alternovum.
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Titel. Alt und Jung.<br />
Verantwortung für nachfolgende Generationen:<br />
ein zentrales Lebensthema im hohen Alter<br />
Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse<br />
„Und dieses Einst, wovon wir träumen,<br />
es ist noch nirgends, als in unserm Geist –<br />
wir sind dies Einst, uns selbst vorausgereist<br />
im Geist, und winken uns von seinen Säumen,<br />
wie wer sich selber winkt.“<br />
In diesem von Christian Morgenstern (1871 bis 1914)<br />
verfassten Epigramm drückt sich eine Herausforderung<br />
aus, die auch für den gesellschaftlichen und kulturellen<br />
Umgang mit Fragen des Alters bedeutsam ist: Eine Neubetrachtung<br />
des Alters ist notwendig. Grundlage dieser<br />
Neubetrachtung bildet ein umfassendes Verständnis der<br />
Person. Das Alter darf nicht – wie dies häufig geschieht –<br />
auf körperliche Vorgänge reduziert werden, sondern es<br />
sind ausdrücklich auch die kognitiven, die emotional-motivationalen<br />
und die sozialkommunikativen Qualitäten zu<br />
erfassen und anzusprechen.<br />
fentliche Raum beschreibt dabei jenen Raum, in dem<br />
sich Menschen in ihrer Vielfalt begegnen, sich in Worten<br />
und Handlungen austauschen, etwas gemeinsam beginnen<br />
– im Vertrauen darauf, von den anderen Menschen<br />
in der eigenen Besonderheit erkannt und angenommen<br />
zu werden, sich aus der Hand geben, sich für einen Menschen<br />
oder eine Sache engagieren zu können.<br />
Dabei haben alte Menschen nicht selten die Sorge, aufgrund<br />
körperlicher Veränderungen (in denen das eigene<br />
Altern nach außen hin deutlich wird) und körperlicher<br />
Einschränkungen von anderen Menschen abgelehnt, in<br />
ihrer Einzigartigkeit nicht mehr erkannt und aufgrund<br />
ihres Alters nicht mehr als ebenbürtig akzeptiert zu werden.<br />
Dies bedeutet, dass sich das Individuum mehr und<br />
mehr aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen fühlt,<br />
sich das Engagement für andere Menschen nicht länger<br />
zutraut und die eigene Attraktivität für andere Menschen<br />
grundlegend infrage stellt.<br />
Das Engagement im öffentlichen Raum und dabei vor<br />
allem den Austausch mit jungen Menschen erleben die<br />
meisten älteren Menschen als eine Quelle von subjektiver<br />
Zugehörigkeit und Sinnerleben, von positiven Gefühlen<br />
und von Lebensqualität. Nicht allein die soziale Integration<br />
ist für sie bedeutsam, sondern auch ein darüber hinausgehendes<br />
Engagement, die Übernahme von Verant-<br />
wortung für andere Menschen. In diesen – auch symbolisch<br />
– fortzuleben, ist für alte Menschen ein bedeutdeutsames<br />
Motiv.<br />
Mitverantwortung leben können<br />
Die Verwirklichung von Generativität – also einer generationenübergreifenden<br />
Verantwortung – ist eine bedeutende<br />
Entwicklungsaufgabe des mittleren und hohen<br />
Erwachsenenalters. Nachdem das Individuum im Jugendalter<br />
und im jungen Erwachsenenalter ein tieferes und<br />
zugleich umfassenderes Verständnis von Identität und<br />
relevanten Rollenbezügen entwickelt und längerfristige<br />
Bindungen aufgebaut hat, geht es im mittleren und höheren<br />
Alter um seine Verpflichtung und Verantwortung<br />
gegenüber der Gesellschaft. Die Aufgabe lautet jetzt, einen<br />
Beitrag zum Fortbestand, gegebenenfalls auch zur<br />
Weiterentwicklung der Gesellschaft zu leisten, insbesondere<br />
durch das Engagement für nachfolgende Generationen,<br />
für deren Lebenschancen und Entwicklung.<br />
Diese Generativität leben zu können, ist nicht nur im<br />
mittleren, sondern auch im hohen Erwachsenenalter für<br />
das Selbstverständnis des Individuums zentral. Diese<br />
Aussage konnten wir in eigenen Studien zu den Lebensstrukturen<br />
hochbetagter Menschen empirisch stützen.<br />
In diesen Studien, in denen insgesamt 900 Frauen und<br />
Männer im Alter von 80 bis 100 Jahren ausführlich interviewt<br />
wurden, zeigte sich, dass das Motiv, sich für andere<br />
und um andere Menschen zu sorgen, ein zentrales Lebensthema<br />
des hohen Alters bildet. Fehlen Möglichkeiten zur<br />
Verwirklichung ebendieses Themas, wird dies auch im<br />
Sinn des „Aus-der-Welt-Fallens“ gedeutet.<br />
Generationenbeziehungen leben können<br />
Verwandt mit dem Begriff der Generativität ist jener der<br />
Mitverantwortung. In eigenen Studien konnten wir darlegen,<br />
dass die Schaffung von Gelegenheiten zur praktizierten<br />
Mitverantwortung alter und sehr alter Menschen<br />
Soziale Teilhabe leben können<br />
Ein sowohl aus gesellschaftlicher als auch aus individueller<br />
Sicht gutes Alter ist an Möglichkeiten sozialer Teilhabe<br />
oder – in den Worten der Philosophin und Politikwissenschaftlerin<br />
Hannah Arendt (1906 bis 1975) – an<br />
einen angemessenen Zugang zum öffentlichen Raum<br />
sowie an dessen aktive Mitgestaltung gebunden. Der öfnicht<br />
nur von jüngeren Menschen, denen diese Mitverantwortung<br />
gilt, als Bereicherung wahrgenommen wird,<br />
sondern auch von älteren Menschen selbst. In der Mitverantwortung<br />
erkennen sie eine bedeutende Gelegenheit<br />
zu schöpferischem Altern, zum Teil auch die Möglichkeit,<br />
sich als Teil einer Generationenfolge zu erleben.<br />
Die gesellschaftliche, kulturelle und politische Betrachtung<br />
des Alters darf vor dem Hintergrund wissenschaftlicher<br />
Befunde keinesfalls allein von Diskussionen über<br />
„gesellschaftliche Belastungen“ bestimmt sein, sondern<br />
sie muss ausdrücklich auch die Stärken und Kräfte des<br />
Alters würdigen.<br />
Dies gilt auch angesichts der Tatsache, dass der Alternsprozess<br />
gesellschaftlich wie individuell gestaltbar ist.<br />
Durch die Schaffung engagementförderlicher Lebenswelten<br />
kann die Gesellschaft mitverantwortliches Leben<br />
älterer Menschen fördern – und zwar ein mitverantwortliches<br />
Leben, das ältere Frauen und Männer als<br />
sinnstiftend und bereichernd erleben.<br />
Wir entwickeln im Lebenslauf emotionale, kognitive, sozialkommunikative,<br />
alltagspraktische und körperliche Ressourcen,<br />
die die Grundlage für ein persönlich sinnerfülltes,<br />
schöpferisches und sozial engagiertes Altern bilden. Gestaltungsfähigkeit<br />
und Gestaltungswille des Individuums<br />
enden nicht mit einem bestimmten Lebensalter, sondern<br />
bestehen über die gesamte Lebensspanne hinweg.<br />
Es lassen sich überzeugende Beispiele für die gesellschaftlichen<br />
und individuellen Potenziale des Alters finden, die<br />
deutlich machen, wie sehr ältere Menschen mit ihren differenzierten<br />
Wissenssystemen, reflektierten Erfahrungen<br />
und Handlungsstrategien nachfolgende Generationen zu<br />
bereichern vermögen und welchen Beitrag sie mit ihrer<br />
Produktivität und Kreativität zum Humanvermögen (emotionales,<br />
geistiges und kulturelles Kapital) leisten.<br />
Prof. Dr. Dr. h. c. Andreas Kruse leitet an der Universität<br />
Heidelberg das Institut für Gerontologie. Der mit „summa<br />
cum laude et egregia“ promovierte Psychologe wurde<br />
mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit einer<br />
Ehrendoktorwürde der Fakultät für Humanwissenschaften<br />
der Universität Osnabrück sowie mit dem René-<br />
Schubert-Preis und dem Max-Bürger-Preis der Deutschen<br />
Gesellschaft für Gerontologie, als auch mit internationalen<br />
Preisen. Seit 1989 ist Kruse Mitglied der Altersberichtskommissionen<br />
der Bundesregierung, seit 2003<br />
deren Vorsitzender, seit 2016 ist er Mitglied des Deutschen<br />
Ethikrates. Kruse ist auch durch zahlreiche Buchveröffentlichungen<br />
bekannt. Das aktuelle Werk heißt:<br />
Lebensphase hohes Alter – Verletzlichkeit und Reife<br />
(Springer, Heidelberg).<br />
10 <strong>alternovum</strong> | 1/2019 11