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Takte_1_19

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[t]akte<br />

1I20<strong>19</strong><br />

Spannung zwischen<br />

Individuum und Kollektiv<br />

Das Klavierkonzert von Dieter Ammann geht auf<br />

Weltreise<br />

Dieter Ammanns „Piano Poncerto“ wird im<br />

August in London uraufgeführt. Es geht auf eine<br />

Initiative mit dem Pianisten Andreas Haefliger<br />

zurück. Bei der Arbeit drang der Komponist Takt<br />

für Takt ins Offene vor.<br />

Flüchtige Hoffnungen<br />

Neue Werke von Lucia Ronchetti,<br />

Salvatore Sciarrino und Luca Lombardi<br />

Dieter Ammann komponiert ein Piano Concerto für<br />

den Pianisten Andreas Haefliger, das im August in der<br />

britischen Haupstadt uraufgeführt wird. Ursprünglicher<br />

Arbeitstitel war „no templates“, so der Komponist,<br />

„womit primär eine Offenheit des Denkens beim<br />

Umgang mit dieser Gattung gemeint ist, aber auch<br />

eine Offenheit bezüglich der Vielfalt der eingesetzten<br />

Mittel“. Ein Vorgehen „ohne Muster“ bestimmt seit<br />

jeher das Komponieren von Dieter Ammann, dessen<br />

Notationsweise minutiös und akribisch Takt für<br />

Takt ins Offene vordringt. Seine Werke sind Ergebnis<br />

eines Ineinanders von vielfältigen Klang- und Spielsituationen,<br />

„nicht eine collagenartige, sondern eine<br />

dramaturgisch gerichtete Musik mit ,Werkcharakter‘.<br />

Die Kraft der Dramaturgie und damit zusammenhängend<br />

eine kohärente Zeitgestaltung bilden eine<br />

Klammer, in der sich eine kontrastreiche klangliche<br />

Topographie entfaltet, wobei die unterschiedlichen<br />

strukturellen Elemente (zum Beispiel verschiedenartige<br />

Tonsysteme) in einen fruchtbaren Diskurs zu<br />

treten imstande sind.“<br />

Im weiten Spannungsfeld zwischen Individuum und<br />

Kollektiv, das traditionell die Gattung bestimmt, geht<br />

es dem Komponisten um vielfältigste Spielformen. „So<br />

wird beispielsweise beim Solopart zwischen mehreren<br />

Funktionen unterschieden. Die herkömmlichen Rollen<br />

des Klaviers sowohl als Begleiter des orchestralen<br />

Geschehens als auch des unbegleiteten Individuums<br />

sind dabei bloß zwei mögliche Erscheinungsformen,<br />

wobei bei der letzten der wechselseitige Material- und<br />

Energiefluss oft subkutan weiterwirkt, so dass sich das<br />

Soloinstrument nicht ins Subjektive oder gar Unverbindliche<br />

‚flüchten‘ kann. Weitere Funktionskategorien<br />

sind das gängige Solo-Accompagnato, das seinen Platz<br />

genauso hat wie das oben erwähnte ,Orchesterklavier‘.<br />

Neues Terrain wird durch Erweiterung des Aktionsspektrums<br />

des Soloinstruments erschlossen. Es gibt<br />

zusätzlich eine kinetische Komponente, quasi einen<br />

,corporalen Subtext‘, so dass sich die Musik nicht bloß<br />

auf die Realisierung des Notentexts reduzieren lässt,<br />

sondern vom Performativen her auch eine visuelle Seite<br />

aufweist – etwas, das bei der Rezeption (speziell in der<br />

Konzertsituation) zusätzlichen Informationsgehalt<br />

bedeutet. Dieser optische Aspekt, etwa bei der Übergabe<br />

und Aufnahme von Impulsketten (also dem eigentlichen<br />

,concertare‘) kann dabei sogar zur primären<br />

Information werden, wenn nämlich die Solostimme<br />

verwischt, verdeckt, geschluckt oder in der Gesamttextur<br />

sukzessive aufgelöst wird. Die enge Verzahnung der<br />

Funktionen von Klavier und Orchester bewirkt, dass<br />

das der Gattung als ,soziologisches Modell‘ inhärente<br />

Moment der Virtuosität nicht auf das Soloinstrument<br />

beschränkt bleibt, sondern auch in einigen Orchesterpassagen<br />

starken Niederschlag findet.“<br />

Marie Luise Maintz<br />

Detail aus Dieter Ammanns Klavierkonzert für das BBC Symphony Orchestra<br />

Dieter Ammann<br />

Piano Concerto<br />

Uraufführung: <strong>19</strong>.8.20<strong>19</strong> London, Andreas Haefliger<br />

(Klavier), BBC Symphony Orchestra, Leitung:<br />

Sakari Oramo (Koproduktion von BBC Radio 3,<br />

Taipei Symphony Orchestra, Boston Symphony<br />

Orchestra, Münchner Philharmoniker, Lucerne<br />

Festival und Konzerthaus Wien)<br />

Weitere Termine: 22.9.20<strong>19</strong> Taipei (Asiatische<br />

Erstaufführung) Taipeh Symphony Orchestra,<br />

Leitung: Alexander Liebreich +++ 24./25./26.10.<strong>19</strong><br />

Boston Symphony Orchestra, Leitung: Susanna<br />

Mälkki +++ 9./10./12.1.2020 Münchner Philharmoniker,<br />

Leitung: Susanna Mälkki +++ 25.8.2020<br />

Luzern (Lucerne Festival), Helsinki Philharmonic,<br />

Leitung: Susanna Mälkki; Pianist jeweils Andreas<br />

Haefliger<br />

Besetzung: Klavier solo – 3 (3. auch Picc),3,3 (3. auch<br />

BKlar), 3 (3. auch Kfg) – 4,3,3,1 – Schlg (4), Hfe – Str<br />

(12,10,8,6,5)<br />

Verlag: Bärenreiter, BA 11177, Aufführungsmaterial<br />

leihweise<br />

Dieter Ammann – aktuell<br />

4.4.20<strong>19</strong> Meiningen (Staatstheater), „glut“ for orchestra,<br />

Meininger Hofkapelle, Leitung: Philippe<br />

Bach +++ 7.4.20<strong>19</strong> Chur (Theater), unbalanced<br />

instability, Kammerphilharmonie Graubünden,<br />

Simone Zgraggen (Violine), Leitung: Philippe Bach<br />

+++ 1.9.20<strong>19</strong> Luzern (KKL), „glut“ for orchestra,<br />

Lucerne Festival Academy Orchestra, Leitung:<br />

George Benjamin<br />

Lucia Ronchetti<br />

„Speranze fuggite, sparite da me”. Drammaturgia<br />

(Kammeroper) für Countertenor, Violine, Viola,<br />

Violoncello, Kontrabass (nach Lezioni di tenebra)<br />

Uraufführung: 25.3.20<strong>19</strong> Köln (Philharmonie),<br />

Valer Sabadus (Countertenor), Anne Katharina<br />

Schreiber (Violine), Corina Golomoz (Viola), Kristin<br />

von der Goltz (Violoncello), Miriam Shalinsky<br />

(Kontrabass)<br />

Verlag: RAI Com, Vertrieb: Bärenreiter · Alkor<br />

Das Werk vereint drei Figuren aus Francesco Cavallis<br />

Oper Giasone: Isifile, die verzweifelt Jason sucht, der<br />

sie verlassen hat, und Orest, der nach Informationen<br />

über Jason forscht, um Isifile zu helfen, in die er verliebt<br />

ist. Die drei sind in ein Spiel aus Missverständnissen,<br />

Nachforschungen und zweifelhaften Erwartungen<br />

verstrickt, während sie versuchen, sich aus ihren erdrückenden<br />

Bindungen zu befreien. Die drei Figuren werden<br />

durch den Solisten Valer Sabadus verkörpert, der<br />

mit seiner Stimme die drei unterschiedlichen Register<br />

und die mit ihnen korrespondierenden dramatischen<br />

Verhaltensweisen der Personen erkundet. Die Stimme<br />

des Sängers fungiert dabei als innere Bühne, auf der<br />

die Ängste der Figuren immer konkreter und unauflöslicher<br />

zutage treten. Isifile, die verlassene Ehefrau<br />

Jasons, drückt ihr Schwanken zwischen Hoffnung und<br />

Verzicht aus, und drängt Jason mit immer zusammenhangloseren<br />

Gesten bis zum tragischen Ende. Im Traum<br />

spricht sie mit Orest und evoziert dabei den sanften<br />

Charakter der einzigen gemäßigten und reflektierten<br />

Figur des Dramas. (Lucia Ronchetti)<br />

Salvatore Sciarrino<br />

„Rispondono, a chi? (melodie circolari da Wagner)“<br />

Uraufführung: 27.5.20<strong>19</strong> Palermo (Teatro Politeama),<br />

Orchestra Sinfonica Siciliana, Leitung:<br />

Salvatore Sciarrino<br />

Verlag: RAI Com, Vertrieb: Bärenreiter · Alkor<br />

Wie wäre eine unendliche Melodie zu konstruieren,<br />

wenn nicht durch die zeitliche Erfahrung der zyklischen<br />

Wiederkehr? Eine rotierende Melodie. Nicht einfache<br />

Wiederholungen oder Ritornelle: Während wir im<br />

musikalischen Verlauf voranschreiten, kehren wir mit<br />

unserer Erinnerung an das zurück, was diese wiedererkennt.<br />

Eine gut gebaute Kreisform aus Klängen, aus<br />

Wellen, verführt uns mit momentanen euphorischen<br />

Eindrücken, die auf dem Grat zwischen dem Limbus<br />

und dem Paradies auf Erden wandeln; und dennoch<br />

streifen wir genau jenen geheimnisvollen Augenblick<br />

zwischen Kennenlernen und Wiedererkennen, in dem<br />

unser Geist sich dem Verstehen öffnet und das Fremde<br />

einlässt, dasjenige, was für uns vorher nicht existiert hat.<br />

In Tempo di Porazzi für Klavier wurde von Richard<br />

Wagner 1882 in Palermo komponiert, eine absolute<br />

Monodie außerhalb jeder Harmonik. Ihre Ausdehnung<br />

lädt dazu ein, sich eine Oboe als ihr ideales Medium<br />

vorzustellen. In 22 <strong>Takte</strong>n entfalten sich kleine Symmetrien,<br />

die in den weiträumigen Proportionen Wagners<br />

normalerweise nicht zu finden sind. Die Faszination<br />

einer fernen Melodie, ohne Begleitung, die jemand ganz<br />

für sich spielt, sich dem Wind anvertrauend.<br />

Eine perfekte Ornamentierung verleiht dem Stück<br />

Einheitlichkeit, es antwortet auf die klanglichen Spannungen,<br />

die in Sizilien das Ohr überraschen. Aus der<br />

Kehle jedes fliegenden Händlers strömt der Zauber des<br />

Mittelmeerraumes, noch heute. Ich habe die Melodie<br />

den changierenden Farben des Orchesters anvertraut,<br />

um die Phrasen zu ordnen, zu unterscheiden und dabei<br />

die unregelmäßigen Kurven ihrer Flugbahnen zu<br />

verdeutlichen.<br />

Der erste Einfall, sechs <strong>Takte</strong>, auf eine Visitenkarte<br />

gekritzelt und mit dem Untertitel „Melodia del Porazzi”<br />

versehen, ist hier ein gezügelter sinfonischer Krampf<br />

geworden. Er berührt sich mit einem Albumblatt für<br />

Klavier, einem „Languendo”. Einige Klänge des Anfangs<br />

haben eine Spur hinterlassen; sie verschwindet so unbemerkt<br />

wie das Licht des Abends. (Salvatore Sciarrino)<br />

Luca Lombardi<br />

Sarah & Hagar für zwei Soprane und Orchester<br />

Uraufführung: 31.5.20<strong>19</strong> Düsseldorf (Tonhalle),<br />

Marisol Montalvo (Sopran), Eir Inderhaug<br />

(Sopran), Düsseldorfer Symphoniker, Leitung:<br />

Alexandre Bloch<br />

Verlag: RAI Com, Vertrieb: Bärenreiter · Alkor<br />

Die Bibel ist reich an Geschichten, die uns beeinflusst<br />

haben und noch immer beeinflussen. Zum Beispiel<br />

die Geschichte von Sarah und Hagar. Isaac, der späte,<br />

unerwartete Sohn von Abraham und Sarah, ist der<br />

Ursprung der Geschichte des jüdischen Volkes. Ismail,<br />

der Sohn, den die Magd Hagar auf Wunsch von Sarah<br />

von Abraham empfing, ist der Ursprung der Geschichte<br />

der islamischen Völker. Die Nachfahren dieser beiden<br />

Halbbrüder, Juden und Moslems, liegen noch immer<br />

im Streit. Mit den Christen, den Anhängern des Juden<br />

Jesu, die seit 2000 Jahren die Glaubensgenossen ihres<br />

Messias beschuldigen, ihn verfolgt und ermordet zu<br />

haben, gibt es seit wenigen Jahrzehnten einen noch<br />

zerbrechlichen Frieden. In dem schönen Text, den mir<br />

Michael Krüger vorbereitet hat, fragen sich die beiden<br />

Frauen am Schluss: „Beide haben wir Söhne von Abraham<br />

geboren – Isaac und Ismail – ist es nicht Zeit, die<br />

Konflikte für immer beizulegen?“ Dies ist, wenn man<br />

so will, die Botschaft des Stückes. Alles andere versucht<br />

die Musik zu erzählen. (Luca Lombardi)<br />

]<br />

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