ZEIT - Pro Scientia
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Fazit ist, dass beide Theorien enorm zum Verständnis<br />
unseres Universums und dessen kleinsten Bauteilen, den<br />
Atomen bzw. Elementarteilchen (Leptonen und Quarks),<br />
beigetragen haben. Was dafür in Kauf genommen<br />
werden musste, war der Abschied vom Begriff einer so<br />
genannten absoluten Zeit oder eines absoluten Raums<br />
im klassischen bzw. Kant’schen Sinne der<br />
Vernunftkategorien [7]. Kurz gesagt: Die Welt ist verrückter<br />
als wir meinen.<br />
Um die Verwirrung über den Begriff der Zeit zu<br />
perfektionieren, lässt sich im zen-buddhistischen Sinne<br />
sagen, dass Zeit an sich eine Illusion ist. Das einzige, was<br />
relevant ist, ist der Moment, der Augenblick, der Zeit-<br />
„Punkt“, die Gegenwart. [8] Die Vergangenheit wird nie<br />
wieder kommen, die Zukunft wird nie eintreten. Und<br />
unsere gesamte physikalische Realität existiert nur im<br />
Jetzt.<br />
Trotzdem brauchen wir – bevor wir ganz im Nirwana<br />
verschwinden – die Zeit als Konzept um ein Maß für die<br />
Abfolge von Ereignissen und der Kausalität zu besitzen.<br />
Obwohl wir nicht sagen können, warum die Zeit „dahin<br />
fließt“, sie tut es dennoch – so wie die Uhren in Salvador<br />
Dali’s berühmtem Gemälde „The Persistence of Memory“<br />
(1931) dahin fließen.<br />
In der Physik spricht man von einem „Zeitpfeil“ um<br />
anzudeuten in welche „Richtung“ die Zeit eigentlich<br />
„fließt“. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den 3<br />
räumlichen Dimensionen und der Zeit ist, dass man in der<br />
Zeit (bislang) nicht beliebig hin und her reisen kann. Um<br />
diesen Zeitpfeil exakt zu bestimmen, betrachten wir einen<br />
fundamentalen Begriff der Thermodynamik etwas näher:<br />
Die Entropie, das Maß der Unordnung.<br />
„The Persistence of Memory“ [aus A2]<br />
Die Entropie und der Verlauf der Zeit<br />
Ein abgeschlossenes System geht stets irreversibel vom<br />
Zustand höherer Ordnung zum Zustand niedrigerer<br />
Ordnung über. Und zwar deshalb, weil der Zustand<br />
niedrigerer Ordnung sehr viel wahrscheinlicher ist als<br />
derjenige höherer Ordnung. Das Maß der Unordnung, die<br />
Entropie, bleibt entweder konstant oder nimmt zu. Das<br />
ist die Kernaussage des Zweiten Hauptsatzes der<br />
Thermodynamik.<br />
Zur Veranschaulichung betrachten wir das System<br />
„Kartenhaus“. Ein mehrstöckiges Kartenhaus zeichnet sich<br />
durch hohe Ordnung aus, d. h. ein exakter<br />
Informationsgehalt über die Position und den Winkel einer<br />
jeden Karte ist bekannt. (Selbstverständlich nehmen wir<br />
an, dass das Gebilde zuvor von einem mehr oder weniger<br />
intelligenten und geschickten Wesen konstruiert wurde.)<br />
Nun ist jener Zustand physikalisch sehr instabil und es ist<br />
Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />
Zeit und Evolution<br />
23<br />
sehr wahrscheinlich, dass die Karten früher oder später<br />
(aufgrund einer minimalen Störung) durch die Gegend<br />
fliegen, bis sie total zerstreut auf dem Tisch oder Boden<br />
landen und dort liegen bleiben. In der physikalischen<br />
Welt existieren ab -273,15°C (dem absoluten Nullpunkt)<br />
immer und überall „Störungen“ – und diese sind das, was<br />
wir als Temperatur bezeichnen: Je mehr Teilchengewusel<br />
es gibt, desto wärmer ist es. (Exakter formuliert: Die<br />
Temperatur steigt aufgrund der Zunahme der mittleren<br />
kinetischen Energie der Teilchen eines Systems an.)<br />
Genau so gut lassen sich ganz alltägliche Systeme wie<br />
„Schreibtisch“ oder „Kleiderschrank“ oder „Frisur“ oder<br />
„Gemüsesuppe“ etc. beschreiben. Ohne einen Input an<br />
Energie und/oder Information neigt sich ein System dem<br />
Zustand maximaler Unordnung zu. Denn es gibt weit<br />
mehr Zustände in Unordnung als Zustände mit hohem<br />
Informationsgehalt und damit höherer Ordnung.<br />
Und somit ist auch schon der Zeitpfeil definiert: Eine<br />
Abfolge von Ereignissen in einem System ordnet sich<br />
nach steigender Wahrscheinlichkeit seiner Zustände –<br />
vom geordneteren zum ungeordneteren. Zum Beispiel:<br />
System „Wohlstrukturierte Tafel Schokolade“ �<br />
„Geschmolzener Schokomatsch“. Oder: Eine Tasse, die<br />
auf dem Boden zerschellt, verläuft in einem exakt<br />
gerichteten <strong>Pro</strong>zess, vom geordneten System „ganze<br />
Tasse“ zum chaotischen Zustand „Scherben überall“. Die<br />
andere Richtung ist physikalisch nicht erlaubt und wird<br />
in unserer Alltagswelt prinzipiell nicht beobachtet. [9]<br />
Bedacht sei jedoch, dass wir von abgeschlossenen<br />
Systemen ausgegangen sind, bei denen also kein<br />
Informations- oder Energieaustausch mit äußeren<br />
Einflüssen stattfindet. (D. h. durch ein wenig geschickt<br />
und überlegt angewandte Energie und mit einem guten<br />
Kleber lässt sich die Tasse aus den Scherben wieder<br />
restaurieren.)<br />
Allgemein sagt man: Die Entropie des Universums als<br />
Gesamtsystem nimmt ständig zu. [10] (Getrost lässt sich<br />
sagen, wir brauchen uns nicht sonderlich zu wundern,<br />
warum unser Schreibtisch, unser Zimmer, unsere<br />
Gesellschaft, ja die gesamte Welt zunehmend im Chaos<br />
versinken…) Nun stellt sich die Frage, ob es in der Natur<br />
prinzipiell unmöglich ist, dass sich geordnete, ja<br />
hochkomplexe und reproduzierbare Strukturen<br />
entwickeln. Und die Antwort, nämlich ein<br />
Gegenargument, gibt uns die Natur selbst: Das<br />
Phänomen Leben. Die Existenz von Organismen – sowie<br />
unsereiner – basiert auf „toter“ Materie. Diese wurde<br />
ganzheitlich verflochten und vielschichtig miteinander<br />
vernetzt zu hoch-komplexen Strukturen angeordnet. Und<br />
das geschah alles „im Laufe der Zeit“.<br />
Was ist Leben?<br />
Diese Frage stellte sich auch der Mitbegründer der<br />
Quantenmechanik, der österreichische Nobelpreisträger<br />
Erwin Schrödinger (1887-1961). Seine Überlegungen<br />
legten das Grundkonzept für die Erforschung des Lebens<br />
auf molekularer Basis. Francis Crick (1917-2004), der<br />
gemeinsam mit James Watson (*1928) die Struktur der<br />
DNA entdeckte, bezeichnete Schrödingers Gedanken<br />
als maßgeblich für seine Entdeckung des molekularen<br />
Trägers der Erbinformation. [11]<br />
Schrödingers Bemühen das Leben auf rein chemische<br />
und physikalische Gesetze zurückzuführen ist<br />
charakteristisch für die wissenschaftliche Forschung und<br />
Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts. „Alles Leben<br />
ist Chemie“ soll bereits der französische Naturforscher<br />
Antoine Lavoisier (1743-1794) gewusst haben. Ein<br />
Physiker würde sagen: „Alle Chemie ist Physik“. Können<br />
wir nun aber zum logischen Schluss kommen „Alles Leben<br />
ist Physik“? Letzten Endes müssen alle „biologischen