll.“ Ihm<br />
fehlen konkrete Zahlen, wie viele<br />
Wohnungen der Senat zur Verfügung<br />
stellen will. Auch das Bündnis für<br />
neue soziale Wohnungspolitik wünscht<br />
sich einen „durchgreifenden neuen<br />
Ansatz“, der „schnell konkrete Verbesserungen<br />
bewirkt“. So sollten bei<br />
Neubauprojekten nicht ein Drittel,<br />
sondern 50 Prozent Sozialwohnungen<br />
vorgeschrieben werden. AEJ<br />
•<br />
Statistik I<br />
Bund veröffentlicht Wohnungslosenzahl<br />
Bundesweit 178.000 Menschen lebten am 31. Januar in Wohn- oder Notunterkünften.<br />
Das hat das Statistische Bundesamt auf Grundlage von Daten der<br />
Länder und Kommunen errechnet. Damit liegt erstmals eine offizielle Angabe<br />
zum Ausmaß von Wohnungslosigkeit in Deutschland vor. Knapp 74.000 der<br />
Betroffenen waren demnach alleinstehend, 23.000 Teil eines Alleinerziehenden-<br />
Haushalts. Der Frauenanteil liegt bei 37 Prozent, zwei Drittel der Menschen<br />
haben eine ausländische Staatsangehörigkeit. Bemerkenswert auch: Mehr als<br />
ein Drittel der Untergebrachten ist jünger als 25 Jahre. In Hamburg war sogar<br />
fast die Hälfte aller knapp 19.000 Wohnungslosen, die zum Stichtag gezählt<br />
wurden, unter 25 Jahre alt. Die umfangreichen Daten werden Grundlage<br />
des ersten Wohnungslosenberichts der Bundesregierung sein, der im Herbst<br />
erscheinen soll. Dieser werde die Basis für einen „Nationalen Aktionsplan“<br />
zur Abschaffung der Wohnungslosigkeit, erklärte Bundesbauministerin<br />
Klara Geywitz (SPD) (siehe auch Interview auf Seite 28, Red). Nicht in die Erhebung<br />
einbezogen wurden Obdachlose, die auf der Straße schlafen, und Menschen,<br />
die vorübergehend bei Freund:innen, Familie oder Bekannten unterkommen,<br />
erklärte das Statistische Bundesamt. Wie eine aktuelle Studie aus Nordrhein-<br />
Westfalen zeigt, leben bis zu 40 Prozent aller Betroffenen in dieser sogenannten<br />
verdeckten Obdachlosigkeit. Mit dem Wohnungslosenberichterstattungsgesetz<br />
hatte der Bundestag 2020 die Regierung verpflichtet, regelmäßig Daten<br />
zur Wohnungslosigkeit zu erheben und so die Qualität der Armuts- und<br />
Reichtumsberichterstattung zu verbessern. Bislang hatten lediglich Schätzungen<br />
der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) vorgelegen.<br />
Die geht von bundesweit mindestens 233.000 Wohnungs losen aus, berücksichtigt<br />
in ihren Hochrechnungen allerdings auch sichtbare und verdeckt lebende Ob-<br />
Statistik II<br />
Zahl der Sozialwohnungen nimmt weiterhin ab<br />
Sowohl in Deutschland als auch in Hamburg sinkt die Zahl der Sozialwohnungen.<br />
Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der<br />
Linksfraktion hervor. Demnach gibt es in Deutschland 1,1 Millionen Sozialwohnungen<br />
– ein historischer Tiefstand. In Hamburg sank der Bestand von 83.130<br />
(2020) um knapp 3000 auf 80.384 (2021). Um den Trend zu stoppen, hat die<br />
Ampel-Koalition im Bund jährlich 100.000 neue Sozialwohnungen versprochen<br />
– ein ehrgeiziges Ziel, wie die Daten zeigen. Denn vergangenes Jahr wurden<br />
bundesweit nur 17.500 neue Sozialwohnungen fertiggestellt (ohne Baden-<br />
Württemberg, das keine Zahlen lieferte). Linken-Fachsprecherin Caren Lay<br />
forderte mehr Fördergelder vom Bund und dauerhafte Preisbindungen für<br />
sozialen Wohnraum: „Einmal Sozialwohnung, immer Sozialwohnung, das<br />
IN DER RUHE LIEGT DIE KRAFT<br />
muss in Zukunft gelten.“ Je nach Bundesland und Fördermodell gilt die<br />
Mietpreisbindung meist für 15 bis 30 Jahre, in Hamburg sind neuerdings<br />
auch 40 Jahre möglich. Unbegrenzte Preisbindungen wie etwa in der österreichischen<br />
QIGONG<br />
TAIJIQUAN<br />
MEDITATION<br />
Hauptstadt Wien gibt es hierzulande aber nicht. Auch in Hamburg<br />
brachen die Neubauzahlen zuletzt ein: Statt der erhofften 3000 wurden<br />
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vergangenes Jahr nur noch 1895 neue Sozialwohnungen fertiggestellt. UJO<br />
•<br />
dachlose. UJO<br />
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Obdachlosigkeit<br />
abschaffen<br />
Finnland ist das einzige EU-Land, in dem die Obdachlosenzahlen<br />
zurückgehen. Wir waren vor Ort, um uns anzuschauen,<br />
wie die Trendwende gelingen kann (S. 20).<br />
Für den erfolgreichen Umschwung in Deutschland ist Bauministerin<br />
Klara Geywitz (SPD) verantwortlich. Wir haben<br />
sie im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Haus zum Interview getroffen<br />
(S. 28). Welche Schritte jetzt in Hamburg nötig sind, kommentiert<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Geschäftsführer Jörn Sturm (S. 32).<br />
FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE
HINZ&KUNZT N°<strong>354</strong>/AUGUST 2022<br />
Das System auf<br />
den Kopf stellen<br />
Finnland macht dem Rest der Welt vor, wie Obdachlosigkeit<br />
beendet werden kann. Ortsbesuch in Helsinki<br />
20
Schwerpunkt<br />
Obdachlosigkeit<br />
abschaffen<br />
TEXT: LUKAS GILBERT<br />
FOTOS: KATJA TÄHJÄ, FARAWAY PHOTOS /<br />
ALAMY STOCK PHOTO (S. 20)<br />
V<br />
iljo ist erschöpft. Gerade erst<br />
ist der schlanke 40-Jährige, der<br />
sein grünes Basecap tief ins<br />
Gesicht gezogen trägt, von einem Ausflug<br />
auf eine der Inseln vor der Küste<br />
Helsinkis zurückgekommen. Sein Vermieter,<br />
die Blue Ribbon Foundation,<br />
betreibt dort ein Haus mit Sauna, Grillplatz<br />
und Booten. Viljo und die anderen<br />
Mieter:innen können die Angebote<br />
nutzen – und tun das vor allem während<br />
des lange herbeigesehnten finnischen<br />
Sommers. Jetzt macht es sich der<br />
Ex-Wohnungslose in seiner Zweizimmerwohnung<br />
gemütlich, in der eine<br />
US-amerikanische Sitcom über den<br />
Fernseher flimmert.<br />
Viljo ist einer von rund 1000<br />
ehemals Wohnungslosen, die ein Zuhause<br />
in einer der Wohnungen der Blue<br />
Ribbon Foundation in Helsinki gefunden<br />
haben. Seit 2007 bietet die Organisation<br />
Wohnungen für Menschen ohne<br />
Zuhause an und ist damit wichtiger Teil<br />
der finnischen Housing-First-Strategie.<br />
Die simple Idee dahinter: Wohnungslose<br />
brauchen als Erstes eine eigene Wohnung<br />
– weil Wohnen ein Menschenrecht<br />
ist, aber auch, weil sich viele<br />
Probleme erst in den eigenen vier Wänden<br />
lösen lassen. Hilfe beim Umgang<br />
mit Ämtern, vielleicht auch bei der Bewältigung<br />
von Suchterkrankungen: All<br />
das kommt nach dem Einzug. Wenn die<br />
Betroffenen das wollen.<br />
Das Prinzip stellt das lange auch in<br />
Finnland praktizierte Stufenmodell auf<br />
21
Rubrik<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>354</strong>/AUGUST 2022<br />
Der Ex-Obdachlose Viljo hat<br />
eine Wohnung nach dem<br />
Housing-First-Prinzip gefunden.<br />
22
Schwerpunkt<br />
Obdachlosigkeit<br />
abschaffen<br />
den Kopf. Danach müssen Obdachlose<br />
zunächst in verschiedenen Arten von<br />
Unterkünften ihre sogenannte Wohnfähigkeit<br />
unter Beweis stellen. Erst auf<br />
der letzten Stufe wartet ein eigenes Zuhause.<br />
In Finnland wartet es nun auf<br />
der ersten.<br />
„Eine eigene Wohnung zu haben –<br />
das ist essenziell! Wir alle brauchen einen<br />
Rückzugsort“, erklärt Onni Huusko<br />
den Kerngedanken. Der 33-Jährige<br />
ist einer der Ansprechpartner:innen für<br />
Viljo und die anderen Bewohner:innen<br />
des weitläufigen, mehrstöckigen Baus.<br />
Und auch für Gäste der angegliederten<br />
Tagesaufenthaltsstätte, die sich mit Billardtisch,<br />
Sofaecke und Kaffeetresen atmosphärisch<br />
zwischen Wohnzimmer<br />
und Jugendzentrum bewegt. Eine Notunterkunft<br />
könne in akuten Krisensituationen<br />
sicherlich auch hilfreich sein,<br />
sagt Huusko: „Aber wie sollst du dein<br />
Leben organisieren, wenn du nur von<br />
Tag zu Tag lebst und dir ständig Gedanken<br />
darüber machen musst, wo du<br />
als Nächstes schläfst?“ Deshalb sei das<br />
Kernprinzip von Housing First so wichtig:<br />
„Menschen brauchen erst eine<br />
Wohnung, dann können sie beginnen,<br />
sich ein Leben drum herum aufzubauen.<br />
Können zum Beispiel trocken werden<br />
– oder was auch immer ihr Ziel ist.“<br />
Die Zahlen geben Huusko und<br />
seinen Mitstreiter:innen recht: Finnland<br />
ist der einzige EU-Staat, in dem die<br />
Zahl obdach- und wohnungsloser<br />
Menschen Jahr für Jahr zurückgeht.<br />
Ende der 1980er-Jahre zählte das Land<br />
mit seinen gut fünf Millionen Einwohner:innen<br />
noch 20.000 Wohnungslose;<br />
heute haben weniger als 4000<br />
Menschen keine eigene Wohnung. Die<br />
meisten von ihnen schlafen bei Bekannten<br />
oder der Familie. Die Zahl der<br />
Menschen, die tatsächlich obdachlos<br />
auf der Straße oder in Notunterkünften<br />
übernachten, wird in ganz Finnland auf<br />
655 geschätzt. Zum Vergleich: Allein in<br />
Hamburg leben laut offizieller Zählung<br />
knapp 2000 Menschen auf der Straße.<br />
Tendenz steigend. Die öffentlichen<br />
Unterkünfte sind in der Hansestadt<br />
zudem oft eine Sackgasse: Mehr als<br />
10.000 Menschen sind dort seit mehr als<br />
fünf Jahren untergebracht und finden<br />
keine Wohnung.<br />
Der Unterschied zum Elend in fast<br />
allen großen Metropolen Europas, in<br />
denen der Anblick von oftmals kranken<br />
Menschen, die in verdreckten Hauseingängen<br />
schlafen, mittlerweile zum<br />
Stadtbild gehört, ist in Helsinki sofort<br />
zu erkennen. Wer im Sommer durch<br />
die belebten Straßen schlendert, an den<br />
charakteristischen Felsen vorbei, auf<br />
denen junge Menschen bis mitten in die<br />
nicht dunkel werdende Nacht zusammensitzen,<br />
durch den Hafen oder rund<br />
um den Bahnhof, der stellt fest: Sichtbare<br />
Obdachlosigkeit spielt hier kaum<br />
eine Rolle.<br />
Was macht Finnland anders? Wer<br />
obdachlos wird, kann sofort Einrichtungen<br />
zur Wohnunterstützung aufsuchen,<br />
die eng mit sozialen Organisationen wie<br />
der Blue Ribbon Foundation zusammenarbeiten.<br />
Dort besprechen die Betroffenen<br />
mit Sozialarbeiter:innen, wel-<br />
„Eine richtige kleine Farm“<br />
hat sich Viljo auf dem<br />
gemeinsamen Balkon<br />
aufgebaut, wie er sagt.<br />
23<br />
Finnland<br />
ist der<br />
einzige<br />
EU-Staat,<br />
in dem die<br />
Obdachlosenzahlen<br />
zurückgehen.
Die Rumänin Lamîia hat keinen<br />
Anspruch auf Housing<br />
First in Finnland.<br />
„Ich brauche<br />
eine eigene<br />
Wohnung, um<br />
klar zukommen.“<br />
EX-OBDACHLOSER VILJO<br />
che Art der Unterbringung für sie<br />
geeignet ist. Im Regelfall ist das eine eigene<br />
Wohnung mit eigenem, unbefristetem<br />
Mietvertrag, ohne angegliederte<br />
Unterstützungsangebote.<br />
Mehr als 7000 Wohnungen stellt allein<br />
der größte finnische Housing-First-<br />
Anbieter, die Y-Foundation, übers Land<br />
verteilt ausschließlich für Wohnungslose<br />
bereit. Die Stiftung, die einst von einem<br />
Bündnis finnischer Städte und Organisationen<br />
wie dem Roten Kreuz ins Leben<br />
gerufen wurde, ist von Beginn an<br />
zentral mit Housing First verbunden<br />
und mittlerweile viertgrößter Vermieter<br />
im Land. Hinzu kommen Wohnungen<br />
von anderen Organisationen wie der<br />
Blue Ribbon Foundation oder der finnischen<br />
Diakonie.<br />
Die Alternative ist ebenfalls eine eigene<br />
Wohnung mit eigenem, unbefristetem<br />
Mietvertrag, aber verknüpft mit<br />
Hilfsangeboten und oft in größeren<br />
Einheiten. Welche Art Wohnung passend<br />
ist, entscheiden die Betroffenen.<br />
Von letzteren Angeboten machen insbesondere<br />
Menschen mit Suchtproblemen<br />
oder psychischen Erkrankungen<br />
Gebrauch. Menschen wie Viljo.<br />
Als er seine Wohnung zum ersten<br />
Mal verlor, habe ihn das völlig aus der<br />
Bahn geworfen, sagt Viljo. Schon vorher<br />
hatte er Probleme mit Drogen, doch<br />
auf der Straße seien die immer schlimmer<br />
geworden. „Eine eigene Wohnung<br />
zu haben? Das ist wichtig für mich, um<br />
klarzukommen.“<br />
Viljo hat sich bewusst für eine Wohnung<br />
innerhalb einer größeren Wohngruppe<br />
entschieden. Sogenannte Wohnbegleit<br />
er:innen, meist Menschen mit<br />
medi zin ischer Ausbildung, sind rund<br />
um die Uhr erreichbar. Sie helfen bei alltäglichen<br />
Problemen oder wenn es Konflikte<br />
zwischen Bewohner:innen gibt.<br />
Seit fünf Jahren wohnt er mittlerweile<br />
in dem Wohnkomplex im Viertel<br />
Vallila in Helsinkis nördlicher Innenstadt.<br />
Seine Sozialhilfe stockt Viljo mit<br />
24
Schwerpunkt<br />
Obdachlosigkeit<br />
abschaffen<br />
Hausmeisterjobs im Haus auf. Auf dem<br />
breiten Balkon, den er sich mit den anderen<br />
Mieter:innen auf der Etage teilt,<br />
pflanzt er Tomaten, Zucchini und Basilikum<br />
an: „Eine richtige kleine Farm“,<br />
sagt er und lächelt zufrieden.<br />
Der finnische Weg gibt Menschen<br />
aber nicht nur eine Wohnung und damit<br />
Würde. Er rechnet sich auch, wie es<br />
von der Stadt Helsinki heißt. Der Staat<br />
stellt zwar Geld für die vielfältigen<br />
Hilfsangebote bereit, um neue Wohnungen<br />
zu akquirieren oder um neue<br />
Wohnanlagen zu bauen. Doch berücksichtige<br />
man Kosten für medizinische<br />
Behandlungen oder Polizeieinsätze,<br />
spare der finnische Staat durch seinen<br />
Housing-First-Ansatz 15.000 Euro pro<br />
Jahr und Person. Die zuständige Umweltministerin<br />
Maria Ohisalo formuliert<br />
es so: „Es ist in Ordnung, wenn die<br />
Beseitigung von Armut und Obdachlosigkeit<br />
teuer ist. Nicht nur weil die Anstrengungen<br />
menschlich richtig sind,<br />
sondern auch weil sie sich langfristig<br />
finanziell lohnen.“<br />
15 Gehminuten von Viljos Wohnung<br />
entfernt, mitten im ehemaligen<br />
Arbeiter:innen- und heutigen Szenestadtteil<br />
Sörnäinen, bietet Janne Hukka<br />
frischen Kaffee an. Der Journalist,<br />
blaues Businesshemd, die dunklen Haare<br />
seitlich ausrasiert, ist Gründer und<br />
Geschäftsführer des Straßenmagazins<br />
„Iso Numero“. Er beobachtet die finnische<br />
Sozialpolitik seit Jahren. Housing<br />
First, das sei eine sehr zielgerichtete<br />
Politik, die sich auf ein bestimmtes<br />
Phänomen von Wohnungslosigkeit<br />
konzentriere: die Langzeitwohnungslosigkeit.<br />
„Housing First wurde eingeführt<br />
und so ausgestaltet, um dieses<br />
Problem zu lösen. Und damit ist<br />
Housing First sehr erfolgreich. Das ist<br />
über alle Parteigrenzen hinweg unumstritten.“<br />
Deshalb bleibe der Ansatz<br />
selbst bei Regierungswechseln stets bestehen.<br />
Es gebe aber auch Probleme,<br />
die Housing First nicht lösen könne.<br />
Denn: Um Anspruch auf eine Wohnung<br />
zu haben, muss man finnische:r<br />
Staatsbürger:in oder zumindest ins Sozialsystem<br />
integriert sein.<br />
„Wir arbeiten bei Iso Numero fast<br />
nur mit Menschen, die nicht in das<br />
Housing-First-System integriert werden.<br />
Und was wir dabei sehen ist, dass<br />
deren Probleme eben nicht nachhaltig<br />
gelöst werden“, sagt Hukka. „Diese<br />
Menschen können zwar in einer Notunterkunft<br />
schlafen. Aber das verbessert<br />
ihre Situation nicht nachhaltig. Ihre<br />
Probleme bleiben bestehen.“<br />
Lamîia gehört zu denen, die bislang<br />
nicht vom finnischen Erfolgsmodell<br />
profitieren. Vor acht Jahren kam die<br />
42-Jährige aus Bukarest nach Finnland.<br />
Nach dem Tod ihres ersten Mannes sah<br />
die Rumänin sich gezwungen, im Ausland<br />
Geld für den Lebensunterhalt ihrer<br />
Kinder zu verdienen. Die ersten<br />
Jahre habe sie entweder auf der Straße<br />
oder im Wald geschlafen und tagsüber<br />
gebettelt. Heute verkauft sie das Straßenmagazin<br />
und schläft in einem<br />
Mehrbettzimmer in einer ganzjährig<br />
geöffneten Unterkunft speziell für<br />
Osteuropäer:innen. Aussicht auf einen<br />
Job oder auf eine Wohnung nach dem<br />
Housing-First-Modell hat sie nicht.<br />
„Ich würde gerne mit meinen Kindern<br />
in einer Wohnung hier in Finnland leben.<br />
Sie hier in die Schule gehen lassen.<br />
Das ist mein großer Traum“, sagt sie<br />
mit strahlendem Lächeln. Hoffnung,<br />
dass das Wirklichkeit wird, hat sie nicht.<br />
Stattdessen wechselt sie sich mit ihrem<br />
heutigen Ehemann ab: Eine:r von beiden<br />
ist in Rumänien und kümmert sich<br />
um die Kinder, eine:r ist in Finnland.<br />
Wie genau die Situation von Zugewanderten<br />
wie Lamîia verbessert werden<br />
soll, dazu äußert sich das zuständige<br />
Ministerium nicht. Nur so viel: Die Beendigung<br />
von Wohnungslosigkeit sei für<br />
die finnische Regierung ein Schlüsselziel.<br />
Niemand sei von diesem Ziel<br />
ausgenommen.<br />
25<br />
Null bis 2030<br />
Obdach- und<br />
Wohnungs losigkeit beenden<br />
Bis 2030 soll niemand mehr auf der<br />
Straße schlafen. Darauf haben sich<br />
Deutschland und die weiteren 26 EU-<br />
Mitgliedsstaaten in der Erklärung<br />
von Lissabon festgelegt. Wir nehmen<br />
die Politik beim Wort, beobachten sie auf<br />
ihrem Weg zu diesem Ziel und blicken<br />
auf erfolgversprechende Projekte.<br />
Veera Vehkasalo (links) ist<br />
Chefredakteurin beim<br />
finnischen Straßenmagazin<br />
„Iso Numero“, Janne Hukka<br />
Geschäftsführer.
Ein Wohnkomplex<br />
mit Housing-First-<br />
Wohnungen der<br />
Y-Foundation (oben).<br />
Viljo in seiner<br />
Wohnung (unten<br />
links). Im Haus finden<br />
regelmäßig gemeinsame<br />
Aktivitäten<br />
statt. Zum Mittsommer<br />
kommt der<br />
Sauna-Bus (rechts).<br />
Als Housing First in den 2000er-Jahren<br />
eingeführt wurde, sei die Ausgangslage<br />
noch eine andere gewesen, erklärt Janne<br />
Hukka. Doch Fluchtbewegungen und<br />
insbesondere die EU-Osterweiterung<br />
hätten die Situation verändert. Auf diese<br />
Art der Obdachlosigkeit reagiere die<br />
finnische Gesellschaft bislang nicht.<br />
Hukkas Sorge ist, dass der Erfolg von<br />
Housing First viele Finn:innen blind für<br />
bestehende Probleme macht. Um die<br />
Erfolgsgeschichte fortzuschreiben, müsse<br />
das Modell weiterentwickelt werden,<br />
sagt er.<br />
Zurück in der Blue Ribbon Foundation<br />
führt Paula Ahonen in ihr helles Büro.<br />
Sie leitet den Wohnkomplex, in dem<br />
auch Viljo wohnt, und macht auf ein<br />
weiteres Problem aufmerksam: Bis zu<br />
zwei Jahre müssen manche auf eine<br />
Wohnung warten, weil es insbesondere<br />
in Helsinki schlicht nicht genügend<br />
Wohnraum gebe. Während dieser Wartezeit<br />
schliefen die Menschen meist bei<br />
Bekannten oder der Familie, teilweise in<br />
Notunterkünften. Außerdem betont sie:<br />
„Es ist wichtig, ausreichende Unterstützungsangebote<br />
zu schaffen. Einfach nur<br />
26<br />
die Wohnung bereitzustellen, funktioniert<br />
nicht für alle.“<br />
Die Unterstützungsangebote der<br />
Stiftung beschränken sich nicht auf die<br />
eigenen Mieter:innen. Sie gelten auch<br />
für andere Ex-Obdachlose, die über die<br />
Stadt verteilt in Wohnungen leben. Zudem<br />
sei es insbesondere bei größeren<br />
Wohnanlagen wichtig, die Nachbarschaft<br />
mit ins Boot zu holen, sagt Paula<br />
Ahonen. Aufzuklären, Sorgen ernst zu<br />
nehmen und den Nachbar:innen die<br />
Möglichkeit zu geben, Wohnanlagen<br />
und Bewohner:innen kennenzulernen.
Schwerpunkt<br />
Obdachlosigkeit<br />
abschaffen<br />
abasto<br />
ökologische Energietechnik<br />
„Es ist<br />
wichtig,<br />
Unterstützungsangebote<br />
zu<br />
schaffen.“<br />
PAULA AHONEN, BLUE RIBBON FOUNDATION<br />
Viljo geht jetzt den nächsten Schritt. Er zieht um in<br />
eine neue Wohnung. An diesem Nachmittag packt er<br />
sein Hab und Gut zusammen. Die neue Wohnung ist<br />
nicht mehr Teil eines größeren Komplexes, er wird<br />
dort ohne Wohnbegleiter:innen auf dem gleichen<br />
Flur leben. Fast zwei Jahre hat er darauf gewartet,<br />
entsprechend groß ist seine Vorfreude. „Viljos Weg ist<br />
unser Ziel“, sagt Paula Ahonen: „Es geht darum, unsere<br />
Angebote überflüssig zu machen.“ Allerdings gebe<br />
es auch Mieter:innen, die das Wohnen in größeren<br />
Wohnkomplexen und die Gemeinschaft mit anderen<br />
Ex-Wohnungslosen auf Dauer schätzen. Niemand<br />
werde gedrängt, seine Wohnung zu verlassen.<br />
Lässt sich das Modell auf andere Länder übertragen?<br />
Wenn der politische Wille da ist, auf jeden Fall,<br />
ist sich Ahonen sicher. Juha Kaakinen, langjähriger<br />
Chef der der Y-Foundation, ohne dessen Wirken der<br />
finnische Erfolg kaum vorstellbar wäre, fasste es auf<br />
einer europäischen Housing-First-Konferenz im März<br />
so zusammen: „Wenn ihr den Plan hattet,<br />
100 Housing-First-Wohnungen bereitzustellen, hängt<br />
als erstes eine Null dran. Macht 1000 daraus. Wenn<br />
ihr einen Zeitplan von acht Jahren hattet, macht vier<br />
Jahre daraus und sagt nicht, dass es unmöglich wäre.<br />
Es ist schwierig, und das soll es auch sein, aber es ist<br />
möglich.“ • Lukas Gilbert fand die Selbstverständlichkeit<br />
bemerkenswert, mit der alle Gesprächspartner:innen<br />
davon überzeugt waren, dass<br />
eine eigene Wohnung der Anfang sein muss.<br />
lukas.gilbert@hinzundkunzt.de<br />
27<br />
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Schwerpunkt<br />
Obdachlosigkeit<br />
abschaffen<br />
Wie wollen Sie<br />
Obdachlosigkeit<br />
abschaffen,<br />
Frau Ministerin?<br />
Bis 2030 will die Bundesregierung Wohnungs- und Obdachlosigkeit<br />
überwinden. Die dafür zuständige Bundesbauministerin Klara Geywitz<br />
(SPD) erklärt im Interview, wie sie das anstellen will.<br />
INTERVIEW: BENJAMIN LAUFER<br />
FOTOS: ANDREAS HORNOFF<br />
Ein Dienstag Mitte Juni in Hamburg:<br />
Gleich wird die Bundesbauministerin<br />
beim Genossenschaftstag erklären, wie<br />
in Deutschland jährlich 400.000 Wohnungen<br />
gebaut werden sollen, obwohl<br />
Preise explodieren und Lieferketten zusammenbrechen.<br />
Vorher nimmt Klara<br />
Geywitz in der Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Redaktion<br />
Platz. Das Fenster muss fürs Interview<br />
geschlossen werden, weil Baulärm hereindrängt.<br />
„In Deutschland wird wieder<br />
gebaut, das finde ich gut“, sagt sie<br />
und freut sich schelmisch über ihre Bemerkung.<br />
Auch darüber wollen wir mit<br />
der SPD-Politikerin sprechen – vor allem<br />
aber über ihr Versprechen, bis<br />
2030 die Wohnungslosigkeit in Deutschland<br />
zu überwinden. Ihren Besuch bei<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong> will sie als Zeichen verstanden<br />
wissen: „Das Thema ist mir<br />
wichtig, darum bin ich hier.“<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Frau Geywitz, die Bundesregierung<br />
hat versprochen, Wohnungslosigkeit<br />
bis 2030 zu überwinden. Gibt<br />
es in acht Jahren tatsächlich keine Obdachlosen<br />
mehr in Deutschland?<br />
Klara Geywitz: Obdachlosigkeit ist so<br />
ein komplexes Problem, dass es sicherlich<br />
auch dann noch Menschen geben<br />
wird, die auf der Straße leben. Wichtig<br />
ist aber, dass wir die Bedingungen deutlich<br />
verbessern und das Menschenrecht<br />
auf Wohnen umsetzen: Jeder, der eine<br />
Wohnung braucht, muss auch eine bekommen<br />
können. Die Hilfssysteme<br />
müssen sich darauf einstellen.<br />
Sie haben einen Nationalen Aktionsplan<br />
angekündigt, den Sie gemeinsam<br />
mit Kommunen, Ländern und Trägern<br />
der Wohnungslosenhilfe entwickeln<br />
wollen. Worüber werden Sie sprechen?<br />
Ganz wichtig wird der Bereich der Prävention<br />
sein, also die Frage, wie man<br />
verhindern kann, dass Menschen ihre<br />
Wohnung verlieren. Wir sehen außerdem<br />
ein dramatisches Absinken der Sozialwohnungszahlen<br />
in den vergangenen<br />
Jahren. Man muss sich da nicht<br />
wundern, dass es gerade für vulnerable<br />
Gruppen unmöglich ist, eine Wohnung<br />
28<br />
zu finden. Und es gibt weitere Fragen,<br />
die wir besprechen werden: die der<br />
Krankenversorgung, wie man als Wohnungsloser<br />
an eine Meldeadresse<br />
kommt, wie ist es mit einem Konto?<br />
Mein Wunsch wäre auch, dass wir gemeinsam,<br />
also Länder, Zivilgesellschaft<br />
und der Bund, Qualitätsstandards für<br />
die Unterkünfte entwickeln.<br />
Welche Rolle wird Housing First spielen?<br />
Die Bundesländer halten diesen<br />
Ansatz für zentral bei der Bekämpfung<br />
der Obdachlosigkeit.<br />
Das ist ein sehr interessanter Ansatz,<br />
der die bisherige Praxis umdreht, erst<br />
am Ende eines langen und für die Betroffenen<br />
sehr anstrengenden Prozesses<br />
vielleicht eine Wohnung zu bekommen.<br />
„Es ist wichtig,<br />
dass wir das<br />
Menschenrecht<br />
auf Wohnen<br />
umsetzen.“
Es ist aber nicht damit getan, einfach jemandem<br />
eine Wohnung zu geben und<br />
zu sagen: „Jetzt ist dein Problem gelöst!“<br />
Nach „first“ muss „second“ und<br />
„third“ kommen. Wir werden uns das<br />
ansehen, auch vor Ort in Finnland.<br />
Wieso nur ansehen und nicht umsetzen?<br />
Housing First wurde in vielen Ländern<br />
und Städten erfolgreich erprobt.<br />
Die Gespräche für Ihren Aktionsplan<br />
sollen erst kommendes Jahr beginnen.<br />
Müsste man nicht schneller und entschlossener<br />
handeln, um bis 2030 Wohnungslosigkeit<br />
zu überwinden?<br />
Ich bin persönlich auch eine sehr ungeduldige<br />
Person und kann Sie gut verstehen.<br />
Aber wir gründen dieses Ministerium<br />
neu, wir werden im Sommer ein<br />
Referat zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit<br />
schaffen. Die Stellen müssen ausgeschrieben<br />
und besetzt werden. Wichtig<br />
ist, dass man eine Struktur schafft, bei<br />
der der Aktionsplan nicht nur aufgeschrieben,<br />
sondern auch umgesetzt wird.<br />
Und Sie glauben wirklich, dass sieben<br />
Jahre für die Umsetzung ausreichen?<br />
Bundesweit lebten im Januar 178.000<br />
Menschen in Wohn- oder Notunterkünften,<br />
geschätzt 45.000 Obdachlose<br />
schlafen auf der Straße.<br />
Wenn wir es gut anstellen, wird 2030 jeder<br />
Mensch, der ein Obdach sucht, eines<br />
bekommen können. Mein Ziel ist,<br />
dass sich die Situation dann deutlich<br />
verbessert hat und es Qualitätsstandards<br />
gibt, die zum Beispiel gewährleisten,<br />
dass Familien nicht auf der Straße<br />
leben müssen.<br />
Wie wollen Sie den Menschen helfen,<br />
die hier auf der Straße leben, aber<br />
aufgrund ihrer Herkunft keinen Anspruch<br />
auf Sozialleistungen haben?<br />
Menschenrechte gelten ja für alle, unabhängig<br />
von der Staatsbürgerschaft.<br />
Es gibt ja nicht nur in Deutschland den<br />
Plan zur Überwindung der Wohnungslosigkeit,<br />
das ist ein großes gesamteuropäisches<br />
Ziel. Wir werden mit dem Sozialministerium<br />
besprechen, was man<br />
da machen kann.<br />
Große Aufgabe: Klara<br />
Geywitz will einen Plan<br />
zur Abschaffung<br />
der Obdachlosigkeit<br />
entwickeln.<br />
29
Klara Geywitz vor<br />
dem Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />
Kaffeetresen<br />
im Gespräch mit<br />
Geschäftsführer<br />
Jörn Sturm (links)<br />
Es gibt Städte wie Hamburg, die manchen<br />
Obdachlosen aus dem EU-Ausland<br />
die Freizügigkeit aberkennen und sie abschieben.<br />
Man könnte sich stattdessen<br />
auch dafür einsetzen, dass alle EU-<br />
Bürger:innen überall in der Union Anspruch<br />
auf eine Unterkunft bekommen.<br />
Ich bin die Ministerin, die dafür Sorge<br />
tragen soll, dass 400.000 Wohnungen gebaut<br />
werden, und die einen Aktionsplan<br />
zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit<br />
aufstellen soll. Das wird unser Ministerium<br />
gut auslasten. Einen kompletten<br />
Umbau der Europäischen Union würde<br />
ich den anderen Kollegen überlassen.<br />
Von den 400.000 neuen Wohnungen im<br />
Jahr sollen 100.000 Sozialwohnungen<br />
sein. Vermutlich wird dieses Ziel erst<br />
mal nicht zu halten sein. Der Ukraine-<br />
Krieg hat die Situation verschärft, aber<br />
Fachkräftemangel und Materialknappheit<br />
gab es schon, als Sie diese Zahlen<br />
in den Koalitionsvertrag geschrieben haben.<br />
Waren Sie zu optimistisch?<br />
Dieses Ziel hat sich niemand in der<br />
Hollywoodschaukel ausgedacht, weil<br />
ihm die Zahl 400.000 so gut gefiel. Sie<br />
basiert auf Berechnungen, wie hoch<br />
der tatsächliche Bedarf ist. Das Ziel ist<br />
durch den furchtbaren Krieg in der Tat<br />
schwieriger zu erreichen. Durch die vielen<br />
Menschen, die aus der Ukraine zu<br />
uns geflohen sind, ist der Bedarf auch<br />
noch dringlicher geworden. Deswegen<br />
wäre es der vollkommen falsche Schluss,<br />
zu sagen: „50.000 Sozialwohnungen<br />
sind ja auch eine gute Sache.“ Wir müssen<br />
an unserem Ziel festhalten.<br />
Die Bauträger schlagen Alarm und<br />
warnen, der Neubau könnte zum<br />
Erliegen kommen. Wie kann die<br />
Bauministerin ihnen helfen?<br />
Wir haben nach wie vor eine extrem hohe<br />
Nachfrage, bundesweit sind 847.000<br />
Wohnungen genehmigt und warten nur<br />
darauf, dass sie jemand baut. Der Staat<br />
kann aber nicht die Baupreise subventionieren,<br />
das würde die Preise weiter<br />
hochtreiben. Wir müssen auf dem Bau<br />
besser und produktiver werden, das<br />
heißt mit mehr Robotik und mehr Standardisierung<br />
arbeiten. Und wir sprechen<br />
mit der Bauindustrie darüber, wie<br />
wir Versorgungssicherheit bei wesentlichen<br />
Baumaterialien hinbekommen.<br />
Sie planen auf Bundesebene ein<br />
„Bündnis bezahlbarer Wohnraum“. Das<br />
gibt es in Hamburg schon seit 2011. Außerdem<br />
gilt die Mietpreisbremse in der<br />
ganzen Stadt, das Wohnraumschutzgesetz<br />
verbietet spekulativen Leerstand.<br />
30<br />
Die Mieten steigen und steigen trotzdem<br />
immer weiter. Was ändert die Einrichtung<br />
eines Bundesbauministeriums<br />
daran?<br />
Wir stehen vor einer gewaltigen Transformation<br />
im Bausektor. Es ist wichtig,<br />
dass bei allen Debatten, die im Kabinett<br />
geführt werden, auch der Blick der<br />
Mietenden und derjenigen, die bauen,<br />
vertreten ist. Wir haben erstmals bei<br />
den Haushaltsverhandlungen mit<br />
14,5 Milliarden Euro bis 2026 einen<br />
deutlichen Schwerpunkt auf sozialen<br />
Wohnungsbau gelegt.<br />
Und wie wollen Sie die Mieten bändigen,<br />
wenn alle bisherigen Maßnahmen<br />
nicht ausreichen?<br />
Hamburg ist natürlich eine sehr attraktive<br />
Stadt, deswegen gibt es hier einen<br />
hohen Druck auf dem Wohnungsmarkt.<br />
Aber es ist auch die Stadt, die als<br />
erste wachgeworden ist, als in anderen<br />
Städten noch fröhlich kommunaler<br />
Wohnungsbestand verkauft wurde.<br />
Und die Mieten steigen trotzdem. Sie<br />
haben im Koalitionsvertrag vereinbart,<br />
Mieterhöhungen in angespannten Wohnungsmärkten<br />
mithilfe der Kappungsgrenze<br />
auf 11 Prozent in drei Jahren zu<br />
beschränken. Wann setzen Sie das um?
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Rubrik<br />
Schwerpunkt<br />
Obdachlosigkeit<br />
abschaffen<br />
Zuständig dafür ist mein Kollege Justizminister<br />
Marco Buschmann, mit ihm<br />
bin ich in Gesprächen. Ich gehe davon<br />
aus, dass das noch dieses Jahr passiert.<br />
Welche Rolle wird die neue Wohngemeinnützigkeit<br />
spielen, die Sie angekündigt<br />
haben?<br />
Die Belegungsbindungen bei Sozialwohnungen<br />
sind immer zeitlich befristet.<br />
Mit der Rechtsform der Wohngemeinnützigkeit<br />
schaffen wir die<br />
Möglichkeit, dauerhaft preiswerte Wohnungen<br />
an den Markt zu bringen. Wichtig<br />
ist mir, dass auch diese Wohnungen<br />
eine gute Qualität haben. Ich kann aber<br />
noch nicht sagen, wann wir mit dem<br />
Gesetzesentwurf fertig sein werden.<br />
Der Wohnungskonzern Vonovia hat Anfang<br />
Juni angekündigt, die Mieten nicht<br />
trotz, sondern wegen der Inflation anzuheben.<br />
Bekommen Sie da Sympathien<br />
für das Berliner Volksbegehren, große<br />
Wohnungskonzerne zu enteignen und<br />
die Wohnungen in städtische Hand zu<br />
geben?<br />
Soweit ich weiß, fühlte sich der Vorstandschef<br />
von Vonovia da missverstanden.<br />
Ein Problem sind derzeit aber die<br />
Indexmieten, bei denen die Mietensteigerungen<br />
an den Verbraucherindex gekoppelt<br />
sind. Viele Mieter können sich<br />
beim Anmieten einer Wohnung gar<br />
nicht aussuchen, ob sie diese Wette auf<br />
die Preisentwicklung der Zukunft eingehen<br />
wollen, weil Wohnungen fehlen.<br />
Deshalb sehe ich da durchaus regulativen<br />
Bedarf. Enteignungen halte ich im<br />
Rechtsstaat aber nur für die Ultima Ratio.<br />
Im großen Stil ist das nicht das Mittel<br />
der Wahl, zumal der Staat ziemlich<br />
viel Geld aufwenden müsste, um die betreffenden<br />
Wohnungsunternehmen zu<br />
entschädigen. Dadurch würde sich die<br />
Anzahl der Wohnungen aber nicht<br />
ändern.<br />
Aber die Mieten würden sinken.<br />
Die Berliner haben eine Expertenkommission<br />
gegründet und gucken sich an,<br />
ob das geht oder nicht. Das Ergebnis<br />
würde mich auch sehr interessieren.<br />
Die Lehre, die man daraus ziehen kann,<br />
ist jedenfalls, dass die öffentliche Hand<br />
gut beraten ist, so viel Wohnungsbestand<br />
wie möglich selbst zu besitzen.<br />
Ein effektives Mittel sozialer Wohnungspolitik<br />
können Hausbesetzungen<br />
sein, hat uns mal der Stadtsoziologe<br />
Andrej Holm erklärt: Wo in den 1980ern<br />
Wohnungen besetzt wurden, sind die<br />
Mieten heute oft noch günstig. Würden<br />
Sie ihm da mit Ihrer Vergangenheit in<br />
der Hausbesetzungsszene zustimmen?<br />
Als ich jung war, gab es in Potsdam viele<br />
Hausbesetzer. Das waren junge Menschen,<br />
die noch zu DDR-Zeiten verlassene<br />
Wohnungen besetzt haben, um sie<br />
vor dem Verfall zu retten. Es gibt in der<br />
Tat einzelne Objekte, die mithilfe von<br />
Mietsyndikaten in kollektive Wohnformen<br />
überführt wurden, mit weniger<br />
Wohnfläche pro Person und dafür größeren<br />
Gemeinschaftsräumen. Das Eigentum<br />
ist stets und ständig zu respektieren,<br />
würde ich als Bauministerin sagen,<br />
aber es ist immer sinnvoll, neue Formen<br />
von Wohnkultur auszuprobieren.<br />
Vielen Dank für das Gespräch,<br />
Frau Geywitz! •<br />
31<br />
„Wir<br />
müssen<br />
auf dem<br />
Bau besser<br />
und produktiver<br />
werden.“<br />
Interview in der<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />
Redaktion. Links:<br />
Redakteur<br />
Benjamin Laufer
Schwerpunkt<br />
Obdachlosigkeit<br />
abschaffen<br />
Lasst uns<br />
loslegen!<br />
Bis 2030 sollen Obdach- und Wohnungslosigkeit abgeschafft<br />
werden. Zeit zum Handeln – auch in Hamburg.<br />
Ein Kommentar von Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Geschäftsführer Jörn Sturm<br />
FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
1910 Obdachlose leben auf Hamburgs<br />
Straßen. Mindestens. Denn die letzte<br />
Zählung ist vier Jahre alt, und es gibt<br />
einige Hinweise darauf, dass es inzwischen<br />
noch mehr Betroffene sind. Hinzu<br />
kommen rund 17.500 Wohnungslose,<br />
die oft seit Jahren in Unterkünften<br />
der Stadt leben, weil es keine Wohnungen<br />
für sie gibt (darunter 12.500 Geflüchtete<br />
mit „Wohnberechtigung“, die<br />
Was muss der Senat tun?<br />
Wird es 2030 in Hamburg keine Obdach- und<br />
Wohnungs losen mehr geben? Was muss der Senat tun,<br />
um dieses Ziel zu erreichen? Und welche Rolle können<br />
dabei die „Eckpunkte für einen Aktionsplan“ der Arbeitsgemeinschaft<br />
der Freien Wohlfahrts pflege<br />
(AGFW) spielen? Das diskutieren Fachleute am Dienstag,<br />
den 13. September, ab 18 Uhr im Museum für Kunst<br />
und Gewerbe (Steintorplatz). Der Eintritt ist frei.<br />
Mehr Infos über das Forderungspapier der AGFW:<br />
www.huklink.de/Eckpunkte<br />
Das Hamburger Housing-First-Projekt im Internet:<br />
www.housing-first.hamburg<br />
die Stadt gesondert zählt). Und die<br />
Zahl der Betroffenen ist noch größer:<br />
Nicht wenige leben in verdeckter Obdachlosigkeit,<br />
schlafen etwa bei Bekannten<br />
auf dem Sofa – und tauchen<br />
in keiner Statistik auf.<br />
All diese Menschen sollen – so der<br />
Plan von Europäischer Union, Bundesregierung<br />
und Bundesländern – bis<br />
2030 in einer eigenen Wohnung leben.<br />
Ein erster kleiner Schritt<br />
ist in Hamburg gemacht:<br />
Nach langem Zögern hat<br />
Rot-Grün ein Wahlversprechen<br />
aus 2020 eingelöst<br />
und ein Housing-<br />
First-Projekt auf den<br />
Weg gebracht, das im<br />
Juli gestartet ist. 30 Obdachlose<br />
sollen in den<br />
kommenden drei Jahren<br />
davon profitieren, dass<br />
sich in der deutschen<br />
Politik eine Erkenntnis<br />
durchsetzt, die Staaten<br />
wie Finnland schon<br />
lange umsetzen: Menschen<br />
brauchen erst mal<br />
geschützte eigene vier Wände, bevor<br />
sie sich ihren anderen Problemen<br />
zuwenden können: einer Suchterkrankung<br />
etwa, Schulden oder fehlenden<br />
Jobperspektiven.<br />
Doch ist das Modellprojekt kaum<br />
mehr als der berühmte Tropfen auf<br />
den heißen Stein, wie andere Zahlen<br />
zeigen. Rund 1000 Haushalte werden<br />
jährlich in Hamburg zwangsgeräumt –<br />
das sind zwar weniger als in früheren<br />
Jahren, doch immer noch viel zu viele.<br />
Bei den Fachstellen für Wohnungsnotfälle<br />
melden sich sogar 3000 Haushalte<br />
pro Jahr als obdachlos. Da wundert es<br />
nicht, dass Sozialarbeiter:innen beklagen,<br />
die Fachstellen könnten vielen Betroffenen<br />
nicht mehr helfen – weil es<br />
schlicht an Wohnraum für diese Menschen<br />
fehlt.<br />
„Bauen, bauen, bauen“, das Mantra<br />
vergangener Jahre hilft nicht, wenn<br />
die falschen Wohnungen hochgezogen<br />
werden. 1895 Sozialwohnungen wurden<br />
2021 in Hamburg fertiggestellt,<br />
nur jede vierte neugebaute Wohnung<br />
ist damit eine preisgebundene. Weil<br />
gleichzeitig gut 3000 Sozialwohnungen<br />
32
aus der Bindung fielen, ist die Menge<br />
bezahlbarer Wohnungen in der Stadt<br />
erneut gesunken – wie seit vielen Jahren<br />
schon. Gleichzeitig wächst die Zahl<br />
derer, die sich überzogene Mieten nicht<br />
leisten können. Und die Aussichten für<br />
die kommenden Jahre sind düster, angesichts<br />
von Materialmangel auf den<br />
Baustellen und Inflation.<br />
Nun hat der Senat einen Plan vorgestellt,<br />
der für mehr Wohnungen für<br />
Menschen in Notlagen sorgen soll. Mit<br />
einem „Sieben-Punkte-Programm“ will<br />
Rot-Grün helfen, etwa den Anteil von<br />
Sozialwohnungen bei Neubauprojekten<br />
zu erhöhen oder Belegungsrechte anzukaufen.<br />
Das hört sich gut an – ist aber<br />
nicht mehr als eine Auflistung altbekannter<br />
Rezepte. Zielzahlen nennt der Senat<br />
nicht. Und neue Ideen? Fehlanzeige.<br />
Kürzlich hat die Grüne Mareike<br />
Engels im Sozialausschuss der Bürgerschaft<br />
an die „kleine Vision“ erinnert,<br />
die Obdachlosigkeit bis 2030 abzuschaffen<br />
– ein Ziel, hinter das sich Sozialsenatorin<br />
Melanie Leonhard (SPD)<br />
im Kreis der Sozialminister:innen der<br />
Bundesländer ausdrücklich gestellt hat.<br />
Doch fragt man in ihrer Behörde nach,<br />
wie genau dieses Ziel erreicht werden<br />
soll, kommt bislang nur der Verweis<br />
auf die Bundesregierung. Das klingt<br />
nicht nach einem kühnen Plan für ein<br />
großes Projekt.<br />
Dabei braucht es jetzt genau das:<br />
eine konkrete Planung mit überprüfbaren<br />
Zwischenschritten. Der Senat darf<br />
nicht zögern; er muss jetzt Antworten<br />
suchen auf die Frage, wie Obdach- und<br />
Wohnungslosigkeit in Hamburg innerhalb<br />
von nicht einmal acht Jahren abgeschafft<br />
werden können.<br />
Bereits im April hat die Arbeitsgemeinschaft<br />
der Freien Wohlfahrtspflege<br />
Vorschläge dazu veröffentlicht. Diese<br />
Ideen sollte die Sozialbehörde dringend<br />
mit Fachleuten aus Verbänden<br />
und Projekten diskutieren. Gerne bieten<br />
auch wir von Hinz&<strong>Kunzt</strong> unsere<br />
Hilfe an. Damit wir alle in acht Jahren<br />
sagen können: Bei der Verwirklichung<br />
dieses tollen Vorhabens waren wir in<br />
Hamburg vorne mit dabei – und darauf<br />
können wir stolz sein. •<br />
joern.sturm@hinzundkunzt.de<br />
33<br />
„Es<br />
braucht<br />
jetzt eine<br />
konkrete<br />
Planung.“
Stadtgespräch<br />
Die große Flatter<br />
Kaum ein Tier hat einen<br />
so miesen Ruf wie die<br />
Stadttaube. Hamburger<br />
Tierschützer:innen versuchen<br />
einiges, um Image und<br />
Lebenssituation der Vögel<br />
zu verbessern. Konkrete Vorschläge<br />
politisch umzusetzen,<br />
ist jedoch schwierig.<br />
TEXT: SIMONE DECKNER<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
E<br />
rst vor zwei Tagen hat Andrea<br />
Scholl wieder eine tote Taube<br />
vom Radweg geklaubt. „Die<br />
war gerade frisch überfahren<br />
worden“, sagt sie. Die 55-Jährige sammelt<br />
regelmäßig Tauben von der Straße: Vögel<br />
mit abgeschnürten Füßen, gebrochenen<br />
Flügeln und angesengten Federn, es ist alles<br />
dabei. Auf ihrem Handy hat Scholl<br />
Dutzende Fotos davon gespeichert. Die<br />
zeigt sie dann den Politiker:innen und<br />
Journalist:innen, mit denen die 2. Vorsitzende<br />
des Vereins „Hamburger Stadttauben“<br />
über die, wie sie sagt, vielen Vorurteile<br />
gegenüber Stadttauben spricht.<br />
Lateinisch übrigens: Columba livia forma<br />
domestica.<br />
Tatsächlich ist das Image der flatternden<br />
Großstadtbewohnerinnen mies: Ratten<br />
der Lüfte, Müllschlucker, Krankheitsverbreiter,<br />
Gebäudezerstörer – die Liste<br />
der Vorwürfe ist lang. Es seien immer zu<br />
viele an einem Ort, sie kämen zu nah, eklige<br />
Fressgewohnheiten hätten sie auch.<br />
Fliegen sie im Schwarm hoch, bekommen<br />
manche Menschen Panikattacken.<br />
Kaum jemand weiß, dass Tauben viel<br />
mehr können, als Pommes vom Asphalt zu<br />
picken und auf Autodächer zu scheißen.<br />
Tauben sind sogar ziemlich schlau: Sie<br />
können sowohl einfache Rechenregeln lernen<br />
als auch Wörter voneinander unterscheiden.<br />
Noch besser funktioniert ihr<br />
Bildgedächtnis: Bis zu 1800 unterschiedli-<br />
35
FOTO: PICTURE-ALLIANCE / DPA<br />
che Motive können sie sich einprägen.<br />
In einem Versuch lernten Tauben nach<br />
kurzer Zeit, den Stil Van Goghs von einem<br />
Picasso zu unterscheiden. In einem<br />
anderen Experiment wurden sie<br />
erfolgreich trainiert, Brustkrebs in Aufnahmen<br />
von Gewebeschnitten zu<br />
erkennen.<br />
„Wenn Sie einen Taubenschwarm<br />
füttern, können Sie im Bikini oder im<br />
Regenmantel kommen, die Tauben erkennen<br />
Sie nach dem dritten Mal wieder“,<br />
sagt Susanne Gentzsch von „Gandolfs<br />
Taubenfreunde“. Die 64-Jährige<br />
kümmert sich seit 18 Jahren um Stadttauben.<br />
Tierschützer:innen wie sie wollen<br />
nicht nur den Ruf der Tauben<br />
durch Aufklärung verbessern, sie haben<br />
auch politische Ziele: Das seit 2003 in<br />
der Stadt geltende Taubenfütterungsverbot<br />
wollen sie abschaffen. Stattdessen<br />
sollen Taubenschläge errichtet werden,<br />
idealerweise vier pro Bezirk.<br />
Solche Schläge, bekannt als Augsburger<br />
Modell, sind gewissermaßen Luxushotels<br />
für die Vögel: mit eigenem<br />
Brutplatz, gesundem Essen, frischem<br />
Wasser und medizinischer Versorgung.<br />
„Die Schläge<br />
sind das einzige<br />
tierschutzkonforme<br />
Konzept.“<br />
TIERSCHÜTZERIN ANDREA SCHOLL<br />
Damit gewinnen beide Seiten, meinen<br />
die Tierschützer:innen: Taube glücklich,<br />
Mensch auch. Andrea Scholl ist<br />
überzeugt: „Die Schläge sind das einzige<br />
tierschutzkonforme Konzept, das<br />
funktioniert.“<br />
Denn wenn die Tauben artgerechtes<br />
Futter bekommen, müssten sie nicht<br />
mehr in Fußgängerzonen und Bahnhöfen<br />
nach Essensresten suchen. „Sie<br />
scheiden dann auch nicht mehr den typischen<br />
Hungerkot aus“, sagt Denstone<br />
Rejinolds, der in einem neuen Taubenschlag<br />
in Bahrenfeld regelmäßig nach<br />
dem Rechten sieht: auf 450-Euro-Basis,<br />
36<br />
bezahlt vom Verein „Hamburger Tierhelfer“.<br />
Der sogenannte Hungerkot ist<br />
typisch für kranke, unterernährte Tauben,<br />
erklärt Rejinolds. Dass die Hinterlassenschaften<br />
der Vögel Gebäude zum<br />
Einsturz bringen könnten, sei aber<br />
„maßlos übertrieben“, ergänzt Susanne<br />
Gentzsch. Ein Gutachten der Universität<br />
Darmstadt habe an Granit, Nadelholz<br />
und Ziegel keine schädlichen Auswirkungen<br />
der Ausscheidungen<br />
festgestellt. Nur Stahlblech wies leichte<br />
Rostschäden auf nach sieben Monaten<br />
Einwirkung.<br />
„Wir haben 2019 auch eine Klage<br />
gegen ein großes Schädlingsbekämpfungsunternehmen<br />
gewonnen“, berichtet<br />
Tierschützerin Andrea Scholl. „Seitdem<br />
dürfen sie nicht mehr behaupten,<br />
Tauben seien Keimschleudern und<br />
Krank heits überträger.“<br />
Zur Abschreckung der Stadttauben<br />
erlaubt sind Spikes, Netze, Stromstöße<br />
und Laserstrahlen. Die Folge: viele verletzte<br />
und verendete Tiere. „Das wäre<br />
nicht so, wenn wir Taubenschläge hätten“,<br />
sagt Susanne Gentzsch. „Wir<br />
brauchen die Schläge auch deshalb, um
Stadtgespräch<br />
die Population im Rahmen zu halten.“<br />
Denn auch die Tierschützer:innen wollen<br />
die Zahl der Stadttauben eingrenzen.<br />
Die Lösung lautet: Geburtenkontrolle.<br />
Dafür genügt es, regelmäßig die<br />
echten Taubeneier durch Attrappen<br />
auszutauschen. „Im vergangenen Jahr<br />
haben wir allein im Schlag am Hauptbahnhof<br />
750 Eier getauscht“, rechnet<br />
Andrea Scholl vor. „Stellen Sie sich mal<br />
vor, dass diese nicht geschlüpften Tiere<br />
und deren Nachkommen hier noch herumfliegen<br />
würden.“<br />
Mittlerweile unterstützen auch einige<br />
Politiker:innen die Idee. Einzelne Bezirke,<br />
etwa Bergedorf und Harburg,<br />
wollen Taubenschläge einrichten. Zu<br />
Irritation bei den Tierschützer:innen<br />
führte im Januar allerdings ein Antrag<br />
der SPD Altona. Die forderte, „die Taubenplage<br />
in der Großen Bergstraße einzudämmen“.<br />
Ihr Vorschlag: Mehr<br />
Verbotsschilder, die das Taubenfütterungsverbot<br />
anzeigen, und eine<br />
Geldbuße bei Verstößen – bis zu 5000<br />
Euro. Der Antrag wurde abgelehnt.<br />
Nun diskutiert man auch in Altona<br />
über Taubenschläge.<br />
Stephan Jersch, tierschutzpolitischer<br />
Sprecher der Linksfraktion, ist allerdings<br />
genervt: „Jeder Bezirk macht<br />
seinen eigenen Versuch, das Problem<br />
vor Ort zu regeln“, sagt er. Zuletzt wurde<br />
im Juni ein Antrag der Linken in der<br />
Bürgerschaft abgelehnt, der eine Ausnahme<br />
vom Taubenfütterungsverbot<br />
zum Ziel hatte. Derzeit dürfen nämlich<br />
auch die Tierschützer:innen offiziell<br />
nicht füttern, selbst wenn sie verletzte<br />
und kranke Vögel anlocken wollen.<br />
„Das Fütterungsverbot bringt gar<br />
nichts. Die Tiere sind nach wie vor in<br />
Hülle und Fülle vorhanden. Da muss<br />
man umdenken, die Lösung ist ja da“,<br />
sagt Andrea Scholl. Sie wüsste auch geeignete<br />
Standorte für die Taubenschläge:<br />
städtische Gebäude wie Polizeistationen<br />
oder das Parkhaus am Bahnhof<br />
Altona zum Beispiel. Bei Lisa Maria<br />
Otte, tierschutzpolitischer Sprecherin<br />
der Grünen, trifft sie damit grundsätzlich<br />
auf offene Ohren: „Ich finde den<br />
Ansatz gut, auch die Stadt bei der<br />
Standortsuche in die Pflicht zu nehmen“,<br />
sagt sie. Das sei bei mehr als<br />
400 öffentlichen Unternehmen in der<br />
Stadt allerdings nicht so einfach zu<br />
organisieren.<br />
Am Ende gehe es natürlich auch<br />
um Geld, sagt Otte. Das wissen auch<br />
Denstone Rejinolds und Susanne Gentzsch<br />
vor einem Taubenschlag<br />
Zahlengezwitscher<br />
Geschätzt leben 10.000 bis 25.000<br />
Stadttauben in Hamburg. Derzeit gibt es<br />
für sie nur eine Handvoll betreuter Taubenschläge.<br />
Vier pro Bezirk fordern<br />
Tierschützer:innen. Dort könnten die<br />
Vögel kontrolliert brüten, artgerecht gefüttert<br />
und medizinisch versorgt werden.<br />
2021 haben Tierschützer:innen rund<br />
8500 verletzte oder erkrankte Tauben<br />
gerettet. Im Tierheim Süderstraße wurden<br />
1700 Stadttauben abgegeben. Während<br />
gesunde Tauben bis zu 15 Jahre alt<br />
werden können, sterben Stadttauben im<br />
Schnitt mit nur zwei Jahren.<br />
37
Rubrik<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>354</strong>/AUGUST 2022<br />
In diesem Taubenschlag in<br />
Bahrenfeld sind 90 Tauben<br />
nach dem Abriss eines Hauses<br />
untergekommen.<br />
38
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Berliner Gutachten<br />
Stadttauben sind die genetischen<br />
Nachfahren von gezüchteten Brief- und<br />
Ziertauben und somit Haustiere. Das<br />
geht aus einem Gutachten der Berliner<br />
Landestierschutzbeauftragten (2021)<br />
hervor. Die Schlussfolgerung: Die<br />
Kommunen sind in der Fürsorgepflicht<br />
für die Stadttauben, da sie gewissermaßen<br />
deren Halter:innen sind. Taubenfütterungsverbote<br />
verstoßen demnach<br />
gegen das Tierschutzgesetz und sind<br />
rechtswidrig. Eine rechtliche Bindung<br />
hat das Gutachten jedoch nicht.<br />
die Tierschützer:innen. Sie fordern den<br />
Senat auf, den Bau und Unterhalt von<br />
Taubenschlägen zu finanzieren. In<br />
Norderstedt funktioniert das bereits.<br />
Seit Anfang des Jahres steht dort ein<br />
Taubenschlag für 138 Tiere, bezahlt<br />
und unterhalten von der Stadt. Die<br />
Kosten für den Bau eines Schlags<br />
bewegen sich zwischen 10.000 und<br />
25.000 Euro. Das Problem sind die laufenden<br />
Kosten. Die Tierschützer:innen<br />
beziffern diese mit rund 12.000 Euro<br />
pro Jahr, zudem müsste das Geld langfristig<br />
zur Verfügung stehen.<br />
Die Lage sei angesichts des durch<br />
Pandemie und Krieg angespannten<br />
Haushalts schwierig, sagt die Grüne Lisa<br />
Tierschützerin Andrea Scholl schlägt vor,<br />
städtische Dächer für Taubenschläge zu nutzen.<br />
Maria Otte: „Da gibt es noch keine<br />
Einigung.“ Ihr Ziel: ein Gesamtkonzept<br />
für Hamburgs Stadttauben. „Ich hoffe,<br />
dass ich in dieser Legislaturperiode<br />
dazu noch Dinge verkünden kann“, so<br />
Otte. München und Berlin haben schon<br />
ein Taubenmanagement. Bis Hamburg<br />
so weit ist, wird Andrea Scholl weiter<br />
tote Tauben aufsammeln. •<br />
Simone Deckner betrachtet<br />
Stadttauben nach der Recherche<br />
versöhnlicher. Im<br />
Taubenschlag am Hauptbahnhof<br />
wurde sie neugierig<br />
von einigen rot-gelben Taubenaugen beobachtet<br />
– stets in gebotenem Abstand.<br />
simone.deckner@hinzundkunzt.de<br />
39
Peter Meyer ist<br />
Mitglied im<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />
Freundeskreis<br />
geworden.<br />
Anstoß zum Spenden<br />
Das 9-Euro-Ticket soll Menschen finanziell entlasten – auch die,<br />
die es gar nicht nötig haben. Das findet Peter Meyer ungerecht und spendet<br />
die Differenz zu seinem regulären Monatsticket an Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />
TEXT: MISHA LEUSCHEN<br />
FOTO: IMKE LASS<br />
P<br />
eter Meyer hat den wohl schönsten<br />
Arbeitsweg in der Stadt. Am<br />
frühen Morgen setzt er mit der<br />
Hafenfähre von Teufelsbrück zu Airbus<br />
nach Finkenwerder über, sieht fantastische<br />
Sonnenaufgänge, begleitet von<br />
Möwengeschrei und dem Tuckern der<br />
Schiffsmotoren – mehr Hamburg geht<br />
nicht. „Nur selten ist die Überfahrt<br />
kabbelig, meist ist die Elbe ruhig, und<br />
die acht Minuten sind wie eine kleine<br />
Kreuzfahrt – morgens und abends“,<br />
schwärmt der 56-Jährige.<br />
75 Euro im Monat kostet sein<br />
HVV-Jobticket. Doch im Juni, Juli und<br />
<strong>August</strong> wurden auch bei ihm nur 9 Euro<br />
40<br />
abgebucht. Die Reduzierung ist Teil eines<br />
Entlastungspakets der Bundesregierung,<br />
das gestiegene Energiepreise<br />
kompensieren soll. „Ich bekomme also<br />
66 Euro pro Monat geschenkt, obwohl<br />
es nicht nötig wäre“, sagt Peter Meyer.<br />
Andere Menschen müssten sich das<br />
Geld abknapsen. „Diese pauschale
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Vergabe ist ungerecht. Ich finde das<br />
fast unanständig für diejenigen, die ein<br />
gutes Gehalt haben. Gesellschaftliche<br />
Verantwortung muss man anders denken.“<br />
Wer wie er einen guten Job habe,<br />
der könne verzichten.<br />
„Ist das Geld nicht besser da aufgehoben,<br />
wo anderen Menschen geholfen<br />
wird?“, hat Peter Meyer sich gefragt.<br />
„So bin ich auf Hinz&<strong>Kunzt</strong> gekommen.“<br />
Seit der Lüneburger nach Hamburg<br />
zog, kauft und liest er Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />
Mittlerweile wohnt er in Quickborn und<br />
findet dort immer eine:n Verkäufer:in.<br />
„Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist präsent in der Stadt,<br />
das Konzept ist überzeugend“, sagt er.<br />
Gerade während der Pandemie habe er<br />
noch besser verstanden, wie hart manche<br />
Menschen betroffen waren, denen<br />
es schon vorher nicht gut ging. Also setzte<br />
er einen schon länger gefassten<br />
Vorsatz in die Tat um, wurde Mitglied<br />
im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Freundeskreis und<br />
spendete die Differenzsumme der drei<br />
Monate ans Projekt.<br />
Peter Meyer weiß selbst, wie es ist,<br />
jeden Monat rechnen zu müssen. Er<br />
kommt aus einfachen Verhältnissen, der<br />
Freunde<br />
Lohn des Vaters, ein Maschinenbauer,<br />
reichte für das Nötigste. Taschengeld<br />
verdienten die beiden Söhne mit Jobs<br />
selbst, und auch während des Studiums<br />
musste Peter Meyer oft haushalten, erinnert<br />
er sich. „Heute haben wir ein Auskommen<br />
mit dem Einkommen.“<br />
Und obwohl er gut verdiene und keine<br />
teuren Hobbys habe, bleibe am Ende<br />
des Monats oft gar nicht so viel übrig.<br />
„Wie kommen dann die anderen klar,<br />
die weniger haben?“, fragt er sich<br />
nachdenklich.<br />
Natürlich könne man mehr machen<br />
als er jetzt mit seiner Spende. „Ich<br />
gebe ja nur weiter, was ich geschenkt<br />
bekommen habe“, sagt er bescheiden.<br />
Im Kollegen- und Freundeskreis hat er<br />
für seine Idee geworben. „Vielleicht<br />
kann man ja den einen oder anderen<br />
motivieren“, ist seine Hoffnung. Manche<br />
bräuchten einen Anstoß, so wie er<br />
selbst. „Eigentlich wollte ich schon lange<br />
in den Freundeskreis, aber ich war<br />
zu bequem, um mich zu kümmern.<br />
Den Stupser hab ich gebraucht!“ •<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
JA,<br />
ich werde Mitglied<br />
im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />
Freundeskreis.<br />
Damit unterstütze ich<br />
die Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />
Meine Jahresspende beträgt:<br />
60 Euro (Mindestbeitrag für<br />
Schüler:innen/Student:innen/<br />
Senior:innen)<br />
100 Euro<br />
Euro<br />
Datum, Unterschrift<br />
Ich möchte eine Bestätigung<br />
für meine Jahresspende erhalten.<br />
(Sie wird im Februar des Folgejahres zugeschickt.)<br />
Meine Adresse:<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Nr.<br />
PLZ, Ort<br />
Telefon<br />
E-Mail<br />
Einzugsermächtigung:<br />
Ich erteile eine Ermächtigung zum<br />
Bankeinzug meiner Jahresspende.<br />
Ich zahle: halbjährlich jährlich<br />
IBAN<br />
Dankeschön<br />
BIC<br />
Wir danken allen unseren Spender:innen, die<br />
uns im Juli 2022 unterstützt haben, sowie<br />
allen Mitgliedern im Freundeskreis von<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>! Ausdrücklich danken wir allen<br />
Spender:innen – kleine Beträge und große<br />
Beträge werden geschätzt! Auch unseren<br />
Unterstützer:innen auf Facebook:<br />
ein großes Dankeschön!<br />
DANKESCHÖN EBENFALLS AN:<br />
• wk-it-consultants GmbH<br />
• die Hamburger Tafel<br />
• Produktionsbüro<br />
Romey von Malottky GmbH<br />
• die Obstmonster GmbH<br />
• Hanseatic Help<br />
• Axel Ruepp Rätselservice<br />
• die Hamburger Kunsthalle<br />
NEUE FREUNDE:<br />
• Niklas Fiedler • Birgitta Gabriel<br />
• Julian Jäger • Manfred Panek<br />
• Hans Georg Rietz • Hauke Thun<br />
• Andrea Weiss<br />
Bankinstitut<br />
Ich bin damit einverstanden, dass mein Name in<br />
der Rubrik „Dankeschön“ in einer Ausgabe des<br />
Hamburger Straßenmagazins veröffentlicht wird:<br />
Ja<br />
Nein<br />
Wir garantieren einen absolut vertraulichen<br />
Umgang mit den von Ihnen gemachten Angaben.<br />
Die übermittelten Daten werden nur zu internen<br />
Zwecken im Rahmen der Spendenverwaltung<br />
genutzt. Die Mitgliedschaft im Freundeskreis ist<br />
jederzeit kündbar. Wenn Sie keine Informationen<br />
mehr von uns bekommen möchten, können<br />
Sie jederzeit bei uns der Verwendung Ihrer<br />
personenbezogenen Daten widersprechen.<br />
Unsere Datenschutzerklärung können Sie<br />
einsehen unter www.huklink.de/datenschutz<br />
Bitte Coupon ausschneiden und senden an:<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Freundeskreis<br />
Minenstraße 9, 20099 Hamburg<br />
Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk<br />
41<br />
HK <strong>354</strong>
Buh&Beifall<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>354</strong>/AUGUST 2022<br />
Was unsere Leser:innen meinen<br />
„Der Bericht ließ Wut in mir aufsteigen“<br />
Welch Behördenunsinn!<br />
H&K 353, „In der Falle“<br />
Der Bericht berührte mich sehr tief<br />
und ließ eine unbändige Wut in mir<br />
aufsteigen. Welch Behördenunsinn!<br />
UTE BUHR<br />
Ich bin sauer, dass Rahma in dieser<br />
Lage steckt.<br />
MIRIAM SEMRAU<br />
Wie so oft nicht nachvollziehbar, wie<br />
Behörden „arbeiten“. GÜNTHER LÜDERS<br />
Es wird Zeit für Solidarität<br />
H&K 353, Schwerpunkt Alter<br />
Das Titelblatt sprach mich sofort an.<br />
Aber Ihre Beiträge besagten für mich<br />
eher das Gegenteil und weckten mehr<br />
Furcht als Freude. Es geht auch anders.<br />
Liebe wächst und gedeiht bis ins höchste<br />
Alter. Darf ich auf zwei Liebeslehrbücher<br />
für ältere Menschen hinweisen:<br />
Peter Schütts „Pro-Aging-Manifest“ und<br />
seine Gedichtsammlung „Altweibersommernachtstraum“.<br />
FRIEDRICH WARNECKE<br />
Ich bin 70 Jahre alt und habe eine<br />
Altersrente von 940 Euro. Deshalb habe<br />
ich keinen Anspruch auf Sozialleistungen.<br />
Geprüft wird noch, ob ich Anspruch<br />
auf Wohngeld habe. Von den<br />
Ausgleichsregelungen der Regierungskoalition<br />
habe ich nichts. Es ist nicht<br />
unwahrscheinlich, dass meine Situation<br />
noch prekärer wird. Es wird Zeit, dass<br />
auch Solidarität mit „schmalen Rentnern“<br />
wie mir getätigt wird, obwohl wir<br />
noch keine Grundsicherungsempfänger<br />
sind.<br />
JÜRGEN BRINKOP<br />
Leser:innenbriefe geben die Meinung der<br />
Verfasser:innen wieder, nicht die der Redaktion.<br />
Wir behalten uns vor, Briefe zu kürzen. Über Post<br />
an briefe@hinzundkunzt.de freuen wir uns.<br />
Wir trauern um<br />
Yau Bismarck Afrije<br />
6. Juni 1982 – März 2022<br />
Bismarck war leider nicht lange Verkäufer.<br />
Er verstarb im Winternotprogramm der Caritas.<br />
Die Verkäufer:innen und das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Team<br />
Wir trauern um<br />
Roman Szupke<br />
17. Mai 1962 – 22. Mai 2022<br />
Roman hat den Kampf gegen den Alkohol leider<br />
verloren. Er verstarb in seiner Wohnung.<br />
Die Verkäufer:innen und das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Team<br />
Wir trauern um<br />
Istvan Csizmadia<br />
22. September 1958 – 4. Juni 2022<br />
Sein Herz hatte keine Kraft mehr und hörte auf<br />
zu schlagen. Istvan verstarb in seiner Wohnung.<br />
Die Verkäufer:innen und das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Team<br />
HAMBURGER NEBENSCHAUPLÄTZE<br />
Der etwas andere<br />
Stadtrundgang<br />
<br />
<br />
Wollen Sie<br />
Hamburgs City<br />
einmal mit<br />
anderen Augen<br />
sehen? Abseits<br />
der glänzenden<br />
Fassaden zeigen wir<br />
Orte, die in keinem<br />
Reiseführer stehen:<br />
Bahnhofsmission<br />
statt Rathaus und<br />
Tagesaufenthaltsstätte<br />
statt Alster.<br />
Sie können mit<br />
unserem Stadtführer<br />
Chris zu Fuß auf<br />
Tour gehen, einzeln<br />
oder als Gruppe mit<br />
bis zu 25 Personen.<br />
Auch ein digitaler<br />
Rundgang ist<br />
möglich. Das ist fast<br />
genauso spannend.<br />
Offener Rundgang am Sonntag, 21. <strong>August</strong>, um 15 Uhr.<br />
Reguläre Rundgänge bequem selbst buchen unter:<br />
www.hinzundkunzt.de/stadtrundgang<br />
Digitale Rundgänge bei friederike.steiffert@hinzundkunzt.de oder<br />
Telefon: 040/32 10 84 04<br />
Kostenbeitrag: 5 Euro/10 Euro<br />
pro Person
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Drei gegen den Strom:<br />
Drei gegen den Strom:<br />
Street-Art-Künstlerin Hanadi Chawaf führt durch die Ausstellung „Be With the Revolution“ (S. 44).<br />
Choreografin Yolanda Morales gibt Tanzworkshops für Menschen mit und ohne Hörvermögen (S. 50).<br />
Und Kolumnist Benjamin Laufer erklärt, warum sein Schrebergarten definitiv Punkrock ist (S. 56).<br />
Auf dem „HoheLuftschiff“ will man<br />
über jegliche Grenzen hinwegtreiben:<br />
Vom 31. <strong>August</strong> bis 7. Oktober findet<br />
hier ein Theaterfestival mit<br />
Künstler:innen aus ganz Europa statt.<br />
Für Kinder von 2 bis 12 Jahren,<br />
Tickets: www.hoheluftschiff.de<br />
FOTO: KATHARINA MOCK/HOHELUFTSCHIFF
Rubrik<br />
„Wie sollte<br />
ich schon<br />
rebellieren?“<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>354</strong>/AUGUST 2022<br />
Das Hamburger Museum für Kunst und<br />
Gewerbe zeigt in einer Ausstellung, wie<br />
Street-Art die Proteste der arabischen Welt<br />
seit 2011 begleitet. Ein Besuch mit der<br />
Hamburger Künstlerin Hanadi Chawaf<br />
TEXT: ANNA-ELISA JAKOB<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
44
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Rubrik<br />
Hanadi Chawafs<br />
„Weinende Kinder“<br />
klebten auch an<br />
Hamburger Wänden.<br />
45
Eines Morgens saß Hanadi<br />
Chawaf auf einer Bank in<br />
Winterhude und beobachtete,<br />
wie ihre Wut und ihre<br />
Trauer von einer Hauswand gekratzt<br />
wurden. Es kratzte die Besitzerin eines<br />
Luftballongeschäfts, an dessen Wand<br />
Chawaf eines ihrer Werke geklebt hatte:<br />
ein Junge, der seinen großen Kopf in<br />
seine kleinen Hände stützte, eine Träne<br />
floss aus seinem Auge. So saß er unter<br />
der Werbung für Luftballons.<br />
Es war das Jahr 2014 und das<br />
Bild des Jungen ihr Blick auf ihre<br />
Heimat Syrien, auf die gewaltsame<br />
Niederschlagung der Proteste und die<br />
Gewalt, die sie jeden Tag in den Nachrichten<br />
sah.<br />
„Wie sollte ich schon rebellieren?“,<br />
fragt die 40-Jährige heute. Was, ausgerechnet<br />
von ihr, eine bemerkenswerte<br />
Frage ist, weil man die Geschichte ihres<br />
Lebens selbst als eine der Rebellion erzählen<br />
könnte. Doch damals fühlte sie<br />
sich vor allem hilflos und seltsam schuldig:<br />
weil sie hier lebte, die grausamen<br />
Bilder sah, aber nicht mit den anderen<br />
demonstrieren konnte.<br />
Sie wollte, dass die Welt – ihre Welt,<br />
in der sie nun lebte, Hamburg, Europa,<br />
der Westen – hinsah: Wie das Regime<br />
in Syrien mit äußerster Brutalität auf<br />
46<br />
die Protestierenden reagierte, wie es immer<br />
wieder zu Gewalt kam, auch gegen<br />
Kinder. So wurden im März 2011 in<br />
der Stadt Daraa mehrere Kinder festgenommen<br />
und misshandelt, weil sie ein<br />
Graffiti als Protest gegen Präsident<br />
Bashar Al-Assad gesprüht hatten. Graffiti,<br />
Street-Art generell, werden seit Beginn<br />
des Arabischen Frühlings in Ägypten<br />
und Tunesien zu einer wichtigen<br />
Ausdrucksform des Protests.<br />
Und ja, vielleicht würden die Menschen<br />
in Hamburg für einen Moment<br />
an diese Kinder denken, wenn sie ihr<br />
Bild sehen und ihren eigenen Kindern<br />
einen Luftballon kaufen, dachte sie.
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
In dem schmalen Museumsraum<br />
hängt Street-Art aus<br />
fünf verschiedenen Ländern.<br />
Ihre Serie „Weinende Kinder“ klebte<br />
Chawaf an all die Orte, an die sie kam,<br />
in Hamburg, in Frankfurt, in Paris, in<br />
Kopenhagen, manche in Los Angeles.<br />
Nicht nur ihr Protest, auch die Stationen<br />
ihres Lebens fanden auf den Fassaden<br />
zusammen. Die Erinnerungen an<br />
ihre Heimatstadt Damaskus, die sie mit<br />
20 Jahren verließ, und die Orte ihrer<br />
Zukunft: die USA, das Land, in das sie<br />
auswanderte, in dem sie ihr Kunststudium<br />
begann. Und dann Hamburg, wo<br />
sie 2008 hinzog, mit ihrem Mann eine<br />
Familie gründete, eine Tochter bekam.<br />
Einige Male tätowierte sie diese<br />
Motive auch. Als immer mehr junge<br />
Menschen aus Syrien nach ihrer Flucht<br />
in Hamburg ankamen, die Gefühle<br />
hinter ihrer Kunst verstanden und diese<br />
auf ihrer Haut verewigt haben wollten.<br />
Zum Beispiel Moaeed, der vor<br />
sechs Jahren den Weg in ihr Tattoostudio<br />
„Hanadis Garage“ fand und einen Jungen<br />
mit einer zerstörten Puppe im Arm<br />
auswählte. Heute sind die beiden gute<br />
Freunde. Für sie selbst, sagt Chawaf,<br />
seien ihre Werke „meine Therapie“.<br />
Manchmal beobachtete sie auf der<br />
Straße auch Menschen, die vor ihren<br />
Bildern standen, dort Fotos machten<br />
und sich darüber unterhielten. Genau<br />
das mag sie an Street-Art, dass sie „für<br />
alle Leute ist, nicht nur für diejenigen,<br />
die in Museen gehen“.<br />
Nun gut, jetzt steht<br />
sie gerade selbst<br />
in einem Museum,<br />
an diesem<br />
Mittwochnachmittag<br />
im Juni.<br />
Zum schwarzen<br />
Shirt trägt sie eine<br />
lockere, bunte<br />
Hose, die Tattoos<br />
auf ihren Armen<br />
liegen frei. Und natürlich<br />
ist die Tätowiererin<br />
und Street-Art-Künstlerin<br />
cool: ja, komplett lässig,<br />
wenn sie spricht, auch<br />
wenn es dabei um tiefe<br />
Gefühle geht.<br />
Ihre Werke werden ein<br />
Jahr lang im Museum für<br />
Kunst und Gewerbe ausgestellt,<br />
der Titel der Ausstellung<br />
„Be With the Revolution“.<br />
13 Künstler:innen<br />
werden hier vorgestellt, die<br />
sich in ihrer Kunst vor Ort<br />
oder aus dem Exil mit den<br />
Protesten der arabischen Welt<br />
auseinandergesetzt haben.<br />
Bei der Eröffnung war Chawaf<br />
die einzige Künstlerin, die in<br />
dem schmalen Ausstellungsraum<br />
anwesend sein konnte. Sie wohnt in<br />
Hamburg, die meisten anderen<br />
47<br />
„Ich fühlte mich<br />
schuldig, weil ich<br />
nicht mit den<br />
anderen demonstrieren<br />
konnte.“<br />
Künstler:innen leben und arbeiten im<br />
Ausland, in Ägypten, Tunesien, dem<br />
Libanon und den USA.<br />
Man sehe das, findet sie, wenn man<br />
auf die unterschiedlichen Werke der<br />
Ausstellung blickt: Dass sie selbst hier<br />
in Deutschland war, während die<br />
anderen die Revolution und<br />
den Krieg erlebt hatten. „Sie<br />
haben den Tod gesehen“,<br />
sagt Chawaf.<br />
Zum Beispiel das Bild,<br />
das über dem ihres weinenden<br />
Jungen hängt:<br />
Auf einer Hauswand ist<br />
ein Junge zu sehen, auch<br />
aus seinem Auge fließt eine<br />
Träne, in der Hand<br />
hält er ein gefülltes<br />
Fladenbrot. Es sieht<br />
sehr realistisch aus,<br />
die Farben sind<br />
grell, die Augen des<br />
Jungen weit aufgerissen.<br />
Er wirkt ganz<br />
nah, als käme er direkt<br />
aus dieser Wand,<br />
mitten in Kairo.
Blaue BHs: Ein Symbol des Protests in Ägypten.<br />
Hanadi Chawaf lebt als<br />
Künstlerin in Hamburg und<br />
tätowiert ihre Werke auch<br />
in ihrem Studio „Hanadis<br />
Garage“ in der Schanze.<br />
Der ägyptische Künstler Ammar Abo<br />
Bakr hatte den Straßenjungen dort<br />
verewigt. Er hatte seinen Bruder im November<br />
2013 auf dem Tahrir-Platz in<br />
Kairo verloren, als dort mehr als<br />
1000 Zivilist:innen nahe einer Moschee<br />
getötet wurden.<br />
Oder die Werke von Bahia Shehab,<br />
auch sie lebt in Ägypten. „Ein vergessener<br />
blauer BH“ heißt eines ihrer Werke,<br />
ein anderes heißt „1000 Mal Nein“, darauf<br />
sind blaue BHs zwischen Verbotsschilder<br />
an eine Hauswand gesprüht.<br />
Am 17. Dezember 2011, während der<br />
ersten Proteste in Ägypten, nahmen<br />
Soldaten eine Frau fest, rissen ihr dabei<br />
das Kleid vom Körper und schleiften<br />
sie hinter sich her. Auf den Bildern dieser<br />
Szene zeigte sich ihr blauer BH, seither<br />
wurde er zu einem Symbol der<br />
Revolution.<br />
In ihrer Kunst ist Chawaf eine<br />
„weibliche Sichtweise auf arabischwestliche<br />
Lebensweisen“ wichtig, der<br />
Ein blauer BH<br />
wurde zum<br />
wiederkehrenden<br />
Motiv.<br />
Kampf um ein freies, selbstbestimmtes<br />
Leben war schließlich auch Teil ihrer<br />
eigenen Rebellion. Schon immer habe<br />
sie gewusst, dass sie Künstlerin werden<br />
wollte. In Syrien wurde sie jedoch zur<br />
Bauingenieurin ausgebildet, fühlte sich<br />
nicht frei, sondern eingeengt in einem<br />
korrupten System. Deshalb verließ sie<br />
vor den Protesten, vor dem Krieg, ihre<br />
Heimat. Sie erhielt ein Visum für die<br />
Vereinigten Staaten und sagte ihren Eltern,<br />
sie werde nur ein paar Monate<br />
FOTO OBEN: BAHIA SHEHAB<br />
48
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Die Ausstellung<br />
„Be With the Revolution. Streetart<br />
und Grafikdesign in den arabischen<br />
Protesten seit 2011“ ist noch bis<br />
zum 2.4.2023 im Museum für Kunst<br />
und Gewerbe zu sehen.<br />
dortbleiben, obwohl sie wusste, dass sie<br />
nicht zurückkehren wollte: in ein Land,<br />
in dem sie keine Zukunft für sich sah.<br />
Sie wollte ein Leben führen, das sie<br />
selbst für sich wählte.<br />
In den USA ließ sie sich ihr erstes<br />
Tattoo stechen, eine Fledermaus,<br />
die sie an die Nächte in Damaskus<br />
erinnert. Weil<br />
man ihr dort immer<br />
gesagt hatte, sie käme<br />
in die Hölle,<br />
wenn sie sich tätowieren<br />
ließe,<br />
schrieb sie darunter<br />
noch die Worte:<br />
„straight to hell“.<br />
Vor allem aber<br />
arbeitete Chawaf in den USA<br />
an ihrem Traum,<br />
Künstlerin zu<br />
werden. Sie<br />
bewarb sich<br />
am Maryland<br />
Institute College<br />
of Art, dreimal.<br />
Nicht weil sie nicht genommen worden<br />
wäre, einen Platz bot man ihr<br />
schon nach der ersten Bewerbung an.<br />
„Kostete nur leider 30.000 Dollar – pro<br />
Semester“, sagt Chawaf. Sie arbeitete<br />
in dieser Zeit als Kindermädchen, die<br />
Gebühr konnte sie sich nicht leisten.<br />
Ein Semester später bewarb sie sich<br />
noch mal, da bot das College ihr an,<br />
nur die Hälfte des Beitrags zu zahlen.<br />
Das war immer noch zu viel. Sie wartete<br />
noch ein Semester und bewarb sich<br />
Leichte Sprache:<br />
Es gibt den Text<br />
auch in Leichter<br />
Sprache. Scannen<br />
Sie den QR-Code<br />
mit dem Handy.<br />
Dann klicken Sie auf<br />
den Link. Der Text in Leichter Sprache<br />
öffnet sich. Oder Sie gehen auf unsere<br />
Webseite www.hinzundkunzt.de und<br />
suchen dort nach „Leichte Sprache“.<br />
www.huklink.de/<strong>354</strong>-leichte-sprache<br />
erneut. „Da bin ich richtig ausgerastet,<br />
habe riesige Bilder gemalt – und dann<br />
ein Stipendium bekommen“, erzählt<br />
sie. Ab 2002 lebte sie in Los Angeles,<br />
beklebte Wände mit ihren Postern und<br />
begann, ihren eigenen Stil zu finden.<br />
Nur eine der vielen Figuren, die<br />
Chawaf immer wieder zeichnet,<br />
klebt und tätowiert, hat übrigens<br />
einen Namen. Nuri<br />
heißt sie, eine weibliche Figur,<br />
die ein Kopftuch trägt,<br />
unter dem ein paar Haare<br />
hervorschauen. Im Museum<br />
findet man sie nun<br />
als Meerjungfrau. So<br />
klebte Chawaf sie<br />
2016 auf Hamburger<br />
Fassaden. Nuri, die<br />
mit ihrem<br />
Fischkörper<br />
schwimmen<br />
kann und so<br />
der Gewalt<br />
entkommt. Und<br />
die gleichzeitig an all die<br />
Menschen erinnern soll, die es<br />
nicht konnten, die seither auf ihrer<br />
Flucht vor Krieg und Gewalt im Mittelmeer<br />
ertrunken sind. •<br />
Anna-Elisa Jakob bekam von<br />
Hanadi Chawaf einen Sticker<br />
der wütenden Nuri mit ausgestreckten<br />
Mittelfingern<br />
geschenkt. Ideen für einen<br />
passenden Ort zum Aufkleben gerne an:<br />
annaelisa.jakob@hinzundkunzt.de<br />
10.08.22 – Mojo Club<br />
ONLY THE POETS<br />
12.08.22 – Gruenspan<br />
SEASICK STEVE<br />
15.08.22 – Mojo Club<br />
PERFUME GENIUS<br />
23.08.22 – Gruenspan<br />
ARIES<br />
24.08.22 – Uebel & Gefährlich<br />
MONO<br />
24.08.22 – Gruenspan<br />
NOAH CYRUS<br />
05.09.22 – Mojo Club<br />
PALACE<br />
06.09.22 – Laeiszhalle<br />
JON HOPKINS<br />
09.09.22 – Laeiszhalle<br />
URIAH HEEP<br />
15.09.22 – Mojo Club<br />
PHILIPP DITTBERNER<br />
17.09.22 – Mojo Club<br />
DURAND JONES & THE INDICATIONS<br />
20.09.22 – Fabrik<br />
KASALLA<br />
20.09.22 – Uebel & Gefährlich<br />
DANCE GAVIN DANCE<br />
22.09.22 – edel-optics.de Arena<br />
THREE DAYS GRACE<br />
26.09.22 – Laeiszhalle<br />
PETER BENCE<br />
26.09.22 – Laeiszhalle, kl. Saal<br />
TORD GUSTAVSEN TRIO<br />
26.09.22 – Gruenspan<br />
WELSHLY ARMS<br />
27.09.22 – Mojo Club<br />
ALEXA FESER<br />
29.09.22 – Markthalle<br />
DEAN LEWIS<br />
01.10.22 – Markthalle<br />
ÀSGEIR<br />
06.10.22 – Fabrik<br />
ILKA BESSIN<br />
06.10.22 – Markthalle<br />
OSCAR AND THE WOLF<br />
06.10.22 – Sporthalle<br />
ALAN WALKER<br />
06.10.22 – Barclays Arena<br />
BILLY IDOL<br />
07.10.22 – Markthalle<br />
DONAVON FRANKENREITER<br />
07.10.22 – Mojo Club<br />
LETTUCE<br />
08.10.22 – Elbphilharmonie, kl. Saal<br />
REBEKKA BAKKEN SOLO<br />
10.10.22 – Gruenspan<br />
GLUECIFER<br />
10.10.22 – Kampnagel / K6<br />
JOSÉ GONZÁLEZ<br />
11.10.22 – Laeiszhalle<br />
KLAUS HOFFMANN & BAND<br />
11.10.22 – Barclays Arena<br />
THE BLACK CROWES<br />
14.10.22 – Fabrik<br />
JAZZKANTINE<br />
49<br />
TICKETS: →(0 40) 4 13 22 60 → KJ.DE
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>354</strong>/AUGUST 2022<br />
„Tanz schafft<br />
Zugehörigkeit“<br />
Die Hamburger Choreografin Yolanda Morales<br />
spricht darüber, wie Bewegung helfen kann,<br />
soziale Verhältnisse zu verstehen.<br />
INTERVIEW: ANNABEL TRAUTWEIN<br />
FOTOS: STEFFEN BARANIAK, DIANA SANCHEZ (S. 51)<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Wieso ist es Ihnen wichtig,<br />
Leute zu Ihren Proben dazuzuholen, die<br />
eigentlich keine Tänzer:innen sind?<br />
Yolanda Morales: Mein erstes Ziel war,<br />
eine neue Verbindung zu unserem Publikum<br />
zu schaffen. Das war auch meinem<br />
Team ein Anliegen: Dass nicht nur<br />
unsere Kollegen kommen, sondern<br />
auch Personen aus ganz anderen Bereichen,<br />
die vielleicht nicht so häufig ins<br />
Theater gehen. Man denkt oft, dass<br />
Tanz etwas sehr Komplexes ist. Der<br />
kreative Prozess ist auch komplex, und<br />
was am Ende auf der Bühne zu sehen<br />
ist, sieht auch so aus. Das Bewegungs-<br />
Vokabular, mit dem ich als Choreografin<br />
arbeite, ist aber sehr reduziert. Das<br />
macht vieles einfacher.<br />
Lassen sich die Menschen, die Sie<br />
erreichen wollen, darauf ein, wenn sie<br />
sonst kaum Bezug zum Tanz haben?<br />
Wir wecken Interesse auch über das<br />
Thema – bei unserer Produktion „Horses“<br />
war unser Thema das Pferd als<br />
Machtsymbol im Kontext der kolonialen<br />
Geschichte Mexikos. Das Interesse<br />
daran teilten die Leute, die zu unseren<br />
Workshops kamen, egal was für einen<br />
Beruf sie haben oder womit sie sonst ihre<br />
Zeit verbringen. Oft sind zwar auch<br />
Studierende von der Contemporary<br />
Dance School Hamburg dabei, aber es<br />
melden sich auch Leute, denen es erst<br />
mal nur um das Thema geht. Durch die<br />
Bewegung kommt eine verbindende<br />
Ebene hinzu.<br />
Wie haben Sie sich im Workshop<br />
dem Thema Pferd angenähert?<br />
Wir haben zum Beispiel gefragt, welche<br />
Denkmäler den Leuten einfallen – da<br />
gibt es viele mächtige weiße Männer zu<br />
Pferd – und ob sie die körperlich nachmachen<br />
können. Dabei hat sich gezeigt,<br />
wie wir diese Monumente wahrnehmen.<br />
Wie wir die Pferde verkörpert haben (Yolanda<br />
Morales winkelt die Arme an, ballt die<br />
50<br />
Fäuste vor ihrer Webcam) – das wirkte sehr<br />
statisch, jemand hat geschrieben: martialisch.<br />
Das passt, denn das Pferd ist eine<br />
Machtdemonstration, es steht für Krieg.<br />
Indem wir das, was wir im Kopf haben,<br />
in Bewegung übersetzen, lernen wir, genauer<br />
wahrzunehmen.<br />
Was ist denn das Thema in Ihrer<br />
aktuellen Produktion „The Falling<br />
Garden of Sand“?<br />
Es geht um soziale Grenzen und Tanzstile,<br />
die innerhalb dieser Grenzen entstehen.<br />
Mich interessiert, wie Tanz<br />
Identität schafft, sich transformiert und<br />
Grenzen überwindet. Gerade bin ich in<br />
Monterrey im Norden von Mexiko.<br />
Hier wird in einigen Stadtvierteln, die<br />
eher benachteiligt sind, eine verlangsamte<br />
Form der Cumbia Columbiana<br />
getanzt. Es wird ganz anders getanzt als<br />
in Kolumbien, aber die Menschen hier<br />
beziehen sich darauf. Sie nennen sich<br />
„kleine Kolumbianer“. Der Tanz schafft
Zugehörigkeit und gibt den Menschen<br />
eine Identität, trotz der Diskriminierung,<br />
die sie als Einwohner ihres Stadtteils<br />
erfahren.<br />
Für „The Falling Garden of Sand“<br />
proben Sie mit Menschen, die nicht<br />
oder nur eingeschränkt hören können,<br />
und mit Hörenden zusammen.<br />
Wie sind Sie da rauf gekommen?<br />
Ich habe eine Cousine, die gehörlos ist.<br />
Da hatte ich viele Vorurteile und auch<br />
ein bisschen Angst, weil ich nicht wusste,<br />
wie ich mit ihr kommunizieren soll.<br />
Diese Grenze wollte ich überwinden.<br />
Wie haben Sie ihre Workshopteilnehmer:innen<br />
erreicht?<br />
Wir haben diesmal gezielt Menschen<br />
aus der gehörlosen Community eingeladen.<br />
Viele haben bisher nicht getanzt,<br />
es sind auch einige ältere Menschen dabei.<br />
Das finden wir superinteressant.<br />
Yolanda<br />
Morales probt<br />
bewusst auch<br />
mit Menschen,<br />
die eigentlich<br />
keine<br />
Tänzer:innen<br />
sind.<br />
Aus der Perspektive einer Hörenden<br />
gefragt: Wie funktioniert das überhaupt,<br />
tanzen ohne Musik?<br />
Angefangen haben wir in unserer<br />
Workshopreihe mit einer Gebärdendolmetscherin,<br />
die unsere Anweisungen<br />
übersetzt hat. Aber es gibt ja auch natürliche,<br />
innere Rhythmen, die jeder<br />
Mensch spürt – den Herzschlag zum<br />
Beispiel oder Vibrationen im Körper.<br />
Auch dazu können wir tanzen. Den<br />
Count, also das Zählen, können wir visuell<br />
machen. Durch diesen Prozess lernen<br />
wir als Team, wie wir andere Sinne<br />
als das Gehör mehr einbeziehen und<br />
mehr Aufmerksamkeit füreinander entwickeln<br />
können.<br />
Aufgeführt wird das Stück am Ende von<br />
Profitänzer:innen. Welchen Anteil haben<br />
die Laien dann noch daran?<br />
Die Personen kommen zur Aufführung<br />
und sehen eine Choreografie, die sie<br />
zum Teil kennen. Das ist auch für uns<br />
sehr schön. Sie nehmen ganz anders<br />
teil, weil sie wissen: Das habe ich selbst<br />
auch getanzt.<br />
Ihre Workshopreihe für Profis und Laien<br />
heißt „Moving Imaginative Bodies“.<br />
Was verstehen Sie unter „imaginären<br />
Körpern“?<br />
Es geht um die Vorstellung, wie sich unsere<br />
Körper unter bestimmten sozialen<br />
Bedingungen bewegen müssten. Ein<br />
Beispiel, so wie ich es auch meinem<br />
Team übersetzt habe, als wir für unsere<br />
Produktion „2666“ geprobt haben:<br />
Stellt euch vor, die Gewalt gegen weiblich<br />
sozialisierte Körper wäre so krass,<br />
dass sie immer wachsam sein und immer<br />
schneller reagieren müssten. Ich<br />
glaube übrigens, dass diese Körper, die<br />
wir uns da vorstellen, gar nicht so fiktiv<br />
sind. Wir kennen es vielleicht nicht, aber<br />
so etwas gibt es. Utopie, Dystopie und<br />
Realität liegen nah beieinander. •<br />
annabel.trautwein@hinzundkunzt.de<br />
Die Workshops „Moving Imaginative Bodies“<br />
laufen von <strong>August</strong> bis November.<br />
Nächste Termine: Fr + Sa, 26.+27.8.,<br />
jeweils 18–21 Uhr im MARKK, Rothenbaumchaussee<br />
64. Weitere Termine<br />
folgen im September und Oktober im<br />
MARKK und im Studio Alte Post.<br />
Infos: www.movingimaginativebodies.com<br />
Was Obdachlose<br />
wirklich brauchen,<br />
wissen Obdachlose<br />
am besten!<br />
Neu!<br />
Das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Insiderwissen<br />
Spezial 2022: ab sofort bei den<br />
Hinz&Künztler:innen Ihres Vertrauens
Kult<br />
Tipps für den<br />
Monat <strong>August</strong>:<br />
subjektiv und<br />
einladend<br />
Aktionstag<br />
Planet ohne Plastik<br />
Mit bloßem Auge oft kaum zu sehen,<br />
aber überall zu finden: Mikroplastik<br />
treibt in den Meeren, schwebt in der<br />
Luft, zirkuliert durch unsere Blutbahn.<br />
Am tiefsten Punkt der Erde, in der Antarktis<br />
– es gibt kaum einen Ort, der<br />
noch plastikfrei ist. Was bedeutet das<br />
Fies: Mikroplastik durchdringt unsere Umwelt. Ein Aktionstag<br />
im Stadtpark macht auf das Problem aufmerksam.<br />
für unseren Planeten? Wie wirkt Mikroplastik<br />
auf das Klima? Und vor allem:<br />
Wie lösen wir das Problem? Schlau machen<br />
können sich Kinder und Erwachsene<br />
beim Aktionstag „No Plastic Planet“<br />
im und um das Planetarium im<br />
Stadtpark. Draußen gibt es einen Spieleparcours,<br />
im Planetarium werden<br />
Filme an die Sternenkuppel projiziert.<br />
Los geht es mit dem 3-D-Film „Die<br />
Legende des Zauberriffs“. •<br />
Planetarium Hamburg, Linnering 1, So,<br />
14.8., 11–17 Uhr, Eintritt 0–13,50 Euro,<br />
www.stiftung-rüm-hart.de<br />
52
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Im Anschluss<br />
an die Parade<br />
zum Christopher<br />
Street<br />
Day steigt der<br />
Vogelball in<br />
Wilhelmsburg.<br />
Festival<br />
Volles Programm<br />
Nach zwei Jahren im Pandemie-Modus<br />
sind beim Kampnagel Sommerfestival<br />
alle Bühnen frei. Selten gab es<br />
so ein großes und vielfältiges Programm<br />
aus Tanz, Theater, Performance,<br />
bildender Kunst und Musik –<br />
und natürlich wird auch debattiert<br />
über Zustand und Wesen der Welt. •<br />
Kampnagel, Jarrestraße 20, 10.–28.8.,<br />
Eintritt 0–44 Euro, www.kampnagel.de<br />
FOTOS: CALIFORNIA ACADEMY OF SCIENCES VISUALIZATION STUDIO (S. 52), HELENA GOTZHEIN (S. 53 OBEN), UNIVERSAL PICTURES HOME ENTERTAINMENT (S. 53 UNTEN)<br />
Festivals<br />
Vogelgezwitscher und dröhnende Beats<br />
Zwei Jahre lang harrten sie aus in ihren Nestern, nun kehren die frivolen Federviecher<br />
zwitschernd und glitzernd in ihr natürliches Habitat zurück: Der Vogelball<br />
steigt wieder. Das elektronische Festival hat einige Größen der Hamburger<br />
Queer-Szene im Line-Up: Geraldine Schabraque, Lia ahin, Thord1s und viele<br />
andere feiern ihre Stimmenvielfalt auf dem Dockville-Gelände. Direkt nebenan<br />
geht es gleichzeitig tieftönend zur Sache, denn auch das Spektrum-Festival ist zurück.<br />
Gefeierte und aufstrebende Beatboys und -girls drehen die Bassboxen auf<br />
und lassen es krachen. „Wir haben unfassbar Bock“, schreiben die Macher:innen.<br />
Wer hat das nicht. •<br />
Vogelball/Spektrum, Alte Schleuse 23/Am Schlengendeich 12, Sa, 6.8., Vogelball ab 16<br />
Uhr, Eintritt 42 Euro, Spektrum ab 13 Uhr, Eintritt 65 Euro, vogelball.de und spektrum.ms<br />
Draußen<br />
Traumtänzer<br />
Jungs gehen zum Boxen, Mädchen zum<br />
Ballett: In der Welt, in der Billy aufwächst,<br />
sind die Geschlechterrollen klar<br />
geregelt. Für die schönen Künste ist eh<br />
wenig Platz im nordenglischen Durham,<br />
wo die Bergarbeiter streiken und immer<br />
wieder hart mit der Polizei aneinander<br />
geraten – so auch Billys Vater und Bruder,<br />
die dem Jungen mit Mühe und Not die<br />
Boxstunde finanzieren. Doch als die Boxgruppe<br />
ihre Turnhalle mit einer Ballettklasse<br />
teilen muss, wechselt Billy heimlich<br />
vom Ring an die Stange. Sein Vater ist<br />
entsetzt und zunehmend hilflos. Was tun<br />
mit dem überbordenden Talent des Jungen?<br />
„Billy Elliot“ ist eine Geschichte<br />
über Selbstbehauptung und das Überwinden<br />
von Mauern im Kopf. Das Schanzenkino<br />
zeigt den Lieblingsfilm Open Air. •<br />
Sternschanzenpark, Fr, 12.8., 21.15 Uhr,<br />
Eintritt frei, www.filmfesthamburg.de<br />
Ein paar Ballettschuhe und ein eiserner<br />
Wille: Billy Elliot kämpft sich durch.<br />
Konzert<br />
Musik für Herz und Hirn<br />
Wenn WIM singt, würden wohl viele<br />
am liebsten mitschreiben. So denkwürdig<br />
sind ihre Texte, dass sie es verdient<br />
hätten, in Ruhe nachgelesen zu<br />
werden. Tiefgang hat ihre Musik und<br />
klingt doch wunderbar leicht. •<br />
Draussen im Grünen, Musikpavillon<br />
Planten un Blomen, Jungiusstraße, Mi,<br />
10.8., 19.30 Uhr, Eintritt 20,80 Euro<br />
(VVK), www.draussenimgruenen.de<br />
Film<br />
Motorrad-Doku aus der Ukraine<br />
Ein altes sowjetisches Motorrad und<br />
ein Traum: Dafür leben Nazar und<br />
Maksym quasi in ihrer Garage. Die<br />
beiden Ukrainer wollen die schnellste<br />
IZH 49 aller Zeiten bauen. Auf einem<br />
ausgetrockneten Salzsee in Utah<br />
lassen sie es darauf ankommen. Die<br />
Doku „Salt from Bonneville“ läuft im<br />
Rahmen der „Art Meetings“, bei denen<br />
Kulturschaffende aus der Ukraine<br />
unterstützt werden. •<br />
Brakula, Bramfelder Chaussee 265, Do,<br />
11.8., 20 Uhr, Eintritt frei, Spende erbeten,<br />
www.brakula.de<br />
Vortrag<br />
Gedenken an Antifaschisten<br />
Sie galten als „wehrunwürdig“ – bis<br />
die Nazis den Krieg zu verlieren begannen.<br />
Ein Rundgang erinnert an<br />
deportierte Antifaschisten, die heute<br />
fast vergessen sind. •<br />
denk.mal Hannoverscher Bahnhof, Lohseplatz<br />
1, So, 14.8., 16 Uhr, Eintritt frei,<br />
www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de<br />
53
Theater<br />
Agent Wow auf Schurkenjagd<br />
Der Kampf Gut gegen Böse geht weiter!<br />
Mit ihrer Produktion „Megazorn 2:<br />
Psychological Warfare“ schickt das Ensemble<br />
Sexy Theater Menschen seinen<br />
desorientierten Helden Agent Wow auf<br />
den Hindukusch, wo er die Werte der<br />
liberalen Marktdemokratie verteidigen<br />
soll. Das mit dem Verteidigen versteht<br />
Wow, aber gegen wen eigentlich? Und<br />
wieso ist vom liberalen Markt auf dem<br />
Hindukusch nicht die geringste Spur zu<br />
finden? Nicht mal Gentrifizierung gibt<br />
es da! Wow ist verwirrt. Dabei war sein<br />
Feindbild doch eigentlich ganz klar.<br />
Wild entschlossen, den Oberbösewicht<br />
Megazorn und seinen kleinen Bruder<br />
Wutboy ein für allemal zu eliminieren,<br />
macht er sich auf die Suche. Wie beim<br />
Vorgängerstück „Das autoritäre Zeitalter<br />
des Megazorns“ destillieren die Sexy<br />
54<br />
Bunt, grell, intellektuell: Die Sexy Theater Menschen stellen<br />
unser gesellschaftliches Selbstverständnis auf die Probe.<br />
Theater Menschen aus wissenschaftlichen<br />
Diskursen einen dichten Text, der<br />
in absurder Übersteigerung und computerspielhafter<br />
Ästhetik auf die Bühne<br />
kommt. Ein Stück, bei dem das Lachen<br />
in den Hirnzellen stecken bleibt. •<br />
Sprechwerk, Klaus-Groth-Straße 23,<br />
Fr+Sa, 19.+20.8., jeweils 20 Uhr,<br />
Eintritt 20,50/12,80 Euro (VVK),<br />
www.sprechwerk.hamburg
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Kinofilm des Monats<br />
Musik<br />
schwarz-weiß<br />
FOTOS: OLIVER FANTITSCH/WWW.FANTITSCH.DE (S. 54), KLAPPE AUF! KURZFILMFESTIVAL (S. 55 OBEN), PRIVAT (S. 55 UNTEN)<br />
Festival<br />
Filme ohne Limit<br />
Infoabend<br />
Erbschaften für alle<br />
Wer hat, der gibt – das klingt erst mal<br />
fair. Solange es nicht um Erbschaften<br />
geht. Denn da läuft es meistens so:<br />
Wenige Erben, die oft schon in Wohlstand<br />
aufgewachsen sind, profitieren<br />
von üppigen Nachlässen. Die Mehrheit<br />
geht leer aus. Ginge das nicht<br />
auch anders? Doch, sagen die<br />
Gründer:innen von „Ein Erbe für<br />
Jeden – Stiftung für Chancengleichheit“.<br />
Sie haben sich ein Modell überlegt,<br />
bei dem alle zum 30. Geburtstag<br />
ein Startkapital von 20.000 Euro bekommen<br />
könnten – finanziert durch<br />
eine Abgabe auf hohe Erbschaften.<br />
Bis die Idee umgesetzt wird, verlost die<br />
Stiftung jährlich drei Grunderbschaften.<br />
2022 können sich Menschen aus<br />
Hamburg-Nord bewerben. Wie das<br />
geht, wird beim Infoabend erläutert. •<br />
ella Kulturhaus Langenhorn, Käkenflur 30,<br />
Do, 25.8., 20 Uhr, Eintritt frei,<br />
www.mookwat.de/ella-kulturhaus<br />
Im Kinosaal ist jede:r anders –<br />
dem trägt das Filmfestival<br />
„Klappe auf“ Rechnung.<br />
Das gibt es nur in Hamburg: Beim „Klappe auf!“-Festival werden alle Filme mit<br />
Untertiteln und Audiodeskription gezeigt, sodass auch gehörlose oder blinde<br />
Menschen das Programm genießen können. Mithilfe des „Klappomats“ können<br />
Festivalgäste eigene Audiodeskriptionen erstellen. Das Motto des Festivals ist<br />
„Achterbahn“. Aus 2500 Kurzfilmen wurden die besten 34 ausgewählt. •<br />
Metropolis Kino, Dammtorstraße 10, Fr–So, 26.–28.8., Festivalpass 20/15 Euro,<br />
www.klappe-auf.com<br />
Konzert<br />
Himmel voller Geigen<br />
Das Ensemble Resonanz und die<br />
Hanseatische Materialverwaltung laden<br />
wieder ein zu „Hans Resonanz“.<br />
In der funkelnden Kulisse des<br />
Sonnendecks am Oberhafen spielt<br />
das Kammerorchester die 100. Folge<br />
seiner Reihe „urban string“. Jazzgeiger<br />
Friedmar Hitzer und<br />
Schlagzeuger Dirk Rothbrust spielen<br />
Bartók, Country und finnische Fiedelmusik,<br />
dazu ein kosmopolitisches<br />
DJ-Set von Aldi und Kalle. •<br />
Hanseatische Materialverwaltung,<br />
Stockmeyerstraße 41–43, Sa, 20.8.,<br />
19 Uhr, Eintritt 16,75/11,50 Euro (VVK),<br />
www.ensembleresonanz.com<br />
Über Tipps für September freut sich<br />
Annabel Trautwein.<br />
Bitte bis zum 10.8. schicken an:<br />
kult@hinzundkunzt.de<br />
Im Sommer 1993 durfte ich<br />
für Hinz&<strong>Kunzt</strong> eine Reportage<br />
schreiben über Willy<br />
Sommerfeld, den Stummfilm-Pianisten.<br />
Ein Erlebnis,<br />
das mich nachhaltig geprägt<br />
hat. Sommerfeld, damals so<br />
um die 90 Jahre alt, begleitete<br />
in deutschen Programmkinos<br />
Stummfilme am Piano.<br />
Auch in Hamburg. Spontan<br />
und intuitiv aus dem Handgelenk.<br />
Keine Noten. Keine<br />
Vorbereitung. Mit viel Witz<br />
und Selbstironie erzählte<br />
Sommerfeld mir damals seine<br />
Lebensgeschichte,<br />
schwärmte vom Privileg, sein<br />
Geld mit dem verdienen zu<br />
dürfen, das er am meisten<br />
liebt, und von der großen<br />
Kraft der Improvisation.<br />
Kurz: Er schaffte es, dass ich<br />
stundenlang die Klappe hielt.<br />
Im Dezember 2007 starb<br />
Willy Sommerfeld mit 103<br />
Jahren nach einem turbulenten<br />
und ziemlich glücklichen<br />
Leben. Am 12. <strong>August</strong> kann<br />
man sich in der Elbphilharmonie<br />
nun einen anderen<br />
Eindruck von der Magie musikbegleiteter<br />
Stummfilme<br />
machen. Und das gleich mit<br />
einem ganzen Ensemble-<br />
Orchester um Wolfgang Mitterer<br />
– einem der wichtigsten<br />
zeitgenössischen Komponisten<br />
Österreichs. Mitterer hat<br />
das Psychodrama „Phantom“<br />
neu vertont und verspricht<br />
ein rauschhaftes Erlebnis.<br />
Ob dieses sorgsam<br />
durchgetaktete Konzert mit<br />
Willy Sommerfeld mithalten<br />
kann? Ich werde da sein und<br />
es herausfinden. •<br />
André Schmidt<br />
geht seit<br />
Jahren für uns<br />
ins Kino.<br />
Er arbeitet in der<br />
PR-Branche.<br />
55
scher Schrebergarten tatsächlich Punkrock<br />
sein? Immerhin gibt es vom sehr<br />
erfolgreichen Podcast „Und dann kam<br />
Punk“ inzwischen den Ableger „Und<br />
dann kam Kleingarten“ (absolute<br />
Hörempfehlung!).<br />
Ein großes Versprechen<br />
des Punks ist das<br />
der Selbstermächtigung.<br />
Du kannst nur ein bisschen<br />
Gitarre spielen, es<br />
reicht gerade mal für drei<br />
Akkorde? Kein Problem,<br />
gründe einfach eine Band<br />
und werde berühmt damit!<br />
Ganz egal, ob man<br />
sie uns zutraut, wir<br />
Punkrocker:innen bringen<br />
uns die Dinge selbst<br />
bei und lassen uns durch<br />
nichts beirren. Das Motklein<br />
gartenlife<br />
#10<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Punkrock oder piefig?<br />
Unser Gartenkolumnist hat<br />
eine klare Meinung.<br />
Wieso mein Garten<br />
Punkrock ist<br />
Schrebergärten als Ausdruck von Kleinbürgertum und<br />
Spießigkeit? Weit gefehlt, meint Gartenkolumnist<br />
Benjamin Laufer.<br />
TEXT: BENJAMIN LAUFER, FOTOS: DMITRIJ LELTSCHUK<br />
Wenn man sich wie ich eine Zeit lang in<br />
der Subkultur des Punks herumgetrieben<br />
hat, muss man den Rest des Lebens<br />
alles daran messen. „Ist das noch Punkrock?“<br />
ist die Frage, die fortan über allem<br />
steht und die man auf Biegen und<br />
Brechen mit „Ja“ beantworten will.<br />
Weil ein „Nein“ dem Eingeständnis<br />
gleichkäme, die eigenen Ideale verraten<br />
zu haben. Das mag Ihnen vielleicht komisch<br />
vorkommen, wenn Sie mit Punk<br />
vor allem Dosenbier und ungepflegte<br />
Haare verbinden – doch das würde<br />
dem Ganzen nicht gerecht. Punkrock<br />
ist mehr als Gitarrenmusik, er ist<br />
Lebenseinstellung und Attitüde.<br />
Eine dieser Entscheidungen, bei<br />
der ich mir die Frage nach der Vereinbarkeit<br />
mit meinen Idealen stellte, war<br />
die für eine eigene Kleingartenparzelle.<br />
Kann ein vermeintlich spießiger deut-<br />
56<br />
to „DIY or die!“ gilt auch im Schrebergarten:<br />
Was ich da nicht schon alles gemacht<br />
habe, obwohl ich vorher keine<br />
Ahnung davon hatte. Eine Gartenlaube<br />
bauen? Kann ich jetzt! Wer weiß, ob<br />
die Hütte ohne die Selbermachattitüde<br />
aus dem Proberaum von damals heute<br />
auf der Kolonie stehen würde. Dass sie<br />
an der einen oder anderen Ecke etwas<br />
windschief geraten ist – na und? Auch<br />
das ist eine wichtige Lehre aus Punkrockzeiten:<br />
Mir doch egal, was andere<br />
davon halten!<br />
Dann ist da noch die Sache mit den<br />
Regeln, auf die wir Punks generell<br />
allergisch reagieren. Davon gibt es im<br />
Schrebergarten eine ganze Menge, normiert<br />
in Bundeskleingartengesetz, Vereinssatzung<br />
und Gartenordnung. Wie<br />
sollen vorgeschriebene Heckenhöhen<br />
Punkrock sein, fragen Sie sich? Nun,<br />
gehen Sie mal sehenden Auges durch<br />
eine x-beliebige Kleingartenkolonie.<br />
Der regelkundige Blick wird unzählige<br />
Verstöße feststellen. Denn vielen<br />
Laubenpieper:innen sind die ganzen<br />
Vorschriften scheißegal. Vielleicht wissen<br />
sie es nicht, aber sie alle tragen den<br />
Punkrock im Herzen.<br />
Ich kann mich also beruhigt zurücklehnen<br />
und weiter schrebern, weil<br />
die Antwort auf die wichtigste Frage<br />
lautet: Selbstverständlich ist das alles<br />
noch Punkrock, und wie! •<br />
benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />
Kleingartenpunk Benjamin Laufer bei der Arbeit
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Rätsel<br />
Befehlsform<br />
(Sprachlehre)<br />
Filmaufzeichnung<br />
(Kzw.)<br />
norddeutsch:<br />
Topf<br />
Turnübung,<br />
Nackenstand<br />
Anweisung<br />
zur<br />
Warenlieferung<br />
Fluss<br />
durch<br />
Gerona<br />
(Spanien)<br />
Schabeisen<br />
des<br />
Kammmachers<br />
Prophezeiung,<br />
Prognose<br />
niedere<br />
Wasserpflanze<br />
Straßenrandstreifen<br />
salopp:<br />
Zigarette<br />
afrikanische<br />
Kuhantilope<br />
den<br />
Ackerboden<br />
bearbeiten<br />
3<br />
9<br />
8<br />
1<br />
1<br />
1<br />
7<br />
5<br />
9<br />
2<br />
2<br />
5<br />
9<br />
franz.<br />
Modeschöpfer<br />
† 1957<br />
Dankgeschenk,<br />
Prämie<br />
3<br />
5<br />
4<br />
7<br />
5<br />
Hautfärbung<br />
elektroakustischer<br />
Baustein<br />
gescheit<br />
6<br />
8<br />
4<br />
6<br />
3<br />
4<br />
8<br />
6<br />
auf<br />
diese<br />
Weise<br />
Schifffahrtsstraße<br />
Labsal,<br />
Linderung<br />
Farbschaber<br />
(Druckereiwesen)<br />
dumme,<br />
törichte<br />
Handlung<br />
5<br />
8<br />
3<br />
6<br />
Erdbearbeitungsgerät<br />
Gesteinskundler<br />
Unterwelt<br />
der<br />
griech.<br />
Sage<br />
schluchtartiges<br />
Engtal in<br />
Gebirgen<br />
größter<br />
dt. Sportverband<br />
(Abk.)<br />
Moderfleisch<br />
Jugendlicher<br />
Göttin<br />
griech.<br />
(Kurzwort)<br />
der Zwietracht<br />
8<br />
2<br />
4<br />
3<br />
AR0909-1219_6sudoku<br />
deutsche<br />
TV-Moderatorin<br />
(Anne)<br />
englisch:<br />
Mädchen<br />
Stadt an<br />
der Etsch<br />
(Italien)<br />
dt.<br />
Privat-<br />
TV-Sender<br />
(Abk.)<br />
italienisch:<br />
Herrin,<br />
Frau<br />
Mosel-<br />
Zufluss<br />
bei Konz<br />
Strom<br />
zum Balchaschsee<br />
das Ich<br />
(Philosophie,<br />
Psychol.)<br />
Kurzform<br />
von:<br />
Maria<br />
deutscher<br />
Schauspieler<br />
(Walter) †<br />
Ältestenrat<br />
übel,<br />
schlecht<br />
Vorname<br />
der<br />
Dagover<br />
† 1980<br />
Füllen Sie das Gitter<br />
so aus, dass die Zahlen<br />
von 1 bis 9 nur je einmal<br />
in jeder Reihe, in jeder<br />
Spalte und in jedem<br />
Neun-Kästchen-Block<br />
vorkommen.<br />
Als Lösung schicken<br />
Sie uns bitte die farbig<br />
gerahmte, unterste<br />
Zahlenreihe.<br />
Lösungen an: Hinz&<strong>Kunzt</strong>, Minenstraße 9, 20099 Hamburg,<br />
per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.<br />
Einsendeschluss: 26. <strong>August</strong> 2022. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />
Wer die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel einsendet, kann<br />
zwei Karten für die Hamburger Kunsthalle gewinnen oder eines von<br />
drei Büchern „Das Watt“ von Karsten Reise (KJM Buchverlag).<br />
Das Lösungswort des Juli-Kreuzwort rätsels war: Ersatzmann.<br />
Die Sudoku-Zahlenreihe lautete: 324 857 169.<br />
6<br />
3<br />
1<br />
7<br />
5<br />
7<br />
4<br />
8<br />
9<br />
9<br />
1<br />
10<br />
7<br />
10<br />
12196 – raetselservice.de<br />
Impressum<br />
Redaktion und Verlag<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH<br />
Minenstraße 9, 20099 Hamburg<br />
Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50<br />
Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01<br />
E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de<br />
Herausgeber<br />
Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg<br />
Externer Beirat<br />
Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW Hamburg),<br />
Mathias Bach (Kaufmann), Dr. Marius Hoßbach (Korten Rechtsanwälte AG),<br />
Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),<br />
Karin Schmalriede (ehemals Lawaetz-Stiftung, i.R.),<br />
Dr. Bernd-Georg Spies (Spies PPP),<br />
Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)<br />
Geschäftsführung Jörn Sturm<br />
Redaktion Lukas Gilbert (lg, stellv. CvD, V.i.S.d.P. für den Titel, Gut&Schön,<br />
Freunde, Buh&Beifall, <strong>Kunzt</strong>&Kult, den Schwerpunkt), Ulrich Jonas (ujo,<br />
V.i.S.d.P. für das Editorial, die Zahlen des Monats, das Stadtgespräch), Annette<br />
Woywode (abi, CvD, V.i.S.d.P. die Momentaufnahme), Benjamin Laufer (bela),<br />
Anna-Elisa Jacob (aej), Jonas Füllner (jof), Simone Deckner (sim), Kirsten<br />
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www.hinzundkunzt.de. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist ein unabhängiges soziales Projekt, das<br />
obdachlosen und ehemals obdachlosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe bietet.<br />
Das Magazin wird von Journalist:innen geschrieben, Wohnungslose und<br />
ehemals Wohnungslose verkaufen es auf der Straße. Sozialarbeiter:innen<br />
unterstützen die Verkäufer:innen.<br />
Das Projekt versteht sich als Lobby für Arme.<br />
Gesellschafter<br />
Durchschnittliche monatliche<br />
Druckauflage 2. Quartal 2022:<br />
55.000 Exemplare<br />
57
Momentaufnahme<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>354</strong>/AUGUST 2022<br />
„Mir ham’ se<br />
nichts geschenkt“<br />
Dieter, 72, hat seinen Stammplatz vor Rewe in Geesthacht.<br />
TEXT: ANNETTE WOYWODE; FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
Eigentlich steht Dieter montags nie auf<br />
seinem Stammplatz. Neulich zum ersten<br />
Mal. „Da hat eine Kundin gefragt:<br />
,Wieso bist du heute hier?‘“, erzählt der<br />
Hinz&Künztler. „Ich hab geantwortet:<br />
‚Ich muss Geld verdienen!‘ Da sagt sie:<br />
,Oh, das ist ja schön!‘“ Dieter lacht –<br />
und freut sich. Einen richtig guten<br />
Draht habe er zu seiner Kundschaft in<br />
Geesthacht. „Die wollen mich da nicht<br />
missen.“ Dann wird er ernst: „Den Weg<br />
dorthin von meiner Wohnung in Lohbrügge<br />
schaffe ich bald nicht mehr.“<br />
Obwohl man es dem 72-Jährigen<br />
nicht ansieht: Dieter kämpft mit seiner<br />
Gesundheit. Von schwerer körperlicher<br />
Arbeit sind seine Knie kaputt. Zum Gehen<br />
braucht er einen Rollator. Er hat<br />
Diabetes und chronische Bronchitis. All<br />
das hat ihn nicht umgehauen. Aber<br />
2005 bekam er die Diagnose Makuladegeneration.<br />
Noch erkennt er schemenhaft<br />
Köpfe und Umrisse. Aber<br />
nicht mehr lange, dann wird er vollständig<br />
blind sein.<br />
Dieter stammt aus Neuruppin in Brandenburg.<br />
Schon immer hatte er Probleme<br />
mit Obrigkeiten. 1972 – mit 22 Jahren<br />
– versuchte er, aus der DDR zu<br />
fliehen. Er wurde gefasst. Zu seiner<br />
Aversion gegen den Staat kam sein<br />
lockeres Mundwerk. „Bei der Gerichtsverhandlung<br />
habe ich zum Staatsanwalt<br />
gesagt: ‚Machen Sie doch mal<br />
das Fenster auf, dann kommt bisschen<br />
Gerechtigkeit rein‘“, erzählt Dieter. Er<br />
wurde zu vier Jahren und sechs Monaten<br />
Knast verurteilt. „Mir ham’ se<br />
nichts geschenkt“, sagt er.<br />
Nach seiner Haftentlassung malochte<br />
er im Schlachthof und später auf<br />
einer Kolchose. Als ein Kollege 1979<br />
fragte, ob Dieter mit ihm einen Fluchtversuch<br />
wagen würde, machte er mit.<br />
Über Ungarn glückte der Plan diesmal.<br />
Dieter verschlug es nach Hamburg.<br />
Hier arbeitete er wieder im Schlachthof.<br />
Als er Stress mit seinem Chef<br />
bekam, verlor er den Job und die vom<br />
Unternehmen gestellte Wohnung. Die<br />
für ihn viel zu hohe Miete hatte Dieter<br />
da schon länger nicht mehr bezahlt.<br />
„Ich hab das sausen lassen“, gibt er zu.<br />
Und Alkohol getrunken, „bis er mir aus<br />
den Ohren rausgekommen ist“.<br />
Im Winter 1994 wurde Dieter obdachlos<br />
– und erlebte mit, wie ein Kumpel<br />
erfror, „weil der sich so viel reingeschüttet<br />
hatte“. Ein Schock für Dieter,<br />
der daraufhin unbedingt runter wollte<br />
von der Straße. Eine Sozialarbeiterin<br />
half ihm, in einem Hotel unterzukommen.<br />
Von da schaffte er es zurück in<br />
eine eigene Wohnung und eine Festanstellung.<br />
Eines Tages rief ihn die<br />
Buchhaltung zu sich wegen einer Gehaltspfändung.<br />
Bei der Schuldnerberatung<br />
fragten sie ihn: „Weißt du überhaupt,<br />
wo und wie viele Schulden du<br />
hast?“ Dieter musste passen. „Geld hat<br />
mich nie interessiert“, sagt er. Es waren<br />
30.000 Euro.<br />
Heute ist Dieter zwar schuldenfrei.<br />
Aber als 2005 seine Augenprobleme<br />
begannen, wurde er arbeitsunfähig.<br />
Die geringe Frührente reichte hinten<br />
und vorne nicht. So kam er 2013 zu<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Bisher kam Dieter einigermaßen<br />
zurecht. Doch inzwischen<br />
liegt seine Sehkraft bei nur noch drei<br />
Prozent.<br />
Glück im Unglück: Die Krankenkasse<br />
hat die Kosten für eine Spezialbrille<br />
mit integriertem Computer übernommen.<br />
Gerade übt Dieter, sie per<br />
Handzeichen und mit seiner Stimme zu<br />
steuern. So kann er sich zum Beispiel<br />
Texte vorlesen lassen. „Ich kriege das<br />
schon hin mit dem Gerät“, ist Dieter<br />
zuversichtlich. „Der Optiker hat gesagt:<br />
,Ich werde dir alles beibringen.‘“ •<br />
annette.woywode@hinzundkunzt.de<br />
Dieter und alle anderen<br />
Hinz&Künztler:innen erkennt man<br />
am Verkaufsausweis.<br />
5723<br />
07/2025<br />
58
Stiftung Historische Museen Hamburg<br />
Museum für Hamburgische Geschichte Holstenwall 24 • 20355 Hamburg
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