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ZESO 4/19: Ausgewählte Artikel

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SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

<strong>ZESO</strong><br />

ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE<br />

04/<strong>19</strong><br />

DAGMAR RÖSLER<br />

Der Lehrerverband hat eine<br />

neue Präsidentin. Sie will<br />

mehr Gehör für die Lehrer<br />

PRAXIS<br />

Wann werden Schulden<br />

von den Sozialdiensten<br />

übernommen?<br />

LA MARAUDE<br />

Hilfe für Obdachlose in<br />

Lausanne mit ungewohnten<br />

Methoden<br />

FRÜHE FÖRDERUNG<br />

LOHNT SICH<br />

Damit Kinder aus armen Familien der Armutsfalle entkommen


SCHWERPUNKT<br />

Frühförderung ist<br />

Armutsprävention<br />

Kinder sollen alle die gleichen<br />

Chancen auf Bildung haben.<br />

Das ist bisher noch graue<br />

Theorie. Doch nun ist auch<br />

dank Forschungsprojekten wie<br />

der «Zeppelin»-Studie klar,<br />

dass Förderung mindestens<br />

ein Teil der Lösung ist und dass<br />

sie möglichst früh beginnen<br />

muss. Sie leistet einen<br />

wichtigen Beitrag dazu, dass<br />

Armut nicht vererbt wird. Die<br />

Frage ist jedoch, wie man die<br />

Kinder, die die Frühförderung<br />

dringend bräuchten, erreicht.<br />

Auch die Sozialdienste sind hier<br />

gefordert ...<br />

12–23<br />

14–27 12–23<br />

<strong>ZESO</strong><br />

ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE HERAUSGEBERIN Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS, www.skos.ch REDAKTIONSADRESSE<br />

© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin<br />

Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich<br />

ISSN 1422-0636 / 116. Jahrgang<br />

Erscheinungsdatum: 2. Dezember 20<strong>19</strong><br />

Die nächste Ausgabe erscheint am 2. März 2020<br />

Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS, Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch, Tel. 031 326 <strong>19</strong> <strong>19</strong><br />

REDAKTION Ingrid Hess, Regine Gerber MITARBEITERINNEN UND MITARBEITER DIESER AUSGABE Lea Blank,<br />

Daniel Desborough, Eberhard Eichenhofer, Palma Fiacco, Tobias Fritschi, Nicole Gysin, Marianne Hochuli, Charlotte<br />

Jeanrenaud, Dominique Malatesta, Maëlle Meigniez, Peter Neuenschwander, Ernst Schedler, Andrea Lanfranchi,<br />

Claudia Meier Magistretti, Katharina Rüegg, Beat Schmocker, Elisabeth Baume-Schneider, Paola Stanic,<br />

Catherine Walter-Laager, Samuel Wetz, Gabriela Widmer TITELBILD Palma Fiacco LAYOUT Marco Bernet,<br />

Projekt Athleten GmbH Zürich KORREKTORAT Andrea Weibel DRUCK UND ABOVERWALTUNG rubmedia AG,<br />

Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 PREISE Jahresabonnement CHF 82.– (SKOS-<br />

Mitglieder CHF 69.–), Jahresabonnement Ausland CHF 120.–, Einzelnummer CHF 25.–.<br />

2 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>19</strong>


INHALT<br />

8<br />

5 KOMMENTAR<br />

Weiterbildung und Überbrückungsleistungen:<br />

«Es braucht beides», sagt<br />

SKOS-Vizepräsidentin Elisabeth Baume-<br />

Schneider<br />

6 PRAXIS<br />

Werden Schulden von der Sozialhilfe übernommen?<br />

7 ARBEIT DANK BILDUNG<br />

Umsetzung der Weiterbildungsoffensive<br />

für Sozialhilfebeziehende beginnt<br />

8 INTERVIEW: DAGMAR RÖSLER<br />

Die neue Zentralpräsidentin des Dachverbands<br />

Lehrerinnen und Lehrer Schweiz will<br />

mit dem Westschweizer Verband fusionieren<br />

26<br />

29<br />

34<br />

12–23 FRÜHE FÖRDERUNG<br />

14 Mit Familienergänzungsleistungen<br />

Kinderarmut reduzieren<br />

16 «Zeppelin-Präventionsstudie: Förderung<br />

ab Geburt wirkt langfristig<br />

<strong>19</strong> Die Frühe Kindheit ist entscheidend für<br />

die Chancengerechtigkeit<br />

22 Frühe Förderung: Ein blinder Fleck in der<br />

Sozialhilfe?<br />

24 BERUFLICHE INTEGRATION<br />

Eine Studie zeigt die Wirkung der Integrationsprogramme<br />

in der Sozialhilfe auf<br />

26 OBDACHLOSE IN LAUSANNE<br />

Die Bürgerbewegung Maraude engagiert<br />

sich für die Obdachlosen der Stadt – und<br />

organisiert sich via Facebook<br />

29 INTEGRATIONSAGENDA SCHWEIZ<br />

Alle Kantone haben ein Konzept zur<br />

Umsetzung der Integrationsagenda<br />

eingereicht<br />

30 UNIONSBÜRGER-RICHTLINIE<br />

Welche sozialen Rechte die EU mit der<br />

Personenfreizügigkeit verbindet<br />

34 PORTRÄT<br />

Die Eritreerin Ada Tesfay will ihren<br />

Landsleuten in der Schweiz die Integration<br />

erleichtern<br />

36 LESETIPPS UND VERANSTALTUNGEN<br />

30<br />

4/<strong>19</strong> <strong>ZESO</strong><br />

3


KOMMENTAR<br />

Es braucht beides für ältere Arbeitnehmende!<br />

Im Februar 2018 hat die SKOS ihre Vorschläge<br />

für eine nachhaltige Verbesserung der<br />

Lebenslagen von Erwerbslosen und Bezügerinnen<br />

und Bezügern von Sozialhilfe über<br />

55 präsentiert. Im Zentrum stand dabei die<br />

Idee von Ergänzungsleistungen für ältere<br />

Arbeitslose ab 58. Im Dezember berät der<br />

Ständerat über die Überbrückungsrenten<br />

ab 60 Jahren. Überraschend schnell steht<br />

damit ein Gesetz zur Debatte, das eine Antwort<br />

auf eine gesellschaftliche Entwicklung<br />

gibt, die in der Sozialhilfe frühzeitig erkannt<br />

wurde: Der Verlust der Arbeit und der Abstieg<br />

in die Armut nach langjähriger Berufstätigkeit.<br />

In der ersten Session, in der ich<br />

den Kanton Jura als Ständerätin vertrete,<br />

werde ich also ein Anliegen unterstützen,<br />

das auch eng mit meinem Vizepräsidium bei<br />

der SKOS verbunden ist.<br />

Kritiker der Vorlage argumentieren, dass<br />

die Überbrückungsleistungen dazu führen<br />

könnten, dass Arbeitgeber ältere Mitarbeitende<br />

schneller entlassen würden.<br />

Es sei viel nützlicher,<br />

diese Gelder vor dem Arbeitsplatzverlust<br />

in die Weiterbildung zu investieren<br />

als nachher in Sozialleistungen. Für mich<br />

ist ebenso sinnvoll wie klar: Es braucht<br />

beides! In der sich heute schnell wandelnden<br />

Arbeitswelt braucht es lebenlanges<br />

Lernen. Studien zeigen, dass Weiterbildung<br />

vor allem eine Möglichkeit und ein Privileg<br />

der besser Qualifizierten ist. Damit die<br />

Wirtschaft auch in zehn oder zwanzig Jahren<br />

über genügend Arbeitskräfte verfügt,<br />

müssen wir heute in die Weiterbildung<br />

investieren. Dies gilt auch für Menschen, die<br />

keine Kaderfunktion innehaben.<br />

Gleichzeitig braucht es für jene, die ihre<br />

Stelle in den letzten Berufsjahren verlieren,<br />

eine gute Lösung, die ihre Existenz sichert.<br />

Das hilft nicht nur den Betroffenen. Es hilft<br />

auch der Gesellschaft, weil so verhindert<br />

werden kann, dass ältere Stellenlose ihre<br />

Altersvorsorge frühzeitig aufbrauchen und<br />

später Ergänzungsleistungen benötigen.<br />

Durch die neuen Überbrückungsleistungen<br />

werden sicherlich nicht alle Probleme gelöst.<br />

Es wird nach wie vor Personen geben,<br />

die in der zweiten Hälfte der Berufskarriere<br />

den Anschluss an den ersten Arbeitsmarkt<br />

verlieren, sei es, weil ihre Qualifikationen<br />

nicht mehr gebraucht werden, sei es, weil<br />

sie einen Schicksalsschlag erleiden oder<br />

krank werden. Der neueste Kennzahlenbericht<br />

der Städteinitiative zeigt, dass dieses<br />

Risiko sogar schon viel früher steigt, bereits<br />

ab einem Alter von 46 Jahren – auch in<br />

Zeiten mit sehr tiefer Arbeitslosigkeit.<br />

Wichtig ist, dass nun alle Beteiligten zusammenarbeiten:<br />

Die Betroffenen, die Arbeitgeber,<br />

die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren,<br />

die Invalidenversicherung und<br />

die Sozialhilfe. Erstere wollen in aller Regel<br />

wieder arbeiten. Wenn wir es schaffen,<br />

in diesem Bereich die interinstitutionelle<br />

Zusammenarbeit zu optimieren, dürfen wir<br />

uns darauf freuen, dass es im Jahr 2030<br />

vielleicht keine Überbrückungsleistungen<br />

mehr braucht.<br />

Elisabeth Baume-Schneider<br />

Vizepräsidentin SKOS<br />

4/<strong>19</strong> <strong>ZESO</strong><br />

5


«Arbeit dank Bildung» läuft an<br />

SOZIALHILFE Unter dem Titel «Arbeit dank Bildung» haben SKOS und SVEB im Januar<br />

2018 die Weiterbildungsoffensive für Sozialhilfebeziehende initiiert. Diese sieht vor, dass<br />

Sozialhilfebeziehende mit ungenügenden Grundkompetenzen und/oder ohne Berufsabschluss die<br />

Möglichkeit erhalten, sich weiterzubilden. Die Umsetzung stellt manche kleineren und mittleren<br />

Sozialdienste vor Herausforderungen. SKOS und SVEB haben deshalb nun ein Pilotprojekt lanciert.<br />

Ziel der Offensive ist es, das Potential der<br />

Weiterbildung als Massnahme zur Integration<br />

in den ersten Arbeitsmarkt besser zu<br />

nutzen. Bildung ist eine wichtige Grundlage<br />

sowohl für die soziale als auch die berufliche<br />

Integration. Wer nicht genügend<br />

Grundkompetenzen aufweist,<br />

• hat Schwierigkeiten, sich im Alltag zurechtzufinden,<br />

• ist bei Strukturveränderungen im Berufsleben<br />

schnell bedroht,<br />

• hat bei Arbeitslosigkeit wenig Chancen,<br />

den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt<br />

zu schaffen,<br />

• verfügt nicht über die Voraussetzungen<br />

zum lebenslangen Lernen,<br />

• hat oft ein tiefes Selbstwertgefühl in Bezug<br />

auf seine Arbeits- und Lernfähigkeiten,<br />

• hat in der Regel eine schlechtere Gesundheit<br />

als der Durchschnitt der Bevölkerung.<br />

Die Folge ist, dass viele dieser Menschen<br />

früher oder später zum Überleben<br />

von der Sozialhilfe abhängig sind. Arbeitsfähige<br />

Sozialhilfeempfänger ohne ausreichende<br />

Bildung werden dann in Angebote<br />

des zweiten Arbeitsmarktes oder in prekäre<br />

Arbeitsverhältnisse vermittelt. Oft ist dies<br />

jedoch nur eine kurzfristige Lösung, die<br />

nicht zu einer dauerhaften Verbesserung<br />

der Lebens- und Einkommenssituation der<br />

Betroffenen führt. Es braucht deshalb einen<br />

Paradigmenwechsel, indem in längerfristige<br />

Massnahmen zur Verbesserung der<br />

Bildung investiert wird. Heute sind jedoch<br />

der Bildungs- und Sozialhilfebereich nur<br />

partiell miteinander vernetzt. Hier setzt die<br />

Weiterbildungsoffensive an.<br />

Kleinere und mittlere Sozialdienste<br />

Verschiedene grössere Städte haben im Bereich<br />

der Bildung bereits Projekte und Angebote<br />

aufgebaut. Die Umsetzung der Weiterbildungsoffensive<br />

stellt jedoch kleinere<br />

und mittlere Sozialdienste vor Herausforderungen.<br />

SVEB und SKOS haben deshalb<br />

ein Pilotprojekt lanciert, mit dem sie die<br />

Sozialdienste beim Aufbau einer funktionierenden<br />

Förderstruktur unterstützen<br />

und begleiten. Folgende Angebote werden<br />

dabei zur Verfügung gestellt:<br />

• Bereitstellung von Praxisinstrumenten,<br />

z. B. zur Durchführung von Standortbestimmungen,<br />

sowie die Erarbeitung<br />

von Bildungsplänen;<br />

• Beratung und Begleitung durch Expertinnen<br />

und Experten zum Aufbau der<br />

Strukturen sowie von Kooperationen<br />

mit Wirtschaft, Beratungsstellen und<br />

Weiterbildungsanbietern;<br />

• Workshops sowie Vernetzungs- und<br />

Austauschtreffen für Leitungspersonen<br />

und Beraterinnen und Berater in Sozialdiensten.<br />

Zielsetzung des Pilotprojekts<br />

Das Pilotprojekt soll einerseits Sozialhilfebeziehenden<br />

die Möglichkeit geben, sich<br />

durch gezielte Weiterbildung beruflich zu<br />

qualifizieren. Auf der institutionellen Ebene<br />

sollen Best Practice-Beispiele erarbeitet<br />

werden, die von weiteren Sozialdiensten<br />

und Gemeinden übernommen werden<br />

können. Für die zehn am Pilotprojekt beteiligten<br />

Sozialdienste sollen zudem folgende<br />

Ziele erreicht werden. Die Sozialdienste:<br />

• verfügen über Praxisinstrumente und<br />

Knowhow für die Standortbestimmung<br />

und die Erarbeitung von Bildungsplänen<br />

für Klientinnen und Klienten und<br />

wenden diese in der Praxis an;<br />

• verfügen in ihrer Region über ein Beziehungsnetz<br />

zu Bildungsanbietern sowie<br />

Beratungsstellen und Vertretern der<br />

Wirtschaft;<br />

• haben bei einer bestimmten Anzahl von<br />

Sozialhilfe-beziehenden eine Standortbestimmung<br />

vorgenommen und Bildungspläne<br />

mit den entsprechenden<br />

Massnahmen umgesetzt und ausgewertet.<br />

Modell der Qualifizierung<br />

Konzeptionell orientiert sich das Projekt<br />

am nachstehenden dreistufigen Modell<br />

der Qualifizierung:<br />

• Stufe 1: Die Teilnehmenden erwerben<br />

die nötigen Grund-, Alltags- und<br />

Schlüsselkompetenzen;<br />

• Stufe 2: Die Teilnehmenden erwerben<br />

niederschwellige berufliche Qualifikationen<br />

unterhalb des Niveaus der formalen<br />

beruflichen Grundbildung;<br />

• Stufe 3: Die Teilnehmenden durchlaufen<br />

eine berufliche Grundbildung auf<br />

der Stufe EBA oder EFZ.<br />

Das Vorgehen gliedert sich in vier Etappen:<br />

1. Am Anfang steht eine fundierte Abklärung<br />

der individuellen Fähigkeiten und<br />

Fertigkeiten einschliesslich der Grund-,<br />

Schlüssel- und Alltagskompetenzen (Assessment).<br />

2. Aufgrund der Abklärung bestimmen<br />

die Betroffenen, von Fachleuten beraten<br />

und begleitet, ihr eigenes Bildungsziel,<br />

eventuell über mehrere Stufen. Zielbezogen<br />

wird so ein individueller Bildungsplan<br />

erstellt.<br />

3. Anhand des Bildungsplans suchen die<br />

Betroffenen mit Unterstützung von<br />

Fachpersonen das geeignete Bildungsangebot.<br />

Der zuständige Sozialdienst<br />

hilft beim Aufstellen des Budgets und,<br />

unterstützen falls nötig, die Suche nach<br />

geeigneten Stipendien.<br />

4. Die betroffene Person wird vom Sozialdienst<br />

auf dem gesamten Bildungsweg<br />

begleitet und gecoacht. Die Verantwortung<br />

der Sozialhilfe dauert an, bis das<br />

Bildungsziel erreicht und der Einstieg<br />

in die Arbeitswelt gelungen ist. •<br />

Ernst Schedler<br />

Co-Projektleiter ad interim<br />

4/<strong>19</strong> <strong>ZESO</strong><br />

7


«Die politischen Entscheide wecken<br />

häufig falsche Erwartungen.»<br />

INTERVIEW Die neue Zentralpräsidentin des Verbands der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH)<br />

heisst Dagmar Rösler. Sie will den LCH bis 2023 mit dem Westschweizer Lehrerverband (SER) zum<br />

Verband Bildung Schweiz – Formation Suisse fusionieren. Sie erhofft sich davon mehr Gewicht und<br />

Gehör in der Bildungspolitik zu erlangen.<br />

«<strong>ZESO</strong>»: Frau Rösler, warum haben<br />

Sie sich entschlossen, das Amt an der<br />

Spitze des LCH anzunehmen?<br />

Dagmar Rösler: Für mich ist die<br />

Bildung ein zentrales gesellschaftliches<br />

Thema, das mir sehr am Herzen liegt. Ich<br />

war neben meiner Tätigkeit als Lehrerin<br />

schon 18 Jahre lang im kantonalen Verband<br />

Lehrerinnen und Lehrer Solothurn<br />

tätig, davon acht Jahre als Kantonalpräsidentin.<br />

Da fragt man sich automatisch<br />

irgendwann, was man beruflich will, wie<br />

es weitergehen soll. Der Wechsel auf die<br />

nationale Ebene hat mich sehr angesprochen.<br />

Sie sind jetzt die oberste Lehrerin der<br />

Schweiz, heisst es. Aber eigentlich sind<br />

Sie doch vielmehr das Sprachrohr der<br />

Lehrerschaft. Mit welchen Mitteln wollen<br />

Sie diesen Auftrag erfüllen?<br />

Ich versuche, ein möglichst breites<br />

Netzwerk aufzubauen und mit möglichst<br />

vielen Partnern im Gespräch zu bleiben,<br />

damit auch unsere Sicht in die politischen<br />

Entscheide einfliesst. Häufig werden politische<br />

Entscheidungen gefällt, wobei zu<br />

8 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>19</strong>


wenig berücksichtigt wird, was ihre Umsetzungen<br />

für die Schulen bedeuten. Damit<br />

werden dann falsche Erwartungen geweckt.<br />

Können Sie ein Beispiel nennen?<br />

Beispielsweise beim Frühfranzösisch<br />

oder -englisch. Mit zwei bis drei Lektionen<br />

pro Woche lernt kein Kind eine Fremdsprache<br />

fliessend zu sprechen. Die am Anfang<br />

immer wieder propagierten Sprachbäder<br />

gibt es nicht, da dafür das Geld fehlt. Stattdessen<br />

sollen Sprachaustausche durchgeführt<br />

werden. Doch schlussendlich reicht<br />

es auf der Primarstufe dann meist nur für<br />

Exkursionen, die von den Gemeinden be-<br />

willigt werden. An mehr Austausch über<br />

die Sprachgrenzen hinweg, muss also tatsächlich<br />

noch gearbeitet werden.<br />

Das Problem ist, es darf nichts kosten.<br />

Das Bundesgericht hat ja entschieden,<br />

dass die Schule für die Eltern unentgeltlich<br />

sein muss.<br />

Deshalb befinden wir uns in einem<br />

ziemlich straffen Korsett, das wenig Bewegung<br />

zulässt. Das gilt auch für die Einführung<br />

der schulischen Integration. Die<br />

Aufhebung der Sonderklassen wurde beschlossen,<br />

aber die nötigen Ressourcen<br />

nicht danach bemessen, was es für die Umsetzung<br />

braucht, sondern nach Massgabe<br />

Bilder: Palma Fiacco<br />

der kantonalen Finanzen. Nicht wir sind<br />

es ja, die Reformen planen und gestalten,<br />

sondern wir erfüllen meist einen Auftrag,<br />

erhalten aber nicht genügend Mittel dafür.<br />

Wir können leider keine Wunder bewirken.<br />

Welches Thema ist für Sie die wichtigste<br />

Herausforderung für die Lehrerschaft<br />

in den nächsten Jahren?<br />

Die Integration von unterschiedlicher-<br />

Kinder in der Volksschule ist eine grosse<br />

Herausforderung. Das andere Thema ist<br />

die Chancengerechtigkeit, die damit direkt<br />

zusammenhängt. Ich finde wichtig, dass<br />

die Schülerinnen und Schüler ein gutes<br />

Mass an Bildung mitbekommen, das heisst<br />

Bildung im konservativen Sinn; also zum<br />

Beispiel Fremdsprachen, Mathematik und<br />

Naturwissenschaften. Doch die Schule vermittelt<br />

nicht nur Fächer. Es geht in der<br />

Schule auch darum zu lernen, wie ich in<br />

der Gesellschaft klarkomme, wie in Gruppen,<br />

in denen ganz verschiedene Meinungen,<br />

Kulturen, Umgangsformen zusammentreffen.<br />

Das ist für mich nach wie vor<br />

eine sehr spannende und wichtige Aufgabe<br />

der Volksschule.<br />

Wie würden Sie die Qualität der Volksschule<br />

Schweiz beschreiben? Erfüllt<br />

sie ihren Auftrag?<br />

Ja, grundsätzlich ist die Qualität der<br />

Schweizer Volksschule gut. Das heisst aber<br />

nicht, dass es nicht Dinge gibt, die man<br />

verbessern könnte. Ich denke da zum Beispiel<br />

an die Digitalisierung. Da sind wir<br />

noch ganz am Anfang. Aber wir müssen<br />

auch in Sachen Unterschiedlichkeit noch<br />

offener werden.<br />

Am 3. Dezember wird die neueste Pisa-<br />

Studie veröffentlicht. Welche Bedeutung<br />

messen Sie diesen Leistungstests bei?<br />

Leistungstests gegenüber bin ich eher<br />

kritisch eingestellt. Wir haben in der<br />

Schweiz mehr als genug Leistungsmessungen.<br />

Wir beteiligen uns an den Pisa-<br />

Studien, im letzten Mai wurden die Ergebnisse<br />

der nationalen Überprüfung der<br />

Grundkompetenzen publiziert. Ich verstehe,<br />

dass die Bildungspolitik wissen will, wo<br />

<br />

4/<strong>19</strong> <strong>ZESO</strong><br />

9


die Schüler im internationalen Vergleich<br />

stehen, aber das ist ja nicht das Einzige,<br />

was die Schule vermittelt. Insofern liefern<br />

uns diese Leistungsstudien ein sehr einseitiges<br />

Bild von der Schule und den Kompetenzen,<br />

die dort vermittelt werden. So wird<br />

mit dieser Momentaufnahme ein Bild von<br />

der Schule gezeichnet, das sehr unvollständig<br />

und einseitig ist.<br />

Immer noch ist das sozioökonomische<br />

Umfeld massgebend dafür, welchen<br />

Bildungsweg ein Kind durchläuft. Warum<br />

kommt die Chancengerechtigkeit<br />

nicht vom Fleck?<br />

«Die grosse Heterogenität<br />

unter den<br />

Kindern hat vielen<br />

Lehrerinnen und<br />

Lehrern bewusster<br />

gemacht, dass jedes<br />

Kind an einem anderen<br />

Ort steht, und<br />

dass es verschiedene<br />

Wege gibt,<br />

um zum Ziel zu<br />

kommen.»<br />

Es ist eine Tatsache, dass Kinder aus sozioökonomisch<br />

benachteiligten Haushalten<br />

mit einem viel kleineren Rucksack in<br />

die Schule kommen und ihre Defizite nicht<br />

mehr aufholen können. Eine kürzlich publizierte<br />

Studie der Universität Bern zeigte<br />

2011 aber auch, dass Kinder mit Migrationshintergrund<br />

in der Schule nicht diskriminiert<br />

werden. Die Integration hat<br />

offensichtlich dazu beigetragen, dass die<br />

«Norm» breiter geworden ist. Die grosse<br />

Heterogenität unter den Kindern hat vielen<br />

Lehrerinnen und Lehrern bewusster<br />

gemacht, dass jedes Kind an einem anderen<br />

Ort steht, und dass es verschiedene<br />

Wege gibt, um zum Ziel zu kommen.<br />

Alle rufen jetzt nach Frühförderung,<br />

Sie selbst haben gar ein Obligatorium<br />

für die Frühförderung gefordert.<br />

Ja, aber nicht in dem Sinne, dass der Besuch<br />

obligatorisch wäre. Vielmehr soll das<br />

Angebot flächendeckend sein. Die Politik<br />

hat den Handlungsbedarf jetzt erkannt,<br />

denn man hat festgestellt, dass Kinder,<br />

die mit sprachlichen, sozioökonomischen<br />

oder sozialen Schwierigkeiten eingeschult<br />

werden, grosse Verzögerung beim Lernen<br />

erfahren, die sie kaum mehr aufholen können.<br />

Deshalb wird jetzt von verschiedenen<br />

Organisationen die Frühförderung für die<br />

Kinder von 0 bis 4 Jahren vorangetrieben.<br />

Dabei geht es nicht nur um die Sprache,<br />

sondern eben auch um soziale Kompetenzen.<br />

Es gibt Kinder, die im Kindergarten<br />

zum ersten Mal mit anderen Kindern<br />

spielen, die noch nie eine Schere in der<br />

Hand hatten oder sich sprachlich kaum<br />

verständigen können. Man kann die Eltern<br />

natürlich nicht zwingen, ihr Kind in die<br />

Spielgruppe zu geben. Aber man müsste<br />

die betroffenen Kinder wenigstens erfassen.<br />

Wie werden die Kinder, die Frühförderung<br />

benötigen würden, erkannt?<br />

Dafür sind wir auf Fachstellen und<br />

Hausärzte angewiesen. Sie müssten die<br />

Kinder melden.<br />

Im Kanton Tessin können alle Kinder<br />

schon ab drei Jahren in einen ganztägigen<br />

Kindergarten. 70 Prozent der<br />

Dreijährigen gehen ins Asilo, bei den<br />

Vier- und Fünfjährigen sind es 100<br />

10 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>19</strong>


Prozent. Finden Sie das nachahmenswert?<br />

Selbstverständlich ist es das. Das Tessin<br />

und die Westschweizer Kantone sind hier<br />

ganz anders aufgestellt als die Deutschschweiz,<br />

wo die Schaffung von Tagesstrukturen<br />

immer noch sehr harzig verläuft. Oft<br />

werden Mütter, die arbeiten gehen, hier<br />

immer noch als Rabenmütter dargestellt.<br />

Deshalb ist es wichtig, im Hinblick auf<br />

die Frühförderung nicht von Kitas zu sprechen,<br />

sondern von Spielgruppen.<br />

Ein grosses Thema in der Schule ist ja<br />

jetzt die Digitalisierung: Doch eigentlich<br />

wissen wir noch gar nicht, was<br />

genau man den Kindern mit auf den<br />

Weg geben muss. Was bedeutet das für<br />

die Schule, die Lehrerschaft?<br />

Das ist wirklich eine riesige Herausforderung.<br />

Sowohl technisch als auch inhaltlich<br />

sind erstmal sehr viele neue Kenntnisse<br />

und Tools nötig. Wir können uns ja<br />

teilweise noch gar nicht vorstellen, was auf<br />

uns zukommen wird. Mir kommt das so<br />

vor, als wollte man ein Ziel treffen, das sich<br />

mit hoher Geschwindigkeit bewegt. Unsere<br />

Schülerinnen und Schüler müssen sich<br />

jetzt für einen Beruf entscheiden, obwohl<br />

es die meisten Berufe in naher Zukunft gar<br />

nicht mehr geben wird oder ganz neue dazukommen.<br />

Wir versuchen sie darauf vorzubereiten,<br />

ohne wirklich genau zu wissen,<br />

welche Fähigkeiten und Kenntnisse sie benötigen<br />

werden.<br />

Eine weitere grosse Herausforderung<br />

ist der prognostizierte Lehrermangel<br />

Wir haben immer wieder darauf hingewiesen,<br />

dass ein gewaltiger Lehrermangel<br />

auf uns zukommt. Jetzt ist es höchste<br />

Zeit, etwas zu tun. Die Pensionierungswelle<br />

rückt immer näher und viele werden<br />

sich für eine frühere Pensionierung entscheiden,<br />

als Folge des stetigen Leistungsabbaus<br />

bei den Pensionskassen. Zusätzlich<br />

werden bis 2024 über 100 000 Kinder<br />

zusätzlich in die Schule kommen.<br />

Warum entscheiden sich zu wenig junge<br />

Menschen für den Lehrerberuf?<br />

Das Problem ist, dass der Lehrerberuf<br />

in der Gesellschaft wenig Anerkennung<br />

geniesst. Ich erlebe auch privat immer<br />

wieder, dass Bekannte eine völlig falsche<br />

DAGMAR RÖSLER<br />

Seit August ist Dagmar Rösler Zentralpräsidentin<br />

des Lehrerverbands (LCH). Sie ist die<br />

erste Frau an der Spitze des LCH, nachdem<br />

Beat Zemp den Verband während fast 30<br />

Jahren präsidierte. Der LCH ist die Dachorganisation<br />

der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz<br />

und hat 56 000 Mitglieder. Er schliesst kantonale<br />

Lehrerinnen- und Lehrervereine sowie<br />

schweizerische Stufen- und Fachverbände<br />

zusammen. Die 48-Jährige ist Mutter von<br />

zwei Kindern und nach wie vor als Lehrerin<br />

tätig. Sie stand bereits während 8 Jahren<br />

dem Lehrerverband Solothurn vor.<br />

Vorstellung von diesem Beruf haben, die<br />

Vorurteile sind und eher verächtlich über<br />

Lehrerinnen und Lehrer reden. Das hat<br />

meist nichts mit konkreten und aktuellen<br />

Erfahrungen zu tun, wird aber wohl an die<br />

eigenen Kinder weitergegeben. Das finde<br />

ich schade.<br />

Gleichzeitig wird die Ausbildung für<br />

den Lehrberuf immer länger. Jetzt<br />

wird von Lehrerseite sogar ein Masterabschluss<br />

gefordert. Ist es eine<br />

gute Idee in Zeiten von Lehrermangel,<br />

die Latte höher zu hängen?<br />

Natürlich. Das ist genau das, was richtig<br />

ist. Je höher die Ausbildung ist, umso mehr<br />

Ansehen geniesst der Beruf. Ausserdem<br />

wollen wir nicht möglichst viele Lehrer<br />

und Lehrerinnen, die den Beruf in erster<br />

Linie deshalb wählen, weil die Ausbildung<br />

nur drei Jahre dauert. Wir wollen die, die<br />

diesen Beruf aus Überzeugung wählen<br />

und auch eine Herausforderung suchen.<br />

Ausserdem stellt der Lehrerberuf heute wesentlich<br />

höhere Anforderungen als früher,<br />

denn es sind sehr viele neue Aufgaben und<br />

gesellschaftliche Herausforderungen hinzugekommen.<br />

Mit einer Schnellbleiche ist<br />

das nicht mehr machbar.<br />

Neu wollen die Lehrerinnen und<br />

Lehrer der Deutschschweiz und der<br />

Romandie zum Verband Bildung<br />

Schweiz, Formation Suisse fusionieren:<br />

Wie kommen Sie voran?<br />

In etwa vier Jahren soll die Fusion vollzogen<br />

sein. Der Deutschschweizer und der<br />

Westschweizer Verband arbeiten schon<br />

lange gut zusammen. Alle waren sich nun<br />

einig, dass es sinnvoll wäre, die beiden<br />

Verbände zu einem nationalen Verband<br />

zusammenzuschliessen und bei diesem<br />

Schritt auch noch die italienische Schweiz<br />

zu integrieren. Eine Arbeitsgruppe ist jetzt<br />

daran, verschiedene Modelle auszuarbeiten,<br />

wie der Verband nach der Fusion aussehen<br />

könnte.<br />

Was sind die Hindernisse auf dem<br />

Weg?<br />

Der Entscheid der Mitglieder, diesen<br />

Weg zu gehen, fiel einstimmig. Insofern ist<br />

es völlig klar, dass wir diese Fusion wollen.<br />

Aber natürlich funktionieren die Deutschschweizer<br />

in manchen Dingen anders als<br />

die Westschweizer. Deshalb wird es sicher<br />

bei der Umsetzung sowie bei einzelnen<br />

Fragen der konkreten Ausgestaltung eine<br />

Reihe von Hürden geben. Das wird also<br />

kein Sonntagsspaziergang. Aber ich bin sicher,<br />

dass wir das schaffen.<br />

Was genau versprechen Sie sich von<br />

der Fusion?<br />

Organisatorisch wird es einfacher, denn<br />

die Wege werden kürzer werden. Aber wir<br />

hoffen natürlich auch, dass unsere Stimme<br />

dann in Politik und Öffentlichkeit noch<br />

mehr Gewicht haben wird.<br />

Das Gespräch führte<br />

Ingrid Hess<br />

4/<strong>19</strong> <strong>ZESO</strong><br />

11


12 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>19</strong> SCHWERPUNKT<br />

Bild: Palma Fiacco


Kinderarmut mit Ergänzungsleistungen<br />

für Familien reduzieren<br />

Kinderarmut ist in der Schweiz weit verbreitet und ein ernstzunehmendes Problem.<br />

Familienergänzungsleistungen können die prekäre Situation von armutsbetroffenen Familien<br />

massgeblich verbessern. Caritas fordert vom neuen Parlament daher ein Rahmengesetz zur<br />

schweizweiten Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien.<br />

In der Schweiz leben rund 1,7 Millionen Kinder. Davon sind rund<br />

103 000 von Armut betroffen. Das bedeutet, dass es in jeder<br />

Schulklasse durchschnittlich ein von Armut betroffenes Kind gibt,<br />

als armutsgefährdet gelten gar drei. Ein Drittel aller Sozialhilfebeziehenden<br />

sind Kinder und Jugendliche. Sie bilden die grösste<br />

Altersgruppe in der Sozialhilfe.<br />

Kinder, die in der Schweiz in Armut aufwachsen, erleben<br />

schon im Alltag zahlreiche Einschränkungen. Was für Gleichaltrige<br />

selbstverständlich ist, kann für sie eine fast unüberwindbare<br />

Hürde darstellen. Das Geld fehlt oftmals schon für kleine<br />

Dinge. Beträge für die Landschulwoche, das Klassenfoto oder<br />

ein Geburtstagsgeschenk für Klassenkameraden belasten das<br />

Familienbudget. Beengte Wohnverhältnisse und das Fehlen<br />

eines Rückzugortes machen es für armutsbetroffene Kinder zudem<br />

schwierig, die Hausaufgaben konzentriert zu erledigen oder<br />

Freunde nach Hause einzuladen. Oft leben sie in preisgünstigen<br />

Wohnungen an verkehrsreichen Strassen, wo sie schlecht draussen<br />

spielen können. Wer auf Bäume klettern oder im Sandkasten<br />

spielen kann, macht aber viele Erfahrungen, die die Lernfähigkeit<br />

begünstigen. Auch Freizeitaktivitäten, Hobbys oder Sport in<br />

Vereinen können sich armutsbetroffene Familien häufig nicht<br />

leisten. Die Wahl der Hobbys wird sodann nicht von ihren Fähigkeiten<br />

und Interessen bestimmt, sondern den finanziellen Möglichkeiten<br />

untergeordnet.<br />

Warum es in der Schweiz Kinderarmut gibt<br />

Vielfältige Gründe führen dazu, dass in der reichen Schweiz Kinder<br />

von Armut betroffen sind:<br />

Kinder kosten: Ein Kind kostet zwischen 7000 und 14 000<br />

Franken pro Jahr. Dies hat der Bund 2015 in seinem Bericht zur<br />

Familienpolitik berechnet. Nicht eingerechnet in diesen Betrag<br />

sind die indirekten Kosten, die dadurch entstehen, dass Eltern,<br />

insbesondere Mütter, nach der Geburt des ersten Kindes ihr Erwerbspensum<br />

reduzieren und die unentgeltliche Care-Arbeit übernehmen.<br />

Dies mindert ihren Beitrag zum Haushaltseinkommen.<br />

Tiefes Einkommen der Eltern: 71 000 Kinder wachsen in<br />

Working-Poor-Haushalten auf. Das sind knapp 70 Prozent aller<br />

armutsbetroffenen Kinder in der Schweiz. Ihre Eltern arbeiten<br />

entweder in Tieflohnsektoren oder in prekären Arbeitsverhältnissen,<br />

zu denen Aushilfsstellen, Temporärjobs oder Arbeit auf Abruf<br />

zählen. Trotz Erwerbstätigkeit reicht ihr Lohn nicht aus, um den<br />

Lebensunterhalt der Familie zu decken. Ob Familien arm sind<br />

oder nicht, wird demnach zu einem erheblichen Teil durch die Erwerbstätigkeit<br />

und das Erwerbseinkommen der Eltern bestimmt.<br />

Einkommen hängt von der Ausbildung der Eltern ab: Wie viel<br />

Geld eine Familie zur Verfügung hat, hängt stark von der höchsten<br />

abgeschlossenen Ausbildung der Eltern ab. Verfügt mindestens<br />

ein Elternteil über einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss,<br />

ist die Armutsquote der Kinder mit 2,8 Prozent am geringsten.<br />

Verfügt hingegen kein Elternteil über eine nachobligatorische<br />

Ausbildung, liegt die Armutsquote der Kinder bei rund<br />

10 Prozent, die Armutsgefährdungsquote steigt auf beinahe 40<br />

Prozent.<br />

Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist mangelhaft: In der<br />

Schweiz sind die Möglichkeiten, Familie und Erwerbsarbeit zu<br />

vereinbaren, noch immer mangelhaft. Trotz der Bemühungen auf<br />

Bundesebene gibt es zu wenig preisgünstige und erreichbare Angebote<br />

der familienexternen und schulergänzenden Betreuung.<br />

Die zunehmende Flexibilisierung der Arbeit mit unregelmässigen<br />

Arbeitszeiten stellt insbesondere einkommensschwache Familien<br />

vor grosse Herausforderungen. Kitas sind für armutsbetroffene Familien<br />

häufig nicht finanzierbar. Auch bieten diese Betreungsangebote<br />

bei Arbeit im Tieflohnsektor – beispielsweise bei Arbeit auf<br />

Abruf – keine Lösung. Die Betreuungsmöglichkeiten während der<br />

Schulferien oder bei Erkrankung der Kinder ist ebenso lückenhaft.<br />

Risiko Scheidung ist schlecht abgesichert: In der Schweiz wird<br />

jede dritte Ehe geschieden. Nach einer Scheidung sind Alleinerziehende<br />

überdurchschnittlich von Armut betroffen. Das Einkommen<br />

der getrennten Eltern muss für die Finanzierung von zwei<br />

Haushalten reichen. Die teilweise hart erkämpften Alimente fallen<br />

jedoch oft zu gering aus, um die Existenz der Familie zu sichern.<br />

Immer noch sind es zudem mehrheitlich die Mütter, die ihr Pensum<br />

reduzieren oder aus dem Erwerbsleben ausscheiden, um ihre<br />

Kinder betreuen zu können. Ein Wiedereinstieg in den hochdynamischen<br />

Arbeitsmarkt gestaltet sich für sie später oft schwierig.<br />

Der Staat investiert zu wenig in Kinder und Familien: Kinder<br />

gelten in der Schweiz weitgehend als Privatangelegenheit. Dies ist<br />

ein Grund, warum die Schweiz wenig in Kinder und Familien investiert.<br />

Sie liegt diesbezüglich deutlich unter dem europäischen<br />

Durchschnitt. Auch die Ausgaben für die frühkindliche Bildung,<br />

Betreuung und Erziehung sind im OECD-Länderdurchschnitt<br />

dreimal höher als in der Schweiz.<br />

Geringere Bildungs- und Zukunftschancen<br />

Kinderarmut ist nicht nur gegenwärtig ein Desaster, sie bestimmt<br />

auch die Lebensläufe der betroffenen Kinder. Armutsbetroffene<br />

Kinder haben geringere Bildungs- und Zukunftschancen. Der<br />

Handlungsbedarf ist in verschiedenen Bereichen gross. Erstens<br />

14 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>19</strong> SCHWERPUNKT


FRÜHE FÖRDERUNG<br />

muss die Existenz materiell besser abgesichert sein,<br />

dies ist die Voraussetzung für ein gesundes Heranwachsen<br />

der Kinder. Zweitens muss gewährleistet sein, dass<br />

alle Kinder einen garantierten Zugang zu qualitativ guter<br />

frühen Förderung haben. Die ersten Lebensjahre<br />

sind für die Entwicklung entscheidend. Und drittens<br />

muss das Angebot an familienexterner und schulergänzender<br />

Betreuung für alle Kinder gewährleistet sein.<br />

Während es auf Bundesebene in den letzten zehn<br />

Jahren nicht gelang, die Existenzsicherung von Familien<br />

voranzutreiben, haben die vier Kantone Tessin<br />

(<strong>19</strong>97), Solothurn (2010), Waadt (2011) und Genf<br />

(2012) Familienergänzungsleistungen eingeführt.<br />

Evaluationen zeigen deren positive Wirkung: Die Armutsquoten<br />

konnten teilweise beträchtlich gesenkt<br />

werden. Besonders wirksam ist das Modell Waadt. Dort<br />

werden Familienergänzungsleistungen ausbezahlt, bis<br />

die Kinder das Jugendalter erreichen. Für den Bezug<br />

wird kein Erwerbseinkommen oder -pensum vorausgesetzt.<br />

Zudem übernimmt der Kanton in der Waadt im<br />

Vergleich den höchsten Anteil der Kinderbetreuungskosten<br />

und erstattet Gesundheitskosten zurück. Die<br />

Ergänzungsleistungen sind mit weiteren Leistungen<br />

verbunden, um die Erwerbsintegration der Eltern zu<br />

verbessern.<br />

Caritas fordert das neue Parlament, Bund und<br />

Kantone auf, Ergänzungsleistungen für Familien mit<br />

einem Rahmengesetz schweizweit durchzusetzen. Dies<br />

würde die Kantone verpflichten, Familienergänzungsleistungen<br />

nach bundesrechtlichen Regeln auszurichten.<br />

Ein Rahmengesetz würde Mindestmassnahmen<br />

vorsehen, den Kantonen aber auch eine gewisse Freiheit<br />

lassen, die Leistungen den lokalen Gegebenheiten<br />

anzupassen. Dazu bräuchte es vom Bund verbindliche<br />

finanzielle Zusagen.<br />

•<br />

Marianne Hochuli<br />

Caritas Schweiz<br />

Caritas-Positionspapier: Reformvorschlag gegen Kinderarmut:<br />

Die Schweiz darf Kinderarmut nicht tolerieren (20<strong>19</strong>)<br />

www.caritas.ch Was wir sagen Unsere Positionen <br />

Positionspapiere<br />

Vielen armutsbetroffenen Kindern fehlt ein Rückzugsort.<br />

SCHWERPUNKT 4/<strong>19</strong> <strong>ZESO</strong><br />

Bild: Palma Fiacco<br />


Die Frühe Förderung: ein blinder Fleck<br />

in der Sozialhilfe?<br />

Familien in der Sozialhilfe sind zu wenig auf dem Radar der Frühen Förderung. Zu diesem Schluss<br />

kommt eine Studie der Hochschule Luzern und der Universität Graz. Weil die Bedürfnisse belasteter<br />

Familien zu wenig bekannt seien, fehle es auch weitgehend an spezifischer Unterstützung.<br />

Auch in der Schweiz ist die Forderung nach Chancengerechtigkeit<br />

noch nicht für alle Kinder erfüllt. Dies gilt vor allem für Kinder mit<br />

Migrationshintergrund und für Kinder aus belasteten oder bildungsfernen<br />

Familien. Deshalb ist die Notwendigkeit Früher Förderung<br />

in Fachkreisen unbestritten. Konsens herrscht auch darüber,<br />

dass Angebote Früher Förderung vor allem für Kinder aus<br />

belasteten Familien wichtig sind und für sie entsprechend zugänglich<br />

sein sollen. Oft fallen aber gerade diejenigen durch das Netz,<br />

die präventive Unterstützung am nötigsten hätten.<br />

Die Studie «Angebote der Frühen Förderung in der Schweiz, AF-<br />

FIS» setzte bei diesem Punkt an und untersuchte die Nutzung und<br />

den Nutzen von Angeboten im Frühbereich aus Sicht der Eltern<br />

sowie das längerfristige Wirksamkeitspotenzial dieser Angebote.<br />

Befragt wurden fast 500 Familien aus neun Schweizer Städten und<br />

Gemeinden. Mit dem verwendeten Kohorten-Design konnte die Lebensspanne<br />

von Kindern im Alter zwischen 0 und 5 Jahren über<br />

zwei Jahre hinweg erfasst werden. Die ausführlichen persönlichen<br />

Interviews wurden mehrheitlich mit den Müttern, vereinzelt auch<br />

mit beiden Elternteilen geführt. Neu an dieser Studie ist, dass neben<br />

Eltern aus der breiten Bevölkerung auch die sogenannten Risikogruppen<br />

stark einbezogen wurden. Zugang, Nutzen und Nutzung<br />

der Angebote unterscheiden sich denn auch deutlich zwischen<br />

den drei befragten Gruppen, deren Lebensumstände sich durch<br />

spezifische Ressourcen und Belastungen charakterisieren lassen:<br />

Eltern aus der breiten Bevölkerung: Sie sind vorwiegend gut ausgebildet,<br />

arbeiten in geregelten Anstellungsverhältnissen und haben<br />

wenig finanzielle Probleme. Subjektiv berichten sie über eine<br />

hohe Belastung durch Zeitdruck, Müdigkeit und Erschöpfung.<br />

Belastete Eltern mit Migrationshintergrund: Sie verfügen mehrheitlich<br />

über keine Berufsausbildung und nur 30 Prozent der<br />

Mütter sind ausser Haus erwerbstätig. Finanzielle Probleme und<br />

die Sorge, den Kindern nicht das bieten zu können, was andere<br />

Kinder haben, sind subjektiv die grössten Belastungen.<br />

Eltern in der Sozialhilfe: Sie verfügen über ein eher tiefes Ausbildungsniveau<br />

und nur 50 Prozent der befragten Mütter sind<br />

berufstätig – dies mehrheitlich in prekären Anstellungsverhältnissen.<br />

Subjektiv leiden sie am meisten unter finanziellen Problemen,<br />

unbefriedigenden Wohnverhältnissen und fehlenden sozialen<br />

Netzwerken.<br />

Frühe Förderung sieht die umfassende Unterstützung von Familien<br />

im Interesse der gesundheitlichen, sozialen und kognitiven<br />

Entwicklung der Kinder vor und beginnt daher lange bevor Kinder<br />

in das Bildungssystem eintreten, d. h. mit der Schwangerschaft,<br />

bzw. der ersten Zeit nach der Geburt. Bei diesen Angeboten zeigt<br />

sich, dass ein gleichberechtigter Zugang für alle Familien gegeben<br />

ist, solange die Versorgung im medizinischen System erfolgt.<br />

Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen werden von Eltern in<br />

der Sozialhilfe genauso stark genutzt wie von den anderen untersuchten<br />

Elterngruppen. Dies ändert sich jedoch bereits bei der<br />

nachgeburtlichen Versorgung durch Wochenbetthebammen, die<br />

von den Eltern selbst organisiert werden muss. Während Eltern<br />

89 % 89 %<br />

<strong>19</strong> % 21 %<br />

Zugang zu den Angeboten der Frühen Förderung<br />

Breite Bevölkerung (TG1) Familien, die Sozialhilfe empfangen (TG2) Familien mit Migrationshintergrund (TG3)<br />

100 %<br />

90 %<br />

86 %<br />

82 % 82 %<br />

80 %<br />

75 %<br />

70 %<br />

64 %<br />

64 %<br />

60 %<br />

57 %<br />

50 %<br />

40 %<br />

35 %<br />

30 %<br />

28 % 29 % 28 %<br />

20 %<br />

8 %<br />

10 %<br />

7 %<br />

4 %<br />

0 %<br />

Schwangerschaftsvorsorge<br />

Quelle: AFFIS (20<strong>19</strong>)<br />

Wochenbetthebamme Mütter-Väterberatung Kita Spielgruppe Hausbesuchsprogramme<br />

22 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>19</strong> SCHWERPUNKT


FRÜHE FÖRDERUNG<br />

Spielgruppen fördern die Entwicklung.<br />

Bild: Palma Fiacco<br />

aus der breiten Bevölkerung und Eltern mit Migrationshintergrund<br />

mit einer Nutzungsquote von je über 80 Prozent einen<br />

gleichermassen guten Zugang zu diesem Angebot haben, erhalten<br />

nur etwas weniger als zwei Drittel der Eltern in der Sozialhilfe eine<br />

nachgeburtliche Hausbetreuung durch eine Hebamme. Diese Begleitung<br />

wäre aber gerade für belastete Eltern nicht nur momentan<br />

hilfreich, sondern auch präventiv bedeutsam: Wochenbettbegleitungen<br />

erhöhen unter anderem das Wohlbefinden, die Sicherheit<br />

und die Kompetenz der Eltern und haben eine starke präventive<br />

Wirkung in Bezug auf familiäre Gewalt, Wochenbettdepressionen,<br />

Rehospitalisierungen der Mütter und Babys sowie auf frühe<br />

Entwicklungsstörungen. Die Angebote sind zwar vorhanden und<br />

über die Krankenkassen finanziert. Sie sind belasteten Eltern aber<br />

oft nicht bekannt oder aber diese geben an, dass sie wegen eigener<br />

gesundheitlicher Probleme oder solcher ihres Babys dieses und<br />

andere Angebote (z. B. die Mütter- und Väterberatung) nach der<br />

Geburt des Kindes nicht wahrnehmen konnten.<br />

Schlechter Zugang zu Bildungs- und Betreuungsangeboten<br />

Familien in der Sozialhilfe haben bereits in der allerersten Zeit<br />

nach der Geburt eines Kindes einen schlechteren Zugang zu unterstützenden<br />

Angeboten. Der grosse Einbruch der Nutzungszahlen<br />

erfolgt jedoch bei den pädagogischen und familienpädagogischen<br />

Angeboten. Nur jede fünfte oder jede vierte Familie, die Sozialhilfe<br />

bezieht, hat einen Spielgruppenplatz (21 %) oder einen Platz in<br />

einer Kita (28 %) für ihr Kind. Für Kinder aus belasteten Familien<br />

zeigen Kitas eine nachgewiesene positive Wirkung auf die kindliche<br />

Entwicklung, weil sie ausgleichend zum belasteten familiären<br />

Umfeld wirken und Kinder mit gezielten Förderangeboten begleiten<br />

können. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass die pädagogische<br />

Qualität der Kitas hoch ist und dass dort genügend ausgebildete<br />

Fachkräfte vorhanden sind. Zudem sind Kitas, wie die Eltern<br />

in dieser Studie berichteten, eine wichtige Unterstützung für die<br />

Eltern in Erziehungsfragen und eine Möglichkeit, in Kontakt mit<br />

anderen Eltern zu kommen. Die Spielgruppenangebote werden<br />

von den Eltern als Vorbereitung auf den Kindergarteneintritt und<br />

als Möglichkeit für die Kinder, erste eigene soziale Kontakte zu<br />

Gleichaltrigen zu knüpfen, geschätzt. Entwicklungsförderlich<br />

wirksam sind Spielgruppen besonders dann, wenn sie eine integrierte<br />

kindzentrierte Sprachförderung mit ausgebildeten Fachpersonen<br />

anbieten. Diese kommt nachweislich nicht nur der Sprachentwicklung<br />

von fremdsprachigen Kindern, sondern ebenso<br />

derjenigen von Kindern mit deutscher Muttersprache zu Gute.<br />

Familienergänzende Bildungs- und Betreuungsangebote sind<br />

jedoch weit mehr als ein «Nice-to-have». Wenn diese Möglichkeiten<br />

wegfallen, organisieren sich die Mütter notwendigerweise<br />

selbst, nutzen nicht akkreditierte Tagesfamilien oder wechselnde<br />

informelle Betreuungsformen, die besonders für Kinder aus belasteten<br />

Familien nicht nur wenig förderlich, sondern zusätzlich<br />

schädigend wirken können. Dieses Wissen scheint nicht bei allen<br />

Sozialdiensten vorhanden zu sein. Anders lassen sich die Antworten<br />

von Müttern kaum erklären, welche in der AFFIS-Studie<br />

berichteten, dass sie ihrem Kind sehr gerne einen Spielgruppenbesuch<br />

ermöglicht hätten, dass dieser aber vom Sozialdienst abgelehnt<br />

worden sei mit der Begründung, sie würde nicht ausser Haus<br />

arbeiten und habe genügend Zeit, selbst für ihr Kind zu schauen.<br />

Besonders stark profitieren belastete Familien von Hausbesuchsprogrammen,<br />

in denen sie durch ausgebildete Fachpersonen<br />

darin unterstützt werden, gute Entwicklungsbedingungen für ihr<br />

Kind zu schaffen und adäquat mit ihm zu interagieren. Eltern,<br />

welche dieses Angebot nutzten, schätzten es sehr: «Jemand ist da<br />

und kümmert sich um alle in der Familie!», bemerkte eine Studienteilnehmerin.<br />

Umso bedenklicher scheint es, dass diejenigen<br />

Familien, für welche solche Hausbesuchsproramme angelegt sind,<br />

sie nur sehr selten nutzten (7 %), seltener noch als Familien aus der<br />

breiten Bevölkerung (8 %). Dies liegt zum einen daran, dass Hausbesuchsprogramme<br />

nicht überall angeboten werden und aktuell<br />

vor allem in grösseren Städten vorhanden sind. Zum anderen wird<br />

die Zuweisung von Familien in solche Programme nach wie vor mit<br />

Screening-Instrumenten vorgenommen, die nicht dahingehend<br />

überprüft sind, ob sie tatsächlich diejenigen Familien erkennen,<br />

welche von solchen Angeboten am meisten profitieren könnten.<br />

Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Familien in der Sozialhilfe<br />

zu wenig auf dem «Radar» der Frühen Förderung sind, dass<br />

ihre spezifischen Bedürfnis- und Problemlagen nicht allgemein<br />

bekannt sind und deshalb eine spezifische Unterstützung für diese<br />

Elterngruppe noch weitgehend fehlt.<br />

•<br />

Prof. Dr. Claudia Meier Magistretti & Prof. Dr. Catherine Walter-Laager<br />

Hochschule Luzern - Soziale Arbeit / Universität Graz<br />

Studie:<br />

Meier Magistretti, C., Walter-Laager, C., Schraner, M., & Schwarz, J. (20<strong>19</strong>):<br />

Angebote der Frühen Förderung in Schweizer Städten (AFFIS). Kohortenstudie<br />

zur Nutzung und zum Nutzen von Angeboten aus Elternsicht.<br />

www.interact-verlag.ch Neuerscheinungen<br />


Weihnachtsgrüsse einer Maraude-Helferin an Obdachlose.<br />

Bilder: zvg<br />

26 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>19</strong>


Kollektiv 2.0 für die Obdachlosen<br />

in Lausanne<br />

REPORTAGE Maraude Lausanne ist eine Bürgerbewegung, die sich um Obdachlose in<br />

Lausanne kümmert. Ziel der Bewegung ist es, Obdachlose mit Nahrung, Kleidern und anderen<br />

lebensnotwendigen Dingen zu versorgen, und ihnen damit das Leben etwas leichter zu machen. Das<br />

Besondere an Maraude Lausanne ist die Organisation über die Sozialen Medien.<br />

Sanhia: «Ich habe eine ganze Schale<br />

vegetarische Lasagne zu verschenken<br />

für die Maraude heute Abend. Ich bringe<br />

sie zum Café des Artisans. Bitte<br />

meldet Euch, wenn Ihr sie abholen<br />

kommt. Danke und schönen Tag.»<br />

Administrator: «Heute findet leider<br />

keine Maraude-Tour statt. Kann man<br />

sie vielleicht bis morgen aufheben?»<br />

tus oder Glauben kümmert. Speziell ist<br />

diese Hilfsaktion nicht nur, weil sie ohne<br />

jegliche staatliche Hilfe auskommt und ausschliesslich<br />

auf dem Engagement von Freiwilligen<br />

beruht, sondern auch, weil sie sich<br />

via Social-Media-Kanäle organisiert. Kein<br />

Büro und keine Einsatzzentrale sondern Facebook<br />

dient als Plattform für die Organisation<br />

und Regelung der Aktivitäten.<br />

Das Durchforsten der Strassen und<br />

das Suchen nach unter prekären Bedingungen<br />

lebenden Menschen, um ihnen<br />

materielle und moralische Unterstützung<br />

zu schenken, ist eine Art aufsuchender<br />

sozialer Notfallhilfe, die bedingungslos<br />

gewährt wird. Während andere Städte die<br />

Angebote der sozialen Notfallhilfe professionalisiert<br />

haben, basiert das Lausanner<br />

Kollektiv ausschliesslich auf Freiwilligenarbeit.<br />

Dank der Kommunikation via die<br />

sozialen Medien, kann Maraude Lausanne<br />

die vielfältigen Einsätze, die sich nach den<br />

aktuell vorhandenen Ressourcen richten,<br />

sehr flexibel organisieren. Die einen tragen<br />

sich weit im Voraus für einen Einsatz ein,<br />

MARAUDE LAUSANNE WIRD WISSENSCHAFTLICH BEGLEITET<br />

Der <strong>Artikel</strong> basiert weitgehend auf einem Beitrag<br />

von Charlotte Jeanrenaud und Maëlle Meigniez,<br />

Forschungsbeauftragte, Dominique Malatesta,<br />

Professeure ordinaire, António Magalhães de<br />

Almeida, Maître d’enseignement, Haute école de<br />

travail social et de la santé de Lausanne · EESP<br />

· HES-SO<br />

Maraude Lausanne wird wegen ihrer ungewöhnlichen<br />

Arbeitsweise derzeit von der HES-SO<br />

wissenschaftlich begleitet und untersucht.<br />

https://maraudelausanne.wordpress.com/<br />

Bei Einbruch der Nacht, durchquert ein<br />

Bürgerkollektiv die Strassen von Lausanne<br />

auf der Suche nach Obdachlosen. Sie haben<br />

vollgestopfte Taschen und Kisten dabei.<br />

Seit drei Jahren sucht des Nachts oft eine<br />

Gruppe von engagierten Lausannerinnen<br />

und Lausannern Menschen auf, die unter<br />

äusserst prekären Bedingungen in den Strassen<br />

der Stadt leben. Sie bringen ihnen<br />

Nahrung, Decken, aber auch Unterstützung<br />

und Trost. La Maraude Lausanne versteht<br />

sich als apolitische und areligiöse Gruppierung,<br />

die sich um die Obdachlosen in Lausanne<br />

unabhängig von deren Herkunft, Staandere<br />

am Vorabend und sehr viele auch<br />

ganz spontan. Facebook bietet den Freiwilligen<br />

zudem die Möglichkeit, sich in Echtzeit<br />

abzusprechen, beispielsweise über den<br />

konkreten Ablauf des Einsatzes.<br />

Frei von Verpflichtungen<br />

Charakteristisch an der Bürgerbewegung<br />

ist ferner, dass das Engagement der Freiwilligen<br />

an keine Bedingungen geknüpft<br />

ist. Sie müssen sich lediglich zu einer Charta<br />

bekennen. Weiter werden keinerlei Bedingungen<br />

an das Engagement gestellt. Sie<br />

können einmal mitmachen oder regelmässig<br />

und die eine oder die andere Aufgabe<br />

übernehmen. Damit ist die Zahl der Personen,<br />

die das Kollektiv bilden, natürlich nie<br />

konstant. Das bedeutet auch, dass in der<br />

einen Woche niemand die Tour durch die<br />

Strassen macht, während in der nächste<br />

Woche jede Nacht jemand unterwegs ist.<br />

Die Jahreszeiten spielen allerdings eine<br />

wichtige Rolle. Während der kalten Monate<br />

im Winter ist die Mobilisierung von Freiwilligen<br />

wesentlich grösser, so dass Maraude-Touren<br />

fast jede Nacht stattfinden.<br />

Doch kamen die Mitglieder des Kollektivs<br />

unterdessen aufgrund von Erfahrungen<br />

dennoch zu dem Schluss, dass es<br />

durchaus ein Vorteil wäre, einige gemeinsame<br />

Richtlinien aufzustellen. Dies im<br />

Hinblick auf ein gutes Funktionieren der<br />

Bewegung und um Konflikte unter den<br />

Freiwilligen zu vermeiden. Denn schliesslich<br />

sollte die Bewegung fortbestehen.<br />

Die gemeinsamen Richtlinien sind in der<br />

Charta festgehalten und werden vor allem<br />

durch die Definition von Schlüsselrollen<br />

umgesetzt. Zwei Rollen sind wesentlich für<br />

das reibungslose Funktionieren des Kollektivs:<br />

jene des Planers oder der Planerin und<br />

jene des Abendpaten bzw. der Abendpatin.<br />

Der Planer verwaltet hauptsächlich das <br />

4/<strong>19</strong> <strong>ZESO</strong><br />

27


Der virtuelle Zusammenschluss zu<br />

einer Bewegung stellt eine neue Form<br />

von Engagement dar, die weniger<br />

verbindlich ist, deren Wirkung<br />

dennoch nicht zu unterschätzen ist.<br />

Material- und Personalmanagement über<br />

Facebook. Was die Abendpaten betrifft, so<br />

haben sie die Aufgabe, den Abend, für den<br />

sie diese Rolle übernehmen, zu leiten und<br />

für dessen reibungslosen Ablauf zu sorgen.<br />

Über diese wenigen Schlüsselaufgaben<br />

hinaus, soll die Organisation flexibel<br />

bleiben, um den Initativen der Einzelnen<br />

Raum zu geben. So bleibt die Verteilung<br />

der Güter, seien es Lebensmittel, Getränke<br />

oder auch Decken, Schlafsäcke und Kleidung,<br />

jedem Freiwilligen vorbehalten. Auf<br />

formalisierte Kriterien für die Verteilung<br />

wird bewusst verzichtet.<br />

Dieser Verzicht kann Quelle von Kreativität<br />

sein, für manche Freiwilligen aber<br />

auch belastend sein. Es kann jemanden<br />

verunsichern, wenn er nicht weiss, welche<br />

Entscheidung richtig ist. Im Vergleich zu<br />

normalen Passanten, die entscheiden müssen,<br />

wem sie etwas geben und weshalb,<br />

fällt es ausgebildetem Personal leichter,<br />

mit diesem Dilemma umzugehen, wie die<br />

französische Forshungsbeauftragte Carole<br />

Gayet-Viaud in einem Forschungsbericht<br />

feststellte.<br />

Ein sichtbares und politisches<br />

Engagement<br />

Die Bewegung Maraude agiert nicht militant,<br />

doch bringt sie die Existenz und die<br />

Not der prekär lebenden Bevölkerungsgruppen,<br />

die meist kein Dach über dem<br />

Kopf haben, ans Licht. Maraude weist damit<br />

auf ein fehlendes institutionelles Angebot<br />

hin. Die Lausanner Bewegung und ihre<br />

Aktivitäten beschäftigen jedenfalls regelmässig<br />

die öffentlichen Debatten in der<br />

Stadt, sei es via Medien, Fachleute oder<br />

einzelne Politikerinnen und Politiker.<br />

Durch diese reale und virtuelle Präsenz im<br />

öffentlichen Raum, gelingt es der Bewegung<br />

und den Betroffenen, in Erscheinung<br />

zu treten und damit eine politische Dimension<br />

zu entfalten.<br />

Der virtuelle Zusammenschluss zu einer<br />

Bewegung stellt eine neue Form von Engagement<br />

dar, die weniger verbindlich ist,<br />

deren Wirkung dennoch nicht zu unterschätzen<br />

ist. Indem Facebook-Mitglieder<br />

die Facebook-Seite von Maraude besuchen<br />

und ihr beitreten (derzeit etwa 2400), zeigen<br />

sie Interesse oder Neugier gegenüber<br />

den sozialen Problemen der Obdachlosen.<br />

Auch wenn sie schliesslich nichts weiter<br />

tun und sich nicht konkret engagieren,<br />

unterstützen sie doch die Bewegung durch<br />

ihre Präsenz auf Facebook. Gleichzeitig<br />

werden die Bewegung, ihre Haltung, politische<br />

Stellungnahmen und Informationen<br />

zum Thema Obdachlosigkeit einem<br />

breiteren Publikum zugänglich gemacht.<br />

Eine Bewegung, die stetig in<br />

Bewegung bleibt<br />

Durch seine neuartige Funktionsweise und<br />

die regelfreie Arbeitsweise bewirkt Maraude<br />

Lausanne nicht nur neue Formen von vielfältigem,<br />

flexiblem und spontanem freiwilligem<br />

Engagement, sondern erschafft sich<br />

auch die Rahmenbedingungen, um eine<br />

Umgebung, die ständig in Bewegung ist, zu<br />

integrieren. Man könnte auch noch weitergehen<br />

und sagen, dass es genau die Formbarkeit<br />

und die Anpassungsfähigkeit ist, an<br />

das, was um sie herum passiert, was der Aktion<br />

Sinn verleiht und sie am Leben erhält,<br />

ohne sie zu stabilisieren oder zu fixieren.<br />

Die Bewegung liefert uns so eine Vision und<br />

praktische Vorstellungen von künftigen, alternativen<br />

sozialen Interventionen, die<br />

durchaus Aufmerksamkeit und Respekt von<br />

Seiten der Fachwelt verdienen. •<br />

Hilfe für Obdachlose: Die freiwilligen Helfer von Maraude in Lausanne.<br />

Charlotte Jeanrenaud, Maëlle Meigniez,<br />

Prof. Dominique Malatesta, António Magalhães<br />

de Almeida, Haute école de travail social et<br />

de la santé de Lausanne<br />

28 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>19</strong>


Kennzahlen statt Kristallkugel:<br />

20 Jahre Kennzahlenvergleich<br />

Sozialhilfe in den Städten<br />

FACHBEITRAG «Vom Besten lernen»: Dies war vor zwanzig Jahren das Ziel des ersten<br />

Kennzahlenvergleichs zur Sozialhilfe in Schweizer Städten – und ist es noch heute. Seit zwanzig<br />

Jahren analysieren Städte ihre Sozialhilfekennzahlen und tauschen sich über Auffälligkeiten,<br />

Erklärungsansätze und Massnahmen aus. Der Blick auf Kennzahlen – statt in die Kristallkugel –<br />

dient der Früherkennung von Trends und der faktenbasierten Diskussion über die Sozialhilfe.<br />

Ein Blick zurück: Vor 20 Jahren gab es keine<br />

Sozialhilfestatistik in der Schweiz und<br />

nicht alle Städte verfügten über ein elektronisches<br />

Fallführungssystem. Es gab noch<br />

keine einheitliche Definition darüber, was<br />

«ein Sozialhilfefall» ist und wie er gezählt<br />

wird. Was es aber gab, waren steigende Sozialhilfezahlen<br />

in den Städten und höhere<br />

Kosten. Der Druck wuchs, genauer hinzuschauen:<br />

<strong>19</strong>98/99 konzipierten deshalb<br />

neun Städte der Städteinitiative Sozialpolitik<br />

den Kennzahlenvergleich als ein Benchmarking,<br />

das «den systematischen und<br />

Abb. 1: Fallzahlen, Kennzahlenbericht <strong>19</strong>99<br />

Fallzahlerhebung nach unterschiedlichen Methoden und Definitionen<br />

(Fälle in Winterthur und Zürich <strong>19</strong>99)<br />

12 000<br />

10 000<br />

8000<br />

6000<br />

4000<br />

2000<br />

0<br />

933<br />

1284<br />

Winterthur<br />

1495<br />

zielgerichteten Vergleich von Geschäftsprozessen<br />

unter der Devise ‹Lernen vom<br />

Besten› unter Nutzung geeigneter Kennzahlen<br />

beinhaltet», wie der erste Bericht<br />

festhielt.<br />

durchschnittliche monatliche Zahlfälle<br />

durchschnittliche monatliche Bestandsfälle<br />

kumulierte Zahlfälle<br />

6510<br />

8835<br />

Zürich<br />

11 280<br />

Grafik aus dem ersten Kennzahlenvergleich von <strong>19</strong>99: Wie soll man die Anzahl Sozialhilfefälle zählen?<br />

Solche Fragen wurden bei der Konzeption des Kennzahlenvergleichs der Städte angegangen.<br />

Pionierarbeit der Städte<br />

Die Städte leisteten damit Pionierarbeit:<br />

Sie einigten sich für den Kennzahlenvergleich<br />

auf einheitliche Definitionen und<br />

erhoben die entsprechenden Grunddaten,<br />

welche dann für den Kennzahlenvergleich<br />

verwendet wurden. Ein Teil dieser Definitionen<br />

wurde sogar von der späteren Bundesstatistik<br />

übernommen. Denn fast<br />

gleichzeitig begann auch das Bundesamt<br />

für Statistik (BFS) mit den Vorarbeiten für<br />

eine nationale Sozialhilfestatistik (SHS).<br />

Bis heute ist die Sektion Sozialhilfe des<br />

BFS der verlässliche Datenlieferant und geschätzte<br />

Projektpartner für den Kennzahlenvergleich<br />

der Städte.<br />

Definitionen vereinheitlichen die<br />

Praxis<br />

Eine unerwartete Wirkung der Definitionsklärungen<br />

war, dass sie zu einer gewissen<br />

Vereinheitlichung der Sozialhilfepraxis<br />

führten. So hatten sich die Städte zum Beispiel<br />

auf die «Sechs-Monate-Regel» für den<br />

Fallabschluss geeinigt. Das führte in der<br />

Praxis dazu, dass eine Person, die zum Beispiel<br />

vier Monate lang keine Sozialhilfe benötigte,<br />

aber im fünften Monat wieder darauf<br />

angewiesen ist, als laufender Fall gilt<br />

und immer noch dieselbe Ansprechperson<br />

hat. Anders, wenn jemand nach acht Monaten<br />

wiederkommt: Dann wird die Situation<br />

neu analysiert und allenfalls auch einer<br />

neuen Sozialberaterin, einem neuen<br />

Sozialberater zugewiesen.<br />

Innovative Sozialberatung dank<br />

Kennzahlen<br />

Datenbasierte Vergleiche sind wesentlich,<br />

um die Gegenwart zu verstehen, voneinander<br />

zu lernen und die Zukunft zu gestalten.<br />

Der Kennzahlenvergleich der Städte sorgte<br />

für handfeste Innovationen in der Sozialhilfe.<br />

Bereits der erste publizierte Bericht<br />

wollte <strong>19</strong>99 wissen, «welche Faktoren<br />

32 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>19</strong>


durch die Sozialämter in welchem Ausmass<br />

beeinflusst werden können» und setzte<br />

dazu auf den Erfahrungsaustausch der<br />

Fachexpertinnen und -experten der Städte.<br />

So zeigte sich, dass eine Ablösung aus der<br />

Sozialhilfe vor allem dann erreicht werden<br />

kann, wenn der Sozialhilfebezug noch<br />

nicht lange gedauert hat. Daher führten<br />

erste Städte das «Intake» ein, die zentrale,<br />

standardisierte Fallaufnahme. Heute gehört<br />

die rasche Erstabklärung, Triage und<br />

Beratung zum Standard der Sozialhilfe.<br />

Das Lernen voneinander funktionierte.<br />

Abb. 2:<br />

6 %<br />

5 %<br />

4 %<br />

3 %<br />

2 %<br />

1 %<br />

0 %<br />

Entwicklung der Sozialhilfequoten nach Altersklassen<br />

in den letzten 10 Jahren<br />

(Durchschnitt der 14 Vergleichsstädte)<br />

5.7<br />

5.5<br />

5.0<br />

4.8 4.8<br />

4.7 4.6<br />

4.3<br />

Präziser Blick auf Risikogruppen<br />

Die Gruppe der Kennzahlenstädte (zu Beginn<br />

8, aktuell 14 Städte: Basel, Bern,<br />

Biel/Bienne, Chur, Lausanne, Luzern,<br />

Schaffhausen, Schlieren, St. Gallen, Uster,<br />

Wädenswil, Winterthur, Zug, Zürich) setzte<br />

auch immer wieder neue fachliche<br />

Schwerpunkte: zum Beispiel junge Erwachsene,<br />

Alleinerziehende oder Personen<br />

über 55 Jahre in der Sozialhilfe. 2014<br />

wurde die gesundheitliche Situation von<br />

Langzeitbeziehenden unter die Lupe genommen<br />

und 2017 wurde gefragt, wie gut<br />

eine dauerhafte Ablösung aus der Sozialhilfe<br />

bei jungen Erwachsenen gelingt. So generierte<br />

die Städteinitiative Sozialpolitik<br />

nicht nur Fakten, sondern auch Schlagzeilen:<br />

«Junge in der Sozialhilfe – Ablösung<br />

gelingt meistens», «Kinder als Armutsrisiko»,<br />

«Wer lange Sozialhilfe bezieht hat, hat<br />

meist Gesundheitsprobleme» oder auch<br />

«Höheres Sozialhilferisiko bereits ab 46<br />

Jahren». Wichtiger als die Schlagzeile war<br />

für die Sozialarbeit in den Städten die genaue<br />

Analyse der jeweiligen Problemlage.<br />

So konnten zielgerichtete Massnahmen getroffen<br />

werden, sei es bei der sozialen oder<br />

beruflichen Integration, bei den Themen<br />

Wohnen oder Quartierentwicklung oder<br />

auch bei der frühen Förderung.<br />

18–25-Jährige 26–35-Jährige 36–45-Jährige 46–55-Jährige 56–64-Jährige<br />

Quelle: BFS Sozialhilfestatistik, Darstellung BFH.<br />

5.6<br />

5.5 5.5<br />

5.6<br />

5.7<br />

5.4<br />

4.9 5.2<br />

2009 2012 2015 2018<br />

3.3<br />

3.9<br />

4.8<br />

4.5<br />

Koordinierte Massnahmen sind<br />

erfolgreich<br />

Bei den jungen Erwachsenen zeigte die<br />

Analyse der Zahlen, dass vor allem koordinierte<br />

Massnahmen erfolgreich sind. Nach<br />

dem markanten Anstieg der Sozialhilfequoten<br />

zu Beginn der 2000er-Jahre reagierten<br />

die Städte rasch mit spezifischen<br />

Programmen; hinzu kamen das Case Management<br />

Berufsbildung und mancherorts<br />

Anpassungen bei anderen Bedarfsleistungen<br />

wie Stipendien. Alles zusammen<br />

brachte bei den jungen Erwachsenen Erfolg:<br />

Ihre Sozialhilfequote konnte in den<br />

vergangenen zehn Jahren deutlich gesenkt<br />

werden.<br />

Schon früh wiesen die Städte auf die Situation<br />

der älteren Sozialhilfebeziehenden<br />

im erwerbsfähigen Alter hin. In dieser Altersgruppe<br />

muss die Sozialhilfe oft längerfristig<br />

die Existenzsicherung übernehmen.<br />

Dass Handlungsbedarf besteht bei den<br />

älteren Ausgesteuerten, hat nun auch der<br />

Bundesrat erkannt: Er schlägt eine Überbrückungsleistung<br />

ab 60 Jahren vor. Die<br />

Städteinitiative Sozialpolitik begrüsst diesen<br />

Vorschlag ausdrücklich.<br />

Dank der Kennzahlen lassen sich also<br />

Probleme frühzeitig erkennen und die<br />

Städte können Lösungen – auch auf der<br />

politischen Ebene – vorschlagen. Der intensive<br />

fachliche Austausch auf der Basis<br />

von vergleichbaren Kennzahlen hat die<br />

Organisation und Wirksamkeit der Sozialhilfe<br />

verbessert. Nicht zuletzt versach-licht<br />

der Kennzahlenbericht der Städte die mediale<br />

Diskussion über Sozialhilfe und liefert<br />

dafür eine wissenschaftlich fundierte<br />

Grundlage. <br />

•<br />

Beat Schmocker<br />

Soziales Stadt Schaffhausen<br />

Katharina Rüegg<br />

Städteinitiative Sozialpolitik<br />

www.staedteinitiative.ch > Kennzahlen aktuell<br />

4/<strong>19</strong> <strong>ZESO</strong><br />

33


Engagierte Vermittlerin zwischen<br />

zwei Kulturen<br />

PORTRÄT Ada Tesfay ist vor zwanzig Jahren in die Schweiz gekommen. Mittlerweile ist die Eritreerin<br />

bestens integriert und steht erfolgreich im Berufsleben. Der Weg war aber nicht einfach. Umso mehr<br />

bedeutet es ihr, ihren Landsleuten nun als Schlüsselperson den Start hier erleichtern zu können.<br />

Ada Tesfay hatte viele Pläne. «Kinderpsychologin<br />

oder Ärztin wollte ich werden!»,<br />

erzählt die Eritreerin mit leuchtenden Augen.<br />

Und fügt lachend hinzu: «Aber das ist<br />

lange her! Manchmal spielt das Leben anders.»<br />

Vor beinahe zwanzig Jahren musste<br />

Ada Tesfay ihre Heimat verlassen. Die damals<br />

20-Jährige flüchtete vor dem Krieg<br />

zwischen Äthiopien und Eritrea.<br />

Es verschlug sie in der Schweiz. «Als<br />

ich hier ankam, hatte ich den Eindruck,<br />

auf einem fremden Planeten gelandet zu<br />

sein», erzählt sie. Und gesteht: «Es war<br />

ein Schock!» Es fiel ihr schwer, sich in der<br />

fremden Kultur zurechtzufinden. «Ich bin<br />

in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der<br />

man kollektiv lebt», erzählt Ada Tesfay. Sie,<br />

die es gewohnt war, immer unter Leuten<br />

zu sein und alles mit der Familie zu besprechen,<br />

war plötzlich allein und von Einsamkeit<br />

geplagt. Hinzu kamen das schwierige<br />

Leben in der Asylunterkunft und die grosse<br />

Unsicherheit wegen ihres Asylentscheides<br />

und der lediglich vorläufigen Aufnahme.<br />

«Wohl aber am schwierigsten war die<br />

fremde Sprache», erzählt Tesfay. Sie sprach<br />

zwar Englisch und Französisch, was ihr<br />

viel erleichterte. Dennoch: An ihren Wohnorten<br />

– zunächst Zürich, dann Bern – war<br />

Deutsch gefragt. Und Deutsch sprach die<br />

junge Frau nicht – kein einziges Wort.<br />

«Das Leben war schwierig für mich», sagt<br />

sie rückblickend.<br />

Aber Ada Tesfay – das wird schnell klar<br />

– ist keine, die schnell aufgibt. Sonst würde<br />

sie jetzt kaum im Sporthallencafé, nahe<br />

der Gemeindeverwaltung, sitzen und in<br />

perfektem Deutsch von ihrem Leben erzählen,<br />

das sie sich in der Schweiz aufgebaut<br />

hat: Von ihrer Stelle als Dolmetscherin<br />

beim Schweizerischen Roten Kreuz<br />

(SRK), von ihren Töchtern, die gerade<br />

Schulferien hatten, und von ihrem Engagement<br />

als Schlüsselperson für eritreische<br />

Migrantinnen und Migranten in Kehrsatz<br />

(s. Kasten). Aber der Reihe nach.<br />

Von der Verkäuferin zur Übersetzerin<br />

Bereits in der Kollektivunterkunft konnte<br />

Ada Tesfay einen Deutsch-Intensivkurs belegen.<br />

Die wissbegierige Frau, die alles,<br />

was ihr in die Finger kommt, liest, lernte<br />

schnell. Dennoch war es für sie schwierig,<br />

sich zurechtzufinden und sich die nötigen<br />

Informationen über das Leben in der<br />

Schweiz zu beschaffen. Sie erzählt: «Die<br />

vielen Angebote der Integrationsförderung,<br />

die heute existieren, gab es noch<br />

nicht.»<br />

Als Ada Tesfay in eine WG umziehen<br />

und beim SRK einen Kurs als Pflegehelferin<br />

absolvieren konnte, ging es aufwärts.<br />

Mit der Arbeit klappte es trotzdem vorerst<br />

nicht. «Mit der N-Bewilligung habe ich<br />

keinen Job gefunden», sagt sie. Und fügt<br />

wie selbstverständlich an: «Also bin ich<br />

einen anderen Weg gegangen.» Bis zur<br />

Geburt ihrer ersten Tochter arbeitete die<br />

heute zweifache Mutter als Hilfsverkäuferin.<br />

Auch danach blieb sie aktiv: Sie putzte,<br />

machte andere Hilfsarbeiten, und als die<br />

beiden Mädchen ein wenig grösser waren,<br />

begann Ada Tesfay zu dolmetschen: von<br />

Deutsch in Tigrinya, ihre Muttersprache.<br />

Diese Idee schwirrte schon länger in ihrem<br />

Kopf herum. Zunächst erledigte sie Gelegenheitsaufträge<br />

für Freunde und Bekannte.<br />

Nach einer zweijährigen Ausbildung<br />

zur Dolmetscherin bekam sie auch Aufträge<br />

von Organisationen wie der Caritas oder<br />

dem SRK.<br />

Unterdessen war die Familie Tesfay<br />

nach Kehrsatz gezogen. Zufällig sei die<br />

Wahl auf den Berner Vorort gefallen, erzählt<br />

Ada Tesfay. Während es ihrem Mann<br />

sofort gefiel, war sie skeptischer. «Für<br />

mich war es halt typisch ländlich», sagt<br />

die 39-Jährige und lacht schallend. Heute<br />

SCHLÜSSELPERSONEN:<br />

ANGEBOT ZUR INTEGRATIONS-<br />

FÖRDERUNG<br />

Die Berner Gemeinde Kehrsatz hat 2018 das<br />

Projekt «Schlüsselpersonen in Kehrsatz» lanciert.<br />

Dieses soll den neu in die Gemeinde gezogenen<br />

Menschen aus fremden Kulturkreisen die<br />

Integration erleichtern. Die Schlüsselpersonen<br />

wohnen seit vielen Jahren in der Gemeinde,<br />

sind gut integriert und haben einen Migrationshintergrund.<br />

Sie sprechen die Sprache ihres<br />

Herkunftslandes, verfügen aber auch über gute<br />

Deutschkenntnisse und haben eine hohe Sozialkompetenz.<br />

Dadurch finden sie niederschwellig<br />

Zugang zu ihren Landsleuten. Das Ziel ist, dass<br />

die Schlüsselpersonen die Migrantinnen und<br />

Migranten über die Lebensbedingungen in der<br />

Schweiz und der Gemeinde und ihre Rechte und<br />

Pflichten aufklären und sie motivieren, integrationsfördernde<br />

Angebote zu nutzen.<br />

www.kehrsatz.ch<br />

gefällt es ihr sehr. Sie findet die Gemeinde<br />

gerade richtig. «Es ist nah an der Stadt,<br />

aber trotzdem ein wenig wie auf dem<br />

Land.» Die Familie Tesfay fühlt sich wohl.<br />

Die Töchter können nur vor die Tür gehen,<br />

um ihre Freundinnen aus dem Quartier<br />

zu treffen. Zudem hat sich im Dorf<br />

herumgesprochen, dass Ada Tesfay eine<br />

gute Übersetzerin ist. «Die Leute kennen<br />

mich und wissen, wie sie mich erreichen<br />

können», sagt sie. Und so ruft nicht selten<br />

jemand an und fragt: «Ada, kannst du mir<br />

helfen?».<br />

In den letzten fünf Jahren sind viele<br />

Eritreerinnen und Eritreer nach Kehrsatz<br />

gekommen. Deswegen hat die Gemeinde<br />

Schlüsselpersonen engagiert. Seit gut<br />

einem Jahr ist auch Ada Tesfay als solche<br />

tätigt. Sie hilft beim Übersetzen, beispiels-<br />

34 <strong>ZESO</strong> 4/<strong>19</strong>


«Ich habe hier eine<br />

Familie gegründet und<br />

lebe jetzt hier.<br />

Dennoch: Ein Teil von<br />

mir, wird wohl immer<br />

in Eritrea bleiben.»<br />

weise bei Gesprächen auf Ämtern oder in<br />

der Schule. Vielmehr geht es aber darum,<br />

kulturelle Differenzen überwinden zu helfen.<br />

«Ich bin genug lange da, um beide<br />

Kulturen zu verstehen und vermitteln zu<br />

können», sagt sie. Und so ist Ada Tesfay<br />

zur Stelle, wenn eritreischen Eltern nicht<br />

bewusst ist, was von ihnen erwartet wird,<br />

etwa dass sie zu Elterngesprächen in der<br />

Schule erscheinen sollen. «In ihrer Vorstellung<br />

von Schule kommt das nicht vor», sagt<br />

Tesfay. Oder sie hilft Jugendlichen, ihren<br />

Eltern zu erklären, dass im Bildungssystem<br />

der Schweiz eine Lehre ein sehr guter<br />

Weg ist und nicht alle Schülerinnen und<br />

Schüler aufs Gymnasium müssen. Kürzlich<br />

besuchte sie eine Frau, die durch Familiennachzug<br />

in die Schweiz gekommen<br />

ist und keine Ahnung hat vom Leben hier.<br />

«Ich gab ihr Tipps, wie sie sich in die Gemeinde<br />

integrieren kann, informierte sie<br />

über Hilfsangebote, erzählte von den verschiedenen<br />

Vereinen im Dorf.» Ada Tesfay<br />

sagt: «Ich sehe so oft, dass die Menschen<br />

wegen Missverständnissen nicht klar kommen.<br />

Meistens ist es weder so, dass sich die<br />

Migranten nicht integrieren wollen, noch<br />

liegt es an den Fachpersonen, die nicht<br />

helfen wollen.»<br />

Gedanken an die Heimat<br />

Zu helfen – das liegt Ada Tesfay am Herzen.<br />

Und so mag sie ihre Tätigkeit als<br />

Schlüsselperson sehr. Vielleicht auch, weil<br />

sie solche Angebote, wie es das Projekt der<br />

Gemeinde Kehrsatz ist, vor zwanzig Jahren<br />

selber sehr gut hätte brauchen können,<br />

Seit Kurzem arbeitet Ada Tesfay parallel<br />

zum Dolmetschen auch noch als<br />

pädagogische Familienbegleiterin. Sie<br />

geht zu Familien − vor allem zu solchen<br />

mit Migrationshintergrund − nach Hause<br />

und bespricht mit ihnen Erziehungsfragen<br />

und allfällige Probleme. «Es geht immer<br />

darum, sie in ihrem Handeln zu stärken»,<br />

sagt Ada Tesfay. Mit dieser Tätigkeit ist sie<br />

ihren beruflichen Vorstellungen, die sie<br />

einst als junge Frau in Eritrea hegte, ziemlich<br />

nahegekommen. Es hat lediglich ein<br />

paar Umwege gebraucht.<br />

«An meine Heimat denke ich noch oft»,<br />

sagt Ada Tesfay nachdenklich. Ihre Mutter<br />

lebt immer noch in Eritrea. «Klar, wenn<br />

die Situation anders wäre, würde ich gerne<br />

in meiner Heimat leben.» Aber sie ist<br />

zufrieden mit ihrem Leben in der Schweiz:<br />

«Ich habe hier eine Familie gegründet und<br />

lebe jetzt hier. Dennoch wird ein Teil von<br />

mir wohl immer in Eritrea bleiben.» •<br />

Regine Gerber<br />

Helfen liegt Ada Tesfay am Herzen.<br />

Bild: Daniel Desborough<br />

4/<strong>19</strong> <strong>ZESO</strong><br />

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