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[t]akte<br />
1I20<strong>19</strong><br />
Ende der Nacht<br />
Der Komponist Philippe Boesmans und sein neues<br />
Klavierkonzert<br />
Robert Walser trifft Lenin<br />
Die Oper „Die Formel“ von Torsten Rasch wurde in<br />
Bern uraufgeführt<br />
Die steile Karriere von Philippe Boesmans als Opernkomponist<br />
nahm im Jahr <strong>19</strong>93 mit Reigen ihren Anfang.<br />
Momentan arbeitet er an einer Oper nach Georges<br />
Feydeaus Stück On purge bébé, nachdem sein jüngstes<br />
Werk, Fin de nuit für Klavier und Orchester, am 28.<br />
Februar in Lüttich zur Uraufführung gekommen ist.<br />
In der wallonischen Wirtschaftsmetropole liegt auch<br />
der Ursprung von Boesmans‘ Laufbahn.<br />
Dort absolvierte er in den <strong>19</strong>50er Jahren<br />
sein Klavierstudium, bevor er zu Beginn<br />
des folgenden Jahrzehnts mit dem Komponieren<br />
anfing. Bei der Herausbildung<br />
seines künstlerischen Ansatzes hatten<br />
Interpreten wie Walter Boeyckens, Francette<br />
Bartholomée, Claude Lombard,<br />
Hubert Biébaut, Bernard Foccroulle,<br />
Jacqueline Méfano, Fabrizzio Cassol und<br />
Ensembles wie „Musique nouvelle“ oder<br />
„2e2m“ einen entscheidenden Anteil. Die<br />
Instrumentierung von Boesmans wird<br />
durch das Konzept der „Klangfarbenmelodie“<br />
bestimmt. Er verfeinert außerdem<br />
unentwegt die ihm eigene Technik des<br />
„Trompe l’oreille“, die darin besteht, Klangfarben auf<br />
eine bestimmte Art zu vermischen und so ihre Wahrnehmung<br />
zu stören, z. B. indem eine solistische Stimme<br />
mit einer Gruppe von Instrumenten verflochten wird.<br />
So tritt die Klarinette in Corrélations (<strong>19</strong>67–70) in Dialog<br />
mit zwei Ensembles, desgleichen die Harfe in Explosives<br />
(<strong>19</strong>68) sowie Horn und Singstimme in Upon la-mi (<strong>19</strong>70)<br />
und die Orgel in Gloses (<strong>19</strong>74) und Ring (<strong>19</strong>75).<br />
Sein spezielles Interesse für das Orchester besteht<br />
seit <strong>19</strong>69: Verticales inspiriert ihn für das dreiteilige<br />
Werk Intervalles (<strong>19</strong>72–76) und legt die Grundlage für<br />
Conversions (<strong>19</strong>80). In Multiples für zwei Klaviere und<br />
großes Orchester (<strong>19</strong>74) erfährt seine mit Sur mi (<strong>19</strong>73)<br />
etablierte Konzeption des Zusammenspiels der beiden<br />
Klaviere eine Weiterentwicklung: Höchste Virtuosität<br />
wird kombiniert mit Echoeffekten und aufblitzenden<br />
musikalischen Glanzlichtern, die abwechselnd bei<br />
den Solisten und im Orchester zu hören sind. Élémentextensions<br />
für Klavier und Instrumentalensemble (<strong>19</strong>76)<br />
interpretiert die Form „Thema und Variation“ neu und<br />
gibt der pianistischen Virtuosität wieder viel Raum.<br />
<strong>19</strong>78 schreibt Boesmans sein erstes Klavierkonzert; es<br />
stellt in Bezug auf die instrumentale Wucht und den<br />
Klang eine Fortsetzung von Sur mi und Multiples dar<br />
und wird vom Komponisten noch im Entstehungsjahr<br />
für Soloklavier bearbeitet (Cadenza). Das Violinkonzert<br />
aus dem Jahr <strong>19</strong>80 schließlich überhöht die instrumentale<br />
Virtuosität durch eine Expressivität und Poesie, wie<br />
sie in der Tradition der franko-belgischen Schule von<br />
Vieuxtemps und Ysaÿe vorkommt.<br />
Anfang der <strong>19</strong>80er Jahre gibt Boesmans seine<br />
Beschäftigung mit Orchesterwerken und Konzerten<br />
Philippe Boesmans<br />
(Foto: Bernard Coutand)<br />
zugunsten der Oper auf. Doch widmet er sich zwischen<br />
zwei aufwendigen Arbeiten für die Bühne oft<br />
den – von ihm so genannten – „Ermattungswerken“,<br />
die eine Schaffensperiode beschließen, eine neue<br />
vorbereiten und ihm nach den Anstrengungen, die<br />
eine Opernkomposition mit sich bringt, neue Energie<br />
verleihen: So entstand nach Reigen das Werk Dreamtime<br />
für Basstuba solo, Harfe und Instrumentalensemble<br />
(<strong>19</strong>93); auf Wintermärchen folgte L’Eau douce du pardon<br />
für Singstimme und Kammerorchester (2001) und auf<br />
Julie das Sextuor à clavier (2006); und schließlich sind<br />
Chambres d’à-côté für Instrumentalensemble sowie<br />
Capriccio für zwei Klaviere und Orchester zu nennen<br />
(2010 bzw. 2011), die nach Yvonne, princesse de Bourgogne<br />
geschrieben wurden.<br />
Auf ähnliche Art entstand das Werk Fin de nuit für Klavier<br />
und Orchester, mit dem sich Boesmans im Juni 2017<br />
während der Proben zu Pinocchio in Aix-en-Provence<br />
zu beschäftigen begann, um es in den letzten Augusttagen<br />
des Jahrs 2018 zu vollenden. Es ist David Kadouch<br />
und dem Orchestre Philharmonique Royal von Lüttich<br />
gewidmet, das es in Auftrag gab, und besteht aus zwei<br />
Teilen. Der erste, „Dernier rêve“, wird nur vom Orchester<br />
bestritten und gründet auf einer aufsteigenden großen<br />
Terz, treibt sein Spiel mit Ruhepausen, langsamem Tempo<br />
und einem (fast) Nichts an Klang; es ist die Beschreibung<br />
eines leichten Schlafs zwischen zwei Träumen bei<br />
Tagesanbruch, und die chromatischen Beben, das feine<br />
Erscheinen und Verschwinden von Klängen erinnern<br />
zuweilen an die von Angst geprägten Passagen der<br />
Vögel in der neunten Szene von Pinocchio. Im zweiten<br />
Teil, „Envols“, kehrt mit dem Motiv der absteigenden<br />
– und diesmal kleinen – Terz, die die Figur des Pinocchio<br />
charakterisiert, der Schalk zurück, und in einem<br />
wie ein Wirbelwind anmutenden Scherzo werden die<br />
virtuosen Ausbrüche und die brillanten Kadenzen des<br />
Klaviers mit den empathischen oder antagonistischen<br />
Echos des Orchesters vermengt. Ab und an scheint in<br />
einem dieser Kontextwechsel, die für die Tonsprache<br />
von Boesmans charakteristisch sind, eine Reminiszenz<br />
aus dem ersten Teil auf – setzt der Schlummer wieder<br />
ein? Als ob es sich um eine „orchestrale Oper“ handelte,<br />
entspinnt sich in Fin de nuit eine Handlung: Der Schläfer<br />
tollt mit seiner Psyche herum. Cécile Auzolle<br />
Philippe Boesmans<br />
Fin de nuit pour piano et orchestre<br />
Uraufführung: 28.2.2018 Lüttich, David Kadouch<br />
(Klavier), Orchestre Philharmonique Royal de<br />
Liège, Leitung: Gergely Madaras<br />
Verlag: Édition Henry Lemoine, Vertrieb: Bärenreiter<br />
· Alkor<br />
Im Jahr 2018, ein Jahrhundert nach Ende des Ersten<br />
Weltkriegs und der Oktoberrevolution, führte das Konzerttheater<br />
Bern Die Formel auf, ein anspruchsvolles,<br />
interdisziplinäres Werk für Sänger, Schauspieler und<br />
Orchester mit Musik von Torsten Rasch. Das 120-minütige<br />
Werk nach einem Text von Doris Reckewell nimmt<br />
Berns wichtige Rolle als neutrale Durchgangsstation<br />
auf und konstruiert ein Treffen von sieben der wichtigsten<br />
kulturellen Figuren des 20. Jahrhunderts: Der<br />
revolutionäre Verbannte Lenin mit seiner Frau, die<br />
emanzipierte Sozialpädagogin Nadeshda Krupskaja;<br />
der noch unbekannte Physiker Albert Einstein und<br />
seine Frau Mileva Marić, der Künstler Paul Klee und<br />
seine Frau, die Pianistin Lily und der junge, entwurzelte<br />
Dichter Robert Walser. Jonathan Stockhammer<br />
dirigierte die Camerata Bern und das Vokalensemble<br />
ardent in einer Inszenierung von Gerd Heinz.<br />
Raschs sparsame und stimmungsvolle Partitur – die<br />
markante Rollen für Zymbal und Akkordeon neben<br />
Streichern und Schlagwerk bietet – setzt neben einem<br />
vollendet geschriebenen Solistenquartett etliche imposante<br />
Chöre ein, die das Werk akzentuieren. Reckewells<br />
dramatisches Konzept ist gleichermaßen fesselnd<br />
und vielschichtig und bricht den erzählerischen Fluss<br />
mit „Zeitfenstern“ und Traumszenen. An einer Stelle<br />
schaut das Drama mithilfe eines Kinderchores, der ein<br />
japanisches Kinderlied singt, auf die Hiroshima-Katastrophe<br />
voraus.<br />
Der einzigartige, expressive Aufbau seiner Musik –<br />
seine Gewandtheit, seine Sicherheit im größten Maßstab<br />
und seine frappierende Fähigkeit, eine lebendige<br />
und persönliche Klangwelt um die Geister anderer zu<br />
spinnen – macht Rasch zu einem geborenen Bühnenkomponisten.<br />
2007 arbeitete er zusammen mit der<br />
Schauspielerin Katharina Thalbach ein Theaterstück<br />
ihres verstorbenen Partners, des ostdeutschen, regimekritischen<br />
Schriftstellers Thomas Brasch, in seine erste<br />
Oper Rotter um. Ein zweites Musiktheaterwerk wurde<br />
von der English National Opera in Auftrag gegeben<br />
und 2010 in einem leerstehenden Bürogebäude in den<br />
Londoner Docklands uraufgeführt. Dabei vereinten sich<br />
Raschs Kräfte mit denen der radikalen Theatertruppe<br />
Punchdrunk für eine eindringliche Adaptierung von<br />
John Websters The Duchess of Malfi. Die Oper Chemnitz<br />
präsentierte 2013 eine Neuinszenierung. Aktuelle<br />
Projekte sind Werke für den RIAS Kammerchor und die<br />
Semperoper in Dresden.<br />
Faber Music<br />
Pressestimmen<br />
„Raschs spröder und zugleich affektbetonter Klangteppich<br />
gibt der Sprache eine fast schmerzhafte klangkörperliche<br />
Präsenz und jene emotionale Dimension, die<br />
dem bloßen Sprechen dieser Figuren verwehrt bleibt.<br />
Berühmtheiten im Wartestand. Torsten Raschs Oper „Die Formel“ in Bern<br />
(Foto: Philipp Zinniker)<br />
Und die fantastisch miteinander verwobenen Worte<br />
werden von der Musik nicht nur begleitet und untermalt,<br />
sondern in einer Klangwolke von Dissonanzen<br />
förmlich zerpflückt. Dieses ,Mysterienspiel‘ um Ideen,<br />
Erkenntnis, Realität und Verlogenheit des Systemdenkens<br />
ist ein Gesamtkunstwerk im besten Sinne …“<br />
Cornelie Ueding, Deutschlandradio Kultur, 4.3.2018<br />
„Die von Torsten Rasch komponierte Musik bettet das<br />
Werk in dissonante und düstere Klänge ein. Wie die<br />
Figuren wabern sie suchend umher, bleiben oft im<br />
Ungefähren. Hin und wieder tauchen wie Geistesblitze<br />
bekannte Motive auf, erinnern etwa entfernt an Tango,<br />
um gleich wieder im Klangrausch zu verschwinden.<br />
,Die Formel‘ ist in Bern also in guter Form: als kurzweiliges<br />
Musiktheater mit starken Bildern, das – dank der<br />
vielen gesprochenen Passagen – auch für jene geeignet<br />
ist, die modernen Opernklängen bisher nicht viel abgewinnen<br />
konnten.“<br />
Maria Künzli, Berner Zeitung, 5.3.2018<br />
Torsten Rasch<br />
Die Formel. Text: Doris Reckewell<br />
Uraufführung: 2.3.2018, Bern Stadttheater, Camerata<br />
Bern, Leitung: Jonathan Stockhammer,<br />
Vokalensemble ardent, Inszenierung: Gerd Heinz<br />
Besetzung: Mileva (Sopran), Nadezhda (Sopran),<br />
Lilly (Mezzosopran), Walser (Bariton) – Chor,<br />
Kinderchor<br />
Orchester: Schlg (3), Cymbalon (= Schlg 3) – Akk<br />
– Str<br />
Verlag: Faber Music, Vertrieb: Bärenreiter · Alkor<br />
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