Juli/August 2019 - coolibri Hamm, Unna, Hagen
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INTERVIEW<br />
„ D e m o k r a t i e<br />
s t ö r t d e n<br />
K a p i t a l i s m u s “<br />
Warum die europäischeDemokratie verbesserungswürdig ist, warumihr dieletztjährige Diskussion um Israelkritik<br />
billig erschien, undwelche Leutesie bei Hausbesuchen trifft –das alles verrät Ruhrtriennale-Intendantin<br />
Stefanie CarpimGesprächmitMax Florian Kühlem.<br />
Foto: „Everything that Happend and Would Happen“<br />
©AnArtangel commission. Thanasis Deligiannis<br />
Geht es im Programm Ihrerzweiten Ruhrtriennale-Saisonumein neues<br />
Erzählen europäischer Geschichte?<br />
Es geht darum, welche Legitimität dieEuropäerüberhaupthaben,sichzu<br />
welchenThemenzuäußern. Es geht darum, dass dieVersprechen von<br />
Freiheit,Gleichheit, Brüderlichkeit nieeingelöstwurden, dass dieDemokratie<br />
niewirklich für allegegolten hat, insofernsehrverbesserungsbedürftigist<br />
undstattdessen derzeitzunehmend zerstörtwird. DiezentralenArbeiten,<br />
dieinhaltliche Setzungenmachen, sind „All theGood“ von<br />
JanLauwers’Needcompany, „Nachden letzten Tagen. EinSpätabend“von<br />
Christoph Marthalerund „Evolution“von Kornél Mundruczó. BeiJan Lauwers<br />
geht es um dieFrage,welches Recht derweiße Künstler überhaupt<br />
noch hat, über einThema zu sprechen.Bei Kornél Mundruczó, dermit LigetisRequiemarbeitet,<br />
geht es um dieSchuld, denHolocaust, dasgroße<br />
Zivilisationsverbrechen, dasals Biestwiederkommt.<br />
Sieglauben,die europäischeDemokratieist in Gefahr?<br />
Es gibteinigeLänder, diesichschon abgewandt haben vonder Demokratieund<br />
wenn dieAfD beiuns noch mehr Zulauf erhält, kann es hier auch<br />
so werden.Demokratiestört denKapitalismus.Man kann leichter Profite<br />
machen, wenn manMenschenunterdrücktund kontrolliertstatt ihnen<br />
Rechte zu geben. Daswussten schondie Nazis.Ich glaube, wir sind wieder<br />
aufeinem ähnlichen Weg.<br />
MitMarthaler und Mundruczó haben SiezweiArbeitenimProgramm,die<br />
explizit aufden Holocaustreagieren.Warum habenSie darüber letztes<br />
Jahr nichtgesprochen, alsSie wegender Einladungeiner israelkritischen<br />
Band in derKritikstanden?<br />
Das war mir zu billig. Es gabjaauch garkeinInteresse vonirgendjemandemdaran,die<br />
Wogenzuglätten. Im Gegenteil, es solltenmöglichst große<br />
Wogenaufgeworfen werden.Das war halt eine Kampagne undinKampagnengehtesnicht<br />
um objektiveDarstellung.<br />
6<br />
Szenenbild<br />
Ende2018hieß es,Sie hättenmit<br />
JürgenReitzlereinen „Aufpasser“<br />
zur Seitegestelltbekommen.<br />
Das war eine vonwem auch immererfundene<br />
Schlagzeile. Es ist<br />
nichts anderespassiert, alsdass<br />
icheinen neuenBetriebsdirektor<br />
gesucht, gefundenund engagiert<br />
habe.<br />
Warumstartet die Ruhrtriennalediesmal nichtineiner Industriehalle,<br />
sondernimAudimax derRuhr-Universität Bochum?<br />
Alleanderen Arbeiten findenjainIndustriehallen statt undman kann auch<br />
malAusnahmen machen. Christoph Marthalers Arbeithalluziniertein imaginäres<br />
Weltparlament. Eigentlich wollte er einwirkliches Parlamentfinden.<br />
DieParlamente im Ruhrgebietsindaberallezuklein.Das Audimax<br />
passte großartigund hatinsoferndirekt mitder Industrie-Geschichte der<br />
Region zu tun, da dieUniversitäten sozusagenanstelledes Kohleabbaus<br />
gebaut wurden,als Teil desStrukturwandels. PolitikersindzuRecht stolz<br />
darauf,dassman heute so vieleStudierende hatwie früher Bergleute.<br />
Erfahren Siedas Ruhrgebiet alsRegion desWissens?<br />
Es gibthierunglaublich gute Fakultäten,viele Studierende,viele Museen,<br />
Kunstvereine,Stadttheaterund andere Kulturstätten. Wasich aber auch<br />
erfahre, isteineextreme sozialeSpaltung, eine brutaleZweiklassengesellschaft.Esgibteinen<br />
Teil derBevölkerung, derander Kultur undWissensgesellschaftteilnimmt,aberoffenbargar<br />
nichtunbedingt in derRegion<br />
lebt,sondern an-und abreist. Danebengibtesviele Menschen,die hier<br />
dauerhaftineiner erschütterndverlorenen,prekärenSituationleben.Das<br />
sind Leute, denenich in derStraßenbahn begegne unddie dasWort<br />
„Ruhrtriennale“sichernochnie gehörthaben.Sokrass wieimRuhrgebiet<br />
habeich denKlassenunterschied fast nirgendwo sonsterfahren.<br />
Im EditorialIhres neuenProgrammskündigenSie eine ganz neue Form<br />
desPublikumskontaktsan: Hausbesuche.<br />
Ja,man kann mich buchen,ich kommedann undstelledas Programm vor<br />
–einzelnen Menschen,Gemeinschaftenoderbei Partys.Die,die mich einladen,<br />
sind totaloffene, neugierige,interessanteMenschen, allesehrsympathisch,meist<br />
aus demoberenMittelstand,häufigMenschennachihrem<br />
Arbeitsleben, diejetzt Zeit haben,sichmit Kultur zu beschäftigen. Letztes<br />
Jahr habeich aus eigenerInitiativeherauseineZeitung vonGeflüchteten<br />
besucht, „Neu in Deutschland“, undsie zur Produktion„TheFactory“von<br />
Mohammad Al Attareingeladen. Ichmussteaberwirklich mehrfach darauf<br />
hinweisen, dass dieInszenierungtatsächlich in arabischer Sprachegespieltwird.<br />
Ichhatte denEindruck,dassesvielÜberzeugungsarbeit<br />
braucht, um einenGeflüchteten zu überreden, insTheater zu gehen. Während<br />
desPublikumsgesprächesnachder Vorstellungwurde plötzlichsehr<br />
viel in arabischer Spracheaus demPublikum mitden Schauspielern kommuniziert,<br />
dashat mich sehr gefreut.<br />
Ruhrtriennale<strong>2019</strong>: 21.8.-29.9., verschiedene Orte,Ruhrgebiet;<br />
ruhrtriennale.de