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DEPRESSION

ENTGLEISTES ICH

Menschen mit einer Depression fühlen sich oft von ihrem eigenen Ich und ihrer Vergangenheit

abgekoppelt. Forscher bezeichnen dieses Phänomen als »derailment«.

Eine Depression kann viele Ursachen

haben – gemein ist den Betroffenen

aber meist, dass sie sich einsam oder

isoliert von anderen Menschen fühlen.

Damit nicht genug: Wie eine

neue Untersuchung zeigt, fühlen sich Depressive

oft auch von ihrem eigenen Ich und ihrer Vergangenheit

abgekoppelt.

Forscher um Kaylin Ratner von der Cornell

University betrachteten in ihrer Studie das Phänomen

»derailment«, was wörtlich Entgleisung

bedeutet. Unter dem noch recht jungen Konzept

verstehen Psychologen den Zustand, dass

Menschen sich nicht mehr mit ihrem einstigen

Ich identifizieren können. Sie haben beispielsweise

nicht den Eindruck, noch dieselbe Person

zu sein oder dieselben Lebensziele zu verfolgen

wie früher. Dieser Mangel an Kontinuität in der

Selbstwahrnehmung kann stark verunsichern.

Für ihre Untersuchung baten die Wissenschaftler

939 Studierende, im Lauf eines Jahres

mehrfach Fragen zu ihrer seelischen Gesundheit

zu beantworten, etwa zu ihrer Depressivität.

»Derailment« wurde ebenfalls erfasst, mit Fragen

wie: »Ich habe es nicht vorausgesehen, dass

ich zu der Person wurde, die ich im Moment

bin« oder »Mein Leben bewegt sich seit langer

Zeit in dieselbe Richtung« (wobei Letzteres gegen

den Entgleisungszustand sprach).

Wer sich von seinem früheren Ich weiter

entfernt fühlte, litt meist auch stärker unter

depressiven Symptomen. Ein stärkeres »derailment«

sagte allerdings im Durchschnitt niedrigere

Depressionswerte in der nächsten Messung

voraus. Das heißt, obwohl der Zustand im jeweiligen

Moment mit negativen Gefühlen einhergehe,

könne er zumindest für manche Menschen

mit einer Depression vielleicht sogar förderlich

sein, schreiben Ratner und ihre Kollegen.

Bereits zuvor hatten Studien gezeigt, dass

Menschen, die sich von ihrem alten Selbstbild

abgekoppelt fühlen, zu diesem Zeitpunkt mehr

Stress und Ängste erleben – unabhängig vom

Ausmaß sonstiger Belastungen in ihrem Leben.

Selbst wenn man glaubt, sich gegenüber seinem

früheren Ich zum Positiven verändert zu haben,

strapaziert das Gefühl von Instabilität häufig

die Psyche. Und die Erfahrung einer depressiven

Episode wiederum vermag das »derailment« zu

befördern, weil sie das Selbstbild der betroffenen

Personen nachhaltig verändert.

Umgekehrt müsse dieses Gefühl sich allerdings

nicht weiter negativ auswirken, so die Forscher.

Bei einigen Betroffenen könnte es auch

einen wichtigen Prozess für die Überwindung

der Depression darstellen. Schließlich sei es

mitunter ein Ausdruck persönlicher Reife, sich

nicht mehr mit seinem früheren Ich zu identifizieren.

Das Loslassen von einmal gesteckten

Lebenszielen, die sich als unrealistisch erwiesen

haben, könne befreiend wirken und führe auf

Dauer zu besserer psychischer Gesundheit. ◼

von Joachim Retzbach

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