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stadt/land/dach

Architekturkritiker gibt es wie Sand am Meer, wahrscheinlich bin ich selbst einer davon. Beim Gang durch die Straßen komme ich immer wieder ins Grübeln: Warum wirkt Architektur immer monotoner, flacher und beliebiger? Sehen die Städte der Zukunft wirklich wie Schuhschachteln aus, oder was macht eine Stadt lebenswert, in der wir künftig gerne wohnen? Wie wollen Sie in 50 Jahren wohnen?

Architekturkritiker gibt es wie Sand am Meer, wahrscheinlich bin ich
selbst einer davon. Beim Gang durch die Straßen komme ich immer
wieder ins Grübeln: Warum wirkt Architektur immer monotoner,
flacher und beliebiger? Sehen die Städte der Zukunft wirklich wie
Schuhschachteln aus, oder was macht eine Stadt lebenswert, in der
wir künftig gerne wohnen? Wie wollen Sie in 50 Jahren wohnen?

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<strong>stadt</strong> / <strong>land</strong> / <strong>dach</strong><br />

Magazin für Architektur und Raum.<br />

Steil<strong>dach</strong> Kommentar<br />

Architekten und Steil<strong>dach</strong> –<br />

eine Hassliebe?<br />

Haus am Buddenturm in Münster:<br />

angepasste Individualität<br />

DACHKULT • 01/19 • BAUKULTUR


INHALT<br />

EDITORIAL<br />

Editorial / 03<br />

Liebe Architekten und Planer,<br />

Steil<strong>dach</strong> / Angepasste Individualität / 04<br />

Heftthema / Das Dach als Symbol der Baukultur / 06<br />

StadtPortrait / Kein Dorf ohne Dach / 08<br />

Kommentar / Architekten und Steil<strong>dach</strong> – eine Hassliebe? / 10<br />

Ausblick / 11<br />

Architekturkritiker gibt es wie Sand am Meer, wahrscheinlich bin ich<br />

selbst einer davon. Beim Gang durch die Straßen komme ich immer<br />

wieder ins Grübeln: Warum wirkt Architektur immer monotoner,<br />

flacher und beliebiger? Sehen die Städte der Zukunft wirklich wie<br />

Schuhschachteln aus, oder was macht eine Stadt lebenswert, in der<br />

wir künftig gerne wohnen? Wie wollen Sie in 50 Jahren wohnen?<br />

Was wäre Venedig ohne die Varianz seiner Dächer, was wäre eine Kirche<br />

ohne aufwendige Dachkonstruktion, wie sähen Kinderzeichnungen ohne<br />

Sattel<strong>dach</strong> aus? Auf den nächsten Seiten sind wir Zuhörer, Entdecker<br />

und Botschafter, um ein deutliches Plädoyer für gestalterische Vielfalt<br />

und individuelle Städte auszusprechen. Wir möchten verstehen, was Sie<br />

am Steil<strong>dach</strong> fasziniert, was Sie stört und wie wir gemeinsam den Staub<br />

entfernen können.<br />

HERAUSGEBER<br />

Dachkult<br />

Initiative Pro Steil<strong>dach</strong><br />

Gazellenkamp 168<br />

22527 Hamburg<br />

Klaus H. Niemann (Sprecher)<br />

Mob.: 0175 / 59 11 518<br />

Mail: niemann@<strong>dach</strong>kult.de<br />

WEBSITE & SOCIAL MEDIA<br />

<strong>dach</strong>kult.de<br />

facebook.com/<strong>dach</strong>kult<br />

instagram.com/<strong>dach</strong>kult<br />

youtube.com/<strong>dach</strong>kult<br />

KONZEPT, DESIGN & REDAKTION<br />

Brandrevier GmbH, Essen<br />

www.brandrevier.com<br />

DRUCK<br />

Woeste Druck + Verlag GmbH & Co. KG<br />

Druckauflage: 50.000<br />

Unsere erste Ausgabe von <strong>stadt</strong>/<strong>land</strong>/<strong>dach</strong> widmet sich dem Thema Baukultur,<br />

und ihr Cover ziert eins der vielen interessanten Steildächer, die<br />

aktuell realisiert wurden. Außergewöhnlich ist daran, dass es nicht mit<br />

Ziegeln, sondern mit Kork gedeckt wurde. Wir beleuchten, welche Bedeutung<br />

das Steil<strong>dach</strong> für ländliche Räume, aber auch für innerstädtische<br />

Nachverdichtung hat. Als historisches Motiv kann es ebenso prägnant sein<br />

wie in allgegenwärtiger Architektur. Dies zeigen uns zahlreiche Beispiele<br />

früherer und zeitgenössischer Bauten, die wir als DACHKULT bezeichnen<br />

und mit Ihnen teilen möchten. Fest steht für uns: Das Steil<strong>dach</strong> ist zurück,<br />

oder sagen wir besser, es war eigentlich nie weg.<br />

Nun wünsche ich Ihnen viel Spaß bei der Lektüre und offene Augen bei<br />

Ihrem nächsten Spaziergang durch die Stadt. /<br />

Klaus H. Niemann, Sprecher von Dachkult<br />

BILDNACHWEIS<br />

1/11 • Gui Rebelo / rundzwei Architekten<br />

4/5 • hehnpohl architektur bda, Münster<br />

6 • Wolfram Reuter<br />

7 • schachspieler / photocase.de<br />

moreimages / Shutterstock.com<br />

8/9 • Mark Drotsky / en.joy.it / photocase.de<br />

10 • Waldemar Brzezinski / Felix Zimmermann


STEILDACH • 04<br />

Angepasste Individualität<br />

Geneigter Giebel<br />

sich auch im Innenraum wider. Von unten<br />

Eine klare Linienführung, präzise Giebel-<br />

nach oben immer größer werdend, öffnet<br />

Nahe dem historischen Buddenturm in Münster ragt der First des<br />

linien und eine Ziegelfassade prägen den<br />

sich das Treppenhaus zum Tageslicht, das<br />

spitzen Sattel<strong>dach</strong>es gen Himmel. Auf den ersten Blick wie selbst-<br />

Entwurf mit der eigenwilligen horizon-<br />

durch Öffnungen an den Traufwänden<br />

verständlich, auf den zweiten Blick viel mehr als das. Es scheint, als<br />

talen, fächerartigen Fassadenaufteilung.<br />

und im First in das Haus strömt.<br />

hehnpohl architektur bda<br />

Münster<br />

tanze der Baukörper aus der Reihe der sprossenbefensterten, <strong>dach</strong>überständigen<br />

und charakteristischen Altbauten.<br />

Aufbauend auf den Fluchten der umgebenden<br />

Bebauung wachsen die Geschosse<br />

Eingeschmiegt in Baukultur<br />

nach oben hin immer weiter über die Erd-<br />

Durch die Prämierung mit dem „Deut-<br />

Der Neubau ersetzt auf gleicher Grundfläche ein altes Gebäude, das<br />

geschossmauern. Wenige großformatige<br />

schen Ziegelpreis 2019“ hat die Aufmerk-<br />

aufgrund seiner schlechten Bausubstanz und mehrfacher unzulänglicher<br />

Fenster gewähren Einblick in den Baukör-<br />

samkeit für den Bau deutlich zugenom-<br />

Überbauungen und Ergänzungen nicht mehr sinnvoll zu erhalten war. Das<br />

per und Ausblicke auf den Buddenturm.<br />

men. Die Idee des Projekts, Themen wie<br />

Büro hehnpohl architektur bda macht es sich bei all seinen Projekten zum<br />

Innen setzt sich die klare, puristische<br />

Anpassung und Eigenständigkeit auszulo-<br />

Prinzip, einen Planungsansatz zu wählen, der sich aus der Aufgabe und<br />

Gestaltung fort. Wenige Materialien, Holz-<br />

ten und eine zeitgenössische Interpretati-<br />

dem Ort heraus entwickelt. „Die Wahl eines Steil<strong>dach</strong>s ist dabei immer<br />

böden, Sichtbeton und puristische Wand-<br />

on historischer Bezüge anzubieten, hat für<br />

eine mögliche Option, aber keine Ideologie“, erläutert Christian Pohl den<br />

oberflächen prägen die Wohnräume. Einen<br />

eine sehr positive Resonanz gesorgt. Woh-<br />

Entwurfsansatz des Büros. In ihrem Ansatz berücksichtigen die Planer<br />

zweiten Blick lohnt das oberste Geschoss:<br />

nen hinterm Giebel, angepasst und abge-<br />

stets die baugeschichtlichen Bezüge und schätzen die Qualität tradierter<br />

Die holzverschalten Dachschrägen verlei-<br />

hoben, sensibel und selbstbewusst. Hier<br />

Typologien und Konstruktionen. So auch in Münster. Der Bebauungs-<br />

hen dem speziellen, leicht spitzwinkeligen<br />

greift das eine ins andere: die Symbiose<br />

plan und die Münsteraner Alt<strong>stadt</strong>satzung ließen an dieser Stelle nur ein<br />

Raum unter dem First einen warmen,<br />

einer strengen Gestaltungssatzung und ei-<br />

Sattel<strong>dach</strong> zu. Eine andere Dachform wäre aus Sicht der Architekten aus<br />

wohnlichen Charakter. Die außen ables-<br />

ner hohen architektonischen Qualität, die<br />

städtebaulichen und gestalterischen Gründen an diesem Platz aber ohne-<br />

bare, geschossweise Staffelung spiegelt<br />

wie selbstverständlich harmonieren. /<br />

hin keine Option gewesen.<br />

Moderne Interpretation von Gestalt,<br />

Ausdruck und Materialität.<br />

N


HEFTTHEMA • 06<br />

Das Dach als Symbol<br />

der Baukultur<br />

von 2018, Dürschinger Architekten<br />

mit ihrer Hofstelle Stiegler,<br />

haben es geschafft, wirtschaftlich<br />

den Wiederaufbau des Berliner<br />

Schlosses in aller Munde, ist damit<br />

die Konservierung einer Baukul-<br />

Potenzial statt provinziell<br />

Die Herausforderung heißt zeitgenössische<br />

Baukultur. Experi-<br />

Baukultur ist kein Thema, das nur die Architektur betrifft. Baukultur<br />

ist vielmehr ein gesellschaftliches Phänomen und umfasst den Umgang<br />

der Menschheit mit ihrer gebauten Umgebung. Häuser, die entstehen,<br />

sind der „Bau“. Unser Umgang mit der Bebauung: die „Kultur“.<br />

funktionale Gebäude zu errichten,<br />

die auch gestalterisch überzeugen.<br />

Bei einem Großbrand auf der<br />

ehemaligen Hofstelle waren alle<br />

historischen Bestandsgebäude<br />

tur vergangener Zeiten gemeint.<br />

Doch ist der Wiederaufbau einer<br />

Hülle, die technisch nicht den<br />

heutigen Standards entspricht und<br />

dementsprechend nur Fassade ist,<br />

mentierfreude, kreative Entwürfe<br />

und ausgefeilte Dach<strong>land</strong>schaften<br />

zieren immer häufiger die Cover<br />

angesehener Architekturmagazine.<br />

Die Architekten bekommen Lust<br />

mit Ausnahme der alten Schmie-<br />

wirklich die Lösung? Der Grund-<br />

auf einen neuen Umgang mit dem<br />

de vernichtet worden. Mit dem<br />

tenor ist überall gleich: Bürger sind<br />

Dach. Es entstehen kulturelle Son-<br />

Wiederaufbau ist ein Hofensemble<br />

dafür, Architekten sind dagegen.<br />

derbauten wie die Elbphilharmonie<br />

aus Naturstein und Holz entstan-<br />

Fürs Dach allein wäre der reine<br />

in Hamburg oder Wohnkomplexe<br />

den, das es schafft, den Flair des<br />

Wiederaufbau ein Gewinn. Als<br />

wie das Isbjerget in Dänemark.<br />

Vergangenen mit der Effizienz des<br />

ursprüngliches Grundmotiv ist es<br />

Immer häufiger orientiert sich<br />

Modernen zu verknüpfen, ohne<br />

seit Jahrhunderten immer auch das<br />

die Architektur dabei auch an den<br />

dabei zu rekonstruieren.<br />

Erzeugnis der jeweiligen Zeit und<br />

Baumeistern der Natur. Das Dach<br />

des Ortes, in denen es entstanden<br />

übernimmt neben der rein schüt-<br />

Sackgasse Rekonstruktion?<br />

ist. Und es ist unumstritten, dass<br />

zenden Funktion auch hier immer<br />

Ein vermeintlicher Weg zum Erhalt<br />

das Steil<strong>dach</strong> erst vor rund hundert<br />

einen wichtigen Teil der Gesamt-<br />

der Baukultur heißt heute Rekon-<br />

Jahren durch die Gründung des<br />

gestalt. /<br />

struktion. Durch Projekte wie die<br />

Bauhauses wirklich Konkurrenz<br />

Frankfurter neue Alt<strong>stadt</strong> oder<br />

bekommen hat.<br />

nord<br />

Gewinner des Landbaukultur-Preises 2018 / Hofstelle Stiegler von Dürschinger Architekten.<br />

Die Gestaltung des Daches bietet in<br />

der heutigen Zeit die Chance, Historie<br />

und Moderne miteinander zu<br />

verbinden. Die bauordnungsrechtlichen<br />

Vorschriften der einzelnen<br />

Länder müssen hierzu als Herausforderung<br />

statt als Zwang betrachtet<br />

werden. „Je mehr Eigenheit und<br />

Charakter ein Ort hat, desto eher<br />

schafft er ein Gefühl von Heimat<br />

und Zuhause“, sagte schon der<br />

US-Stadtforscher Kevin A. Lynch.<br />

Und genau darin liegt die Chance.<br />

Es gibt schließlich nicht nur flach<br />

oder steil und nicht nur historisch<br />

oder modern. Es gibt Nuancen<br />

dazwischen, die zur baukulturellen<br />

Vielfalt beitragen und eine Stadt<br />

lebenswert machen.<br />

Landbaukultur<br />

Während in städtischen Gebieten<br />

vielerorts das Flach<strong>dach</strong> Einzug<br />

gehalten hat und traditionelle<br />

Baukultur eher in den Hintergrund<br />

tritt, scheint es auf dem Land<br />

eine andere Auseinandersetzung<br />

mit dem Dach zu geben. Es wirkt,<br />

als gäbe es eine andere Akzeptanz,<br />

sogar eine Erfordernis für<br />

das geneigte Dach. Doch wer die<br />

Anmutung <strong>land</strong>wirtschaftlicher<br />

Architektur für selbstverständlich<br />

erachtet, irrt sich: Bauten werden<br />

zunehmend zweckmäßiger, und<br />

die Herausforderung, Gestaltung<br />

und Effizienz miteinander<br />

zu vereinen, wächst. Um häufig<br />

unterschätzte Architektur auf dem<br />

Land zu würdigen, wurde 2014 der<br />

Deutsche Landbaukultur-Preis von<br />

der Stiftung LV Münster ins Leben<br />

gerufen. Vorbildliche Bauten, die<br />

eine Bereicherung in der Kultur<strong>land</strong>schaft<br />

darstellen und dabei<br />

architektonisch besonders positiv<br />

auffallen, werden seither alle zwei<br />

Jahre prämiert. Die Preisträger<br />

Im Norden Deutsch<strong>land</strong>s sind es weniger die Gebäudeformen<br />

als vielmehr Materialien, die das Bild von Städten<br />

und Gemeinden prägen. Um den rauen Wetterverhältnissen<br />

zu trotzen, werden häufig widerstandsfähige Klinkerfassaden<br />

und Ziegeldächer verwendet. Das hat nicht<br />

nur funktionale, sondern auch rein praktische Vorteile.<br />

Denn Lehm und Ton zur Produktion von Backstein und<br />

Ziegeln stammen aus der Region.<br />

Insbesondere für den süddeutschen Raum gilt das<br />

Steil<strong>dach</strong> mit spitzen, flachen oder verzierten Giebeln als<br />

identitätsstiftend und traditionell. Doch auch hier gibt<br />

es regionale Unterschiede: Während in Oberbayern und<br />

im südlichen Teil Schwabens langgezogene Giebel mit<br />

flachen Dächern bevorzugt werden, dominiert in Unterfranken<br />

das Fachwerk.<br />

süd


STADTPORTRAIT • 08<br />

luna productions<br />

Deitingen, Schweiz<br />

Kein Dorf ohne Dach<br />

Was bedeutet das Leben und Arbeiten im Dorf, und welche baukulturelle<br />

Verantwortung wohnt dem Dach als gestalterischem Element<br />

inne? Antworten auf diese Fragen geben uns zwei junge Architekten<br />

aus Deitingen, einer 2.237-Seelen-Gemeinde in der Schweiz. luna<br />

productions – ein Akronym aus Lukas und Nadja Frei – steht für<br />

Gedankenexperimente, für Kreativität, schlicht für alles, was die<br />

beiden privat und beruflich bewegt.<br />

„Unser Anspruch ist es, beim Eingriff in<br />

bestehende Strukturen nicht nur auf die<br />

Bedürfnisse des Einzelnen zu achten,<br />

sondern mit unserer Intervention die<br />

Situation so zu verbessern, dass eine<br />

lebendige Nachbarschaft entstehen kann.“<br />

Der Baum unter dem Dach hat neben seiner Ästhetik auch eine tragende Funktion.<br />

Raum und Zeit<br />

Auf dem Dorf ist die Welt noch in<br />

Ordnung. Solche oder ähnliche<br />

Sätze hört man oft von Städtern,<br />

die sich nach jahrelangem Leben<br />

in der Stadt aufs Land flüchten, das<br />

als Raumkategorie immerhin einen<br />

Anteil von etwa 70 Prozent der<br />

gesamten Flächenverteilung innerhalb<br />

Deutsch<strong>land</strong>s einnimmt und<br />

das Landschaftsbild somit nachhaltig<br />

prägt. Aber wie verhält es sich<br />

eigentlich mit der Architektur im<br />

ländlichen Raum? Was zeichnet sie<br />

aus, vor welchen Herausforderungen<br />

steht sie, und wer baut diese<br />

Orte, die wir fast zwangsläufig mit<br />

Ruhe, Wohlgefühl und Entspannung<br />

verbinden? Nadja und Lukas Frei,<br />

beruflich und auch privat ein Paar,<br />

sind beide auf dem Land großgeworden<br />

und haben sich bewusst für<br />

das Leben dort entschieden.<br />

Architektur als Gemeinschaftsaufgabe<br />

Der Maßstab auf dem Land ist viel<br />

kleiner als in der Stadt. Gebäudeabstände<br />

sind größer, Freiräume<br />

grüner und Fassadenhöhen weit<br />

geringer. Das Dach ist maßgeblich<br />

an der Wirkung des Straßenbildes<br />

beteiligt. Es kann und soll als fünfte<br />

Fassade dienen, in ländlichen Gebieten<br />

sogar identitätsstiftend sein.<br />

„Architektur ist einfach sichtbarer<br />

als in der Stadt“, sagt Nadja Frei<br />

und denkt dabei an den Dialog, in<br />

den sie mit den Dorfbewohnern<br />

tritt. „Als Architekt im Dorf arbeitet<br />

man weniger anonym“, ergänzt<br />

Lukas Frei. „Insbesondere dadurch,<br />

dass wir dort bauen, wo wir leben<br />

und arbeiten, treten wir in einen<br />

viel direkteren Diskurs mit der<br />

Nachbarschaft über das, was gerade<br />

neu entsteht.“ Auch deshalb sei ein<br />

nachvollziehbarer Entwurf notwendig.<br />

Dieser solle sich behutsam<br />

in die gewachsenen Strukturen<br />

einfügen, ohne in Konkurrenz zum<br />

Bestand zu treten, aber auch selbstbewusst<br />

sein, den Ort schärfen und<br />

auszeichnen.<br />

Gestaltungsraum Dach<br />

Sockel, Fassade, Steil<strong>dach</strong>: Das<br />

waren die drei Gestaltungselemente,<br />

die dem Mehrfamilienhaus<br />

in Deitingen sofort ablesbar sein<br />

sollten. Kein Monolith, kein schriller<br />

Bau, einfach ein zeitloses Gebäude,<br />

das neben gestalterischen Aspekten<br />

auch eine möglichst lange<br />

Lebensdauer bietet. Entgegen dem<br />

„Null-Dachüberstand-Trend“, der in<br />

zeitgenössischer Architektur immer<br />

häufiger zu beobachten ist, wird er<br />

hier zum Gestaltungsprinzip. Die<br />

unbehandelten und rohen Materialien<br />

werden gleichmäßig und schonend<br />

altern, um auf natürliche Weise<br />

Teil ihrer Umgebung zu werden.<br />

Ihrer beider Lieblings<strong>stadt</strong>, wenn sie an Dächer denken? Eindeutig<br />

Siena. Die wilde, organische und gewachsene Struktur fasziniert sie<br />

dabei am meisten. Die heterogene Dach<strong>land</strong>schaft und die Verwendung<br />

von ortstypischen Materialien als verbindendes Element ist prägnant.<br />

Baukultur als Lebensaufgabe dem Boden schießen. Der Betrachtungsperimeter<br />

Wenn Nadja und Lukas Frei an<br />

liegt dabei auf der<br />

Baukultur im ländlichen Raum eigenen Parzelle. Das Nebenan,<br />

denken, schwingt Unzufriedenheit<br />

der Straßenraum und die Qualinandersetzung<br />

mit. Ihnen fehlt die Auseitäten<br />

des Quartiers werden kaum<br />

mit dem Ort, mit berücksichtigt. Und genau dort<br />

regionalen Bautraditionen und der setzen Nadja und Lukas Frei an. Sie<br />

Verwendung von ortstypischen übernehmen Verantwortung, wollen<br />

Materialien. Sie beobachten eine<br />

aufzeigen, wie die bauliche und<br />

zunehmend wirtschaftlich orientierte<br />

räumliche Entwicklung in ländliren<br />

Architektur, in der Investochen<br />

Gebieten qualitativ gestaltet<br />

kontextlose, leblose Renditeobjekte<br />

und damit das baukulturelle Erbe<br />

realisieren und Ein- und bewahrt werden kann. /<br />

Mehrfamilienhäuser wie Pilze aus


KOMMENTAR • 10<br />

rundzwei Architekten<br />

Berlin<br />

Wenn wir an Steildächer denken, denken<br />

wir an freistehende Einfamilienhäuser.<br />

Anschließend an rechtwinklige, schwarz<br />

glimmernde Straßen ohne Schlaglöcher,<br />

Schottervorgärten, standardisierte Putzfassaden.<br />

Es sind anerzogene und gleichzeitig<br />

gewohnte Assoziationen. Städtische<br />

Randgebiete mit ausgebreiteten Einfamilienhaussiedlungen<br />

als Sinnbild der Monotonie.<br />

Ein Vorurteil? Ja, ganz bestimmt.<br />

Wir Architekten sind Fetischisten, wenn<br />

es um Materialität und Haptik geht. Das,<br />

was wir verbauen, wollen wir nicht nur<br />

sehen, sondern auch fühlen. Das gilt auch<br />

bei der Dacheindeckung. Wir bestellen<br />

Produktmuster, um auch wirklich sicher<br />

zu sein, auf das richtige Material zu<br />

setzen. Und was dann kommt, ist oftmals<br />

enttäuschend. Industriell gefertigte<br />

Perfektion, jedes Teil gleicht dem anderen.<br />

Technisch einwandfrei und dafür geschaffen,<br />

Generationen zu überdauern, dabei<br />

möglichst unproblematisch und für jegliche<br />

Witterungsbedingungen gewappnet.<br />

Und genau da offenbart sich das Missverständnis<br />

zwischen Wunsch und Realität.<br />

Lebenswerte Architektur gehört nicht<br />

konserviert. Sie soll atmen, altern<br />

und über die Jahre hinweg eine Patina<br />

entwickeln. Was früher bedingt durch<br />

Architekten und Steil<strong>dach</strong> –<br />

eine Hassliebe?<br />

Ein Kommentar der Berliner Architekten Andreas Reeg und<br />

Marc Dufour-Feronce über ihr Verhältnis zum Steil<strong>dach</strong><br />

natürliche Verfahren handwerklich gefertigt<br />

wurde, kommt heute im perfekten<br />

Einheitslook daher. Nur darauf ausgerichtet,<br />

möglichst pflegeleicht und langlebig<br />

zu sein. Ob das Klischeedenken ist? Ja,<br />

natürlich. Aber die Dach<strong>land</strong>schaften, die<br />

Städte wie Kopenhagen, Rom oder Prag<br />

ausmachen, sind alles andere als perfekt.<br />

Weithin sichtbar ist die Individualität, die<br />

erst durch Unregelmäßigkeiten und kleine<br />

Makel in der Oberfläche ersichtlich wird.<br />

Ich mache mir keine Sorgen um das<br />

geneigte Dach, ganz im Gegenteil. Zum<br />

Beispiel monolithisch, mit dem Dach als<br />

fünfter Fassade, ermöglicht durch eine<br />

Materialität, die sich wie ein Kleid um<br />

das ganze Gebäude schmiegt. Ob aus Ton<br />

oder Beton, aus Metall, Schiefer oder Kork,<br />

spielt dabei keine Rolle. Heutzutage gibt<br />

es gestalterisch und auch technisch kaum<br />

Tabus. Durch klassische Dachformen,<br />

die sich im Inneren verschneiden, oder<br />

skulpturale Volumen werden spannende<br />

Raumsituationen ermöglicht, die einen<br />

kreativen und experimentellen Umgang<br />

mit der Lichtführung zulassen. Wir bauen<br />

gerne steil und sehen uns als Architekten<br />

auch in der Verantwortung, das baukulturelle<br />

Erbe durch die Auswahl passender<br />

Materialien zu bewahren. /<br />

VERANSTALTUNGEN UND TERMINE<br />

Rooftop Talk#5 in Weimar<br />

am 17. Juni 2019<br />

Rooftop Talk#6 in Stuttgart<br />

am 30. September 2019<br />

Deutscher Architektentag in Berlin<br />

am 27. September 2019<br />

BUCHTIPP<br />

Dachräume<br />

Detail-Verlag<br />

NÄCHSTES HEFTTHEMA<br />

02/19 · RAUM<br />

HERAUSGEBER<br />

<strong>dach</strong>kult.de<br />

PARTNER<br />

Benders Deutsch<strong>land</strong><br />

Creaton<br />

Dachkeramik Meyer-Holsen<br />

Dachziegelwerke Nelskamp<br />

Deutsche Rockwool<br />

Dörken<br />

Erlus<br />

Eternit<br />

Fleck<br />

Wilhelm Flender<br />

Gebr. Laumans<br />

Jacobi Tonwerke<br />

Prefa<br />

Rathscheck Schiefer und Dach-Systeme<br />

Rheinzink<br />

Saint-Gobain Isover<br />

Arbeitsgemeinschaft Schiefer<br />

Velux Deutsch<strong>land</strong><br />

VM Building Solutions Deutsch<strong>land</strong><br />

Wienerberger<br />

FÖRDERMITGLIED<br />

Bundesverband der<br />

Deutschen Ziegelindustrie<br />

Ausblick aus dem Dachgeschoss des Korkenzieher-Hauses von rundzwei Architekten, das auch die Titelseite<br />

Gastkommentare in <strong>stadt</strong>/<strong>land</strong>/<strong>dach</strong> geben stets die Meinung der jeweiligen Gastautoren wieder<br />

und nicht explizit die der Herausgeber.<br />

dieser Ausgabe schmückt. Von außen an Dach und Fassade mit Kork überzogen, besticht es innen mit einer<br />

klaren Linienführung und einem großzügig gefalteten Raumeindruck.

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