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[t]akte<br />
1I20<strong>19</strong><br />
„Leidenschaftlicher Ausdruck<br />
und inneres Feuer“<br />
Vor 150 Jahren starb Hector Berlioz<br />
Im Gedenkjahr 20<strong>19</strong> wird viel über den Revolutionär<br />
Hector Berlioz geschrieben. Hier soll er selbst<br />
zu Wort kommen.<br />
Im Umfeld von Berlioz‘ 150. Todestag am 8. März 20<strong>19</strong><br />
und über das ganze Jahr 20<strong>19</strong> hinweg feiert die musikalische<br />
Welt den zentralen musikalischen Visionär des<br />
<strong>19</strong>. Jahrhunderts in Frankreich. Festivals, Kolloquien,<br />
Programmserien und Publikationen<br />
werden eine noch weitere<br />
Verbreitung seines faszinierenden<br />
Œuvres fördern. Der Bärenreiter-Verlag<br />
hat sein Werk in der<br />
New Berlioz Edition vollständig<br />
ediert. An ihr war und ist zu<br />
erleben, dass eine Gesamtausgabe<br />
das Bild eines Komponisten<br />
tatsächlich entscheidend<br />
verändern kann. Denn auf einer<br />
solchen Basis ist das Bild nicht<br />
mehr von einer Handvoll Werke<br />
geprägt. Inzwischen wird<br />
beinahe die ganze Breite seiner<br />
Werke regelmäßig, und nicht<br />
nur in diesem Jahr, aufgeführt,<br />
die beiden großen Opern Les<br />
Troyens und Benvenuto Cellini,<br />
gehören wieder zum Repertoire<br />
und bieten Gelegenheit, sich<br />
Konkurrenzlos: Die New Berlioz Edition die Widerstände seiner Zeit<br />
gegenüber seinem zunächst<br />
sperrigen Schaffen zu vergegenwärtigen, am besten in<br />
seiner eigenen pointierten Sprache. Die folgenden Zitate<br />
Berlioz‘ über seinen musikalischen Stil entstammen aus<br />
dem Postskriptum von 1856 zu seinen Memoiren (neu<br />
übersetzt von Dagmar Kreher, hrsg. und kommentiert<br />
von Frank Heidlberger, Kassel, Bärenreiter-Verlag, 2007,<br />
S. 571ff.), dort dem Nachwort. Das Buch ist als E-Book<br />
erhältlich: ISBN 978-3-7618-7183-6).<br />
„Mein Stil ist generell sehr kühn, aber er zielt nicht im<br />
mindesten darauf ab, auch nur eines der wesentlichen<br />
Elemente der Musik zu zerstören. Im Gegenteil, ich<br />
versuche, diese Elemente zu vermehren. Nie ist es mir<br />
in den Sinn gekommen, wie man es so töricht in Frankreich<br />
behauptet hat, Musik ohne Melodie zu schreiben.<br />
Eine solche Schule gibt es derzeit in Deutschland, und<br />
sie ist mir zuwider. […] Nur sind meine Melodien eben<br />
oft sehr großdimensioniert angelegt, und so können<br />
kurzsichtige Kindsköpfe ihre Form nicht klar erkennen;<br />
oder sie sind mit anderen, mit untergeordneten<br />
Melodien verflochten, die für ebendiese Kindsköpfe die<br />
Konturen verschleiern; oder aber sie unterscheiden sich<br />
letztlich so sehr von den kleinen Albernheiten, die der<br />
musikalische Pöbel Melodien nennt, dass er sich nicht<br />
dazu entschließen kann, beide mit demselben Namen<br />
zu bezeichnen.<br />
Die hervorstechendsten Merkmale meiner Musik<br />
sind leidenschaftlicher Ausdruck, inneres Feuer, rhythmischer<br />
Schwung und Unvorhersehbarkeit. Wenn ich<br />
,leidenschaftlicher Ausdruck‘ sage, so meine ich damit<br />
einen Ausdruck, der beharrlich den Kerngedanken<br />
seines Sujets wiedergibt, selbst wenn das Sujet das<br />
genaue Gegenteil von Leidenschaft ist und es etwa<br />
darum geht, sanfte, zärtliche Gefühle oder tiefsten<br />
Frieden auszudrücken. Es ist jene Art von Ausdruck, die<br />
man in L’Enfance du Christ und besonders in der Szene<br />
im Himmel aus La Damnation de Faust und im Sanctus<br />
aus dem Requiem zu finden geglaubt hat. […]<br />
Ich ging ihn [Heinrich Heine] besuchen, und als er wieder<br />
mit seinen Selbstvorwürfen begann, sagte ich zu ihm:<br />
,Aber warum haben Sie sich auch dazu hinreißen lassen,<br />
wie ein Durchschnittskritiker ein kategorisches Urteil<br />
über einen Künstler zu sprechen, dessen Œuvre Ihnen<br />
doch keineswegs vollständig bekannt ist? Sie denken<br />
immer nur an den Sabbat und den Gang zum Richtplatz<br />
aus meiner Symphonie fantastique, an das Dies irae und<br />
das Lacrymosa aus meinem Requiem. Aber ich glaube<br />
doch auch Stücke von gänzlich anderem Charakter geschrieben<br />
zu haben und schreiben zu können …‘<br />
Diese musikalischen Aufgaben, die ich zu lösen<br />
versucht habe und die der Grund für Heines Fehleinschätzung<br />
waren, sind Sonderfälle, weil darin<br />
außergewöhnliche Mittel zum Einsatz kommen. In<br />
meinem Requiem zum Beispiel gibt es vier separate<br />
Blechbläserorchester, die über das große Orchester und<br />
den Chor hinweg miteinander kommunizieren. Im Te<br />
Deum ist es die Orgel, die sich von einem Ende der Kirche<br />
her mit den am anderen Ende aufgestellten beiden<br />
Chören und dem Orchester sowie mit<br />
einem dritten Chor unterhält, der sehr<br />
stark besetzt ist, unisono singt und im<br />
Ensemble das Volk repräsentiert, das<br />
von Zeit zu Zeit in dieses große geistliche<br />
Konzert mit einstimmt. Aber es<br />
sind vor allem die Form der einzelnen<br />
Sätze, die großflächige Anlage und die<br />
außerordentliche Langsamkeit gewisser<br />
Fortschreitungen, deren Ziel man<br />
nicht ahnen kann, die diesen Werken<br />
ihre seltsam riesenhaften Züge und<br />
ihr kolossales Äußeres verleihen.<br />
Diesen gewaltigen Ausmaßen ist es<br />
Der Beherrscher der Klangmassen.<br />
Karikatur um 1850<br />
auch zuzuschreiben, dass der Zuhörer entweder mit<br />
dem Stück überhaupt nichts anfangen kann oder aber<br />
von einem furchtbaren Sturm der Gefühle überwältigt<br />
wird. Wie oft ist es bei den Aufführungen meines<br />
Requiems nicht vorgekommen, dass neben einem zitternden,<br />
bis zum Grunde seiner Seele aufgewühlten<br />
Zuhörer ein anderer saß, der die Ohren weit aufsperrte,<br />
ohne auch nur irgendetwas zu begreifen. Diesem ging<br />
es dann ähnlich wie den Schaulustigen, die in Como in<br />
die Statue des heiligen Karl Borromäus hinaufsteigen<br />
und sehr verblüfft sind, wenn man ihnen sagt, der<br />
Salon, in dem sie gerade Platz genommen hätten, sei<br />
der Kopf des Heiligen von innen.<br />
Folgende meiner Werke werden von den Kritikern<br />
als Monumentalmusik bezeichnet: meine Symphonie<br />
funèbre et triomphale für zwei Orchester und Chor, das<br />
Te Deum, dessen Finale (Judex crederis)<br />
zweifellos das Gigantischste ist, was<br />
ich geschaffen habe; meine Kantate<br />
für zwei Chöre L’Impériale, die 1855 im<br />
Rahmen der Konzerte im Palais de<br />
l’Industrie aufgeführt wurde, und vor<br />
allem mein Requiem. Was diejenigen<br />
meiner Kompositionen betrifft, die<br />
in normalen Dimensionen angelegt<br />
sind und in denen ich keine ungewöhnlichen<br />
Mittel angewandt habe,<br />
so waren es gerade ihr inneres Feuer,<br />
ihr Ausdruck und ihre eigenwillige<br />
Rhythmik, die ihnen am meisten<br />
Der junge Berlioz.<br />
Gemälde von Émile Signol<br />
geschadet haben, weil diese Eigenschaften<br />
besondere Anforderungen<br />
an die Ausführenden stellen. Um jene<br />
Stücke gut wiederzugeben, müssen<br />
die Musiker, vor allem aber der Dirigent, genauso<br />
empfinden wie ich. Sie verlangen äußerste Präzision,<br />
verbunden mit unwiderstehlicher Verve, ein gebändigtes<br />
Ungestüm, träumerische Empfindsamkeit und eine<br />
gewissermaßen krankhafte Melancholie, ohne welche<br />
die Hauptzüge meiner Schöpfungen entstellt oder völlig<br />
ausgelöscht werden. Darum kann ich die meisten meiner<br />
Kompositionen nur unter Qualen anhören, wenn sie<br />
von einem anderen als mir geleitet werden. […]<br />
Wenn Sie mich nun fragen, welchem meiner Stücke<br />
ich persönlich den Vorzug gebe, so lautet meine Antwort:<br />
Ich teile die Meinung der meisten Künstler, ich<br />
ziehe das Adagio (die Liebesszene) aus Roméo et Juliette<br />
allem anderen vor. Einmal, in Hannover, da spürte ich,<br />
wie mich am Ende dieses Satzes irgendetwas nach<br />
hinten zog; ich drehte mich um: Es waren die Musiker,<br />
die in der Nähe meines Pultes saßen – sie küssten die<br />
Schöße meines Fracks. In gewissen Konzertsälen und<br />
vor gewissen Zuhörern würde ich mich allerdings hüten,<br />
dieses Adagio aufzuführen.<br />
[…] Darum sagte mir auch Fürst Metternich eines<br />
Tages in Wien: ,Sie sind das doch, Monsieur, der Musik<br />
für fünfhundert Musiker komponiert?‘<br />
Worauf ich antwortete:<br />
,Nicht immer, Monseigneur, manchmal auch nur für<br />
vierhundertfünfzig …‘<br />
Hector Berlioz‘ „Les Troyens“ an der Wiener Staatsoper, Premiere: 14.Oktober 2018,<br />
Musikalische Leitung: Alain Altinoglu, Inszenierung: David McVicar<br />
(Foto: Staatsoper / Michael Pöhn)<br />
Aber was kümmert mich das schon? … Meine Partituren<br />
sind inzwischen veröffentlicht; man könnte<br />
leicht feststellen, dass meine Aussagen der Wahrheit<br />
entsprechen. Und wenn man es nicht tut, auch dann:<br />
Was kümmert mich das schon! …“<br />
Hector Berlioz<br />
Paris, 25. Mai 1858 [1856]<br />
]<br />
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