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[t]akte<br />
1I20<strong>19</strong><br />
Musiktheater<br />
und Zeitgenossenschaft<br />
Umberto Giordanos unbekanntes Opernschaffen<br />
„Andrea Chénier“ und gelegentlich auch „Fedora“<br />
– mehr ist von Umberto Giordanos Opern heute<br />
kaum einmal zu sehen. Dabei bieten auch seine<br />
anderen Werke gute Chancen für Bühnenerfolge.<br />
Umberto Giordano (1867–<strong>19</strong>47) zählt mit Pietro Mascagni,<br />
Ruggero Leoncavallo, Francesco Cilea und<br />
Giacomo Puccini zur „Giovane scuola italiana“ – zu<br />
jener Komponistengeneration, die an der Wende vom<br />
<strong>19</strong>. zum 20. Jahrhundert mit dem Anspruch an die Öffentlichkeit<br />
trat, dem zeitgenössischen italienischen<br />
Musiktheater internationale Geltung zu verschaffen.<br />
Dem französischen Drame lyrique eines Jules Massenet<br />
und Charles Gounod ebenso wie dem deutschen Musikdrama<br />
eines Richard Wagner galt es entgegenzutreten.<br />
Dabei gelang es vor allem Umberto Giordano, bei Presse<br />
und Publikum gleichermaßen höchste Anerkennung<br />
zu erlangen, und es mag heute verwundern, dass er nur<br />
mehr mit Andrea Chénier (1896) und Fedora (1898) in den<br />
internationalen Opernspielplänen präsent ist, während<br />
es doch ein vielgestaltiges Musiktheater-Œuvre zu<br />
entdecken gilt, mit dem das Repertoire auf vielfache<br />
Weise zu bereichern wäre.<br />
Umberto Giordano hatte sich 1888 mit seinem Opernerstling<br />
Mariana an einem Wettbewerb des Mailänder<br />
Musikverlegers Edoardo Sonzogno beteiligt, aus dem<br />
Pietro Mascagni und sein Einakter Cavalleria rusticana<br />
als Sieger hervorgegangen waren.<br />
Mala vita (Das schlechte Leben)<br />
Edoardo Sonzogno erkannte die Begabung Giordanos<br />
und erteilte ihm 1890 den Auftrag für eine neue Oper:<br />
Mala vita.<br />
Textliche Grundlage dieses dreiaktigen Melodramma<br />
sind die gleichnamigen Scene popolari von Salvatore<br />
Di Giacomo. Als Repräsentation des „neapolitanischen<br />
Verismo“, einer Sonderform des literarischen Verismo,<br />
der sich im ausgehenden <strong>19</strong>. Jahrhundert mit den<br />
Regionen Italiens, den wirtschaftlichen und sozialen<br />
Bedingungen des menschlichen Miteinanders kritisch<br />
auseinandersetzt, vergegenwärtigt Di Giacomo das<br />
gesellschaftliche Gefüge der süditalienischen Metropole<br />
Neapel. In Mala vita bringt er das Färbermilieu im<br />
Hafen Neapels und die Lebensverhältnisse einer gesellschaftlich<br />
ausgegrenzten Frau, der Prostituierten Cristina,<br />
auf die Bühne – ohne aber der Schilderung eines<br />
pittoresk-exotischen Ambientes oder einer rührseligen<br />
Liebesgeschichte zu verfallen. Der Autor zeigt vielmehr,<br />
wie eine korrumpierte Moral und eine religiöse Scheinwelt<br />
das Zusammenleben bestimmen: Doppelmoral,<br />
Lüge und Meineid werden von den Bewohnern des<br />
Hafens ebenso billigend in Kauf genommen wie das<br />
falsche Spiel mit den Gefühlen einer Frau.<br />
Umberto Giordano fasst den mit seiner thematischen<br />
Stoßrichtung innerhalb der veristischen Oper<br />
singulären Text in eine ebenso singuläre musikalische<br />
Dramaturgie. Die klassische Abfolge in sich geschlossener<br />
musikalischer Nummern wird in einer Folge<br />
szenisch-musikalischer Blöcke aufgehoben, in die mit<br />
harten Schnitten, schroff kontrastierend, Formen und<br />
Gesten des musikalischen Alltags eingelagert sind:<br />
eine Canzone d’amore, eine Canzone in „Tempo di<br />
marcia“, ein Brindisi und eine instrumentale Tarantella<br />
finden ebenso Eingang wie Choräle, Glockenläuten<br />
und Orgelklang. Während insofern die Handlung ein<br />
musikalisch realistisches Fundament erhält, nutzt<br />
Giordano andererseits weit ausgreifende Dialog- bzw.<br />
Duettszenen, in denen mit komplex abgestuftem Tonsatz<br />
und facettenreichem Gesang den Emotionen der<br />
Figuren beredt Ausdruck verliehen wird. Giordano zielt<br />
nicht auf eine Typisierung der Figuren, sondern auf<br />
musikalische Individualisierung. Dramaturgisches<br />
Pendant dazu ist eine für die veristische Oper außergewöhnliche<br />
Aufwertung des Chores als Protagonist<br />
der Handlung. Privatsphäre und Öffentlichkeit sind<br />
in Mala vita dialektisch vermittelt.<br />
Im Finale des dritten Akts fasst Umberto Giordano<br />
die Prinzipien seines Komponierens zusammen, um<br />
damit zugleich seine Perspektive auf die gesamte Oper<br />
zu formulieren. Das Finale ist eine Soloszene. Cristina<br />
ist allein, aus der Ferne ertönt „molto lontano“ eine<br />
Canzone des Chores; eine Canzone im neapolitanischen<br />
Dialekt, die nochmals die realistische Verankerung<br />
der Handlung vergegenwärtig, und die in der musikalischen<br />
Raumwirkung verdeutlicht, dass diese Frau<br />
gesellschaftlich ausgegrenzt ist. Mala vita schließt mit<br />
dem Hauptthema aus dem Duett zwischen Vito und<br />
Cristina im ersten Akt. Im Rückblick vom Opernfinale<br />
erweist sich die dort artikulierte Liebe Vitos als Lüge.<br />
Die Prostituierte wurde im Kontext eines religiös motivierten<br />
und moralisch von der Gesellschaft erzwungenen<br />
Schwurs hintergangen.<br />
Mala vita erlebte 1892 in Rom eine überaus erfolgreiche<br />
Uraufführung. Trotz einer Serie weiterer Produktionen<br />
entschloss sich der Komponist 1894 zu einer<br />
Umarbeitung, die den sozialen Sprengstoff eliminierte<br />
und die Oper zu einem anderen Ende führt: Cristina ist<br />
nicht länger eine Prostituierte, sondern eine betrogene<br />
Frau, die Selbstmord begeht und damit die gesellschaftliche<br />
Differenz aus der Welt schafft. Unter dem Titel<br />
Il voto (Das Gelübde) wurde die Oper 1897 in Mailand<br />
uraufgeführt. An der Seite von Rosina Storchio als Cristina<br />
sang der junge Enrico Caruso die Partie des Vito.<br />
Mese mariano (Marienmonat)<br />
Im Jahre <strong>19</strong>04 zog mit Salvatore Di Giacomos veristischem<br />
Drama O mese mariano ein weiteres Mal der neapolitanische<br />
Verismo die Aufmerksamkeit Giordanos<br />
auf sich. Es entstand Mese mariano – ein einaktiger<br />
„bozzetto lirico“; in erster Fassung <strong>19</strong>10 in Palermo und<br />
in finaler Version <strong>19</strong>13 in Mailand uraufgeführt. Mese<br />
„La mala vita“ am Stadttheater Gießen, kombiniert mit Madrigalen<br />
von Gesualdo. Premiere: 15.9.20<strong>19</strong>, Musikalische Leitung: Eraldo Salmieri,<br />
Inszenierung: Wolfgang Hofmann (Foto: Rolf K. Wegst)<br />
mariano nimmt wie schon Mala vita ein Alltagsthema<br />
auf: Die Oper schildert das Leben in einem neapolitanischen<br />
Kinderheim. Carmela Battinelli musste ihr Kind<br />
weggeben, nachdem dessen Vater sie verlassen hat, und<br />
nun kommt sie an einem Feiertag ins Kinderheim, um<br />
ihren Sohn zu besuchen. Der Junge ist jedoch am Vortag<br />
gestorben. Keine der Nonnen, die das Heim leiten,<br />
wagt es, der Mutter die Wahrheit zu sagen. Sie belügen<br />
Carmela, und die Mutter verlässt das Heim, ohne den<br />
Sohn gesehen zu haben. Umberto Giordano entwickelt<br />
nun als Äquivalent für das realistische Ambiente und<br />
den tragischen Stoff eine ganz auf die Kategorie der<br />
Einfachheit abgestellte musikalische Dramaturgie.<br />
Ein schlichter, kindlich-spielerischer und liedhafter<br />
Gestus vergegenwärtigt das Leben der Kinder im Heim,<br />
während andererseits ein choralhafter Religioso-Ton<br />
– durch ein Harmonium und den Klang von Kirchenglocken<br />
eingefangen – die kirchliche Dimension der<br />
Handlung grundiert. Ein durchgängiger Konversationsstil<br />
der gesprochenen Repliken und einfachen<br />
Rezitative erhebt sich nur dann zu lyrischer Emphase<br />
und dramatisch-passioniertem Gesang, wenn Carmela<br />
von ihrem mühseligen Leben berichtet. Das dramaturgische<br />
Resultat ist ein statisches, in sich ruhendes Bild,<br />
ein „bozzetto lirico“ – eine lyrische Skizze. Mit dieser<br />
Konzeption steht Umberto Giordanos Mese mariano<br />
singulär innerhalb der Geschichte der veristischen<br />
Oper zu Beginn des 20. Jahrhunderts.<br />
Marcella<br />
Am 9. November <strong>19</strong>07 wurde am Mailänder Teatro<br />
Lirico Internazionale Umberto Giordanos Marcella.<br />
Idillio moderno in tre episodi nach einem Libretto von<br />
Henri Cain und Édouard Adenis in der italienischen<br />
Übersetzung von Lorenzo Stecchetti uraufgeführt.<br />
Marcella stellt den Versuch dar, den Verismo in eine<br />
dezidierte Zeitgenossenschaft zu heben und darüber<br />
hinaus – in Fortsetzung von Andrea Chénier – eine<br />
Parabel über die Gefährdungen einer Liebe durch die<br />
politischen Zeitläufte in der Gegenwart zu erzählen.<br />
Prinz Giorgio lebt inkognito als Künstler in Paris,<br />
wo er sich in Marcella verliebt. Beide fliehen aus dem<br />
turbulenten Leben, um sich in der unberührten Natur<br />
auf dem Land uneingeschränkt ihrer Zuneigung versichern<br />
zu können. Giorgio aber wird vom „wahren<br />
Leben“ eingeholt. Er muss sich zwischen Kunst, Liebe<br />
und Politik entscheiden: Seinem Vaterland droht die<br />
Revolution, er will zurückkehren und den politischen<br />
Frieden wiederherstellen. Als er Marcella auffordert,<br />
mit ihm zu gehen, lehnt sie ab. Als zukünftiger Herrscher<br />
muss er eine standesgemäße Frau heiraten. Zum<br />
Schwur, ewig einander zu gedenken, fällt der Vorhang.<br />
Die untergründig schwelende Problematik einer sozialen<br />
Differenz zwischen den beiden Protagonisten – die<br />
dramaturgische Konstellation erinnert an Giuseppe<br />
Verdis La traviata – bricht als Pointe hervor und wird<br />
im freiwillig geübten Verzicht Marcellas und der Bestätigung<br />
des herrschenden Systems umso nachhaltiger<br />
unterstrichen.<br />
Umberto Giordano begegnet dem durchaus zwiespältigen<br />
Text zunächst mit den bekannten Mitteln<br />
seines Komponierens. In der ersten Episode fundiert<br />
er das Bohème-Milieu im Rausch eines übergreifenden<br />
Walzergestus, dabei an den zweiten Akt von Puccinis La<br />
Bohème erinnernd. Der Hymne auf die Gegenwart sind<br />
jedoch weit ausholende Abschnitte der Reflexion, des<br />
lyrischen bzw. dramatisch-passionierten Gesangs der<br />
beiden Protagonisten eingelagert – etwa Giorgios Arie<br />
„Ed io, libero, all’arte“ als Gesang auf die Kunst und die<br />
Schönheit, die Freiheit und die Liebe –, und ihre Musik<br />
bedient sich eines chromatischen Farbenreichtums,<br />
der sie beredt vom Pariser Bohème-Ambiente abhebt.<br />
Die dritte Episode der Oper ist konsequent ein überdimensioniertes<br />
Abschiedsduett, für das Giordano einen<br />
singulären Ton findet: Nicht die Trennung des Paars ist<br />
musikalisch gegenwärtig, sondern in einer lyrisch-elegischen<br />
Sprache die Gewissheit einer Liebe, die die<br />
Trennung überdauern wird. Es bleibt als Wunschbild<br />
jenseits aller Gefährdung die Idylle, eingefangen in einem<br />
dreifachen Piano und einem klaren D-Dur-Akkord<br />
zum Abschluss der Oper. Hans-Joachim Wagner<br />
Umberto Giordano<br />
Mala vita, Mese mariano, Marcella<br />
Verlag: Sonzogno, Vertrieb: Bärenreiter · Alkor<br />
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