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Stadt Land / dérive – Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 76 (Heft 3/2019)

Das Verhältnis zwischen Stadt und Land ist in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Anlass dafür sind immer wieder Wahlergebnisse, Statistiken über Landflucht oder Protestbewegungen. Im dérive-Schwerpunkt Stadt Land geht Ilse Helbrecht der Frage nach, was Stadt und Land bzw. Urbanität und Ruralität nun eigentlich unterscheidet. Maximilian Förtner, Bernd Belina und Matthias Naumann warnen vor vereinfachenden Darstellungen, im Speziellen bei der Interpretation von Wahlergebnissen der AfD. Mit dem Sozialforscher Günther Ogris haben wir über die Geographie des Wahlverhaltens in Österreich gesprochen. Theresia Oedl-Wieser hat sich für den Schwerpunkt mit der Frage der Abwanderung der jungen weiblichen Landbevölkerung in die Städte beschäftigt. Judith Eiblmayr schreibt in ihrem Beitrag über Hintergründe, Ursachen und Begleiterscheinungen von Suburbanisierung in den USA. Jeremy Harding portraitiert für dérive die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich. Das Heft kann hier https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/stadt-land-heft-76-3-2019 bestellt werden.

Das Verhältnis zwischen Stadt und Land ist in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Anlass dafür sind immer wieder Wahlergebnisse, Statistiken über Landflucht oder Protestbewegungen. Im dérive-Schwerpunkt Stadt Land geht Ilse Helbrecht der Frage nach, was Stadt und Land bzw. Urbanität und Ruralität nun eigentlich unterscheidet. Maximilian Förtner, Bernd Belina und Matthias Naumann warnen vor vereinfachenden Darstellungen, im Speziellen bei der Interpretation von Wahlergebnissen der AfD. Mit dem Sozialforscher Günther Ogris haben wir über die Geographie des Wahlverhaltens in Österreich gesprochen. Theresia Oedl-Wieser hat sich für den Schwerpunkt mit der Frage der Abwanderung der jungen weiblichen Landbevölkerung in die Städte beschäftigt. Judith Eiblmayr schreibt in ihrem Beitrag über Hintergründe, Ursachen und Begleiterscheinungen von Suburbanisierung in den USA. Jeremy Harding portraitiert für dérive die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich. Das Heft kann hier https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/stadt-land-heft-76-3-2019 bestellt werden.

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CHRISTOPH LAIMER<br />

<strong>Stadt</strong> <strong>–</strong> <strong>Land</strong><br />

Ein Vorwort<br />

Die Residenzstadt Wien war zu Zeiten der Habsburger-Monarchie Hauptstadt eines<br />

großen Reiches und galt als Wasserkopf. Sie war Sitz des Kaiserhauses, an das man<br />

Steuern entrichten musste, das die eigene Volksgruppe, wenn es nicht die deutschsprachige<br />

war, diskriminierte und ausbeutete. Nach dem Ersten Weltkrieg, als vom großen<br />

Reich nur ein Rest übrig blieb, Wien eine hungernde <strong>Stadt</strong> war und die sozialdemokratische<br />

SDAP bei den ersten freien Wahlen die absolute Mehrheit erreichte, bekam der<br />

Hass auf Wien eine neue, antiproletarische Note. Das später so genannte Rote Wien<br />

(1919<strong>–</strong>1934) war das ideale Feindbild des konservativen Österreichs, das vor allem<br />

durch die von der Christlichsozialen Partei geführten Bundesländer repräsentiert wurde.<br />

Eine Besonderheit Österreichs war, dass damals fast 30 Prozent der Bevölkerung in der<br />

Hauptstadt lebten. Die Schärfe der ideologischen Gegensätze bekam dadurch noch<br />

mehr Gewicht. 1920 wurde Wien ein selbständiges Bundesland und konnte sich damit<br />

vom erzkonservativen, stark ländlich geprägten Niederösterreich abkoppeln. Seit diesem<br />

Zeitpunkt, mit Ausnahme der Zeiten der Diktaturen, waren und sind in Niederösterreich<br />

die ÖVP und in Wien die SPÖ (bzw. die jeweiligen Vorgängerparteien) die<br />

stärksten Parteien <strong>–</strong> eine unglaubliche Stabilität.<br />

Trotz dieser eindeutigen Wahlergebnisse und der politischen<br />

Grenze, die es zwischen Wien und Niederösterreich gibt, wäre<br />

diese mit freiem Auge natürlich nicht erkennbar, gäbe es keine<br />

Ortsschilder und natürlich spielt sie in ganz vielen Bereichen<br />

keinerlei Rolle. So liegt Wiens größte Shopping Mall knapp<br />

außerhalb der <strong>Stadt</strong>grenze in der gerade einmal 7.000 EinwohnerInnen<br />

zählenden niederösterreichischen Marktgemeinde<br />

Vösendorf, zahlreiche WienerInnen haben ihre Wochenendhäuschen<br />

im niederösterreichischen Waldviertel und noch<br />

mehr verlassen ihre <strong>Stadt</strong> <strong>für</strong> Ausflüge, um z. B. in den in<br />

Niederösterreich liegenden Wiener Alpen wandern zu gehen.<br />

Eine Gegend, die den hitzegeplagten WienerInnen schon seit<br />

Eröffnung der Südbahn Mitte des 19. Jahrhunderts wohlbekannt<br />

ist. Sie diente ihnen <strong>–</strong> zumindest den GroßbürgerInnen<br />

unter ihnen <strong>–</strong> ab dieser Zeit als Ort <strong>für</strong> die Sommerfrische.<br />

Ungefähr seit dieser Zeit kommt das tatsächlich hervorragende<br />

Wiener Wasser aus dieser Gegend. Dass WienerInnen gerne<br />

Wein aus Niederösterreich trinken, Spargel aus dem Marchfeld<br />

und Marillen aus der Wachau essen, sei nur nebenbei erwähnt.<br />

Umgekehrt pendeln rund 190.000 NiederösterreicherInnen<br />

täglich nach Wien (interessanterweise auch<br />

90.000 WienerInnen aus Wien hinaus), gar nicht so wenige von<br />

ihnen arbeiten bei der <strong>Stadt</strong> Wien. Polizisten wurden in Wien<br />

früher gerne Mistelbacher genannt, was der Legende nach auf<br />

ihren niederösterreichischen Herkunfts- bzw. Ausbildungsort<br />

verweist. Der Sozialforscher Günter Ogris sagt im Interview<br />

<strong>für</strong> diesen Schwerpunkt, dass die drei beliebtesten Kulturstätten<br />

der NiederösterreicherInnen in Wien liegen.<br />

Man sieht, selbst bei einer oberflächlichen Betrachtung<br />

zeigen sich sofort mannigfaltige Verbindungen und Abhängigkeiten,<br />

die die politische Grenze völlig ignorieren. »Die<br />

komplexen gesellschaftlichen Konstruktionsprozesse von<br />

Räumen verbieten es, räumliche Grenzen als scharfe Grenzen<br />

<strong>für</strong> unterschiedliche soziale Verhältnisse zu vermuten«, schreibt<br />

Ilse Helbrecht in ihrem Artikel, in dem sie sich mit den Begriffen<br />

<strong>Stadt</strong> und <strong>Land</strong> sowie Urbanität und Ruralität auseinandersetzt.<br />

Helbrecht wehrt sich heftig gegen vereinfachende Darstellungen,<br />

um urbane und rurale Räume zu identifizieren und<br />

kategorisieren, wie sie sich medial in den letzten Jahren großer<br />

Beliebtheit erfreut haben. Sie sieht Begriffe wie Urbanität und<br />

Ruralität als »Konstrukte der Wissenschaft, die spezifische<br />

Antworten auf Probleme und Herausforderungen bieten«.<br />

Maximilian Förtner, Bernd Belina und Matthias Naumann<br />

treibt ebenso die Absicht, vor vereinfachenden Darstellungen<br />

zu warnen, im Speziellen bei der Interpretation von<br />

Wahlergebnissen der AfD. Mit Lefebvres Theorie der Urbani-<br />

Urbanität, Ruralität, Wien, Niederösterreich,<br />

Urbanisierung, <strong>Land</strong>flucht, Zentralität, Wahlverhalten, Raumproduktion,<br />

Suburbanisierung, Gelbwesten, Geschlechterrollen<br />

04<br />

<strong>dérive</strong> N o <strong>76</strong> — STADT LAND

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