Muelheimia_Quarterly_1_2020
Stadtteilzeitung für Köln-Mülheim. Themenschwerpunkt „Wohnen".
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Mülheimia Quarterly
Stadt. Kultur. Soziales
#1 Januar 2020 6
Die Gründe, in Mülheim zu wohnen, sind vielfältig. Das haben Elsa
und Samuel während ihrer Interviews erfahren. Sie haben Geschichten
gehört von Menschen, die mit dem Bus nach Mülheim
kamen, um ein neues Leben anzufangen: „Man tritt aus dem Bus in
die neue Welt, und direkt im gleichen Viertel leben Menschen, die
die eigene Sprache sprechen.“ Viele Linien kreuzen sich, am Bahnhof,
am Wiener Platz. Eine mäßig sichere Struktur. Problematische
Wohnbedingungen treffen besonders Menschen, die in Armut leben.
Die Diskriminierung von Migrant*innen setzt sich in einigen Fällen
auch in den Mietverhältnissen fort.
Durchbruch
Wohnungen bieten eine gewisse Freiheit, sie zu gestalten. Elsa und
Samuel kamen in den Austausch mit Menschen, die es schaffen, ihr
Leben im gemieteten Wohnraum zu gestalten. Doch diese Freiheit
ist zerbrechlich und an Bedingungen geknüpft. Für das Tanz-Team
wurden fünf Mülheimer Wohnungen im Sommer 2019 zu „Residenzen“,
in denen sie für begrenzte Zeit mit den Bewohner*innen
lebten. Auch hier haben sie nach einer Erkundungsphase ihr Stück
Pressspan aufgeführt, aus den Wohnungen Aufführungsorte gemacht,
mal über den Flur weg, mal in zwei oder drei Zimmern. Viele
Mitwohn-Bedingungen mussten für diese Aufenthalte ausgehandelt
werden. Mit Erstaunen haben die Tänzer die Gestaltungslust der
Mieter zur Kenntnis genommen. Elsa: „Ich traue mich noch nicht
mal, in meiner Mietwohnung einen Nagel an die Wand zu hauen.“
Samuel und Elsa brachten den Pressspan mit in die fremden Wohnungen.
Der lässt sich ganz schnell legen und wieder wegnehmen.
Doch anders als die tanzenden Gäste gestalten die Gastgeber ihr Zuhause
nicht als Provisorium: Deckenabhängungen im Altbau werden
entfernt. Wände werden durchbrochen, um den eigenen Lebensentwürfen
besser gerecht zu werden. Wie lange wird der persönlich
gestaltete Mietraum noch verfügbar sein? Rechts und links auf den
Straßen neben den eigenen Wohnungen entstehen teure Neubauten –
für Eigentümer. Der Wohnwert des Viertels steigt, die Mieten ziehen
an. Elsa und Samuel haben in Zusammenarbeit mit Kolleg*innen
Anna-Lena und Diane mit den Bewohner*innen ihrer Residenzen
Gespräche geführt, über Mietwucher, das veränderte Gesicht des
Viertels und über Gentrifizierung.
Kunstharz
Ihre Erkundungen haben Elsa und Samuel gezeigt, wie vielfältig,
vieldeutig und besonders Mülheim als Wohnort ist. Ein Stadtteil in
Bewegung, mit vielen zeitgleichen Veränderungen. Dennoch sind
die Tänzer*innen auch an die Grenzen ihres Vorhabens gestoßen:
Natürlich macht nicht jeder seine Wohnung zur Residenz. Wohnen
ist Privatsache und findet hauptsächlich im Verborgenen statt. Ein
häufig genutzter Baustoff für Möbel ist Pressspan, also Spanplatten
aus Holzspänen. Deshalb heißt das Stück auch wie dieser Möbelbaustoff.
In Mülheim ist er überall zu haben, liegt wortwörtlich auf der
Straße. So konnte das Bühnenbild für Pressspan fast ohne Materialkosten
entstehen.
Die Fundstücke aus Holz und Kunstharz mit einem unverwechselbar
muffigen Geruch erhielten für die Performance geometrische
Formen, die an das Legespiel Tangram erinnern. Samuel hat Pressspan
schätzen gelernt, die einfache Lösung, die unterschiedlichen
Gewichte, die schier unbegrenzte Verfügbarkeit. Zu Beginn des
Tanzstücks balanciert Elsa liegend auf einem Stapel Pressspan. Dann
legt sie mit den Pressspan-Stücken ein unendliches Tangram auf dem
Tanzboden, baut Grundrisse von Zimmern und Wohnungen. Dann
wieder entsteht aus Pressspan ein Tangram-Weg, den die Tänzer*innen
legen, während sie sich Fragen zum Wohnen in Mülheim stellen:
Kannst Du Mülheim jederzeit verlassen? Haben deine Nachbar*innen
Angst vor dir? Hast du in den letzten Jahren begonnen, für Übernachtungen
in deiner Wohnung Geld anzunehmen? Macht dich der
Wohlstand anderer Leute wütend? Jede neue Antwort liegt wie eine
Platte aus Pressspan auf dem Boden. Eine Strecke entsteht. Wohin?
Diese Frage beantworten die Performer*innen nicht. Sie ist an ganz
Mülheim gerichtet.
Elsa Artmann und Samuel Duvoisin haben das Tanzstück Pressspan
entwickelt, produziert und choreografiert. Mit ihnen getanzt haben
Anne-Lene Nöldner (Antwerpen) und Diana Treder Köln. Maren
Zimmermann war verantwortlich für die Dramaturgie. Ale Bachlechner
(Köln) begleitete sie als Videokünstlerin, Georg Stein unterstützte
sie mit der Verarbeitung von Pressspan. Mehrere öffentliche
Einrichtungen haben das Konzept und seine Aufführung gefördert:
Das Team freut sich über Anfragen nach Gastspielen an artmann.
duvoisin@gmail.com. Den Postkartenroman „Pressspan“ kann man
dort ebenfalls bestellen. »
www.muelheimia.koeln/pressspan
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