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ZEIT - Pro Scientia

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<strong>ZEIT</strong><br />

Reader zur<br />

Sommerakademie 2008<br />

in Matrei am Brenner


Cover: Iris Aue und Esther Strauss


<strong>ZEIT</strong> IN DER TECHNIK: MESSUNG UND SIMULATION<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Borislav Tadic: Alternative Konzepte der Zeitmessung 6<br />

Harald Paulitsch: Time in Time-Triggered Real-Time Computer Systems 11<br />

NATURWISSENSCHAFT UND MEDIZIN: ERDGESCHICHTE, EVOLUTION, LEBENS<strong>ZEIT</strong><br />

Karolina Harasztos: Zeit in der Erdgeschichte 16<br />

Dominic Zöhrer: Zeit und Evolution - Was ist Leben? 22<br />

Peter Siska: Altern aus biologischer Sicht 27<br />

<strong>ZEIT</strong> IN THEOLOGIE UND PHILOSOPHIE: VON DER ALLTÄGLICHKEIT ZUR APOKALYPSE<br />

Katharina Zimmerbauer: Die Entdeckung der Alltäglichkeit.<br />

Das Phänomen der Zeit in der Theologie Karl Rahners 34<br />

Esther Jauk: Ist unsere Zeit irreal? 38<br />

McTaggarts Argumente, Einwände und Erwiderungen<br />

Martin Dürnberger: Leguane, Schachspieler, Bundeskanzler<br />

Zu einigen <strong>Pro</strong>blemen von Gottes Verhältnis zur Zeit 44<br />

Stefan Rois: Gewordenheit und Geltung.Oder: Die Zeit heilt alle Wunder.<br />

Oder: Blitzlicht auf Nietzsches „Zur Genealogie der Moral“ 50<br />

Karin Peter: Ein ‚Bruch’ in der Zeit“<br />

Annäherung an Bedeutung und Funktion apokalyptischer Vorstellungen 56<br />

MEDIALE <strong>ZEIT</strong>(EN)<br />

Clemens Tonsern: Ein Held unserer Zeit<br />

Über die Zeitlosigkeit eines Unzeitgemäßen in der russischen Literaturgeschichte 64<br />

Petre Puskasu: Reinterpretation der Zeitgeschichte als politischer Sprengstoff im Kino:<br />

Der Fall Octobre (1994) 68<br />

Niku Dorostkar, Alexander Preisinger : Zeitungsforen und Forenzeit 75<br />

<strong>ZEIT</strong> IN GESELLSCHAFT<br />

Karin Rainer: Zeit als Spende<br />

Grundlagen, Hintergründe und Motivation für Freiwilligenarbeit heute 86<br />

Paula Aschauer: Geraubte Zeit? Schubhaft im Lichte der Menschenrechte 91<br />

David Wineroither: Was fängt die Demokratie mit der Zeit an?<br />

Überlegungen zu Repräsentation und “political leadership” 96<br />

<strong>ZEIT</strong> GESCHICHTE<br />

Roland BERNHARD: Antihispanismus gestern und heute -<br />

Die „Schwarze Legende” seit Beginn der Neuzeit bis zu „Zeitbilder 2000" 102<br />

Maximilian Lakitsch: Die Kolonialzeit als zentrale Achse des politischen Islam 109<br />

3


Zeit in der Technik:<br />

Messung und Simulation


Borislav Tadic<br />

„Wir sehen uns beim Fußballstadion um 300 NET Grad“<br />

oder „Ich komme aus München in 1500 .beats zurück“.<br />

Klingt verwirrend?<br />

Die Menschen haben keinen Sinn für Zeit. Alle Arten, die<br />

Zeit zu messen, sind daher völlig arbiträr. Albert Einstein<br />

sagte: „Zeit ist das, was man an der Uhr abliest“. Sie ist<br />

ein kulturelles Konstrukt, wobei ein Ereignis mit einer Reihe<br />

von Zahlen assoziiert werden kann. Websters Lexikon<br />

definiert die Zeit als „der Zeitraum zwischen zwei<br />

Terminen oder während dem etwas vorhanden ist,<br />

passiert oder Handlungen; gemessenes oder messbares<br />

Intervall“.<br />

Alle, sogar die primitiven Kulturen, haben das natürliche<br />

und inkrementierende Konzept von einem Zyklus, der aus<br />

dem Tag als die Periode des Sonnenlichts und der Nacht<br />

besteht, angenommen. Wir sind an das mehr als 5000<br />

Jahre alte, sexagesimale Zeitmessungssystem mit 24<br />

Stunden, 60 Minuten pro Stunde und 60 Sekunden pro<br />

Minute ganz gut gewöhnt. Obwohl ein Tag 86400<br />

Sekunden hat und diese Basiseinheit offiziell als<br />

9192631770 Schwingungen eines Cäsium-133-Atom in<br />

einer Atomuhr definiert ist.<br />

Die Zeitmessungssystementwicklung ist aus historischer<br />

Perspektive und im Hinblick auf die Geschwindigkeit der<br />

Veränderungen seit der Neuzeit bemerkenswert. Dieser<br />

Text stellt fünf alte und neue, nichtsexagesimalen<br />

Alternativen zum gängigen Konzept der Zeitmessung<br />

vor.<br />

Alternativen Zeitmessungssystemen in der Geschichte<br />

Die Geschichte kennt viele Alternativen zu dem<br />

sexagesimalen Zeitmessungssystem. Einige wurden für<br />

Jahrhunderte verwendet, wie das duodezimale System<br />

in China, anderen wie in Frankreich und Thailand nur für<br />

einige Jahre. Sie beeinflussten die modernen Gedanken<br />

über die Zeitmessung und werden informell teilweise<br />

noch heute verwendet: Chinesische Duodezimalzeit,<br />

Französische Dezimalzeit und Thai 6-Stunden Zeit.<br />

Chinesische Duodezimalzeit<br />

In China wurde seit dreitausend Jahren die Dezimalzeit<br />

verwendet, oft parallel zur duodezimalen Zeitmessung.<br />

Ein Tag wurde in 100 Ke Untereinheiten und 12 Shi<br />

Doppelstunden unterteilt. Die beiden Systeme<br />

unterscheiden sich von der Standardzeitberechung stark<br />

und sind außerhalb Asiens wenig bekannt.<br />

Zeit in der Technik<br />

Alternative Konzepte der Zeitmessung<br />

Die Dezimalzeit ist ein wichtiges Teil der chinesischen<br />

Geschichte. Über Jahrtausende haben Chinesen<br />

Dezimalzeit neben der sexagesimalen Zeit verwendet.<br />

Die Einheit “Ke” teilte einen Tag in 100 gleich lange<br />

Intervalle von 14,4 Minuten, d.h. 14 Minuten und 24<br />

Sekunden. Diese Einheit entstand aus der Verwendung<br />

einer Wasseruhr. Ein kleines Loch ermöglichte es Wasser<br />

aus dem Boden eines Topfs abzufließen und die Zeit<br />

wurde mittels Markierungen auf einem vertikal<br />

schwimmenden Stock gemessen. Der Stock wurde in der<br />

gleichen Weise wie ein gewöhnliches Lineal unterteilt -<br />

10 cun je 10 fen, was 100 Einheiten ergibt. Ke wörtlich<br />

übersetzt heißt “ätzen/radieren” oder “schneiden” und<br />

es ist der Teil des Substantivs Kedu, der sich auf drei<br />

Etagen-Markierungen auf den Messgeräten bezieht.<br />

Es hat verschiedene Versuche gegeben, das Ke-System<br />

so anzupassen, dass es mit einem 12-Stunden System<br />

kompatibel ist. Die 100 Einheiten wurden aus diesem<br />

Grund durch 96, 108 oder 120 ersetzt. Es waren Jesuiten-<br />

Missionare, die nach Ihrer Ankunft in China, im Jahr 1670<br />

die Dauer eines “Ke” schließlich mit dem<br />

Sechsundneunzigstel eines Tages oder genau einem<br />

Viertel der westlichen Stunde definierten. Obwohl das<br />

Dezimalsystem noch in 19. Jahrhundert endgültig<br />

abgeschafft wurde, ist “Ke” noch heute der chinesische,<br />

auf einer Viertelstunde bezogenen Begriff.<br />

Das Doppelstundenprinzip unterteilt den 24-Stunden-Tag<br />

in 12 gleich große Einheiten. Jede dieser Doppelstunden<br />

hatte den Namen einer der “12 irdischen Zweige”<br />

(Sternzeichen in der chinesischen Astrologie). Die Begriffe<br />

gehen auf vermutlich bis auf das Jahr 1700 vor Christus<br />

zurück. Sie bilden auch einen Teil der Namen der Tage<br />

und Jahre. Die erste Stunde, Zi-Stunde fängt um 23 Uhr<br />

des vorigen Tages an und endet um 1 Uhr. Zum Beispiel<br />

Exekutionen von zum Tod verurteilten Gefangenen,<br />

wurden um die Stunde “Wu” (Pferd), d.h. Mittag<br />

durchgeführt. Diese Einteilung des Tages wurde in der<br />

Kalenderreform im Jahr 104 vor Christus standardisiert.<br />

Die Tabelle 1 im Anhang zeigt die Namen und die<br />

Bedeutungen der Stunden.<br />

Französische Dezimalzeit<br />

Alternative Konzepte der Zeitmessung<br />

6<br />

In einer kurzen Periode seiner<br />

Geschichte, hatte Frankreich ein<br />

dezimales System für die Zeitmessung<br />

in offiziellen Gebrauch, gemeinsam<br />

mit dem französischen republikanischen<br />

Kalender, der den Monat in<br />

drei décade von 10 Tagen teilte. Im<br />

Dekret vom 5. Oktober 1793 führten<br />

die französischen revolutionären<br />

Behörden die Dezimalzeit ein. Das Dekret beinhaltete<br />

folgende Konstruktion: „Der Tag, von Mitternacht bis<br />

Mitternacht, wurde in zehn Teile oder Stunden geteilt,<br />

jeder Teil in zehn andere, bis die kleinste messbare Einheit<br />

erreicht ist. Das Hundertste einer Stunde soll<br />

Dezimalminute genannt werden. Das Hundertste einer<br />

Minute soll Dezimalsekunde genannt werden“. Ein Tag<br />

hat 100.000 dezimale Sekunden. Eine Dezimalstunde ist<br />

2,4, d.h. 2 Stunden und 24 Minuten lang und eine<br />

„normale“ Stunde ist 4.166,67 Dezimalsekunden ggf. 41<br />

Dezimalminuten und 67 Dezimalsekunden. Damalige<br />

Uhren wurden mit Ziffern 1 bis 10 nummeriert: der kleine<br />

Uhrzeiger zeigte um Mitternacht auf 10 und um Mittag<br />

auf 5 Uhr.


Einer der stärksten Befürworter der Dezimalzeit war der<br />

Mathematiker Pierre-Simon Laplace - er war begeistert<br />

von der Idee und kaufte sich sogar die neue Uhr mit 10<br />

Stunden. Anderen Wissenschaftler dieser Epoche waren<br />

weniger begeistert: Motive hierfür waren ein als unnötig<br />

empfundener Systemwechsel und das vermutete<br />

Vorantreiben der Säkularisierung im revolutionären<br />

Frankreich durch den Bruch mit den alten (auch kirchlich<br />

tradierten) Messsystemen.<br />

Das System war zwar eine logische Vereinfachung der<br />

Zeitmessung, aber die Gewohnheiten der Bevölkerung<br />

waren schwer zu ändern. Zusätzlich war das neue System<br />

schlecht für den französischen Export - die neuen „10<br />

Stunden-Uhren“ ließen sich nicht außerhalb Frankreichs<br />

verkaufen.<br />

Obwohl dieses System schon im April 1795 abgeschafft<br />

wurde, vertreten viele französische Wissenschaftler noch<br />

heute die Ansicht, dass Frankreich und die ganze Welt,<br />

neue, rationellere Formen der Zeitmessung akzeptieren<br />

sollten.<br />

Zeit in der Technik<br />

Schon im Jahr 1897 versuchten die Franzosen ein<br />

weiteres Mal, die Zeitmessung auf ein Dezimalsystem<br />

umzustellen. So wurde eine Kommission für die<br />

Dezimalisierung gegründet, mit dem Mathematiker Jules<br />

Henry Poincaré als Sekretär. Der Kommission schlug einen<br />

Kompromiss über die Beibehaltung der 24-Stunden-Tag,<br />

geteilt in jeder Stunde 100 dezimal Minuten und jede<br />

Minute in 100 Sekunden vor. Der Plan musste jedoch im<br />

Jahr 1900 mangels öffentlicher Unterstützung<br />

aufgegeben werden. Noch in heute basieren viele<br />

Reformvorschläge für die Zeitmessung auf der<br />

französischen Dezimalzeit.<br />

Thai 6-Stunden Zeit<br />

Die sechs Stunden Zeit ist ein in ländlichen Teilen und in<br />

der umgangssprachlichen Rede des Thailands<br />

verwendetes Zeitmessungssystem. Parallel zur 12/24-<br />

Stunden-Uhr verwenden die Thai eine 6-Stunden Zeit, die<br />

ihre Wurzeln im mittelalterlichen Königreich Ayutthaya<br />

hat. Sie ist in ihrer aktuellen Form im Jahr 1901 durch eine<br />

Verordnung des Königs Chulalongkorn geschaffen<br />

worden.<br />

So wird der Tag in vier gleiche Teile geteilt, wobei jeder<br />

Teil aus sechs Stunden zu 60 Minuten besteht. Die<br />

Bewohner Thailands haben dadurch zusätzliche<br />

Ausdrücke für die Nacht, den Morgen, den Nachmittag<br />

und den Abend. Alle Stundennamen sind in der Tabelle<br />

2 (im Anhang) angeführt.<br />

Die thailändischen Zeitangaben sind mit Vorsicht zu<br />

genießen. Die österreichische Zeitvorstellung teilt die 24<br />

Stunden in zwei Blöcke. Umgangssprachlich gibt es hier<br />

somit z.B. zweimal 4 Uhr – einmal morgens, einmal<br />

nachmittags um 16 Uhr. Da die Thais den Tag in 4 Blöcke<br />

strukturieren, haben sie viermal 5 Uhr. Die einfache<br />

Vereinbarung für “4 Uhr” kann daher bedeuten 4, 10, 16<br />

oder 22 Uhr.<br />

Moderne Zeitmessungssystemen<br />

Alternative Konzepte der Zeitmessung<br />

7<br />

Der rapide Technologiewandel und ein „schnelles<br />

Leben“, die unser etabliertes Zeitmessungssystem als<br />

unpräzise erscheinen lassen, haben neuerlich<br />

Diskussionen über eine Zeitmessungsystemreform<br />

entfacht.<br />

Das Cyberspace, die Wirtschaft, die Bereiche<br />

Ausbildung und Sport – sie alle brauchen ein einfacheres<br />

und der Zeit angepasstes System. Die bekannteste<br />

Initiative hierzu geht u.a. auf die Unternehmen Swatch<br />

und Degree NET zurück und hat zur Swatch Internetzeit<br />

und zur Neuen Erdzeit geführt.


Swatch Internetzeit<br />

Die Swatch Internetzeit ist ein alternatives Konzept der<br />

Zeitmessung, entwickelt vom Unternehmen Swatch,<br />

einem Schweizer Uhrenkonzern mit Sitz in Biel, der unter<br />

dem gleichen Markennamen eine allseits bekannte Uhr<br />

vertreibt. Sie wurde am 23. Oktober 1998 in einer<br />

Zeremonie während des Junior Gipfels von Nicolas<br />

Hayek, Präsident und CEO der Swatch Group, und<br />

Nicholas Negroponte, Gründer und damaligen Direktor<br />

des MIT Media Lab, erstmals präsentiert. Internetzeit<br />

wurde gleich zur offiziellen Zeit des Online-Landes<br />

Nation1, errichtet und betrieben von Kindern aus der<br />

ganzen Welt. Zur offiziellen virtuellen <strong>Pro</strong>moterin wurde<br />

die Computerfigur Lara Croft, Heldin des Spieles Tomb<br />

Raider ernannt.<br />

Die Swatch Internetzeit bringt eine wesentliche<br />

Änderung im Vergleich zu bestehenden<br />

Zeitmessungskonzepten. Anstatt den Tag wie üblich in<br />

24 Stunden à 60 Minuten à 60 Sekunden zu unterteilen,<br />

wird der Tag in 1000 Einheiten, so genannte .beats<br />

eingeteilt. Ein .beat dauert 0,024 Stunden oder eine<br />

Minute und 26,4 Sekunden oder 86,4 Sekunden. Auch<br />

die Notation sieht ganz anders aus: So wird die Zeit durch<br />

ein @-Symbol und einen Wert zwischen 0 und 999 notiert.<br />

Die Swatch Internetzeit wird nicht in unterschiedlichen<br />

Zeitzonen gemessen – sie ist weltweit gleich. Swatch ist<br />

sogar so weit gegangen, einen neuen Meridian, Biel<br />

Mean Time oder BMT, der durch den Firmensitz des<br />

Unternehmens verläuft, zu erklären. Lokale Zeit wird als<br />

ein Zeitabstand von BMT berechnet. Die Swatch<br />

Internetzeit kennt auch keine Umstellung zur Sommerzeit.<br />

Wie sieht es in der Praxis aus? Zeit @000 ist gleich<br />

Mitternacht und @500 Mittag nach mitteleuropäischer<br />

Winterzeit (UTC+1). Die Zeit @248 bedeutet: 248<br />

„Schläge“ nach Mitternacht und wird auf den Uhren in<br />

z.B. Wien, Tokio und New York gleich gezeigt. Swatch<br />

hat kleinere Einheiten als ein Beat nicht festgelegt. Es<br />

gibt aber Drittimplementierungen, die die Swatch-Norm<br />

durch Hinfügung von “centibeats” oder “sub-beats” als<br />

Dezimalbruch für die bessere Präzision erweitern (z.B.<br />

@248,35).<br />

Die einfache Kalkulation zwischen normalen und Swatch<br />

Zeitsystemen sieht wie folgt aus:<br />

@875 = 875 / 1000 .beats = 0,875 x 24 Stunden = 21:00<br />

BMT = 21:00 UTC+1 (Wien)<br />

21:15 UTC+1 = 21,25 / 24 Stunden = 0,885 x 1000 .beats =<br />

@885<br />

Für Swatch Internet-Zeit gibt es viele <strong>Pro</strong> und Contra<br />

Argumente.<br />

Für die <strong>Pro</strong>-Gruppe, am lautesten treten jene auf, die<br />

von der Universalität des Konzept begeistert sind: keine<br />

Zeitzonen, keine geografische Unterschiede und keine<br />

Sommer/Winterzeit Umstellung. Die Zeit kann einfacher<br />

gelesen werden und auch Kalkulationen werden in<br />

.beats Einheiten deutlich einfacher. Es ist leichter zu<br />

sagen dass man sich nach @5500 trifft als nach 132<br />

Stunden (oder fünfeinhalb Tagen), oder dass man zur<br />

aktuellen Zeit 3:45:20 schnell 9 Stunden, 27 Minuten und<br />

42 Sekunden addiert. Die Zentraleuropäer sind auch<br />

zufrieden, weil die Zeit auf Mitteleuropäische Zeit (MEZ)<br />

kalibriert ist und daher für sie auch am “natürlichsten”<br />

ist.<br />

Zeit in der Technik<br />

Alternative Konzepte der Zeitmessung<br />

8<br />

Aber auch Gegenargumente, gibt es viele. Die<br />

komplizierte Umrechnung in die „Normalzeit“, ein neuer<br />

Startmeridian, warum die Unterteilung nicht gleich Miliday<br />

anstelle von .beat genannt wurde oder die mangelnde<br />

Unterstützung durch das Internationale Einheitensystem<br />

sind Beispiele hierfür.<br />

Auch der Datumwechsel wird diskutiert, weil für<br />

jemanden aus z.B. Washington nicht so logisch ist, sich<br />

@000 also um Mitternacht BMT (18 Uhr in Washington)<br />

umzustellen.<br />

Die Swatch Internetzeit wird oft mit der Koordinierten<br />

Weltzeit (UTC), der tatsächlichen Zeitrechnung im Internet<br />

oder mit dem Network Time <strong>Pro</strong>tocol (NTP), über das im<br />

Internet die Rechner-Uhren gestellt werden, verwechselt.<br />

Die wichtigsten Anwendungen befinden sich natürlich<br />

im Bereich der Uhrherstellung; Swatch produzierte 17<br />

digitale Armbanduhrmodelle, die in mehr als 1 Million<br />

Exemplaren verkauft wurden. Für Microsoft Windows und<br />

Linux gibt es kostenlose Werkzeuge zum Messen der<br />

Internetzeit, und Anwendungen wie GNOME, ICQ oder<br />

PHP haben sie auch integriert, einige Multispieler- und<br />

Online-Spiele wie Phantasy Star Online für Sega<br />

Dreamcast ebenso.<br />

Die Websites von CNN und Apple, und viele andere<br />

haben die Swatch Internetzeit nur in den ersten Monaten<br />

nach der <strong>Pro</strong>motion verwendet. Auch der<br />

Handyhersteller Ericsson hat lediglich das Modell T20 mit<br />

der eingebauten Swatch Internetzeit geliefert.<br />

Heute ist die Verwendung dieses Systems aber sehr selten<br />

und in der Öffentlichkeit fast nicht mehr bemerkbar. Als<br />

Grund hierfür gilt, neben den genannten Vor- und<br />

Nachteilen in der Sache, ein als zu aggressiv<br />

empfundenes Marketing, eine restriktive Handhabung<br />

des Urheberrechts seitens Swatch sowie die aufwändige<br />

Umstellungs- und Anpassungsprozedur.


Mehr Informationen über die Internetzeit könnten auf der<br />

Swatch Webseite [LSwatch] gefunden werden.<br />

Neue Erdezeit<br />

Neue Erdezeit, New Earth Time oder NET ist ein<br />

vorgeschlagener globaler Standard oder Internet Zeit,<br />

die den globalen Tag in 360 Grad dividiert. NET wurde<br />

am 15. September 1999. erfunden. Die Rechte auf den<br />

Namen New Earth Time und der Slogan “360 Grad der<br />

Zeit” sind im Besitz von Degree NET, die Neuseelandische<br />

Firma mit dem Sitz in Auckland. Offizielles Marketing<br />

Kampagne hat den folgenden Schlagsatz promoviert:<br />

„NET läuft neben Ihrer lokalen Zeit. Jetzt können Sie lokal<br />

in eigener Zeit und weltweit mit der Neuen Erdzeit<br />

handeln“.<br />

Neue Erdzeit ist weltweit gleich. Es ist 170° NET in Rio de<br />

Janeiro, New Delhi und Berlin. Der NET-Tag (0°) beginnt<br />

auf geographische Länge 0° in Greenwich, England. Dies<br />

ist voll kompatibel mit der Greenwich Mean Time,<br />

Universal Time und unseren bestehenden Kalender. 12:00<br />

UTC ist 180° NET. NET ist ein System 360/60/60: ein Tag teilt<br />

sich auf 360 Grad, 60 NET-Minuten und 60 NET-Sekunden.<br />

Die NET-Minuten und Sekunden dürfen mit „normalen“<br />

Minuten und Sekunden nicht verwechselt werden.<br />

Stundenzeiger auf dem NET Uhr um Mittag zeigt nach<br />

unten, ein genauer 180 °-Winkel gemessen von der Spitze<br />

(Mitternacht). Vollkreis ist 360° und ein NET-Tag. Jeder NET<br />

Grad ist genau 4 „normalen“ Minuten lang. Es gibt genau<br />

15 Grad zu jeder vollen Stunde.<br />

Wenn man die aktuelle Zeit aus dem NET-System in die<br />

normale Zeit und umgekehrt umrechnen will, tut man<br />

folgendes:<br />

300° 00‘ 00“ = 300,00 / 15 = 20:00 UTC = 21:00 UTC+1 (Wien)<br />

21:15 UTC+1 = 20:15 UTC = 20,25 * 15 = 303,75 = 303° 45‘<br />

00“<br />

Tabelle 1<br />

Standard Uhrzeit Doppelstunden Uhrzeit Assoziertes Tier Assozierte Richtung<br />

23 – 1 Uhr zi (tzu) Rate N<br />

1 – 3 chou Rind NNO<br />

3 – 5 yin Tiger ONO<br />

5 – 7 mao Hase O<br />

7 – 9 chen Drache OSO<br />

9 – 11 si (szu) Schlange SSO<br />

11 – 13 wu Pferd S<br />

1 – 3 wei Schaf SSW<br />

3 – 5 shen Affe WSW<br />

5 – 7 you Huhn W<br />

7 – 9 xu (hsü) Hund WNW<br />

9 – 11 hai Schwein NNW<br />

Zeit in der Technik<br />

Neue Erdzeit ist universal, zirkular, wiederholbar, natürlich<br />

und teilbar, genau wie Standardzeit. Es bietet kleinere<br />

Einheiten als Standardzeit. Einige Sportschiedsrichter<br />

haben schon die Vorteile der NET Sekunde erkannt - 1/<br />

15 der „normalen“ Sekunde könnte z.B. bei der<br />

olympischen Zeitmessung eine wichtige Rolle spielen.<br />

Ein symbolischer positiver Aspekt wäre die Vereinigung<br />

der letzten zwei nicht dezimalen Systemen,<br />

sexagesimalen Grade der Bogen und Zeiteinheiten. Die<br />

Gegner sind auch vereinigt wenn es um die Kritik geht.<br />

Neue Erdzeit bringt viel kompliziertere und verwirrendere<br />

Berechnungen und die Begriffverwirrung, wenn man die<br />

normale und NET Minuten und Sekunden in Gespräch<br />

verwendet. Das Hauptargument der Gegner des<br />

Standards ist die niedrige Akzeptanz – es gibt praktisch<br />

kein Anwendungsbeispiel. Obwohl 24-Stunden Uhren<br />

nicht so selten sind, die Hersteller der Uhren haben keine<br />

NET Uhr auf den Markt gebracht, und außer einigen<br />

Softwareuhren, die auf dem PC und Macintosh laufen,<br />

gibt es überhaupt keine NET Anwendungen im realen<br />

Leben zu sehen.<br />

Die NET Erklärung und Philosophie ist unter der Webseite<br />

des Besitzers [LNET] verfügbar.<br />

Fazit<br />

Menschen nehmen die Änderungen schwer und<br />

langsam an, insbesonders wenn es sich um so eine große<br />

und aufwändige Anpassung wie die Anpassung des<br />

Zeitmessungssystems handelt. Obwohl französische<br />

Dezimalzeit, Swatch Internetzeit und Neue Erdezeit<br />

vielleicht einen Schritt in diese Richtung bedeuten,<br />

haben sie sich nicht durchgesetzt. Es ist ein Faktum, dass<br />

das sexagesimales System der Zeitmessung nicht<br />

logischer als die hier beschriebenen Alternativen ist.<br />

Unabhängig davon, welche Vorteile ein neues,<br />

nichtsexagesimales System bringt, ein Unternehmen<br />

oder ein Staat kann es allein nicht durchsetzen. Nur eine<br />

koordinierte, offizielle und internationale Initiative kann<br />

ein neues, dem drittem Millennium entsprechendes<br />

Zeitmessungssystem zum Leben bringen.<br />

Referenzen<br />

Alternative Konzepte der Zeitmessung<br />

9<br />

[Alder 2002] K. Alder: The measure of all things, Little Brown, 2002<br />

[Carlyle 1867] T. Carlyle: The French Revolution, A History, 1867<br />

[Galiso 2004] P. Galiso: Einstein’s clocks, Poincaré’s maps, W. W. Norton &<br />

Co, 2004<br />

[Dtime 2008] J. O’Connor, E. Robertson: Decimal time and angles, http://<br />

www-groups.dcs.st-and.ac.uk/~history/HistTopics/Decimal_time.html,<br />

heruntergeladen 21.07.2008<br />

[Ftime 2008] O.A.: Dials & Symbols of the French revolution. The Republican<br />

Calendar and Decimal time, http://www.antique-horology.org/_Editorial/<br />

RepublicanCalendar, heruntergeladen 21.07.2008<br />

[HSW 2008] M. Brain: How Time Works, http://science.howstuffworks.com/<br />

time1.htm, heruntergeladen 28.07.2008<br />

[LSwatch] Swatch Webseite: http://swatch.com/at_de/internettime,<br />

heruntergeladen 02.07.2008<br />

[LNET] NET Ltd. Webseite: http://newearthtime.net, heruntergeladen<br />

07.07.2008<br />

[Sizes 2008] O.A.: Chinese day: double hours, http://www.sizes.com/time/<br />

daychinese.htm, heruntergeladen 11.07.2008<br />

[Wtime 2008] O.A.: World Time Zones, An introduction to decimal time,<br />

http://www.world-time-zones.org/cgi-bin/articles/decimal-time.cgi,<br />

heruntergeladen 11.07.2008<br />

[Wikipedia 2008] O.A.: Wikipedia Enzyklopädie in Deutscher, Englischer,<br />

Serbischer und Kroatischer Sprache, http://wikipedia.com, Wikimedia<br />

Foundation, 2008


Tabelle 2<br />

Standard<br />

Uhrzeit<br />

Thai 6-Stunden Uhrzeit Bedeutung<br />

1 ti nueng (Glöckel)Klingel eins<br />

2 ti song Klingel zwei<br />

3 ti sam Klingel drei<br />

4 ti si Klingel vier<br />

5 ti ha Klingel fünf<br />

6 hok mong chao Sechs Gong Töne in der Früh<br />

7 (nueng) mong chao (Ein) Gong Ton am Vormittag<br />

8 song mong chao Zwei Gong Töne am Vormittag<br />

9 sam mong chao Drei Gong Töne am Vormittag<br />

10 si mong chao Vier Gong Töne am Vormittag<br />

11 ha mong chao Fünf Gong Töne am Vormittag<br />

12 thiang wan Mittag<br />

13 bai mong (Ein) Gong Ton am Nachmittag<br />

14 bai song (mong) Zwei Gong Töne am<br />

Nachmittag<br />

15 bai sam (mong) Drei Gong Töne am Nachmittag<br />

16 bai si (mong) Vier Gong Töne am Nachmittag<br />

17 bai ha (mong) Fünf Gong Töne am<br />

Nachmittag<br />

18 hok mong yen Sechs Gong Töne am Abend<br />

19 nueng thum Ein Trommelschlag<br />

20 song thum Zwei Trommelschläge<br />

21 sam thum Drei Trommelschläge<br />

22 si thum Vier Trommelschläge<br />

23 ha thum Fünf Trommelschläge<br />

24 / 0 thiang khuen / song<br />

yaam<br />

Zeit in der Technik<br />

Mitternacht<br />

Borislav Tadic, Bakk.rer.soc.oec; geb. 1982. in Banja Luka, Bosnien-Herzegowina. Im letzten Semester des Masterstudiums<br />

Softwareentwicklung und Wirtschaft an der TU Graz; auch <strong>Pro</strong>jektmitarbeiter/Studienassistent. Arbeitet(e) bei Siemens,<br />

United Nations, IREX, BBC Consulting etc. Autor der ICT-Radiosendungen und des E-Buchs; schrieb für 10 Zeitschriften aus<br />

Zentral- und Südosteuropa. Geförderter von <strong>Pro</strong> <strong>Scientia</strong> und Mitglied des Circle of Excellence in Graz sowie Stipendiat<br />

des Präsidenten der Serbischen Republik. Präsident des Tesla Zentrums.<br />

Alternative Konzepte der Zeitmessung<br />

10


Harald Paulitsch<br />

A real-time computer system is a computer system in<br />

which the correctness of the system behavior depends<br />

not only on the logical results of the computations, but<br />

also on the physical instant at which these results are<br />

produced. In a time-triggered system, all activities are<br />

initiated by the progression of time. There is only one<br />

interrupt in each node of a distributed time-triggered<br />

system, the periodic clock interrupt. In a distributed timetriggered<br />

real-time system, it is assumed that the clocks<br />

of all nodes are synchronized to form a global notion of<br />

time, and that every observation of the controlled object<br />

is timestamped with this synchronized time. In particular,<br />

the message transmissions are triggered by the clock<br />

interrupt based on a schedule determined during system<br />

development, which enables the collision-free message<br />

transmission over shared communication links. (Kopetz,<br />

Real-Time Systems, Design Principles for Distributed<br />

Embedded Applications, 1997)<br />

Introduction<br />

The first section on ‘The atomic definition of the second’<br />

presents how physics grasps time. The second section<br />

‘Time and Order’ discusses the understanding of time and<br />

causality in time-triggered systems and how time is used<br />

to establish order. The third section on ‘State’ points out<br />

that a precise concept of time is a prerequisite for a<br />

precise concept of state. The fourth section on ‘Sparse<br />

Time’ explains how a temporal order among events – as<br />

presented in the second section on ‘Time and Order’ –<br />

can be established as the basis of a time-triggered<br />

system. The last section on ‘International Time Scales’<br />

explains how the international time scales, that is the<br />

International Atomic Time (TAI) and the Coordinated<br />

Universal Time (UTC), realize the atomic definition of the<br />

second.<br />

The atomic definition of the second<br />

In physics, there is no definition on what time actually is.<br />

However, time can be measured precisely (and that is<br />

all what physicists really care about). The basic unit of<br />

time is a second. According to the International System<br />

of Units (SI, from the French name Système international<br />

d’unités), the second is defined to be “the duration of<br />

9,192,631,770 periods of the radiation corresponding to<br />

the transition between the two hyperfine levels of the<br />

ground state of the caesium 133 atom” (Bureau<br />

international des poids et measures. Organisation<br />

intergouvernmentale de la Convention du Metre, 2006).<br />

In 1997, this definition was refined with the addition: “This<br />

definition refers to a caesium atom at rest at a<br />

temperature of 0 K.” The ground state (i.e., lowest possible<br />

energy level of an atom) is defined at zero magnetic<br />

field. In 1967 with the development of the atomic clock<br />

this atomic definition refined the former definition based<br />

on the movement of celestial bodies (Leschiutta, 2005).<br />

Note that 0 K is a theoretical limit and cannot be<br />

achieved. Thus, it is practically impossible to build<br />

perfectly accurate clocks.<br />

Time and Order<br />

In accordance with the laws of classical physics of Isaac<br />

Newton we treat time as an independent variable<br />

extending arbitrarily from the past into the future<br />

assuming that time is absolute and relativistic effects can<br />

be neglected. Thus, the continuum of time can be<br />

modeled by a directed timeline consisting of an infinite<br />

set of instants T that are ordered and dense (Whithrow,<br />

1990): the infinite set of instants T is ordered, since given<br />

Zeit in der Technik<br />

Time in Time-Triggered Real-Time Computer Systems<br />

Time in Time-Triggered Real-Time Computer Systems<br />

11<br />

any two instants p, q, p ‘•q, one precedes the other;<br />

the set T is dense, which means that if p and q are not<br />

the identical instant p ‘•q, there is at least another instant<br />

r, r ‘•p and r ‘•q, between them. This is a recursive<br />

definition, which means that there are actually an infinite<br />

number of instants between any two non-identical<br />

instants. Hence, an instant is a cut in the timeline. The<br />

order of instants on the timeline is called the temporal<br />

order. A section of the timeline is called duration. An<br />

event is a short, relevant happening at an instant of time.<br />

When two events occur at the identical instant, then the<br />

two events are said to occur simultaneously. Instants are<br />

ordered totally, while events are only partially ordered,<br />

since simultaneous events are not in the order relation.<br />

In many applications, the causal dependencies among<br />

events are of interest. Reichenbach (Reichenbach,<br />

1957) defined causality by a mark method without<br />

reference to time: “If event e1 is a cause of event e2,<br />

then a small variation (a mark) in e1 is associated with<br />

small variation in e2, whereas small variations in e2 are<br />

not necessarily associated with small variations in e1.”<br />

Of course, this is not true in case of discontinuities.<br />

From the causal order, the temporal order can be<br />

deducted, but not vice versa. Therefore, the causal<br />

order among events is stronger than their temporal order.<br />

Imagine a technical system where a single fault can<br />

cause several failures, which trigger several alarms. A<br />

temporal order among all alarms helps to restrict the<br />

causal dependencies among these failures, since the<br />

temporal order of events is necessary, but not sufficient,<br />

for their causal order.<br />

A weaker order relation often provided by<br />

communication systems is consistent delivery order. The<br />

communication system guarantees that all events<br />

communicated over the communication medium are<br />

seen in the same order by all receiving nodes. Note that<br />

this order can be different from the sending order.<br />

State<br />

A precise concept of time is a prerequisite for a precise<br />

concept of state. In abstract system theory Mesarovic<br />

introduced the notion of state to separate the past from<br />

the future (Mesarovic & Takahara, 1989): “The state<br />

enables the determination of a future output solely on<br />

the basis of the future input and the state the system is<br />

in. In other word, the state enables a ‘decoupling’ of<br />

the past from the present and future. The state embodies<br />

all past history of a system. Knowing the state ‘supplants’<br />

knowledge of the past. Apparently, for this role to be<br />

meaningful, the notion of past and future must be<br />

relevant for the system considered.”<br />

Sparse Time<br />

A digital clock, or clock for short, is a device for the<br />

measurement of time. It comprises a counter and an<br />

oscillation mechanism that periodically produces a tick<br />

to increment this counter. The duration between two<br />

consecutive ticks is called the granularity of the clock.<br />

The granularity of any digital clock leads to a digitizing<br />

error in the measurement of time. Given a clock and an<br />

event, the local timestamp of an event is the counter<br />

value of the clock immediately after the event occurred.<br />

An ensemble of clocks is a set of two or more clocks.<br />

The clocks of an ensemble show different clock rates,<br />

that is, their counters values will eventually diverge from<br />

each other due to differences in the physical oscillation<br />

mechanisms. The two local timestamps of a single event<br />

from two different clocks in the same ensemble can


differ, because, practically, no two clocks have the<br />

same clock rate and over time the counters of two<br />

clocks inevitable diverge, even if those two clocks are<br />

perfectly synchronized at the beginning.<br />

With periodic internal clock synchronization (i.e., clock<br />

synchronization among the clocks in the ensemble) the<br />

duration between the respective ticks of any two clocks<br />

can be bound. The bound on this maximum duration<br />

between any two respective ticks on any two clocks of<br />

an ensemble is the precision of an ensemble of clocks<br />

(Kopetz & Ochsenreiter, Clock synchronization in<br />

distributed real-time systems, 1987).<br />

Since clocks inevitably diverge, the precision of an<br />

ensemble is always larger than zero. Hence, it is generally<br />

not possible to order events consistently on the basis of<br />

their local timestamps. There is always the chance of a<br />

single event being timestamped differently by two<br />

clocks, because of the denseness of time, defined in<br />

the second section, and the impossibility of perfect clock<br />

synchronization. In this respect, Lundelius and Lynch<br />

provided an impossibility result (Lundelius & Lynch, 1984).<br />

Figure 1: Sparse Time Base<br />

The concept of a sparse time, as depicted in Figure 1,<br />

circumvents this impossibility of perfect clock<br />

synchronization (Kopetz, Why do we need a Sparse<br />

Global Time-Base in Dependable Real-Time Systems?,<br />

2007). In the sparse time the continuum of time is<br />

partitioned into an infinite sequence of activity intervals<br />

µ, where events are allowed to occur, alternating with<br />

intervals of silence of a duration of at least ”, where<br />

events must not occur. The events restricted to the<br />

activity intervals are denoted sparse events and the time<br />

base is called ”/µ-sparse.<br />

The activity intervals are numbered chronologically with<br />

the positive integers. The global timestamp of a sparse<br />

event is the integer assigned to the activity interval in<br />

which it has occurred. Sparse events happening in the<br />

same activity interval are considered as having<br />

happened simultaneously. Thus, a system-wide,<br />

consistent temporal order can be established given the<br />

following two properties: first, the interval of activity is<br />

smaller or equal to the precision of the clock<br />

synchronization; second, the interval of silence is at least<br />

four times larger than the activity interval (Kopetz, Sparse<br />

time versus dense time in distributed real-time systems,<br />

1992) (Kopetz & Obermaisser, Temporal composability,<br />

2002) (Kopetz, Real-Time Systems, Design Principles for<br />

Distributed Embedded Applications, 1997).<br />

In time-triggered systems events that are in the sphere<br />

of control of the system (e.g., the sending of messages)<br />

are assumed to be restricted to occur in the activity<br />

intervals, while events outside the sphere of control of<br />

the system (i.e., events that can occur outside the<br />

activity intervals) must be assigned to an activity interval<br />

by an agreement protocol.<br />

Replica determinism requires that all correct replicas<br />

produce exactly the same output messages at most a<br />

duration of d time units apart. In a time-triggered system<br />

replicas are considered to be replica-deterministic, if<br />

they produce the same output message at the same<br />

global ticks of their local clocks (Kopetz, Real-Time<br />

Systems, Design Principles for Distributed Embedded<br />

Applications, 1997). The consistent temporal order is<br />

essential to achieve replica determinism (Poledna, 1994)<br />

that is required for active redundancy based on voting<br />

of the computation result.<br />

Zeit in der Technik<br />

A time-triggered system can be synchronized with<br />

international time scales by means of external clock<br />

synchronization (i.e., clock synchronization with clocks not<br />

part of the ensemble).<br />

International Time Scales<br />

The realization and dissemination of the international time<br />

scales is the responsibility of the Time, Frequency and<br />

Gravimetry Section of the Bureau International des Poids<br />

et Mesures (BIPM).<br />

The International Atomic Time (TAI, from the French name<br />

Temps Atomique International) is the uniform, atomic<br />

time scale and kept as close as possible to the second<br />

defined by the SI. It is calculated at the BIPM using data<br />

from some two hundred atomic clocks in over fifty<br />

national laboratories, depicted in Figure 2, which<br />

maintain caesium standards with an accuracy up to 10-<br />

15 s. The long-term stability of the TAI is assured by a<br />

judicious way of weighting the participating clocks. New<br />

developments in clocks using trapped or cooled atoms<br />

or ions, going closer to the physical limits such as 0 K, are<br />

leading to improvements well beyond this.<br />

Figure 2: Geographical distribution of the laboratories<br />

that contribute to TAI, and the means by which their data<br />

are sent to the BIPM (taken from www.bipm.com)<br />

The Coordinated Universal Time (UTC, a compromise<br />

between the English name and the French name that is<br />

Temps Universel Coordonné) (Terrien, 1975) is an atomic<br />

time scale identical with TAI, except for leap seconds<br />

added to days ensuring that, when averaged over a<br />

year, the sun crosses the Greenwich meridian at noon<br />

UTC to within ±0.9 s. The dates of application of leap<br />

seconds are decided by the International Earth Rotation<br />

and Reference Systems Service (IERS). Unlike the TAI the<br />

UTC will in the long run according to its current definition<br />

keep in step with the slightly irregular rotation of the earth.<br />

As of 2007, 23 leap seconds have been added, putting<br />

the UTC 33 seconds behind the TAI, because of the initial<br />

offset of 10 seconds. Note that there is an ongoing<br />

debate to discontinue the insertion of leap seconds. The<br />

Earth’s rotational deceleration due to tidal friction is the<br />

main contributor to this difference. The acceleration of<br />

the Earth’s crust has led to the longest-ever period without<br />

a leap second from New Year’s Day 1999 to New Year’s<br />

Eve 2005, giving some confidence to the small chance<br />

of a negative leap second. The discontinuity of the UTC<br />

makes the accurate measurement of durations between<br />

two UTC timestamps impossible; at least not without<br />

reference to a lookup table telling the number of leap<br />

seconds in between the two UTC timestamps.<br />

Figure 3 shows the difference between the UT1, the<br />

principal form of the Universal Time, and the UTC. Both,<br />

UT1 and UTC, are Universal Time, but the UTC requires<br />

adjustment by leap second, because it is based on the<br />

atomic definition of the second realized by the TAI. Notice<br />

the vertical segments in Figure 3, which correspond to<br />

leap seconds and constitute discontinuities in the UTC.<br />

Figure 3: Difference between the UT1 and the UTC<br />

Of these two standard time scales only the TAI is<br />

chronoscopic, i.e. without any discontinuities. Therefore,<br />

Kopetz advocates the TAI as source for external<br />

synchronization of time-triggered systems. (Kopetz, Why<br />

do we need a Sparse Global Time-Base in Dependable<br />

Real-Time Systems?, 2007)<br />

Acknowledgements<br />

Thanks to Georg Rieckh, Albrecht Kadlec, and Vaclav<br />

Mikolasek for their valuable comments.<br />

Time in Time-Triggered Real-Time Computer Systems<br />

12


Zeit in der Technik<br />

Figure 1: Sparse Time Base<br />

Figure 2: Geographical distribution of the laboratories that contribute to TAI,<br />

and the means by which their data are sent to the BIPM (taken from<br />

www.bipm.com)<br />

Figure 3: Difference between the UT1 and the UTC<br />

Time in Time-Triggered Real-Time Computer Systems<br />

13


Bibliography<br />

Bureau international des poids et measures. Organisation<br />

intergouvernmentale de la Convention du Metre. (2006).<br />

The International System of Units (SI), 8th edition.<br />

Kopetz, H. (1997). Real-Time Systems, Design Principles<br />

for Distributed Embedded Applications. Boston,<br />

Dordrecht, London: Kluwer Academic Publishers.<br />

Kopetz, H. (1992). Sparse time versus dense time in<br />

distributed real-time systems. <strong>Pro</strong>ceedings of the 12th<br />

International Conference on Distributed Computing<br />

Systems, (pp. 460-467).<br />

Kopetz, H. (2007). Why do we need a Sparse Global Time-<br />

Base in Dependable Real-Time Systems? International<br />

IEEE Symposium on Precision Clock Synchronization for<br />

Measurement, Control and Communication (ISPCS), (pp.<br />

13-17).<br />

Kopetz, H., & Obermaisser, R. (2002). Temporal<br />

composability. Computing & control Engineering Journal<br />

, 13, 156-162.<br />

Kopetz, H., & Ochsenreiter, W. (1987). Clock<br />

synchronization in distributed real-time systems. IEE Trans.<br />

Comp., 36, pp. 933-940.<br />

Zeit in der Technik<br />

Leschiutta, S. (2005). The definition of the atomic second.<br />

Metrologia (42), 10-19.<br />

Lundelius, J., & Lynch, N. (1984). An upper and lower<br />

bound for clock synchronization. Information and<br />

Control, 62, pp. 190-204.<br />

Mesarovic, M. C., & Takahara, Y. (1989). Abstract System<br />

Theory. Springer.<br />

Poledna, S. (1994). Replica determinism in distributed realtime<br />

systems: A brief survey. Real-Time Systems , 6, 289-<br />

316.<br />

Reichenbach, H. (1957). The Philosophy of Space and<br />

Time. New York: Dover.<br />

Whithrow, G. J. (1990). The Natural Philosophy of Time.<br />

Oxford: Clarendon Press.<br />

Harald Paulitsch has been a research assistant at the Institute of Computer Engineering, Real-Time System Group at the<br />

Vienna University of Techology since November 2004. He studied Computer Science at the Vienna University of Technology<br />

and received his diploma degree in 2005. During his course of study Harald Paultisch visited the University of Illinois at<br />

Urbana-Champaign (UIUC) for one semester. He has commenced his doctoral studies with <strong>Pro</strong>f. Hermann Kopetz as<br />

research advisor. During his doctoral studies he visited the Institute for Software Integrated Systems directed by <strong>Pro</strong>f.<br />

Janos Sztipanovits at the Vanderbilt University. His main research interest is diagnosis in distributed embedded real-time<br />

systems. He takes part in our program already for several years and is actually one of two elected speakers of our students.<br />

Time in Time-Triggered Real-Time Computer Systems<br />

14


Naturwissenschaft und<br />

Medizin:<br />

Erdgeschichte, Evolution,<br />

Lebenszeit


Karolina Harasztos<br />

„Die Zeit, die stirbt in sich und zeugt sich auch aus sich,<br />

Dies kömmt aus mir und dir, von dem du bist und ich…<br />

Die Zeit ist, was ihr seid, und ihr seid, was die Zeit,<br />

Nur dass ihr enger noch als, was die Zeit ist, seid“<br />

I. DAS WESEN DER <strong>ZEIT</strong><br />

(Paul Flemming – „Gedanken über die Zeit“) 1<br />

In jedem Augenblick “verlässt” uns Zeit. Das „Fließen der<br />

Zeit“ zeigt den Eindruck der Bewegung, Veränderung.<br />

Sie ist das Verhältnis der Dinge in ihrer Folge. Sie ist nichts<br />

Greifbares.<br />

Ein zeitloses Dasein ist uns undenkbar. Daher „der<br />

Schrecken vor der Ewigkeit“. Die Zeit ist stetig, sie ist das<br />

Band der Erscheinungen, macht aus den Einzelheiten<br />

eine Kette. Sie ruht nicht. Sie ist unendlich. Die<br />

Unendlichkeit hat keine Grenzen, keine zeitlichen<br />

Bestimmungen.<br />

Die Zeit ist einsinnig. Es gibt in ihr nur ein Nacheinander;<br />

was vergangen kommt nicht wieder, alles, was<br />

geschieht, geht in einer bestimmten Richtung.<br />

Man muss zwischen Lage und Dauer eines<br />

Zeitabschnittes unterscheiden. Ein Zeitabschnitt ist in<br />

Bezug auf einen andern „früher“ oder „später“. Zeitfolge<br />

und Zeitdauer sind zwei verschiedene Elemente. Messen<br />

können wir nur die Zeitdauer.<br />

Vom Zeitbegriff sollte man nicht sprechen. Die Zeit ist<br />

kein Begriff, sondern eine Anschauung. Dem Begriff<br />

„Mensch“ kann ich Attribute wie weiß, schwarz, groß und<br />

klein zuschreiben. Die Zeit aber ist weder jung noch alt,<br />

weder klein noch groß.<br />

Jeder Vorgang hängt mit einem anderen zusammen.<br />

Die Zeit ist allumfassend, und die Einheitlichkeit der Zeit<br />

erfordert einheitliche, zusammenfassende Behandlung<br />

aller wissenschaftlichen <strong>Pro</strong>bleme. 2<br />

Am Anfang aller Begriffe von Zeit stand wohl die<br />

Unterscheidung in Tag und Nacht. Augenscheinlich<br />

bestimmt diese Folge den Rhythmus des Lebens von<br />

Pflanzen, Tieren und Menschen.<br />

Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />

Zeit in der Erdgeschichte<br />

Eine geographisch-geologische Betrachtung<br />

Zeit in der Erdgeschichte<br />

16<br />

Zu praktischen Zwecken machten sich die Menschen<br />

daran, die Eigenschaften des Raumes zu untersuchen.<br />

Daraus entstand im vierten Jahrtausend v. Ch. in Babylon<br />

und Ägypten die Geometrie. In Zusammenhang mit dem<br />

aufkommenden Ackerbau begann man, Zeiteinheiten<br />

zu zählen.<br />

Regelmäßigkeiten und Gesetze wurden als Erstes von der<br />

Astronomie entdeckt. Als sich die Wissenschaft weiter<br />

entwickelte, fand man immer mehr Gesetze in der Natur,<br />

konnte die eine oder die andere Entwicklung<br />

vorhersehen, bis schließlich gegen Ende des<br />

18. Jahrhunderts die Angesicht entstand, überhaupt alles<br />

laufe nach unveränderlichen Gesetzen ab. Nur was man<br />

darüber hinaus nicht verstand, wurde weiterhin mit dem<br />

Wirken Gottes erklärt: Er habe diese Gesetze bestimmt<br />

und über den Anfang von Zeit und Raum entschieden.<br />

Zeit und Raum sind bündig definiert: als nicht voneinander<br />

zu trennende Eigenschaften des Universums. Jegliche<br />

Materie, ob als Teilchen oder als Welle auftretend kann<br />

nur in Raum und Zeit existieren. Aber subjektiv erscheint<br />

uns Zeit höchst vielfältig.<br />

Vertraut und selbstverständlich erscheint uns das Wort<br />

„Zeit“. Und doch haftet dem Begriff etwas Rätselhaftes<br />

an, und immer wieder wird die Frage diskutiert, was denn<br />

Zeit eigentlich sei. 1984 hat der Kultursoziologe Norbert<br />

Elias (1897-1990) Zeit als eine große menschliche<br />

Syntheseleistung erklärt „mit deren Hilfe Positionen im<br />

Nacheinander des physikalischen Naturgeschehens, des<br />

Gesellschaftsgeschehens und des individuellen<br />

Lebenslaufs in Beziehung gebracht werden können“.<br />

Meist wird Zeit als natürliche Ordnungsstruktur zur Reihung<br />

von Vorgängen angesehen, manche Autoren<br />

bezeichnen Zeit als willkürlich.<br />

Einigkeit besteht darin, Zeit sei die allgemeinste Form, in<br />

der sich alles Geschehen aneinander reiht. Offen bleibt,<br />

wie denn alles begonnen habe und ob es ewig so<br />

weitergebe. Die Frage nach dem Anfang von Zeit und<br />

Raum scheint den Wissenschaftlern durch die<br />

Urknalltheorie vorläufig beantwortet. Dann aber wird die<br />

Frage bleiben, warum es uns und das Universum gibt.<br />

Der Physiker Stephen Hawking meint: „Wenn wir die<br />

Antwort auf diese Frage fänden, wäre das der endgültige<br />

Triumph der menschlichen Vernunft – denn dann würden<br />

wir Gottes Plan kennen.“ 3<br />

II. <strong>ZEIT</strong> IN DER ERDGESCHICHTE<br />

Dass hier von der Wissenschaft der Erdoberfläche aus die<br />

Zeitfrage aufgeworfen wird, kann auf den ersten Blick<br />

überraschen. Denn hat die Geographie anderes zu tun<br />

als zu beschreiben? Allerdings ist die Beschreibung der<br />

Raum- und Lageverhältnisse in der Erdoberfläche ihre<br />

erste Aufgabe. Aber hier zeigt sich sofort die notwendige<br />

Beziehung zur Zeit, denn alles was man geographische<br />

Erscheinung nennt, ist durch Bewegung im Raum der<br />

Erdoberfläche entstanden, und diese Bewegung hat<br />

irgend einen Zeitabschnitt beansprucht.<br />

Erdgeschichte, reduziert auf einen 12-Stunden-Tag<br />

Quelle: Hartmut Leser: DIERECKE – Wörterbuch<br />

Allgemeine Geographie, Deutscher<br />

Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,<br />

München, 12. Auflage Juni 2001, S. 257


Wo anders aber misst sich diese Zeit als im Raum der<br />

Erdoberfläche, die wie ein ungeheueres Zifferblatt die<br />

Bewegungen über sich hinschreiten lässt, dass man dann<br />

ihre Aufeinanderfolge und im günstigen Fall sogar ihre<br />

Zeitdauer an den Spuren abmessen kann, die sie<br />

hinterlassen haben? Die Strandlinien am Gestade eines<br />

sich hebenden Landes, die Terrassen an den Wänden<br />

eines Tales, das einen Fluss einschneidet, die Grenzen in<br />

denen ein Staat oder das Verbreitungsgebiet eines<br />

Volkes, einer Tier- oder Pflanzenart in verschiedenen<br />

Epochen sich befand, alle sind Zeitmarken. 4<br />

Alles, was ist, entwickelt sich; die Evolution begann mit<br />

dem Urknall und umfasst auch das anscheinend<br />

Unbelebte. Dabei spielen zyklische und rhythmische<br />

<strong>Pro</strong>zesse eine entscheidende Rolle. Sie erfassen die<br />

kleinsten wie die größten existierenden Gebilde. Etwas<br />

war plötzlich da, auf vielfältige Weise rhythmisch<br />

schwingend, und formierte sich zu Strings. Aus den<br />

Rhythmen der Strings entwickelten sich vielleicht Quarks<br />

und kurz danach erste Elementarteilchen, die sich binnen<br />

weniger Minuten zu Wasserstoff und Helium vereinten.<br />

Auch die Atome bilden Charakteristische und sehr<br />

konstante Schwingungsmuster. So entstanden zugleich<br />

mit der Natur ihre Zyklen, Messgrößen der Zeit.<br />

Das griechische Wort kýklos („Kreis, Kreislauf, Ring“)<br />

bezeichnete zunächst lediglich eine Reihe inhaltlich<br />

zusammengehörende Dinge. Heute meint es meist einen<br />

Kreislauf regelmäßig wiederkehrender Ereignisse, ein<br />

periodisch ablaufendes Geschehen. Rhythmus stammt<br />

vom griechischen rhythmós („Gleichmaß“). Das<br />

bedeutet eigentlich „das Fließen“. Seine übertragene<br />

Bedeutung verdankt es wohl dem gleichmäßigen Auf<br />

und Ab der Meereswogen. Dann benannte es den<br />

regelmäßig schwankenden Fortgang überhaupt und<br />

schließlich jede gleichmäßig gegliederte Bewegung. Das<br />

Wort Periode geht auf dem griechischen Wort peri-odos<br />

(„Kreislauf“) zurück. Heute bezeichnet es einerseits etwas<br />

regelmäßig Wiederkehrendes und andererseits den<br />

dazwischenliegenden Zeitabschnitt.<br />

Grundlegend wichtige Dinge geschahen in den ersten<br />

drei Minuten nach dem Urknall. Kräfte ordneten sich zu<br />

Gravitation, starker und schwacher Wechselwirkung,<br />

elektromagnetischer Kraft. Materie zog sich infolge der<br />

Gravitation dicht zusammen, und nach einer Milliarde<br />

Jahren bildeten sich die ersten Sterne. Man vermutet<br />

heute im All 10 21 Sterne, die sich zu 10 10 Galaxien<br />

gruppieren. Ihre Lebenszyklen umfassen Jahrmilliarde,<br />

ihre räumlichen Umläufe Jahre bis Jahrmillionen, ihre<br />

Rotationen nur Stunden bis Tage.<br />

Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />

Zeit in der Erdgeschichte<br />

17<br />

Der Lebenszyklus eines Sterns beginnt, wenn immer mehr<br />

Atome zusammenstoßen. Dann erhitzt sich das Gas, es<br />

kommt zur Kernfusion, und der Stern leuchtet. Der Druck<br />

in seinem Innern steigt, bis er der Gravitation das<br />

Gleichgewicht hält. Diese Zustand bleibt so lande stabil,<br />

bis der Stern seinen Kernbrennstoff verbraucht hat; dann<br />

kühlt er ab und zieht sich zusammen. Liegt seine Masse<br />

jetzt unter einem bestimmten Grenzwert, dann bleibt er<br />

durch Abstoßungskräfte zwischen den Elektronen seiner<br />

Materie stabil und heißt Weißer Zwerg. Ist sie größer, so<br />

fällt er in sich zusammen und wird ein schwarzes Loch.<br />

Falls ein Weißer Zwerg zu einem Doppelsternsystem<br />

gehört, kann Materie seines Partners auf ihm<br />

einschlagen. Dadurch wird gewaltige Fusionsenergie<br />

frei, und man sieht ihn von der Erde aus aufleuchten –<br />

eine Nova. Einige Sterne werden im Verlauf der<br />

Kernfusion zu heiß und explodieren, das sind die<br />

Supernovae. Dabei werden komplexer<br />

zusammengesetzte Atome, die höheren Elemente, in<br />

den Raum geschleudert. Sie gliedern sich anderen<br />

Systemen an oder sammeln sich zu neuen „Sternen der<br />

zweiten Generation“. Das ist der Kreislauf der Materie<br />

im All.<br />

Unser Sonnensystem entstand, als sich schwere Elemente<br />

in der Umgebung der Sonne zu Planeten<br />

zusammenschlossen. Vor etwa 4,5 Milliarden Jahren<br />

bildete sich so die Erde. In diesen glutflüssigen,<br />

gasdurchsetzten Körper schlug wenig später ein großer<br />

Asteroid ein. Dabei ausgelöste Schockwellen bewirkten<br />

eine Trennung der chaotisch durchmischten Elemente.<br />

Die schweren sanken in den Erdkern ab, die Gase<br />

bildeten eine Ur-Atmosphäre, und ein Teil der<br />

umherspritzenden Materie fügte sich zum Mond. Im Lauf<br />

der Zeit kühlte die Erde ab, ihre Oberfläche erstarrte in<br />

großen Schollen. Damit begann ihr geologischer<br />

Lebenszyklus. Auf 3,9 Milliarden Jahre datiert man das<br />

älteste bekannteste Gestein.<br />

Die Gesteinschollen verdichteten sich zu Uhrkontinenten,<br />

die vor rund 700 Millionen Jahren im Superkontinent<br />

Rodinia vereint waren. Nach wiederholter Teilung und<br />

Verschiebung bildete sich vor 250 Millionen Jahren die<br />

zusammenhängende Landmasse Pangäa. Auch diese<br />

zerbrach, und seit 200 Millionen Jahren treiben ihre Teile<br />

auf dem zähflüssigen Untergrund auseinander. Eine erste<br />

Bruchlinie trennte das südliche Gondwana vom Nordteil,<br />

der das heutige Asien, Europa und Nordamerika<br />

umfasste und Laurasia genannt wird. Vor etwa 200<br />

Millionen Jahren, in der Blütezeit der Dinosaurier, begann<br />

Nordamerika sich von Eurasien zu lösen. Südamerika<br />

wurde vor 150 Millionen Jahren von Gondwana<br />

abgespalten und bewegte sich westwärts, es lagerte<br />

sich irgendwann später mit einer schmalen Landbrücke<br />

an Nordamerika an. Im Zeitraum vor vielleicht 110 bis<br />

vor 40 Millionen Jahren löste sich Indien von Gondwana.<br />

Machtvoll wurde es gegen Asien gepresst, wo es das<br />

Himalayagebirge auftürmte. Australien und Antarktika<br />

trennten sich erst im Ganzen von Afrika, dann<br />

voneinander.<br />

1912 hatte der deutsche Meteorologe Alfred Wegener<br />

die These von der Drift der Kontinente aufgestellt.<br />

Inzwischen kann man die von ihm vermuteten Vorgänge<br />

umfassender erklären, und weiß, dass die heutigen<br />

Kontinente auf großen Platten sitzen. An ihren<br />

Bruchkanten dringt geschmolzenes Magma aus dem<br />

Erdinneren zwischen die Platten und drückt sie<br />

auseinander. Gegenwärtig wird die Atlantik pro Jahr um<br />

25 mm breiter. Die anhaltende Plattentektonik<br />

beeinflusst die Zeitmessung, indem sie die<br />

geographische Länge der Observatorien nationaler<br />

Zeitdienste verändert. Dadurch verschieben sich die<br />

Zeiten des Meridiandurchgangs der Gestirne. Das


Internationale Zeitbüro kontrolliert und registriert diese<br />

Abweichungen der Ortszeiten.<br />

Bald nach dem Erstarren der Erdoberfläche kondensierte<br />

Wasserdampf und füllte ihre tiefer liegenden Teile. Jetzt<br />

war sie genügend abgekühlt, um eine biologische<br />

Evolution hervorzubringen. Von nun an waren<br />

geologische und biologische Entwicklung wechselseitig<br />

voneinander abhängig. Das Leben auf die Erde<br />

verändert die Erde selbst.<br />

Grundlegend für die geologische Entwicklung ist der<br />

Zyklus der Mineralien. Diese kombinieren sich zu Gesteine<br />

und nehmen an deren Kreislauf teil. Älteste Gesteine<br />

bildeten sich aus der erstarrende Schmelze. Vor 3,5<br />

Milliarden Jahren begann die Ablagerung von<br />

Sedimenten. Verwitterungsprodukte älterer Gesteine<br />

und abgestorbene Organismen bilden kilometerdicke<br />

Schichten, die sich zu Sedimentgestein verdichten. Im<br />

Laufe von Jahrmillionen verwandeln sie sich in<br />

metamorphes Gestein, werden hinabgezogen und<br />

schmelzen in großer Tiefe. Gleichzeitig wachsen an<br />

anderen Plätzen magmatische Gesteine wieder empor<br />

und beginnen ab dem Augenblick ihres Entstehens zu<br />

verwittern. Dieser große „Kreislauf“ der Gesteine ist mit<br />

vielfältigen Abkürzungen und Umwegen in Neben-<br />

Kreisläufen verbunden.<br />

Wo Gesteine, Wasser und Lufthülle aneinander grenzen,<br />

entstand die Biosphäre als Teil der Geosphäre. In diesem<br />

Raum entfaltet sich das Leben, und alle Stoffe darin<br />

durchlaufen mehrfach ineinander verwobene Kreisläufe.<br />

Besondere Bedeutung erlangte jener des Wassers, der<br />

das Gesicht unseres „Blauen Planeten“ prägt. Seine<br />

zeitlichen Zyklen sind – wie die räumlichen Sphären –<br />

ineinander eingebettet. Im Regenwald vollzieht sich der<br />

Kreislauf des Wassers binnen weniger Sekunden, die<br />

Durchmischung der Ozeane braucht Jahrhunderte.<br />

Im Laufe der ersten Milliarde Erdenjahre hatten sich<br />

Atome zu größeren Strukturen verbunden. Darunter<br />

fanden sich zufällig gebildete Makromoleküle, die selbst<br />

wieder Atome zu Strukturen zusammensetzen konnten.<br />

Das setzte Zyklen von Reproduktion und Vermehrung in<br />

Gang; Leben war entstanden. Hin und wieder traten<br />

dabei Abweichungen vom Vorbild auf, anders<br />

strukturierte Moleküle, von denen einige zu besserer<br />

Reproduktion fähig waren. So wurde Ungenauigkeit zu<br />

entscheidenden Triebkraft der Evolution. Sie schuf<br />

Vielfalt, und aus Vielfalt ergab sich Anpassungsfähigkeit.<br />

3,5 Milliarden Jahre alt sind die ältesten nachgewiesenen<br />

Reste von Organismen. Primitive Bakterien existierten in<br />

der sauerstoffarmen Ur-Atmosphäre, nahmen<br />

Schwefelwasserstoff auf, bezogen Energie durch<br />

Photosynthese und setzten Sauerstoff frei. Nach und<br />

nach, sehr langsam, wurde die Erdatmosphäre für ihre<br />

frühesten Bewohner giftig. Vor ungefähr einer Milliarde<br />

Jahren begann in dem neuen Sauerstoffmilieu die<br />

Entwicklung höherer Lebensformen. Bakterien<br />

entwickelten sich, dann Pilzen, Pflanzen, Tiere. 5<br />

III. GEOLOGISCHE <strong>ZEIT</strong>-SCHICHTEN<br />

Der dänische Arzt Niels Steensen (Nicolaus Steno) stellte<br />

um 1670 erstmals einen eindeutigen Zusammenhang<br />

zwischen Gesteinsschichten und der Vorstellung von<br />

„Zeit in der Erdgeschichte“ her. Er erkannte Sandstein,<br />

Kalkstein und Schiefer als Verdichtungen von Sand, Kalk<br />

und Ton, die vom Wasser transportiert und in zeitlicher<br />

Folge als Schichten übereinander abgelagert wurden.<br />

Erdzeitalter und Perioden der Erdgeschichte (siehe<br />

Tabelle 1 im Anhang)<br />

Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />

Zeit in der Erdgeschichte<br />

18<br />

Als Johann Christian Füchsel und der preußische Bergrat<br />

Johann Lehmann um 1760 die geologische Struktur<br />

thüringischer Bergbaugebirge erforschten, sahen auch<br />

sie die Aufeinanderfolge verschiedener<br />

Gesteinsschichten als Ergebnis eines historischen<br />

<strong>Pro</strong>zesses an. Sie unterscheiden drei Haupttypen von<br />

Gesteinen nach ihrem vermuteten Alter und fanden<br />

einen Zusammenhang mit darin eingeschlossenen<br />

versteinerten Organismen, den Fossilien. Zuunterst lagen<br />

die Primärgesteine, die keinerlei Spuren des Lebens<br />

enthielten. Dann folgten Sekundäre Schichten mit den<br />

Fossilien niederer Meerestiere und schließlich die<br />

Tertiärgesteine, in denen Landtiere und Pflanzen<br />

eingeschlossen sind. Der italienische Geologe Giovanni<br />

Arduino teilte die Erdgeschichtliche Zeit in Abschnitte,<br />

die er von „erster“ bis „vierter“ nummerierte. Daran<br />

erinnern „Tertiär“ und „Quartär“ als Namen von Perioden<br />

des heutigen Systems.<br />

Die französischen Paläontologen Georges Cuvier und<br />

Alexandre Brogniart erkannten, dass die verschiedenen<br />

Arten von Fossilien gewöhnlich in derselben Reihenfolge<br />

auftreten. Gleichartige Fossilien signalisieren gleiches<br />

Alter der Gesteinsschichten. Dieses Prinzip der Leitfossilien<br />

wurde von dem englischen Landmesser Williams Smith<br />

weiter ausgearbeitet.<br />

Im 19. Jahrhundert, als die geologischen Perioden<br />

erstmals als eigenständige Zeitabschnitte erkannt worden<br />

waren, konnten die Geologen nicht einmal annähernd<br />

sagen, wie viele Jahre der Beginn oder das Ende einer<br />

solchen Periode zurückliegt. Jede wurde einfach als eine<br />

unbestimmte Zeiteinheit definiert, die durch eine<br />

Gesteinseinheit, ein geologisches System verkörpert<br />

wurde.<br />

Das Studium der ältesten paläozoischen Gesteine<br />

verdeutlicht wie neue Systeme benannt wurden, um die<br />

Lücken zwischen den bereits bekannten zu schließen. Im<br />

Jahre 1835 veröffentlichten Adam Sedgwick und<br />

Roderick Marchinson gemeinsam eine Arbeit, in der sie<br />

das kambrische und silurische System einführten, und<br />

zwar hauptsächlich auf der Grundlage geologischer<br />

Untersuchungen in Wales.<br />

Die Bezeichnung Kambrium leitet sich vom lateinischen<br />

Namen für Wales (Cambria) ab, während das Silur nach<br />

den Silurern benannt war, einem alten, einstmals in Wales<br />

lebenden keltischen Stamm.<br />

Für die dazwischen liegenden Gesteine mit ihrem<br />

eigenständigen Fossilinhalt schlug Charles Lapworth den<br />

Namen Ordovicium vor, benannt nach den Ordovicern,<br />

einem alten walisischen Stamm, der sich in Britannien als<br />

letzter der römischen Herrschaft ergab. Die Dreiteilung<br />

des unteren Teils des Paläozoikums von Lapworth ist noch<br />

immer gültig, obgleich wir heute die echten Grenzen<br />

zwischen den drei Systemen Kambrium, Ordivicium und<br />

Silur sehr viel genauer kennen.<br />

Die Untergliederung der Gesteinsabfolgen und der<br />

geologischen Zeiträume endete nicht mit der Benennung<br />

von Systemen und Perioden. Mit zunehmendem Wissen<br />

über die Systeme und die zeitlichen Perioden konnten<br />

die Geologen des 19. Jahrhunderts eine immer genauere<br />

Unterteilung in noch kleinere Einheiten vornehmen. 6<br />

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren die westlichen<br />

Einheiten des „Fossilienkalenders“ festgelegt. Die damals<br />

geprägten Bezeichnungen der Erdzeitalter (Ären) und<br />

Perioden der Erdgeschichte benutzen wir noch heute.<br />

Häufig verändert hat sich dagegen ihre Datierung nach<br />

Jahren. Tabelle 1 (im Anhang) zeigt den gegen Ende des<br />

20. Jahrhunderts aktuellen Kenntnisstand.


Wie man die Perioden weitergehend in Epochen<br />

(Abteilungen) gliedert, verdeutlicht Tabelle 2 (im<br />

Anhang) am Beispiel der Erdneuzeit.<br />

Die Gliederung der Erdneuzeit in Epochen<br />

Die Wissenschaft von den geologischen Schichten mit<br />

Leitfossilien als Zeitmarken heißt Biostratigraphie. Der<br />

Begriff geht auf lat. Stratum („Schicht“) zurück. Sie ist<br />

Teilgebiet der Stratigraphie, welche die Zeitliche<br />

Aufeinanderfolge der Schichtgesteine untersucht. Diese<br />

gehört ihrerseits zur Geochronologie, die sich allgemein<br />

mit der Einordnung von Ereignissen und Zeitabschnitten<br />

im Verlauf der Erdgeschichte befasst. Geologische<br />

„Kalender“ sind sehr vielgestaltig. Stratigraphische<br />

Objekte wurden zuerst und auf unterschiedliche Weise<br />

für die Forschung zugänglich. Im <strong>Pro</strong>zess des<br />

Aufschiebens und Senkens von Gebirgen entstanden<br />

Bruchstellen und offenbarten die Abfolge ihrer Schichten.<br />

Strömendes Wasser schliff zusammenhängende<br />

Querschnittsbilder frei, die viele Epochen der<br />

Erdgeschichte umfassen können. Ein berühmtes Beispiel<br />

dafür ist der Grand Canyon in Kalifornien. Weitrechende<br />

Kenntnisse gewann man schließlich in Zusammenhang<br />

mit dem Bergbau. Die im wörtlichen Sinn tiefsten Einblicke<br />

erlauben geologische Bohrungen.<br />

1912 untersuchte der Geologe Gerard de Geer in<br />

Schweden den Rückzug der Gletscher von der Südküste<br />

zum nördlichen Gebirge. Ihr Schmelzwasser hinterlässt in<br />

Seen geschichtete Ablagerungen. Bei stehendem Wasser<br />

im Sommer ergeben sich dunkle Tonschichten, bei der<br />

Schneeschmelze lagern sich helle Sandschichten ab.<br />

Eine solche Jahresschicht heißt Warve. De Geer benutzte<br />

die „Bänderung“ des Warventons und bestimmte die<br />

Zeitdauer des Vorgangs auf 10.000 Jahre. Seither sind<br />

solche ausgezählten Schichten für die letzten 20.000<br />

Jahre wiederholt verwendet worden.<br />

Der Engländer Flindern Petrie hat als Erster<br />

archäologische Schichten anhand der darin<br />

gefundenen Artefakte zeitlich identifiziert. Er sortierte in<br />

Ägypten Keramiken nach ihren Entwicklungsstadien „in<br />

sich selbst“. Ganz andere von Menschen geschaffene<br />

Schichte entdeckten die Archäologen in Tschatal Hüjük,<br />

der vielleicht ältesten Stadt der Welt. Für einige<br />

Jahrtausende war sie Hauptstadt der Hethiter.<br />

Der Brite James Mellaart grub sie zwischen 1951 und 1965<br />

aus. Er zählte die übereinander liegenden weißen<br />

Putzschichten der Lehmziegelhäuser, die ihre Bewohner<br />

jährlich erneuert hatten. Einen präziseren Kalender hat<br />

noch kein Archäologe gefunden. Mellaart konnte eine<br />

achthundertjährige Stadtgeschichte zuverlässig<br />

rekonstruieren, die selbst wieder acht Jahrtausende<br />

zurückliegt.<br />

Manchmal offenbaren geologische „Kalender“<br />

überraschende Einzelheiten aus ferner Vergangenheit.<br />

Der amerikanische Paläontologe John Wells zählte 1963<br />

an fossilen Korallen die feinen Streifen aus, die ähnlich<br />

den Jahresringen der Bäume das tägliche Wachstum<br />

dieser Kalkgehäuse erkennen lassen. Er fand<br />

durchschnittlich 400 Tagesstreifen innerhalb eines<br />

Jahresrings bei den 400 Millionen Jahre alten Exemplaren<br />

und 380 Tagesstreifen bei denjenigen, die nur 320<br />

Millionen Jahre alt waren. Diese Ergebnisse rechnete er<br />

auf die Zeit vor 570 Millionen Jahren zurück und schloss,<br />

dass damals der Tag etwa 20 Stunden und das Jahr 438<br />

Tage gehabt haben dürfte. Ursache der immer<br />

langsamer werdenden Erddrehung ist die vom Mond<br />

verursachte Gezeitenreibung. 7<br />

Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />

Zeit in der Erdgeschichte<br />

19<br />

IV. BEGRIFFSBESTIMMUNGEN: „<strong>ZEIT</strong>“ UND ALLGEMEINE GEOGRAPHIE<br />

Zeit<br />

wird als Grunddimension aller Vorgänge und<br />

Erscheinungen im Sinne einer Abfolge des Geschehens<br />

definiert. Die physikalische Z. bezieht sich auf periodisch<br />

gleichmäßig bewegte Körper, und ihre Grundeinheiten<br />

werden an die Drehung der Erde um die Sonne und um<br />

die eigene Achse angelehnt (’ Jahr, ’Tag). Die Basis<br />

unserer Z.-Messung ist der Mittlere ’Sonnentag mit der<br />

Sekunde als 86 400stem Teil davon. Der Kalender rechnet<br />

die Zeit seit Christi Geburt (n. Chr.), der<br />

Geowissenschaftler die Jahre vor heute (v.h.).<br />

Zeitausnutzung:<br />

in der Energiewirtschaft benützte Verhältniszahl, die<br />

angibt, inwieweit ein Kraftwerk innerhalb einer<br />

Betrachtungszeitspanne (z.B. einem Jahr) in Betrieb war.<br />

Die Z. errechnet sich als Quotient aus tatsächlicher<br />

Betriebszeit und der Nennzeit. Dabei ist unerheblich, mit<br />

welcher Leistung ein Kraftwerk in der Betriebszeit<br />

gearbeitet hat.<br />

Zeitbudget:<br />

die einem Individuum oder einer Gruppe zur Ausübung<br />

einer bestimmten Tätigkeit zur Verfügung stehende Zeit.<br />

Besonders in der ’ Aktionsraumforschung und bei<br />

Untersuchungen über ’ Aktionsreichweiten ’<br />

sozialgeographischer Gruppen spielt das Z. eine große<br />

Rolle. (’ Zeitgeographie)<br />

Zeitdistanz:<br />

in Grad angegebener Winkelabstand zwischen einem<br />

Gestirn und dem ’ Zenit.<br />

Zeitgeographie:<br />

Ausrichtung der neueren ’ Kultur-, insbesondere ’<br />

Sozialgeographie, die sich bemüht, bei der Erklärung<br />

räumlicher Verhaltens und raumwirksamer <strong>Pro</strong>zesse die<br />

zeitliche Dimension räumlicher Aktivitäten stärker zu<br />

berücksichtigen, z.B. durch ’ Zeitbudget–Studien für<br />

bestimmte ’ Sozialgeographische Gruppen.<br />

Zeithorizont:<br />

zeitliche Grenze für eine raumwirksame Aktivität. Man<br />

spricht z.B. in der ’ Raumplanung vom Z. einer<br />

Planungsmaßnahme.<br />

Zeitlohn:<br />

Vergütung einer Arbeitsleistung nach dem Umfang der<br />

aufgewandten Zeit. Im Gegensatz zum ’ Leistungslohn<br />

wir auf den Z. häufig dort zurückgegriffen, wo die<br />

Messung der Leistung schlecht möglich ist oder dadurch<br />

gegebenenfalls eine Qualitätsminderung zu befürchten<br />

wäre.<br />

Zeitsiedlung: ’ temporäre Siedlung:<br />

Siedlung, die nur für mehrere Wochen benützt wird. Sie<br />

findet sich vor allem bei höheren Jägern und<br />

Hirtennomaden. Die Wanderungen der eigenen bzw.<br />

Wildtierherden ist die Ursache der ständigen Verlegung<br />

der Behausungen. Die t. S. wird auch als Frist- oder<br />

Temporalsiedlung bezeichnet.<br />

Zeitzonen:<br />

24 festgelegte Meridianstreifen von je 15° Breite, in<br />

denen die international anerkannten, je um eine Stunde<br />

verschobenen ’ Ortszeiten gelten (z.B. die<br />

Mitteleuropäische Zeit). Im Interesse einheitlicher Zeit in<br />

bestimmten Ländern und Ländergruppen wurde bei der<br />

Festlegung der Z. in der Praxis vielfach von der<br />

Abgrenzung durch Meridiane abgewichen. 8


Tabelle 1<br />

Erdzeitalter und Perioden der Erdgeschichte<br />

vor…<br />

Millionen Jahren<br />

bis 4000 Erd-Urzeit<br />

LITERATUR<br />

Ära Periode Erdgeschichte Entwicklung des<br />

Lenz, Hans: „Universalgeschichte der Zeit“, Marix Verlag<br />

GmbH, Wiesbaden 2005<br />

Leser, Hartmut (Hrsg.): DIERECKE – Wörterbuch<br />

Allgemeine Geographie, Deutscher Taschenbuch<br />

Verlag GmbH & Co. KG, München, 12. Auflage Juni 2001<br />

Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />

Lebens<br />

4000 bis 2500 Archaikum Bildung der Beginn der<br />

Urkontinente Photosynthese<br />

2500 bis 570 Erd-Frühzeit<br />

Erste Gebirge Erste vielzellige<br />

(<strong>Pro</strong>terozoikum)<br />

Tiere<br />

570 bis 510 Kambrium Wirbellose im<br />

Meer<br />

510 bis 440 Ordovizium Kaledonische Ära Erste Wirbeltiere<br />

440 bis 410 Silur<br />

Muscheln, Fische<br />

410 bis 360 Erd-Altertum Devon Pflanzen mit<br />

(Paläozoikum)<br />

Farnlaub<br />

360 bis 290 Karbon Steinkohlenwälder Insekten<br />

290 bis 245<br />

Perm<br />

Rasche<br />

Entwicklung der<br />

Reptilien<br />

245 bis 210 Trias Pangäa zerbricht. Erste kleine<br />

Überflutung von<br />

Festland<br />

Säugetiere<br />

210 bis 145 Erd-Mittelalter Jura Fische, erste<br />

(Mesozoikum)<br />

Vögel<br />

145 bis 65<br />

Kreide Aussterben der<br />

Saurier<br />

65 bis 2,5 Tertiär Hebung der Entfaltung der<br />

europäischen Säugetiere<br />

Erdneuzeit<br />

Mittelgebirge<br />

2,5 bis zur (Känozoikum) Quartär Oberflächen- Entwicklung des<br />

Gegenwart<br />

änderung durch<br />

Eis<br />

Menschen<br />

Quelle: Hans Lenz: „Universalgeschichte der Zeit“, Marix Verlag GmbH, Wiesbaden 2005, S. 79<br />

Zeit in der Erdgeschichte<br />

20<br />

Ratzel, Friedrich: „Raum und Zeit in Geographie und<br />

Geologie. Naturphilosophische Betrachtung“, Verlag von<br />

Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1907<br />

Stanley, Steven M.: „Historische Geologie. Eine Einführung<br />

in die Geschichte der Erde und des Lebens“, Spektrum<br />

Akademischer Verlag, Heidelberg 1994


Tabelle 2<br />

Die Gliederung der Erdneuzeit in Epochen<br />

Vor…Millionen<br />

Jahren<br />

Periode Epoche Erdgeschichte Entwicklung des<br />

Lebens<br />

65 bis 55 Paläozän Braunkohle Erste Halbaffen,<br />

Raub- und<br />

Nagetiere<br />

55 bis 36 Eozän Steinsalz Huftiere, Meeressäuger<br />

(Wale)<br />

36 bis 25 Tertiär<br />

Oligozän Tektonische Erste<br />

Gliederung Menschenaffen,<br />

Mitteleuropas Schweine,<br />

Hirsche<br />

25 bis 5 Miozän<br />

Elefanten,<br />

Giraffen<br />

5 bis 2,5<br />

Pliozän Gletscher in<br />

Grönland<br />

Erste Hominiden<br />

2,5 bis 0,01 Pleistozän Eiszeit Entwicklung des<br />

Quartär<br />

Menschen<br />

0,01 bis<br />

Holozän Veränderung der natürlichen Umwelt<br />

Gegenwart<br />

durch den Menschen<br />

Quelle: Hans Lenz: „Universalgeschichte der Zeit“, Marix Verlag GmbH, Wiesbaden 2005, S. 81<br />

Fußnoten:<br />

1 Paul Flemming: „Gedanken über Zeit“ in: Ratzel, Friedrich: „Raum und<br />

Zeit in Geographie und Geologie. Naturphilosophische Betrachtung“,<br />

Verlag von Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1907, S. 34.<br />

2 Ratzel, Friedrich: „Raum und Zeit in Geographie und Geologie.<br />

Naturphilosophische Betrachtung“, Verlag von Johann Ambrosius Barth,<br />

Leipzig 1907, S. 33-34.<br />

3 Hans Lenz: „Universalgeschichte der Zeit“, Marix Verlag GmbH,<br />

Wiesbaden 2005, S. 11-12.<br />

4 Ratzel, Friedrich: „Raum und Zeit in Geographie und Geologie.<br />

Naturphilosophische Betrachtung“, Verlag von Johann Ambrosius Barth,<br />

Leipzig 1907, S. 36.<br />

Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />

5 Hans Lenz: „Universalgeschichte der Zeit“, Marix Verlag GmbH,<br />

Wiesbaden 2005, S. 75.<br />

6 Steven M. Stanley: „Historische Geologie. Eine Einführung in die<br />

Geschichte der Erde und des Lebens“, Spektrum Akademischer<br />

Verlag Heidelberg, 1994, S.21-22<br />

7 Hans Lenz: „Universalgeschichte der Zeit“, Marix Verlag GmbH,<br />

Wiesbaden 2005, S. 82<br />

8 Die Begriffe wurden aus (Hrsg.) Hartmut Leser: DIERECKE –<br />

„Wörterbuch Allgemeine Geographie“, Deutscher Taschenbuch<br />

Verlag GmbH & Co. KG, München, 12. Auflage Juni 2001, S. 1015<br />

zitiert.<br />

Mag. Karolina Harasztos, geb. 1979 in Livada (Rumänien), studierte Geographie an den Universitäten Klausenburg und<br />

Innsbruck. Derzeit arbeitet Sie an Ihrer Dissertation zum Thema “Transformationsprozesse seit 1989 und Persistenz historischer<br />

Strukturen im ländlichen Peripherraum des rumänischen Banats am Beispiels ausgewählter Siedlungen: Liebling, Tirol und<br />

Steierdorf.” Sie ist seit 2008 PRO SCIENTIA-Stipendiatin.<br />

Zeit in der Erdgeschichte<br />

21


Dominic Zoehrer<br />

„Denn tausend Jahre sind in deinen Augen wie der<br />

gestrige Tag, wenn er vergangen ist, und wie eine<br />

Wache in der Nacht.“<br />

– Psalm 90:4 [1]<br />

„Eine relativ zu einem Bezugssystem mit der<br />

Geschwindigkeit v gleichförmig bewegte Uhr geht von<br />

diesem Bezugssystem aus beurteilt im Verhältnis 1:√(1v<br />

2 /c 2 ) langsamer als nämliche Uhr, falls sie relativ zu<br />

jenem Bezugssystem ruht.“<br />

– Albert Einstein [2]<br />

Abstract: Folgender Text beschäftigt sich mit den<br />

Phänomenen Zeit, Leben und Evolution, basierend auf<br />

den Naturgesetzen, die uns die Thermodynamik und die<br />

Quantenmechanik liefern. Zunächst soll der<br />

physikalische Begriff der „Zeit“ erläutert werden. Die<br />

Frage „was ist Leben?“ soll kurz beleuchtet werden,<br />

bevor wir uns der Evolution zuwenden. Abschließend<br />

werden wir uns einen Überblick über einige<br />

interdisziplinäre Herausforderungen verschaffen, welche<br />

die Forschung des 21. Jahrhunderts beschäftigen<br />

könnten.<br />

Das Universum erschien nicht plötzlich und instantan in<br />

vollendeter Form. Jedes System, jede Struktur, jedes<br />

Wesen braucht für seine Entwicklung eine bestimmte<br />

Menge an Zeit [3]. Auch der Schöpfungsbericht der<br />

Genesis handelt in Übereinstimmung mit der modernen<br />

Kosmologie – abgesehen von kulturbedingten<br />

Unterschieden des Inhalts und Ausdrucks – von klar<br />

unterscheidbaren und graduellen Perioden in der<br />

Entstehung der Welt.<br />

Zu Beginn unserer Ausführungen, stellen wir uns also die<br />

Frage: Was ist denn Zeit überhaupt? Viele Menschen<br />

sagen, sie hätten keine Zeit und doch hat der Tag für<br />

jeden Menschen ausnahmslos 24 Stunden. Wir können<br />

einander Zeit schenken oder Zeit stehlen, aber letzten<br />

Endes geht jede Uhr – sofern sie mechanisch<br />

einigermaßen in Ordnung ist – gleichmäßig tick, tick, tick.<br />

Raum und Zeit sind Dinge, die es schon sehr sehr lange<br />

gibt. Sie entstanden damals zur „Stunde Null“, dem<br />

Geburtszeitpunkt des Universums. Was davor war, kann<br />

man sehr schwer sagen, denn ein „davor“ gab es nicht.<br />

Doch abgesehen von philosophischen Vertiefungen<br />

fragen wir einmal die Physik, was sie uns über das<br />

Phänomen Zeit erzählen kann.<br />

Zeit in der Physik<br />

Ganz vorwegnehmen können wir, dass uns selbst die oft<br />

so mächtig erscheinende und quasi fast alles erklärende<br />

Physik gar keine Definition über „Zeit“ an sich oder deren<br />

Ursache liefert. Ein Physiker gibt sich voll und ganz damit<br />

zufrieden, dass er Zeit messen kann. Das ist alles, was<br />

vorerst einmal zählt. (Dasselbe gilt für Materie, Energie,<br />

Wellen und alle anderen Werte, Parameter und<br />

Eigenschaften in der Physik: Das einzige, was wirklich<br />

essentiell ist um gute Physik betreiben zu können, ist die<br />

Fähigkeit eine Sache messen, vergleichen, berechnen<br />

und in Formeln, Modellen und Theorien einordnen zu<br />

können.)<br />

So wird „Zeit“ in Tipler’s Standardlehrwerk „Physik“ –<br />

neben der Länge und der Masse – als physikalische<br />

Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />

Zeit und Evolution<br />

Was ist Leben?<br />

Zeit und Evolution<br />

22<br />

Dimension bezeichnet, ohne sie in einer näheren<br />

Definition zu rechtfertigen. Viel zentraler als „was ist Zeit?“<br />

ist die Frage: „Wie misst man Zeit?“ Und da bekommen<br />

wir schon eine sehr genaue Antwort – und zwar: „Die<br />

Basiseinheit der Zeit, die Sekunde (s), […] ist so definiert,<br />

dass die beim Übergang zwischen den beiden so<br />

genannten Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes<br />

von Cäsium-133 ausgesandte Strahlung eine Frequenz<br />

von 9 192 631 770 Schwingungen pro Sekunde hat.“ [4]<br />

Die Zeit gehört also zu den grundlegenden Dimensionen<br />

der Physik und muss in der Physik zunächst gar nicht näher<br />

hinterfragt werden. (Philosophische Spekulation wird in<br />

der Physik weitgehend vermieden. Und es wäre sehr<br />

spekulativ darüber nachzudenken, wie viel Zeit vergeht,<br />

wenn die Zeit einmal stehen bleiben sollte. [5])<br />

Mit der Entwicklung der Relativitätstheorie und der<br />

Quantenmechanik zu Beginn des vorigen Jahrhunderts<br />

änderte sich das klassische physikalische Weltbild und<br />

damit unser Verständnis von Raum und Zeit grundlegend.<br />

Die erste, von Albert Einstein (1879-1955) eingeführte<br />

Theorie erklärt uns, warum Raum und Zeit ineinander<br />

überführen und gemeinsam ein Raum-Zeit-Kontinuum<br />

bilden, von dem unser Universum durchwoben ist. Als<br />

Konsequenz der absoluten Lichtgeschwindigkeit die Zeit<br />

relativ ist, d. h. abhängig vom jeweiligen Bezugssystem.<br />

(„Je schneller sie sich Uhren bewegen desto langsamer<br />

gehen sie.“)<br />

Die andere Theorie zeigt, dass es etwas in der Physik gibt,<br />

das unsere Alltagsbegriffe von Raum, Zeit und Materie<br />

komplett sprengt und Teilchen zu Wellen oder Wellen zu<br />

Teilchen macht. So fliegt zum Beispiel beim<br />

Doppeltspaltexperiment ein einziges Teilchen – sagen wir<br />

ein Photon oder ein Elektron – durch beide Spalte gleichzeitig<br />

(!) , interferiert mit seinem eigenen kontinuierlichen<br />

Wahrscheinlichkeits-Zustand, bevor es letzten Endes an<br />

einer einzigen Stelle als einzelnes diskretes Teilchen<br />

gemessen wird. (Einstein war diese neue Theorie ganz und<br />

gar nicht geheuer und er sprach in Bezug auf die<br />

Quantenmechanik von „Gespensterwellen“ oder<br />

„spukhafter Fernwirkung“. [6])<br />

Zur Illustration des Welle-Teilchen-Dualismus [aus A1]


Fazit ist, dass beide Theorien enorm zum Verständnis<br />

unseres Universums und dessen kleinsten Bauteilen, den<br />

Atomen bzw. Elementarteilchen (Leptonen und Quarks),<br />

beigetragen haben. Was dafür in Kauf genommen<br />

werden musste, war der Abschied vom Begriff einer so<br />

genannten absoluten Zeit oder eines absoluten Raums<br />

im klassischen bzw. Kant’schen Sinne der<br />

Vernunftkategorien [7]. Kurz gesagt: Die Welt ist verrückter<br />

als wir meinen.<br />

Um die Verwirrung über den Begriff der Zeit zu<br />

perfektionieren, lässt sich im zen-buddhistischen Sinne<br />

sagen, dass Zeit an sich eine Illusion ist. Das einzige, was<br />

relevant ist, ist der Moment, der Augenblick, der Zeit-<br />

„Punkt“, die Gegenwart. [8] Die Vergangenheit wird nie<br />

wieder kommen, die Zukunft wird nie eintreten. Und<br />

unsere gesamte physikalische Realität existiert nur im<br />

Jetzt.<br />

Trotzdem brauchen wir – bevor wir ganz im Nirwana<br />

verschwinden – die Zeit als Konzept um ein Maß für die<br />

Abfolge von Ereignissen und der Kausalität zu besitzen.<br />

Obwohl wir nicht sagen können, warum die Zeit „dahin<br />

fließt“, sie tut es dennoch – so wie die Uhren in Salvador<br />

Dali’s berühmtem Gemälde „The Persistence of Memory“<br />

(1931) dahin fließen.<br />

In der Physik spricht man von einem „Zeitpfeil“ um<br />

anzudeuten in welche „Richtung“ die Zeit eigentlich<br />

„fließt“. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den 3<br />

räumlichen Dimensionen und der Zeit ist, dass man in der<br />

Zeit (bislang) nicht beliebig hin und her reisen kann. Um<br />

diesen Zeitpfeil exakt zu bestimmen, betrachten wir einen<br />

fundamentalen Begriff der Thermodynamik etwas näher:<br />

Die Entropie, das Maß der Unordnung.<br />

„The Persistence of Memory“ [aus A2]<br />

Die Entropie und der Verlauf der Zeit<br />

Ein abgeschlossenes System geht stets irreversibel vom<br />

Zustand höherer Ordnung zum Zustand niedrigerer<br />

Ordnung über. Und zwar deshalb, weil der Zustand<br />

niedrigerer Ordnung sehr viel wahrscheinlicher ist als<br />

derjenige höherer Ordnung. Das Maß der Unordnung, die<br />

Entropie, bleibt entweder konstant oder nimmt zu. Das<br />

ist die Kernaussage des Zweiten Hauptsatzes der<br />

Thermodynamik.<br />

Zur Veranschaulichung betrachten wir das System<br />

„Kartenhaus“. Ein mehrstöckiges Kartenhaus zeichnet sich<br />

durch hohe Ordnung aus, d. h. ein exakter<br />

Informationsgehalt über die Position und den Winkel einer<br />

jeden Karte ist bekannt. (Selbstverständlich nehmen wir<br />

an, dass das Gebilde zuvor von einem mehr oder weniger<br />

intelligenten und geschickten Wesen konstruiert wurde.)<br />

Nun ist jener Zustand physikalisch sehr instabil und es ist<br />

Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />

Zeit und Evolution<br />

23<br />

sehr wahrscheinlich, dass die Karten früher oder später<br />

(aufgrund einer minimalen Störung) durch die Gegend<br />

fliegen, bis sie total zerstreut auf dem Tisch oder Boden<br />

landen und dort liegen bleiben. In der physikalischen<br />

Welt existieren ab -273,15°C (dem absoluten Nullpunkt)<br />

immer und überall „Störungen“ – und diese sind das, was<br />

wir als Temperatur bezeichnen: Je mehr Teilchengewusel<br />

es gibt, desto wärmer ist es. (Exakter formuliert: Die<br />

Temperatur steigt aufgrund der Zunahme der mittleren<br />

kinetischen Energie der Teilchen eines Systems an.)<br />

Genau so gut lassen sich ganz alltägliche Systeme wie<br />

„Schreibtisch“ oder „Kleiderschrank“ oder „Frisur“ oder<br />

„Gemüsesuppe“ etc. beschreiben. Ohne einen Input an<br />

Energie und/oder Information neigt sich ein System dem<br />

Zustand maximaler Unordnung zu. Denn es gibt weit<br />

mehr Zustände in Unordnung als Zustände mit hohem<br />

Informationsgehalt und damit höherer Ordnung.<br />

Und somit ist auch schon der Zeitpfeil definiert: Eine<br />

Abfolge von Ereignissen in einem System ordnet sich<br />

nach steigender Wahrscheinlichkeit seiner Zustände –<br />

vom geordneteren zum ungeordneteren. Zum Beispiel:<br />

System „Wohlstrukturierte Tafel Schokolade“ �<br />

„Geschmolzener Schokomatsch“. Oder: Eine Tasse, die<br />

auf dem Boden zerschellt, verläuft in einem exakt<br />

gerichteten <strong>Pro</strong>zess, vom geordneten System „ganze<br />

Tasse“ zum chaotischen Zustand „Scherben überall“. Die<br />

andere Richtung ist physikalisch nicht erlaubt und wird<br />

in unserer Alltagswelt prinzipiell nicht beobachtet. [9]<br />

Bedacht sei jedoch, dass wir von abgeschlossenen<br />

Systemen ausgegangen sind, bei denen also kein<br />

Informations- oder Energieaustausch mit äußeren<br />

Einflüssen stattfindet. (D. h. durch ein wenig geschickt<br />

und überlegt angewandte Energie und mit einem guten<br />

Kleber lässt sich die Tasse aus den Scherben wieder<br />

restaurieren.)<br />

Allgemein sagt man: Die Entropie des Universums als<br />

Gesamtsystem nimmt ständig zu. [10] (Getrost lässt sich<br />

sagen, wir brauchen uns nicht sonderlich zu wundern,<br />

warum unser Schreibtisch, unser Zimmer, unsere<br />

Gesellschaft, ja die gesamte Welt zunehmend im Chaos<br />

versinken…) Nun stellt sich die Frage, ob es in der Natur<br />

prinzipiell unmöglich ist, dass sich geordnete, ja<br />

hochkomplexe und reproduzierbare Strukturen<br />

entwickeln. Und die Antwort, nämlich ein<br />

Gegenargument, gibt uns die Natur selbst: Das<br />

Phänomen Leben. Die Existenz von Organismen – sowie<br />

unsereiner – basiert auf „toter“ Materie. Diese wurde<br />

ganzheitlich verflochten und vielschichtig miteinander<br />

vernetzt zu hoch-komplexen Strukturen angeordnet. Und<br />

das geschah alles „im Laufe der Zeit“.<br />

Was ist Leben?<br />

Diese Frage stellte sich auch der Mitbegründer der<br />

Quantenmechanik, der österreichische Nobelpreisträger<br />

Erwin Schrödinger (1887-1961). Seine Überlegungen<br />

legten das Grundkonzept für die Erforschung des Lebens<br />

auf molekularer Basis. Francis Crick (1917-2004), der<br />

gemeinsam mit James Watson (*1928) die Struktur der<br />

DNA entdeckte, bezeichnete Schrödingers Gedanken<br />

als maßgeblich für seine Entdeckung des molekularen<br />

Trägers der Erbinformation. [11]<br />

Schrödingers Bemühen das Leben auf rein chemische<br />

und physikalische Gesetze zurückzuführen ist<br />

charakteristisch für die wissenschaftliche Forschung und<br />

Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts. „Alles Leben<br />

ist Chemie“ soll bereits der französische Naturforscher<br />

Antoine Lavoisier (1743-1794) gewusst haben. Ein<br />

Physiker würde sagen: „Alle Chemie ist Physik“. Können<br />

wir nun aber zum logischen Schluss kommen „Alles Leben<br />

ist Physik“? Letzten Endes müssen alle „biologischen


Systeme“ nach den Prinzipien der Physik funktionieren,<br />

oder ihnen jedenfalls nicht widersprechen. Nur wird es<br />

problematisch, wenn man versucht das Phänomen<br />

Leben auf „bloße“ Chemie oder Physik zu reduzieren.<br />

Aristoteles (384-322 v. Chr.) erklärte bereits, dass das<br />

Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. [12] D.h. der<br />

Mensch beispielsweise ist sicher mehr als ein Haufen C-<br />

, O-, H- Atome, gewürzt mit einer Prise N, Ca, Ph und<br />

weiterer Spurenelemente. An dieser Stelle ist es hilfreich<br />

sich die hierarchische Struktur der Wissenschaften und<br />

ihrer Teilsysteme zu veranschaulichen, die auf den<br />

Philosophen Nicolai Hartmann (1882-1950)<br />

zurückzuführen ist. Tabelle 1 im Anhang [aus 13] dient<br />

als Modell zur Illustration der Idee (ohne Anspruch auf<br />

Vollständigkeit):<br />

Je nach Ebene und damit Wissenschaftsdisziplin<br />

unterscheiden sich die Elemente der Betrachtung einer<br />

bestimmten Wissenschaft und die Wechselwirkungen<br />

jener Elemente untereinander. Dieser Aspekt ist in der<br />

interdisziplinären Forschung und dem Dialog stets zu<br />

berücksichtigen, denn jede Ebene verwendet ihre<br />

eigene Sprache und Grundregeln oder –prinzipien.<br />

[Die Schichten sind nicht immer feinsäuberlich<br />

voneinander zu trennen: Es gibt zahllose Bereiche der<br />

Überschneidung oder der Kooperation (z.B. die<br />

physikalische Chemie, die Molekularbiologie oder die<br />

Biophysik). Der (synthetischen) Gesamtwirklichkeit wird<br />

man mit wissenschaftlichen Modellen bestenfalls<br />

näherungsweise gerecht - entsprechend dem jeweiligen<br />

Interessens-Brennpunkt. Der Mensch bedient sich der<br />

analytischen, wissenschaftlichen Methode um<br />

spezifische Eigenschaften seiner Umwelt und seiner selbst<br />

besser zu verstehen und eventuell beeinflussen oder<br />

kontrollieren zu können.]<br />

Jenem System der Wissenschaften bewusst, kehren wir<br />

zur Ausgangsfrage zurück. Aus biologischer Sichtweise<br />

lässt sich Leben durch folgende Charaktermerkmale<br />

definieren: Organisation, Metabolismus, Wachstum,<br />

Anpassung, Reaktion auf äußere Reize, Fortpflanzung.<br />

[14] Obwohl diese Eigenschaften nicht erklären können,<br />

was das Leben „an sich“ ist, geben sie uns konkrete,<br />

beobachtbare Hinweise darauf, wie sich Leben<br />

manifestiert.<br />

Bevor wir uns nun aber einigen sonderbaren<br />

physikalischen Merkmalen des Lebens zuwenden, muss<br />

ich einen kleinen „Crash-Kurs“ in Quantenmechanik<br />

voraussetzen: Der Begriff eines in Ort (x) und Impuls (p)<br />

exakt festgelegten Teilchens wird durch den<br />

Wellenbegriff aufgelöst („Welle-Teilchen-Dualismus“).<br />

Das ist die Konsequenz der Heisenberg’schen<br />

Unschärferelation: ∆ x ⋅ ∆p<br />

≥ h , wobei h das<br />

Planck’sche Wirkungsquantum bezeichnet (6.63 × 10-34 m2 kg/s, eine sehr, sehr kleine Zahl). Die Zustände der<br />

kleinsten Bestandteile unseres physikalischen Universums<br />

werden mittels einer komplexen Wellenfunktion ¨<br />

innerhalb der Schrödinger-Gleichung beschrieben.<br />

Dabei ist |¨| 2 die Wahrscheinlichkeitsverteilung des<br />

jeweiligen Teilchens (wie z. B. eines Elektrons oder<br />

Photons) in Raum und Zeit. Zum Zeitpunkt der Messung<br />

einer Teilchen-Welle verschwindet ihr Wellencharakter<br />

(siehe Doppelspaltexperiment).<br />

Um den Zusammenhang zu Biosystemen zu schaffen,<br />

könnte man ein Lebewesen quantenmechanisch<br />

folgendermaßen auffassen - unter der Voraussetzung,<br />

dass ein Lebewesen aus physikalischen Bauteilen<br />

zusammengesetzt ist: Als Superposition (=Überlagerung)<br />

all seiner Wellenfunktionen. Nur mathematisch gesehen<br />

wird das ein Wahnsinnsunterfangen, wenn man bedenkt,<br />

Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />

Zeit und Evolution<br />

24<br />

dass ein Mensch aus 10 27 Atomen besteht und daher<br />

mindestens 10 27 überlagernde Wellenfunktionen zur<br />

Berechnung liefern würde. (Das wäre eine 1 mit 27 Nullen:<br />

1 000 000 000 000 000 000 000 000 000, also eine sehr<br />

große Zahl. Abgesehen davon ist selbst die Berechnung<br />

von höheren Elementen ab dem Wasserstoffatom<br />

analytisch nicht mehr möglich. Man bedient sich<br />

komplizierter numerischer Verfahren.)<br />

Beschäftigen wir uns also lieber mit einer eher qualitativen<br />

Untersuchung des <strong>Pro</strong>blems. Der deutsche<br />

Quantenphysiker Hans-Peter Dürr (*1929), Freund und<br />

Schüler von Werner Heisenberg (1901-1976), beschreibt<br />

in seinem Büchlein „Auch die Wissenschaft spricht nur in<br />

Gleichnissen“ das Phänomen Leben aus<br />

quantenmechanisch-philosophischer Sichtweise. Er führt<br />

den Gedanken ein, dass „die ‚lebendige’ Grundstruktur<br />

des Mikrokosmos unter geeigneten Umständen bis zur<br />

Mesoebene unserer Lebenswelt durchstoßen kann“ [15].<br />

Er deutet darauf hin, dass uns die moderne Physik helfen<br />

könnte tiefere Einsichten in die lebendige Struktur der<br />

Wirklichkeit und unseres Selbst zu gewinnen.<br />

Leben als Spiegel des „lebendigen“ Mikrokosmos<br />

Aufgrund der Komplexität biologischer Systeme versagt<br />

der methodisch notwendige Reduktionismus der Physik.<br />

Biologische Gesamtsysteme lassen sich nicht ohne Verlust<br />

von Korrelationen in kleinere Untersysteme zerlegen. [16]<br />

Im Lichte der Quantenmechanik und besonders des<br />

Welle-Teilchen-Dualismus können wir allerdings auf einige<br />

Analogien zwischen dem „lebendigen“ Mikrokosmos und<br />

einem (makroskopischen) Lebewesen an sich stoßen.<br />

Zum einen wird der Mikrokosmos durch die „lebendige“<br />

Freiheit, die prinzipielle Instabilität und Unvorhersehbarkeit<br />

des Lebenden reflektiert. Zum anderen scheint die<br />

quantenmechanische Basis eine Erklärung für eine<br />

grundsätzliche „Kommunion“ [16], eine dynamische<br />

Vernetzung der Materie untereinander in biologischen<br />

Systemen, zu liefern.<br />

Die so genannte „Verschränkung“ ist die Eigenschaft von<br />

zwei oder mehreren Teilchen, die transzendent der Raum-<br />

Zeit miteinander in Verbindung stehen. Die Messung eines<br />

Teilchens beeinflusst instantan (!), d. h. ohne<br />

Signalübertragung, die Eigenschaften eines anderen<br />

Teilchens, das auch viele Kilometer entfernt sein kann.<br />

(Einstein bezeichnete diese Vorhersage der<br />

Quantenmechanik als „spukhafte Fernwirkung“.) Der<br />

Kommunikationsmechanismus der Zellen untereinander<br />

und damit auch die „Einheitlichkeit“ des Organismus ist<br />

auch heute ein schwieriges <strong>Pro</strong>blem und lässt viele<br />

Fragen offen. (Siehe auch [17]: Die Biophotonik<br />

beschäftigt sich mit der schwachen Lichtemission aus<br />

Lebewesen und ist seit einigen Jahrzehnten dabei einen<br />

neuen quantenmechanischen Feldbegriff für biologische<br />

Systeme einzuführen, der den höchst effizienten<br />

Informationsaustausch zwischen Zellen ermöglichen soll<br />

und den holistischen Charakter der Biosysteme erklären<br />

könnte.)<br />

Zeit, Leben, Evolution<br />

Um zurück zum eigentlichen Thema zu kommen,<br />

betrachten wir die zentrale Frage: Wie konnte sich Leben<br />

über viele Jahrhunderte hinweg zu immer höheren<br />

Strukturen entwickeln?<br />

Zunächst soll der Evolutionsbegriff in zwei<br />

unterschiedlichen Zusammenhängen verstanden<br />

werden [18]:<br />

a) Evolution im paläontologischen Sinne ist<br />

Tatsache. Man findet eine diskrete Abstufung


von niederen zu höheren (=komplexeren)<br />

Lebewesen in zeitlicher Abfolge der<br />

geologischen Schichten.<br />

b) Evolution im Sinne der (neo-) darwinistischen<br />

Theorie. ist ein wissenschaftliches Modell, wovon<br />

es bisweilen - wie bei jeder anderen Theorie -<br />

Varianten gibt. Eine wissenschaftliche Theorie<br />

kann für sich niemals einen absoluten<br />

Wahrheitsanspruch erheben. Sie muss sich einer<br />

ständigen Prüfung stellen (Verifikation –<br />

Falsifikation). Aufgrund geänderter Hypothesen<br />

und neuer Grundsätze nähert sich eine Theorie<br />

– durch ständige „Evolution“ – asymptotisch<br />

einem Modell, das die Wirklichkeit getreu<br />

reproduzieren soll. (Anmerkung: Lehrsätze, die<br />

nicht in Frage gestellt werden dürfen, auch<br />

wenn sie offensichtlich nicht durch<br />

Beobachtungen gestützt bzw. anhand von<br />

Gegenbeispielen widerlegt werden, nennt man<br />

Dogmen.)<br />

Der Evolutionsbegriff muss je nach Zusammenhang<br />

unterschieden werden, um Missverständnisse zu<br />

vermeiden. Zur Bedeutung dieser Unterscheidung siehe<br />

später.<br />

Aus Sicht der Thermodynamik verläuft die Evolution des<br />

Lebens scheinbar gegen den Strom der Irreversibilität<br />

(=Entropieverlauf). D. h. die Natur scheint höhere<br />

Ordnungen anstatt die absolute Unordnung, nämlich das<br />

thermische Gleichgewicht, anzustreben. Das widerspricht<br />

dem Zeitpfeil der Physik.<br />

Eine Aussage, die häufig zu finden ist, lautet: Die<br />

Wahrscheinlichkeit für das Auftreten neuer, aber<br />

überlebensfähiger Arten ist zwar gering, doch muss<br />

Evolution über viele Jahrtausende hinweg und in kleinen<br />

kontinuierlichen Schritten betrachtet werden. Bei dieser<br />

Betrachtung treten zunächst mindestens zwei<br />

Schwierigkeiten auf:<br />

1) Statistisch gesehen wird die Wahrscheinlichkeit eines<br />

Ereignisses nicht durch die Häufigkeit des „Würfelns“ (der<br />

Messung) beeinflusst. Wenn ein Ereignis heute sehr<br />

unwahrscheinlich ist (z.B. 20x hintereinander eine „5“ zu<br />

würfeln), wird es auch nach einem Millennium sehr<br />

unwahrscheinlich sein. Ein beliebtes Beispiel - in Analogie<br />

zum Informationsgehalt des DNA-Codes - beschreibt<br />

einen 24 Stunden täglich Schreibmaschine tippenden<br />

Schimpansen (als Zufallsgenerator). Auch nach<br />

Jahrmillionen wird weder ein Vers von Shakespeare noch<br />

von Goethe zu erwarten sein.<br />

2) In der Betrachtung der tatsächlichen<br />

Fossildokumentation, fasst der Biologe Stephan Jay Gould<br />

[19] folgende zwei Merkmale der Paläoontologie<br />

zusammen:<br />

� Stillstand (Stasis): Nach Auftreten einer neuen Art sind<br />

morphologische Veränderungen für gewöhnlich<br />

beschränkt und richtungslos.<br />

� Plötzliches Auftreten: Neue Arten treten sprunghaft<br />

und „voll gestaltet“ auf. Das prominenteste Beispiel ist<br />

wohl die so genannte „Kambrische Explosion“ (vor rund<br />

540 Mil. Jahren), gerne auch als biologischer „Big Bang“<br />

bezeichnet. [20] Siehe Abbildung A3.<br />

Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />

Zeit und Evolution<br />

25<br />

Fossildokumentation schematisch [aus A3]<br />

Diese empirischen Merkmale stimmen nur ungenügend<br />

mit der theoretischen Voraussage einer „glatten“<br />

kontinuierlichen Evolution mit fließendem Übergang<br />

zwischen den Arten überein.<br />

Es stellt sich die Frage, ob die Biologie ohne eine<br />

grundlegende Bezugnahme auf mikroskopische Physik<br />

das Phänomen des Lebens und damit der Evolution in<br />

vollem Umfang erklären kann. Laut Dürr [15] könnte die<br />

Quantenphysik durch ihr prinzipielles Merkmal der<br />

holistischen Beziehungen neue Möglichkeiten im<br />

Verständnis der Evolution eröffnen.<br />

Interdisziplinäre Herausforderungen im 21. Jahrhundert<br />

Weitere offene Fragen im Zusammenhang zwischen<br />

Naturgesetz und Evolution stellen Herausforderungen an<br />

die heutige interdisziplinäre Forschung:<br />

�Lässt sich die Verletzung der Entropie in der Entstehung<br />

des Lebens und dessen Evolution durch Theorien der<br />

„Selbstorganisation“ [21] ausreichend erklären?<br />

�Verliert das Pasteur’sche Prinzip „Omne vivum ex vivo“<br />

(Leben kommt von Leben) zum Zeitpunkt der Entstehung<br />

des ersten Lebens seine Gültigkeit? [22] Oder: Wie lässt<br />

sich der Sprung vom Anorganischen zum Organischen,<br />

vom Toten zum Lebendigen erklären?<br />

�Lassen sich Eigenschaften des Lebens wie „der Wille<br />

zum Leben“, Instinkt oder gar Bewusstsein auf materieller/<br />

molekularer Grundlage erklären? Oder: Wo liegen die<br />

Grenzen des „physikalischen Reduktionismus“?<br />

�Bilden die Arten „quantisierte Zustände“, gleich wie die<br />

diskreten Energienieveaus der Elektronen? Wäre das ein<br />

Grund, warum Evolution in diskreten Schritten statt einem<br />

kontinuierlichen Fluss auftritt?<br />

� Muss der Energieerhaltungssatz mit einen<br />

Informationserhaltungssatz ergänzt werden um damit<br />

den sogenannten gefürchteten „Maxwellschen Dämon“<br />

[23] zu vermeiden?<br />

�Ist die Theorie der Selbstorganisation ausreichend um<br />

irreduzierbar komplexe [24] Systeme wie den DNA-RNA<br />

Zyklus [25] zu „kreieren“ und ist der Mensch daher<br />

befähigt aus toter Materie Leben zu schaffen?


Epilog<br />

Verwenden wir die Quantenphysik als Grundlage<br />

unseres Weltverständnisses, so stehen wir ab einer<br />

wohlbekannten Grenze einer prinzipiellen<br />

Unbestimmtheit gegenüber. Eine komplexe Welle ist<br />

nicht länger auf einen einzigen Punkt in der Raumzeit zu<br />

fixieren. Im Kant’schen Sinne bleibt das „Ding an sich“<br />

unerkannt. Die „spukhafte“, „transzendente“<br />

Wellenfunktion lässt eine prinzipielle Offenheit für etwas<br />

Unbegreifbares, Ungreifbares zu. Und das, obwohl sie<br />

einen logisch konsistenten und widerspruchsfreien<br />

Formalismus besitzt.<br />

Sofern wir alles Leben letzten Endes auf<br />

naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten von Raum<br />

und Zeit zurückführen müssten, stellt sich die Frage: Sollte<br />

das Leben nicht mindestens so mysteriös sein wie die<br />

Quantenphysik selbst?<br />

Die Fähigkeit eines Wissenschaftlers sich zu „wundern“<br />

gibt ihm Antrieb zu forschen. Und die Existenz unseres<br />

Universums und seiner Bauteile, das Phänomen des<br />

Lebens und unser selbst schenken uns Anlass uns zu<br />

wundern, denn sie sind ein Wunder. Und sie werden wohl<br />

immer ein Wunder bleiben.<br />

Literaturverzeichnis<br />

[1] Die Elberfelder Bibel, R. Brockhaus Verlag (1985), Psalmen 90:4<br />

[2] „Über das Relativitätsprinzip und die aus ihm gezogenen Folgerungen“,<br />

Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik, Band 4, 1907, S. 411-462<br />

[3] “The Divine Principle”, Sung Hwa Publishing (1996), S. 40<br />

Tabelle 1<br />

[4] Tipler: „Physik”, Spektrum (1994), S. 2<br />

[5] Wikipedia: Zeit; http://de.wikipedia.org/wiki/Zeit (27.04.07)<br />

[6] Anton Zeilinger: „Einsteins Schleier“, Goldmann (2005), S. 72, S. 153<br />

[7] Immanuel Kant: „Kritik der reinen Vernunft“, Suhrkamp (Frankfurt am<br />

Main 1974), Erster Theil. Die transscendentale Ästhetik<br />

[8] Wikipedia: Zen http://de.wikipedia.org/wiki/Zen-Buddhismus<br />

(27.04.07)<br />

[9] Stephen W. Hawking: ”A Brief History of Time“, Bantam Press (1989), S.<br />

151 ff.<br />

[10] Paul A. Tipler: „Physik”, Spektrum (1994), S. 599 ff.<br />

[11] Wikipedia: Crick; http://en.wikipedia.org/wiki/<br />

What_is_Life%3F_(Schr%C3%B6dinger) (27.04.07)<br />

[12] Metaphysik des Aristoteles (Buch VII) bzw. Georgi Schischkoff:<br />

„Philosophisches Wörterbuch“, Stuttgart: Kröner1(1982), 21. Auflage, S.<br />

211<br />

[13] Ernst Peter Fischer: „Die Andere Bildung“, Ullstein Verlag (2003), 1.<br />

Auflage, S. 216 f.<br />

[14] Wikipedia: Life; http://en.wikipedia.org/wiki/Life (27.04.07)<br />

[15] Hans-Peter Dürr: „Auch die Wissenschaft spricht nur in Gleichnissen”,<br />

Herder (2004), 4. Auflage, S. 45 ff.<br />

[16] Ebenda, S. 59 f.<br />

[17] Lev V. Beloussov et al.: ”Integrative Biophysics. Biophotonics”,<br />

Klawer Academic Publishers (2003), S. 149<br />

[18] Jonathan Wells: ”The Politically Incorrect Guide to Darwinism and<br />

Intelligent Design“, Regnery Publishing (2006), S. 61 f.<br />

[19] John Lennox: „Hat die Wissenschaft Gott begraben?“, R. Brockhaus<br />

Verlag (2006), 5. Auflage, S. 116<br />

[20] Jonathan Wells: ”The Politically Incorrect Guide to Darwinism and<br />

Intelligent Design“, Regnery Publishing (2006), S. 16 f.<br />

[21] Knodel, Bayrhuber et al.: „Linder Biologie“, Dorner (2001), 20. neu<br />

bearbeitete Auflage, S. 107<br />

[22] Ebenda, S. 105<br />

[23] Tipler: „Physik”, Spektrum (1994), S. 1015<br />

[24] Jonathan Wells: ”The Politically Incorrect Guide to Darwinism and<br />

Intelligent Design“, Regnery Publishing (2006), S. 108 f.<br />

[25] Ernst Peter Fischer: „Die Andere Bildung“, Ullstein Verlag (2003), 1.<br />

Auflage, S.288 f.<br />

Abbildungsverzeichnis<br />

[A1] http://www.blacklightpower.com/theory/DoubleSlit.shtml (27.04.07)<br />

[A2] http://www.asset-one.at/html/en/too-interaktion.html (27.04.07)<br />

[A3] http://www.veritas-ucsb.org/library/battson/stasis/2.html (27.04.07)<br />

Ebene Repräsentant [Beispiel] Wissenschaft[-sdisziplin]<br />

Elementarteilchen<br />

Atom<br />

Molekül<br />

Makromolekül<br />

Zellstruktur (Organell)<br />

Zelle<br />

Gewebe<br />

Organ<br />

Organsystem<br />

Organismus<br />

Gemeinschaft<br />

Gesellschaft<br />

…<br />

Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />

Elektron<br />

Kohlenstoff<br />

Wasser<br />

Gen<br />

Chromosom<br />

Blutzelle<br />

Muskel<br />

Kleinhirn<br />

Immunsystem<br />

Mensch<br />

Schulklasse<br />

[Österreich]<br />

…<br />

Zeit und Evolution<br />

Hochenergiephysik<br />

Atomphysik<br />

Physikalische Chemie<br />

Biochemie<br />

Molekulare Biophysik<br />

Zellbiologie<br />

Physiologie<br />

Neurobiologie<br />

Immunologie<br />

Anthropologie<br />

Mikrosoziologie<br />

Makrosoziologie<br />

…<br />

Dominic Zöhrer, geboren 1983, studiert Physik an der Universität Wien. Sein derzeitiger Fokus liegt auf den Bereichen Biophysik<br />

und Biophotonik. Er ist seit 2008 Angehöriger der Wiener Gruppe im Förderwerk PRO SCIENTIA<br />

26


Peter Siska<br />

1. EINFÜHRUNG<br />

1.1 Demographie<br />

Die stete Zunahme der Lebenserwartung in unserer<br />

Bevölkerung hat das Phänomen Altern immer stärker in<br />

den Blickpunkt des Interesses gerückt. Konnte ein um das<br />

Jahr 1900 geborenes Mädchen erwarten, im Schnitt 45<br />

Jahre zu leben, muss man für einen großen Teil der heute<br />

geborenen Mädchen davon ausgehen, dass diese ein<br />

Alter von 100 Jahren erreichen.[1]<br />

Während nichtnatürliche Todesursachen wie<br />

Naturkatastrophen (z.B. Dürreperioden, Unfälle, Seuchen<br />

und Infektionskrankheiten) bereits seit längerem<br />

weitgehend reduziert worden sind, hat das letzte<br />

Jahrhundert vor allem zu einer Verbesserung der<br />

hygienischen Bedingungen, des medizinischen Standards<br />

und zu einer allgemeinen Verbesserung der<br />

Lebensbedingungen (z.B. Ernährung) beigetragen. Die<br />

Gesamtlebenszeit des Individuums hat sich dadurch<br />

erheblich gesteigert. [2]<br />

Die Zunahme der absoluten Zahl und des Anteils von<br />

alten Leuten führt zwangsläufig zu einer dramatischen<br />

Änderung der Bevölkerungsstruktur. Diese<br />

demografischen Veränderungen stellen eine der großen<br />

Herausforderungen für die Zukunft dar und<br />

Wissenschaftler vieler Disziplinen wie Biogerontologen 1 ,<br />

Geriater, Mediziner sind aufgefordert, sich gemeinsam<br />

diesem <strong>Pro</strong>blem zu stellen und nach neuen Lösungen zu<br />

suchen. [1]<br />

1.2 Symptome des Alterns<br />

Fest steht, dass die Zellalterung in der Wildnis eine viel<br />

geringere Rolle als beim Menschen spielt, da dort die<br />

meisten Lebewesen sterben, lange bevor ein<br />

nennenswerter Teil ihrer Zellen gealtert ist. Beim Menschen<br />

ist der <strong>Pro</strong>zess der Zellalterung dagegen ein äußerst<br />

relevantes <strong>Pro</strong>blem, da es mit einer zunehmenden<br />

Lebenserwartung zur Zunahme alterstypischer<br />

Krankheiten und Todesursachen kommt. Geriatrische<br />

Erkrankungen mit Verbindung zur zellulären Seneszenz 2,3<br />

basieren auf der Degeneration der funktionellen<br />

Kapazität des Organismus und umschließen alle Ebenen<br />

seiner Organisation – von Alterungsprozessen<br />

unterworfenen Molekülen bis hin zu kompletten<br />

Organsystemen. [3]<br />

Während des Alterungsprozesses kommt es zu einem<br />

langsamen Verlust verschiedener Körperfunktionen, wobei<br />

alle Organsysteme betroffen sind. Veränderungen der<br />

Lungenfunktion mit Abnahme der Vitalkapazität, ein<br />

Absinken des Atemzugvolumens und der<br />

Sauerstoffaufnahmekapazität, eine Reduktion des<br />

zerebralen Blutflusses und der Durchblutung der Leber, des<br />

Herzschlagvolumens und der glomerulären Filtrationsrate<br />

sind relevante Phänomene des Alterungsprozesses in der<br />

Inneren Medizin. Auch im zentralen Nervensystem kommt<br />

es zu Funktionsverlusten, die sich am deutlichsten in einem<br />

Nachlassen von Gedächtnisfunktionen bemerkbar<br />

machen. Im endokrinen System sind Veränderungen bei<br />

der Hormonproduktion beschrieben. Der<br />

Gastrointestinaltrakt ist durch eine verminderte Sekretion<br />

von Verdauungsenzymen, eine verminderte Absorption<br />

und eine reduzierte Motilität betroffen. Diese Phänomene<br />

sind von einem allgemeinen Verlust an Strukturproteinen<br />

(Reduktion von Muskelmasse, Osteoporose, Verlust von<br />

Bindegewebe, Unterhautfettgewebe) begleitet. [2]<br />

Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />

Altern aus biologischer Sicht<br />

Die Folgen des Alterungsprozesses sind für jedermann<br />

unübersehbar. Die Haut wird faltig, die Muskelmasse<br />

nimmt ab, das Haar wird grau. Die Wissenschaftler<br />

beschäftigen sich dabei im Wesentlichen mit der Frage,<br />

die zugrunde liegenden <strong>Pro</strong>zesse zu verstehen und zu<br />

verlangsamen. Dabei geht es aber keinesfalls darum,<br />

den Alterungsprozess komplett zu stoppen (Suche nach<br />

dem ewigen Leben), sondern darum, die gesunden<br />

Jahre zu verlängern bzw. die Zeit mit Krankheit und<br />

Pflegebedürftigkeit zu reduzieren. [1]<br />

2. MECHANISMEN DES ALTERNS<br />

Altern ist ein sehr komplexer Vorgang und es wäre<br />

illusorisch anzunehmen, dass es für die Gesamtheit der<br />

Veränderungen eine einzelne kausale Ursache gibt.<br />

Vielmehr handelt es sich um eine Ansammlung von<br />

zufälligen Ereignissen entlang der Zeitachse des Lebens.<br />

Um dieses Phänomen zu erklären, wurden viele<br />

verschiedene Theorien aufgestellt.<br />

Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts galt das Dogma<br />

von Carrell, dass einzelne Zellen unsterblich sind und nur<br />

der gesamte multizelluläre 4 Organismus altern kann. 1965<br />

konnte dann gezeigt werden, dass sich menschliche<br />

Zellen außerhalb des Körpers nur weniger als 100-mal<br />

teilen können und der sog. Replikativen Seneszenz 5<br />

unterliegen (sog. Hayflick-Limit). Alle Zellen im<br />

menschlichen Organismus (mit wenigen Ausnahmen)<br />

teilen sich mitotisch 6 – das heißt, eine Zelle teilt sich in<br />

zwei Tochterzellen, die sich wiederum in zwei teilen. Dies<br />

geht aber nicht bis unendlich: Das Hayflick-Limit<br />

beschreibt die Anzahl der Generationen von dieser<br />

ersten Zelle ausgehend (siehe Abbildung 1). [1]<br />

Die Experimente zeigen, dass das Alter einer Zelle nicht<br />

von ihrem chronologischen Alter bestimmt wird, sondern<br />

sich vielmehr danach richtet, wie viele Zellteilungszyklen<br />

sie bisher durchlaufen hat: In Flüssigstickstoff konservierte<br />

Zellen, durchliefen nach Langzeitlagerung die gleiche<br />

Anzahl von Zellteilungen, wie solche, die nicht<br />

eingefroren worden waren.<br />

Während des Alterungsprozesses kommt es zu einer<br />

Verminderung der maximal noch erzielbaren<br />

Zellproliferationsrate 7 . Während fetale<br />

Fibroblastenkulturen sich etwa 70–80mal teilen, teilen<br />

sich Fibroblasten von alten Individuen nur noch wenige<br />

Male. Dieses Phänomen wird auch bei Patienten<br />

beobachtet, die an Erkrankungen, wie zum Beispiel<br />

<strong>Pro</strong>geria infantium (Hutchinson-Gilford-Syndrom) leiden,<br />

das sich durch einen verfrüht einsetzenden<br />

Alterungsprozess auszeichnet (siehe Abbildung 2). [2]<br />

2.1 Telomerverkürzung<br />

Altern aus biologischer Sicht<br />

27<br />

Die meisten Zellen des Menschen zeigen eine<br />

verblüffende Abneigung dagegen, sich durch<br />

fortlaufende Zellteilung unbegrenzt zu vermehren.<br />

Beispielsweise durchlaufen aus einem Embryo<br />

entnommene Fibroblasten 12 in einer Standardzellkultur<br />

etwa 50 Zellteilungen (Siehe Abbildung 1). Dann kommt<br />

es zunächst zu einer Verlangsamung der Vermehrung,<br />

bis sie schließlich ganz zum Stillstand kommt und die<br />

Zellen langsam absterben. Die programmierte Serie von<br />

Zellteilungen, an deren Ende die Differenzierung der Zelle<br />

innerhalb eines Gewebes steht, ist aus der<br />

Embryonalentwicklung gut bekannt. Führt man ein<br />

entsprechendes Experiment jedoch mit Fibroblasten


eines 40-Jährigen durch, so tritt dieses Phänomen bereits<br />

nach 40 Zellteilungen auf, bei Zellen eines 80-Jährigen<br />

bereits nach 30 Mitosen. Bei Organismen mit kurzer<br />

Lebenserwartung (z. B. Maus oder Kaninchen) kommt<br />

es bereits nach sehr wenigen Zyklen zum Ende der<br />

<strong>Pro</strong>liferation und anschließend zum Zelltod.<br />

Offensichtlich besteht also ein Zusammenhang zwischen<br />

der Alterung des Gesamtorganismus und der Fähigkeit<br />

seiner Zellen sich zu vermehren. Dieses Phänomen wurde<br />

als Zellalterung („cellular senescence“) bezeichnet. [3]<br />

Nach der Entdeckung der replikativen Seneszenz<br />

dauerte es noch fast 25 Jahre bis dieses Phänomen<br />

erklärt werden konnte. Der Beitrag von Hong et al. Stellt<br />

diese <strong>Pro</strong>grammtheorie umfassend dar, nach der die<br />

so genannten Telomere an den Enden der<br />

Chromosomen mit jeder Zellteilung verkürzt werden, bis<br />

diese völlig aufgebraucht sind und ein<br />

Alterungsprogramm gestartet wird d. h. sich die Zelle<br />

nicht mehr teilen kann. [1]<br />

Die chromosomalen Enden, die Telomeren, bestehen<br />

aus langen Aneinanderreihungen von simplen,<br />

repetitiven, G/C- reichen Sequenzen 13 (10–15 kb der<br />

TTAGGG 14 -Wiederholungseinheit),die an<br />

Kernmembranproteine binden. Telomere sind<br />

bedeutend für die Wahrung der Integrität der<br />

Chromosomen, schützen sie gegen irreguläre<br />

Rekombination und Degradation und sichern ihre<br />

komplette Replikation 15 bei jeder Zellteilung. [5]<br />

Chromosomen mit beschädigten Telomerenden<br />

fusionieren leichter mit anderen Chromosomen oder<br />

gehen während der Zellteilung verloren. [6] Sie spielen<br />

eine Rolle für die Lokalisation der Chromosomen im<br />

Nukleus, für die korrekte Teilung der<br />

Schwesterchromatiden 16 während der Replikation, bei<br />

der Steuerung der Genexpression und bei der<br />

Zellalterung. [5]<br />

Nach der Theorie des Telomerverlustes werden also die<br />

Telomere bei jeder Zellteilung kürzer, d.h. jede<br />

Tochterzelle (siehe Abbildung 3) „erbt“ Chromosomen,<br />

die kürzere Telomere besitzen, als es bei den mütterlichen<br />

Chromosomen der Fall war. Dies geht, bis die Telomere<br />

„ausgeschöpft“ sind (z.B. in der achtzigsten Generation,<br />

siehe Abbildung 1). Wenn keine bzw. zu wenige Telomere<br />

vorhanden sind, können sie ihre Funktionen nicht<br />

ausüben (siehe oben), vor allem können sie nicht die<br />

Chromosomen und somit die ganze Zelle vor<br />

Degradation und Zelltod schützen. Somit dienen sie als<br />

eine „mitotische Uhr“ und sorgen dafür, dass sich die<br />

Zellen nur so viel teilen, wie es nötig ist.<br />

Von großem Interesse war eine amerikanische Studie, in<br />

der die Autoren zeigen konnten, dass die aktuell<br />

verfügbare Telomerlänge unmittelbar mit der<br />

Lebenserwartung zusammenhängt. Die Autoren haben<br />

dabei 143 Blutspender aus Utah mit einem Alter von 60–<br />

97 Jahren untersucht, die zwischen 1982 und 1986 Blut<br />

gespendet hatten. Die Geburts- und ggfs. Sterbedaten<br />

der Blutspender wurden ermittelt und mit der<br />

Telomerlänge der DNA der Blutzellen zum Zeitpunkt der<br />

Spende korreliert. Die Spender wurden dabei in sechs<br />

Altersgruppen eingeteilt. Die Untersuchungen konnten<br />

eine statistisch relevante umgekehrte Korrelation<br />

zwischen Telomerlänge und Alter des Individuums<br />

zeigen. Ältere Spender hatten also nachweisbar kürzere<br />

Telomere. [2]<br />

Nicht jede menschliche Zelle ist jedoch samt ihrer<br />

Tochterzellen zum Altern und Sterben verurteilt. Zellen<br />

verschiedener adulter Gewebe, wie die Stammzellen<br />

der Haut oder die Keimzellen, aber auch Tumorzellen<br />

können mit maximaler Geschwindigkeit proliferieren,<br />

Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />

ohne diese kritische Telomerlänge zu erreichen. Es muss<br />

also ein Mechanismus existieren, der der<br />

Telomerverkürzung entgegenwirkt. Dieser findet sich in<br />

einem Enzym, der so genannten Telomerase, die die<br />

Chromosomenenden verlängern kann. Diese spezifische<br />

reverse Transkriptase ist in der Lage, die Länge der<br />

Telomeren konstant zu halten und ist damit Voraussetzung<br />

für die unbegrenzte Teilungsfähigkeit immortaler Zellen.<br />

Telomeraseaktivität konnte in immortalisierten Zelllinien<br />

und in 85% maligner Tumoren (!) nachgewiesen werden.<br />

Somit scheint die Reaktivierung der Telomerase ein<br />

wichtiger Schritt bei der Immortalisierung von Zellen und<br />

bei der malignen Entartung zu sein. Es ist wahrscheinlich,<br />

dass der Nachweis der Telomeraseaktivität in einem<br />

Tumor eine diagnostische Relevanz als Tumormarker<br />

erlangen könnte. [5][6]<br />

2.2 Sauerstoffradikale<br />

Altern aus biologischer Sicht<br />

28<br />

Nach Abschluss der Zellteilungsphase gehen die Zellen<br />

in einen postmitotischen 18 Zustand über. Sie dienen dann<br />

der Organerhaltung und führen die ihnen vom<br />

Organismus zugedachte Aufgabe aus. Dieser Zustand<br />

kann viele Jahre andauern. In dieser Zeit wirken eine<br />

Vielzahl exogener und endogener Reize und Noxen auf<br />

die Zelle ein. Diese werden gegenwärtig als<br />

Mechanismen der postreplikativen Seneszenz 19 (als<br />

Unterschied zu der oben besprochenen replikativen<br />

Seneszenz) diskutiert. Hierbei kommen neben genetisch<br />

determinierten (erblichen) Faktoren v.a. körpereigene<br />

Substanzen und Umwelteinflüsse in Betracht. In diesem<br />

Zusammenhang kommen chemische, physikalische und<br />

biologische Substanzen in Frage. [3]<br />

Die bekannteste Theorie, die der Zelle zugeführten Reize<br />

berücksichtigt ist die Theorie der freien<br />

Sauerstoffradikalen. Sie besagt, dass die meisten<br />

altersbedingten Veränderungen in Zellen auf<br />

molekularen Schäden beruhen, die durch freie Radikale<br />

verursacht werden. Freie Radikale oder<br />

Sauerstoffradikale (ROS) sind Moleküle, die ein<br />

unpaariges Elektron in ihrer äußeren Schale aufweisen.<br />

Kleine Mengen an ROS werden spontan bei<br />

Redoxprozessen wie der Phosphorylierung in<br />

Mitochondrien und der Oxidation von Fettsäuren<br />

freigesetzt. Durch Strahleneinwirkungen, bestimmte<br />

Chemikalien oder bei schweren Infekten kann die<br />

<strong>Pro</strong>duktion von ROS signifikant erhöht sein. Da freie<br />

Radikale aufgrund der singulären Elektronen extrem<br />

reaktiv sind, können durch eine vermehrte Bildung von<br />

ROS unkontrollierte Kettenreaktionen ausgelöst werden,<br />

die zu schweren strukturellen Schäden des jeweiligen<br />

Reaktionspartners führen können. Besonders sensibel für<br />

ROS- vermittelte Schäden sind dabei Nukleinsäuren,<br />

Phospholipide und <strong>Pro</strong>teine. Die Oxidation nukleärer und<br />

mitochondrialer DNA (siehe unten) kann daher zu<br />

Mutationen und Störungen der <strong>Pro</strong>teinsynthese und so<br />

letztlich zum Zelltod führen. Die Kapazität der<br />

Reparaturenzyme (die sich um die ROS kümmern und<br />

sie beseitigen) ist allerdings begrenzt und nimmt mit<br />

zunehmendem Alter ab. Die <strong>Pro</strong>duktion freier Radikale<br />

in verschiedenen Organgeweben, wie Herz, Niere und<br />

Leber, in einigen Säugetieren ist umgekehrt proportional<br />

zur maximalen Lebenserwartung, wobei die individuelle<br />

Aktivität der antioxidativen Enzyme unterschiedlich sein<br />

kann.<br />

Im Menschen finden sich in epidemiologische Studien, die<br />

eine Zuführung von Antioxidanzien untersucht haben,<br />

Hinweise, dass diese möglicherweise zu einem verminderten<br />

Auftreten bestimmter altersbedingter Krankheiten wie<br />

kardiovaskuläre Erkrankungen, vaskuläre Demenz und dem<br />

Auftreten von Neoplasien führt. [2]


2.3 Mitochondrien<br />

Mitochondrien sind Bestandteile der Zellen, ihre Aufgabe<br />

liegt vor allem in Energieerzeugung für alle Vorgänge,<br />

die Energie verbrauchen. Sie „verbrennen“ Sauerstoff<br />

und Glukose, wobei das energiereiche Endprodukt, das<br />

ATP 20 , dann das Mitochondrium verlässt. Die<br />

Mitochondrien besitzen ein eigenes Genom (die<br />

mitochondriale DNA – sie ist abzugrenzen von der<br />

„großen“ DNA, die sich im Zellkern, in Chromosomen<br />

verpackt, befindet), wo die mitochondriale Bestandteile<br />

kodiert sind.<br />

Die Integrität der Mitochondrien, scheint im Alter reduziert<br />

zu sein. Hierbei können bei zellulärer Seneszenz im<br />

Mitochondriengenom zunehmende Verluste genetischen<br />

Materials sowie Strangbrüche beobachtet werden. Als<br />

Ursache wird vornehmlich oxidativer Stress<br />

angenommen. [3]<br />

Die mitochondriale Alterungstheorie fußt auf der<br />

Annahme, das reaktive Sauerstoffverbindungen und freie<br />

Radikale (siehe oben), die in der unmittelbaren<br />

Umgebung der Atmungskette 21 während des Lebens<br />

eines Organismus in den Mitochondrien gebildet werden<br />

die mitochondriale DNA schädigen.<br />

Der Alterungsprozess der Mitochondrien führt zu einer<br />

steten Abnahme der Zell-, Gewebe und Organfunktion<br />

und betrifft besonders energieabhängige postmitotische<br />

Gewebe wie Skelettmuskel, Gehirn und Herz. [7][1]<br />

2.4 <strong>Pro</strong>teine<br />

<strong>Pro</strong>teine werden mit ihrer Synthese „geboren“, sie<br />

„sterben“ durch <strong>Pro</strong>teolyse 22 bzw. Degradation. Während<br />

ihrer Lebensspanne können diverse molekulare<br />

Veränderungen auftreten. Mindestens 140 verschiedene<br />

post-translationale 23 <strong>Pro</strong>teinmodifikationen wurden<br />

bereits beschrieben.<br />

Die meisten der <strong>Pro</strong>teinveränderungen sind biologische<br />

Werkzeuge zur Regulation der <strong>Pro</strong>teinfunktion. Posttranslationale<br />

<strong>Pro</strong>teinveränderungen können aber auch<br />

Manifestationen einer <strong>Pro</strong>teinalterung mit<br />

pathophysiologisch relevanten Folgen sein. Sie können<br />

zu einer Akkumulation „abnormer“ <strong>Pro</strong>teine mit<br />

zunehmendem Alter führen, möglicherweise auch mit der<br />

Folge von Funktionsstörungen und Krankheit. Die in<br />

diesem Zusammenhang am häufigsten diskutierten<br />

<strong>Pro</strong>teinveränderungen sind Oxidation, Glykosylierung,<br />

Deamidierung, Razemisierung und Isomerisierung. Alle<br />

diese Modifikationen sind das Ergebnis spontaner, nichtenzymatischer<br />

<strong>Pro</strong>zesse, die zu einer Akkumulation<br />

veränderter <strong>Pro</strong>teine mit dem Alter führen. [8]<br />

Dabei scheint die nicht enzymatische Reaktion von<br />

Zuckern mit <strong>Pro</strong>teinen, und die entstehenden sog.<br />

„Advanced Glycation Endproducts – AGEs“ eine zentrale<br />

Rolle zu spielen. AGEs reichern sich im Laufe des Lebens<br />

an und ihre <strong>Pro</strong>duktion kann die Funktionalität der<br />

<strong>Pro</strong>teine und letztendlich der Gewebe stören. AGEs<br />

können <strong>Pro</strong>teine quervernetzen und so zur<br />

Gewebeversteifung, z.B. der Aorta, im Alter ursächlich<br />

beitragen. Es sind jetzt Medikamente entwickelt worden,<br />

die diese Quervernetzungen brechen (AGE-Crosslinkbreaker)<br />

und die auf diese Weise die Herz- und<br />

Gefäßfunktion verbessern konnten – d.h. man konnte das<br />

Herz sozusagen verjüngen. [1]<br />

Die meisten, wenn nicht gar alle, Reparatursysteme sind<br />

abhängig von intrazellulären 24 Enzymen; Modifikationen<br />

extrazellulärer 25 <strong>Pro</strong>teine können durch sie nicht korrigiert<br />

werden. Wenn kein Reparatursystem zur Verfügung steht,<br />

hängt die Bedeutung der <strong>Pro</strong>teinveränderungen im<br />

Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />

Wesentlichen von der <strong>Pro</strong>teinumsatzrate ab. <strong>Pro</strong>teine mit<br />

hohem Umsatz werden ausgetauscht, bevor posttranslationale<br />

Modifikationen relevant werden können.<br />

Mit zunehmender Halbwertszeit 26 steigt das Risiko einer<br />

<strong>Pro</strong>teinschädigung durch Alterung. Die am meisten<br />

betroffenen <strong>Pro</strong>teine sind permanente <strong>Pro</strong>teine, die früh<br />

synthetisiert und dann nicht mehr ausgetauscht werden.<br />

Die Daten wurden aber auch für diverse andere<br />

Gewebe erhoben, wie beispielsweise für die Media 27<br />

verschiedener Arterien für Organkapseln und<br />

Lungenparenchym. Ein Nachweis relevanter<br />

Konzentrationen permanenter <strong>Pro</strong>teine wurde in<br />

zahlreichen weiteren Geweben festgestellt,<br />

beispielsweise in Zahnschmelz und -zement, in Knorpel,<br />

Knochen und der weißen Hirnsubstanz. Diese Daten<br />

beweisen, dass verschiedenste Gewebe signifikante<br />

Konzentrationen permanenter, alternder <strong>Pro</strong>teine<br />

enthalten. [8]<br />

2.5 Andere Mechanismen<br />

Viele Studien zeigen einen Anstieg von<br />

proinflammatorischen Zytokinen mit dem Alter. Diese<br />

sind chemische Botenstoffe, die im Körper zirkulieren und<br />

eine Entzündung fördern und aufrechterhalten können.<br />

Man findet eine Aktivierung des unspezifischen<br />

Immunsystems (z.B. der Monozyten) und eine Reduktion<br />

der Funktionalität des spezifischen Immunsystems (z.B.<br />

der T-Zellen). Diese Veränderungen wichtiger Zellen der<br />

Immunabwehr mit dem Alter ist schon oft beschrieben<br />

worden. Interessanterweise ist das Immunsystem direkt<br />

über das autonome Nervensystem mit der Regulation<br />

der Herzfrequenzvariabilität mit dem kardiovaskulären<br />

System verbunden. Damit ergibt sich die neue<br />

Möglichkeit, durch direkte Intervention in die<br />

Inflammationslast, z.B. durch regelmäßige Impfung,<br />

Einfluss auf das Altern des Herzens zu nehmen. [1]<br />

Bei wechselwarmen Tieren ist bekannt, dass eine<br />

Verringerung der Umgebungstemperatur und Reduktion<br />

der körperlichen Aktivität zu einer längeren<br />

Lebenserwartung beitragen. Dies lässt sich auch bei<br />

Insekten beobachten. Eine Erniedrigung der<br />

Umgebungstemperatur um 10% oder eine künstliche<br />

Herabsetzung der Flugfähigkeit von Drosophila<br />

melanogaster kann zu einer Lebensverlängerung von<br />

bis zu 250% führen. Es wird angenommen, dass<br />

entscheidende Faktoren die Reduktion des<br />

Grundumsatzes und dadurch auch eine<br />

Aktivitätserniedrigung freier Radikale sind, welche eine<br />

Reduzierung an DNA- und <strong>Pro</strong>teinschäden zur Folge<br />

haben. [2]<br />

Neue Studien belegen, dass asketische Lebensweise bei<br />

ständiger Schmalkost die durchschnittliche<br />

Lebenserwartung verlängern, bei der Fliege Drosophila<br />

und der Maus ebenso wie beim Menschen. Anders als<br />

erwartet, bewirkt viel anstrengende körperliche Aktivität<br />

nicht ein Hinauszögern des Alterns, sonder dessen<br />

Beschleunigung. Gegenwärtige Hypothesen bringen<br />

dies alles mit mitochondrialen Funktionen in Verbindung.<br />

Wenn die mitochondriale Atmungskette bei hoher<br />

Nahrungszufuhr und hohem ATP-Bedarf auf Hochtouren<br />

läuft, entstehen als unvermeidliche Nebenprodukte<br />

auch mehr aktive Sauerstoffverbindungen, und diese<br />

wirken schädigend auf die Zelle. [9]<br />

3. TOD<br />

Altern aus biologischer Sicht<br />

29<br />

Alterung führt zum Tod. Nicht nur zum Tod der Zelle<br />

sonder auch eines Zellenverbandes oder eines<br />

mehrzelligen Organismus.<br />

Ein Einzeller, eine Amöbe zum Beispiel, nimmt bei gutem<br />

Nahrungsangebot an Masse zu und teilt sich in zwei


Zellen (eine Vorstellung von dem <strong>Pro</strong>zess der Mitose<br />

bietet die Abbildung 1). Bedeutet die Teilung aber das<br />

Ende des individuellen Lebens? Kann man sagen, dass<br />

es sich um Tod handelt? Eine Leiche bleibt jedenfalls<br />

nicht zurück. Üblicherweise spricht man in diesem Fall<br />

von einer potentiellen Immortalität – nur<br />

Gefressenwerden, Befall durch Parasiten oder Schaden<br />

von der Außenwelt setzten dem Leben des Einzellers ein<br />

Ende, nicht aber natürliches Altern.<br />

Tod ist eine Phänomen, das die Zellen eines Vielzeller<br />

(wie z.B. Menschen) erfasst. Aber auch hier gibt es<br />

Ausnahmen: In Zellkultur gehaltene Zellen vom<br />

Menschen sind oftmals potentiell immortal<br />

(Telomeraseaktivität in Stamm- oder Tumorzellen: siehe<br />

oben). Nur deshalb lassen sich solche Zellen über<br />

Jahrzehnte am Leben erhalten und vermehren. Und der<br />

Süßwasser Polyp Hydra ist als Ganzes potentiell immortal<br />

– seine Zellen sterben sehr wohl alle ab, aber jede<br />

sterbende Zelle wird durch eine neu geborene ersetzt.<br />

Die Lebensspanne der Säuger ist augenscheinlich mit<br />

ihrer Körpergröße korreliert. Kleine Lebewesen, die viel<br />

Energie umsetzen, deren Stoffwechsel mit hoher<br />

Geschwindigkeit abläuft und deren Herz entsprechend<br />

schnell schlägt, erreichen früher ihr Lebensende als<br />

große Tiere. Unter den Primaten ist der Homo sapiens<br />

mit 95 Jahren (Artspezifische maximale Lebensspanne)<br />

der Rekordhalter und gehört zu den langlebigsten<br />

Lebewesen überhaupt.<br />

Das Altern und der Tod hat eine wichtige biologische<br />

Bedeutung – Lebewesen sollen ihren Nachfahren,<br />

Menschen ihren Kindern Platz machen. Zwar ist der<br />

Süßwasser Polyp Hydra potentiell immortal, kennt aber<br />

die verblüffende Vorteile der sexuellen Fortpflanzung<br />

nicht. Sie ermöglicht nämlich vielfältige Rekombination<br />

der allelischen Varianten. Sexuelle Fortpflanzung<br />

ermöglicht es den Lebewesen, der Natur immer neue<br />

Varianten zur Selektion anzubieten, fördert Anpassung<br />

an veränderte Umweltgegebenheiten (Teilaspekt der<br />

Evolution). Der Tod schafft somit Raum für neues Leben,<br />

neu nicht nur im Sinne von erneut, sondern auch im Sinn<br />

von neuartig. Eine unaufhörliche Sequenz von Tod und<br />

Geburt hat in der Evolution den Menschen<br />

hervorgebracht. [9]<br />

4. BEGRIFFSERKLÄRUNG<br />

1 Die Biogerontologie (gr. bios „Leben“, gerMn „Greis“,<br />

logos „Lehre“) ist das Teilgebiet der Entwicklungsbiologie,<br />

das sich mit der Erforschung der Ursachen biologischen<br />

Alterns und deren Folgen, der Seneszenz (lat. senescere<br />

„alt werden“) von Einzelzellen und Organismen<br />

beschäftigt.<br />

2 Seneszenz v. lat. Altwerden, Altern.<br />

3 Zellulären Seneszenz ist ein genetisch festgelegtes<br />

<strong>Pro</strong>gramm, welches in nahezu allen Körperzellen<br />

(ausgenommen Keimbahn- und Stammzellen) nach<br />

Ablauf einer begrenzten Zellteilungkapazität oder nach<br />

irreparablen Erbgutschäden aktiviert wird und weitere<br />

Zellteilungen verhindert.<br />

4 Multizellulär - aus vielen Zellen bestehend<br />

5 Replikativen Seneszenz - Alterung und schließlich<br />

Zelltod nach Verlust der Kapazität für Zellteilung; bei<br />

menschlichen Fibroblasten in Zellkultur nach ca. 50<br />

Teilungszyklen; nach Entdecker auch Hayflicksches Limit<br />

genannt<br />

6 Mitose - Kernteilungsvorgang, bei dem aus einem<br />

Zellkern zwei Tochterkerne gebildet werden, die gleiches<br />

Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />

(mit dem Ausgangsmaterial identisches) Genmaterial<br />

und die gleiche Chromosomenzahl haben.<br />

7 Unter Zellproliferation versteht man die Zellteilung, wobei<br />

die Zellproliferationsrate ein Maß für die<br />

Teilungsgeschwindigkeit der Zellen ist. Deren<br />

Veränderung kann als Indiz für eine schädliche<br />

Beeinflussung gelten, z. B. in Richtung einer<br />

Tumorentstehung bzw. –entwicklung<br />

8 Kernlamina, die auf der Innenseite der Kernhülle<br />

befindliche 20 - 50 nm dicke <strong>Pro</strong>teinschicht, die mit dem<br />

Chromatin interagiert. Die K. ist aus zu den<br />

Intermediärfilamenten gehörenden Lamininen<br />

aufgebaut. Während der Mitose ist die K. am Auf- und<br />

Abbau der Kernhülle beteiligt.<br />

9 Alopezie - Haarverlust<br />

Altern aus biologischer Sicht<br />

30<br />

10 Unter Arteriosklerose versteht man eine<br />

Systemerkrankung der Schlagadern (Arterien), die zu<br />

Ablagerungen von Blutfetten, Thromben, Bindegewebe<br />

und Kalk in den Gefäßwänden führt. Wörtlich übersetzt<br />

heißt Arteriosklerose bindegewebige Verhärtung der<br />

Schlagadern. Der ansonsten synonym gebrauchte Begriff<br />

Atherosklerose betont die histologischen<br />

Veränderungen, die der Arteriosklerose zugrunde liegen,<br />

d.h. die sich chronisch entwickelnden herdförmigen<br />

Veränderungen der mesenchymalen Zellen der inneren<br />

Gefäßwand (Intima) und der inneren Schichten der<br />

mittleren Gefäßwand (Media). Sie werden häufig auch<br />

als Plaques bezeichnet.<br />

11 Hypogonadismus - Unterfunktion der Keimdrüsen<br />

(Gonaden). Hierbei kann sowohl die Hormonfunktion als<br />

auch die Fortpflanzungsfunktion betroffen sein.<br />

12 Fibroblasten sind die Hauptzellen des Bindegewebes.<br />

13 G/C- reichen Sequenzen – Abschnitte der DNA, die<br />

reich an Nukleinbasen Guanin und Cytosin sind.<br />

14 TTAGGG – Kurz DNA-Abschnit, der Thymin, Adenin und<br />

Guanin beinhaltet.<br />

15 Replikation - Verdopplung der DNA in der S-Phase des<br />

Zellzyklus (Interphase)<br />

16 Schwesterchromatiden - die während der Replikation<br />

in der S-Phase des Zellzyklus entstandenen identischen<br />

Kopien der Chromatiden. Sie garantieren, dass während<br />

der Zellteilung normalerweise beide Tochterzellen eine<br />

Chromatide eines jeden Chromosoms enthält.<br />

17 Metaphasenchromosome – Chromosome, die sich in<br />

der Metaphase (Phase der Mitose) befinden. In der<br />

Metaphase sind sie kompakt und leicht mikroskopisch<br />

darstellbar. Metaphasenchromosome sind verdoppelt<br />

und formen ein „X“<br />

18 Postmitotisch – der Mitose folgend.<br />

19 Postreplikative Seneszenz – Seneszenz, die nach der<br />

replikativen Phase eintritt.<br />

20 Adenosintriphosphat (ATP) ist ein Nucleotid, bestehend<br />

aus dem Triphosphat des Nucleosids Adenosin ATP ist<br />

auch die universelle Form unmittelbar verfügbarer<br />

Energie in jeder Zelle und gleichzeitig ein wichtiger<br />

Regulator energieliefernder <strong>Pro</strong>zesse. ATP kann aus<br />

Energiespeichern (Glykogen, Kreatin-Phosphat) bei<br />

Bedarf freigesetzt werden.<br />

21 Die Atmungskette ist der letzte Schritt des Glucose-<br />

Abbaus. In der Glycolyse wird die Glucose in zwei


Moleküle Pyruvat zerlegt, dabei werden 2 ATP pro<br />

Glucose-Molekül gewonnen. Im Anschluss daran findet<br />

der Citratzyklus statt. Hier frei werdende Energie wird zur<br />

Gewinnung von ATP eingesetzt, welches dann das<br />

eigentliche Endprodukt des Glucose-Abbaus ist.<br />

22 <strong>Pro</strong>teolyse - von griechisch: lysis – Auflösung. Als<br />

<strong>Pro</strong>teolyse bezeichnet man den Abbau von <strong>Pro</strong>teinen.<br />

23 Posttranslationale <strong>Pro</strong>teinmodifikationen sind<br />

Veränderungen von <strong>Pro</strong>teinen, die nach der Translation,<br />

also nach der definitiven <strong>Pro</strong>teinsynthese stattfinden.<br />

24 Intrazellulär – innerhalb der Zelle sich befindend<br />

25 Extrazellulärer – außerhalb der Zelle sich befindend<br />

26 Als Halbwertszeit wird diejenige Zeitspanne bezeichnet,<br />

in der die Konzentrateion eines in einem System<br />

vorkommenden Stoffes auf die Hälfte abgesunken ist.<br />

27 Die Tunica media ist eine Schicht aus glatten<br />

Muskelzellen, die das Blut- und in geringem Maße auch<br />

das Lymphgefäßsystem umgibt.<br />

Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />

Literatur<br />

[1] Meißner C, Simm A. Mechanismen des Alterns aus biogerontologischer<br />

Sicht. Z Gerontol Geriat 2007; 40:311-313.<br />

[2] Nikolaus S, Schreiber S. Molekulare Mechanismen für die Kontrolle der<br />

Lebenserwartung. Dtsch Med Wochenschr 2004;129:903–907<br />

[3] Battmann A, Schulz A, Stahl U. Zelluläre Seneszenz – ein Mechanismus<br />

der Osteoporoseentstehung? Orthopäde 2001; 30:405-411<br />

[4] Brinckmann J. Hereditäre Erkrankungen. Dermatologie und<br />

Venerologie. Springer Berlin Heidelberg 2005: p 655.<br />

[5] Schneider-Stock R, Boltze C, Roessner A. Telomerase und neue Aspekte<br />

in der Tumorbiologie. Pathologe 2002; 23:177-182.<br />

[6] Dahse R, Fiedler W, Ernst G. Telomere und Telomerase. Pathologe 1997;<br />

18:425-429.<br />

[7] Meißner C. Mutations of mitochondrial DNA – cause or consequence<br />

of the ageing process? Z Gerontol Geriat 2007; 40:325-333.<br />

[8] Ritz-Timme S. Altern auf molekularer Ebene am Beispiel der <strong>Pro</strong>teine. Z<br />

Gerontol Geriat 2001; 34:452-456.<br />

[9] Entwicklungsbiologie und Reproduktionsbiologie von Mensch und<br />

Tieren. Springer Berlin Heidelberg 2006: pp 647-656.<br />

Abbildung 1. Mitotische Zellteilung.<br />

Die meisten menschlichen Zellen unterliegen einer<br />

replikativen Seneszenz. In dieser Abbildung wird ein<br />

Modell der mitotischen Zellteilung dargestellt, wobei<br />

die letzte, achtzigste Generation die Letzte ist. Nach<br />

dieser kommt es zu keiner Zellteilung mehr, die<br />

Zellpopulation stirbt ab.<br />

Altern aus biologischer Sicht<br />

31


Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />

Abbildung 2. <strong>Pro</strong>geria infantium (Hutchinson-Gilford-Syndrom)<br />

Die Erkrankung ist sehr selten. Die Inzidenz wird auf 1:4–1:8 Millionen<br />

Geburten geschätzt. Der Erbgang ist unklar, da die Patienten kinderlos<br />

bleiben.<br />

Es konnte eine De-novo-Mutation im Gen für Lamin-A auf Chromosom<br />

1q21.2 nachgewiesen werden, einem <strong>Pro</strong>tein der Kernlamina 8, die sich<br />

an der Innenseite der Kernmembran befindet. In Zellkultur zeigen<br />

Fibroblasten von <strong>Pro</strong>geriepatienten eine verminderte Mitoserate und<br />

DNA-Synthese.<br />

Schon in den ersten Lebensmonaten setzt hochgradige Vergreisung ein.<br />

Es besteht ein proportionierter Zwergwuchs. Typisch ist das greisenhafte<br />

Aussehen durch stark atrophische Altershaut mit verstärkter<br />

Venenzeichnung. Die Haut wird dünn, glänzend und ist straff gespannt.<br />

Im Verlauf tritt eine generalisierte Alopezie 9 auf. Zu den systemischen<br />

Zeichen gehören Osteoporose mit gehäuften Frakturen,<br />

Skelettanomalien, progressive Atherosklerose 10 und Hypogonadismus 11.<br />

Die geistige Entwicklung ist häufig normal.<br />

Die Patienten versterben in der Regel in der 2. Lebensdekade, 90% an<br />

den Folgen einer progressiven Atherosklerose der Koronarien und der<br />

Zerebralarterien.<br />

Eine spezifische Behandlung existiert nicht, das Hauptaugenmerk liegt<br />

auf der symptomatischen Therapie. [4]<br />

Quelle: http://www.mactonnies.com/progtyp.jpg<br />

Abbildung 3. Theorie des Telomerverlustes.<br />

Die Abbildung stellt drei Metaphasenchromosome 17 drei<br />

aufeinender folgenden Generationen dar. Die Anzahl der<br />

Telomere wird nummeriert.<br />

Telomere setzen sich aus einer DNA-Komponente und<br />

verschiedenen <strong>Pro</strong>teinen zusammen. Die DNA der Telomere<br />

besteht aus sich wiederholenden Nukleotidbaseneinheiten,<br />

wobei die exakte Sequenz dieser „repeats“ und ihre Länge<br />

von Spezies zu Spezies variieren. Während jeder Zellteilung<br />

geht an allen Chromo-somenenden eine geringe Menge an<br />

DNA-Sequenzen verloren. Dieses Phänomen ist auf die<br />

Eigenschaften der DNA-Replikationsmaschinerie<br />

zurückzuführen und wird auch als Endreplikationsproblem<br />

bezeichnet.<br />

Humane Fibroblasten verlieren in vitro ca. 50–200 bp ihrer Telomersequenzen pro Verdopplung der Zellpopulation.<br />

Dies entspricht einem Invivo- Verlust von 15–50 bp pro Jahr. [6]<br />

Peter Siska, geb. am 08. September 1983 in Bratislava studiert Humanmedizin an der Medizinischen Universität Wien. Seine<br />

Diplomarbeit beschäftigt sich mit der Erforschung der Wirkung neuer Krebsmedikamente alleine oder in Kombination mit<br />

konventionellen Zytostatika. Er ist seit 2007 im Förderprogramm von PRO SCIENTIA.<br />

Altern aus biologischer Sicht<br />

32


Zeit in Theologie und<br />

Philosophie:<br />

Von der Alltäglichkeit<br />

zur Apokalypse


In diesem Aufsatz möchte ich das Denken Karl Rahners,<br />

eines der wichtigsten Theologen des 20. Jahrhunderts,<br />

auf das Thema Zeit hin untersuchen. Nach einem kurzen<br />

Blick auf seine Biographie und auf einige Charakteristika<br />

seines Denkens greife ich ein Grundthema seiner<br />

Theologie auf: Ich versuche, sein Modell der<br />

transzendentalen Erfahrung Gottes nachzuzeichnen.<br />

Mit diesem Modell wird eine Erfahrbarkeit Gottes mitten<br />

in der Welt, in Geschichte, in der Kategorie von Zeit<br />

postuliert (auch wenn die ungeschichtliche Begrifflichkeit<br />

dieser transzendentalen Methodik genau das Gegenteil<br />

vermuten lässt). Ein abschließender Punkt ist dem<br />

Verhältnis von Zeit und Ewigkeit bzw. der Erfahrbarkeit<br />

von Ewigkeit in Zeit gewidmet.<br />

1. BIOGRAPHIE: EIN ALLTÄGLICHES LEBEN<br />

An Karl Rahners Biographie fällt auf, dass sie trotz seiner<br />

Berühmtheit nur wenig von einschneidenden Ereignissen<br />

geprägt ist. Herausragend erscheint zwar vor allem seine<br />

Teilnahme am Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965)<br />

– sieht man genau hin, merkt man aber an seinen<br />

späteren Berichten über diese Erfahrung, dass selbst<br />

solch ein außergewöhnliches Ereignis nur ein kurzer<br />

Moment in einem Leben war, das allerdings für den<br />

Menschen Karl Rahner durchaus ‚gewöhnlich und<br />

alltäglich’ verlief. Und so kann man etwa in dem Buch<br />

Karl Rahner begegnen folgendes Urteil lesen: „Den Stoff<br />

für einen packenden Spielfilm scheint Karl Rahners<br />

Lebensverlauf nicht herzugeben; zu gewöhnlich und<br />

alltäglich verstrichen die Jahre dieses Jesuiten.“ 1<br />

Dem entspricht auch eine Aussage Rahners, die er 1978<br />

als 75-jähriger im Rückblick auf sein Leben tätigte: „Ich<br />

weiß nicht, ob ich große Wendepunkte in meinem Leben<br />

gehabt habe oder ob der Bach oder der Fluß dieses<br />

Lebens mehr oder minder immer in der gleichen<br />

Richtung geflossen ist“ 2 .<br />

Geboren wurde Karl Erich Rahner – so sein voller Name<br />

– am 5. März 1904 in Freiburg im Breisgau, wo er „in einer<br />

normalen, auch christlich frommen, an harte Arbeit<br />

gewöhnten Familie“ 3 aufwuchs. Gleich nach dem<br />

Abitur, im Alter von 18 Jahren, entschied er sich dazu,<br />

ins Noviziat der Jesuiten in Vorarlberg einzutreten. Nach<br />

dem Studium der Theologie und der Philosophie startete<br />

er seine universitäre Laufbahn zunächst in Innsbruck als<br />

Dozent für Dogmatik, doch ließen es die Zeitumstände<br />

nicht zu, dass er besonders vertraut mit dem Lehrbetrieb<br />

werden konnte: Als Österreich 1938 an das Deutsche<br />

Reich angeschlossen wurde, begann die Demontage<br />

der Theologischen Fakultät in Innsbruck, die in einem<br />

‚Gauverbot’ für die Jesuiten gipfelte. Karl Rahner musste<br />

Tirol verlassen und wirkte während der Kriegsjahre als<br />

Seelsorger in Wien.<br />

In den wissenschaftlichen Lehrbetrieb konnte er sich erst<br />

ab 1945 wieder einbringen, und mit seiner Berufung an<br />

die wiedererrichtete Innsbrucker Fakultät im Jahre 1949<br />

begann schließlich die schaffensreichste Zeit in seinem<br />

Leben, in der er „mit einer kaum vorstellbaren<br />

Arbeitsintensität und einer großen Beweglichkeit in<br />

Europa Impulse gab, Initiativen ergriff und sein<br />

bescheidenes Arbeits- und Schlafzimmer in der<br />

Innsbrucker Sillgasse in eine <strong>Pro</strong>duktionsstätte<br />

ohnegleichen verwandelte.“ 4<br />

Der Höhepunkt dieser theologischen Schaffensphase ist<br />

wohl in der schon erwähnten Teilnahme Rahners am<br />

Zweiten Vatikanischen Konzil zu sehen. Als Konzilsberater<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Katharina Zimmerbauer<br />

Die Entdeckung der Alltäglichkeit.<br />

Das Phänomen der Zeit in der Theologie Karl Rahners<br />

Die Entdeckung der Alltäglichkeit<br />

34<br />

Kardinal Franz Königs und ‚Peritus’ (Konzilssachverständiger)<br />

konnte er direkt an entscheidender Stelle<br />

mitarbeiten. 5<br />

Die Bibliographie des unermüdlich für Theologie und<br />

Kirche im Einsatz stehenden Theologen wuchs im Lauf<br />

der Jahre auf über 4000 Veröffentlichungen zu den<br />

unterschiedlichsten Themen an. Als <strong>Pro</strong>fessor war er<br />

später in München und Münster tätig, nach seiner<br />

Emeritierung im Jahr 1971 zog es ihn zurück nach<br />

Innsbruck, wo er seinen Ruhestand (der eigentlich ein<br />

„Unruhestand“ 6 blieb) verbrachte, und wo er am 30. März<br />

1984 im Alter von 80 Jahren verstarb.<br />

2. THEOLOGIE: LEBENSGESCHICHTLICHE DOGMATIK DER<br />

EINFACHEN RELIGIÖSEN ERFAHRUNGEN DES ALLTAGS<br />

Über Karl Rahners Art, Theologie zu treiben, lässt sich viel<br />

Wichtiges sagen. Im Rahmen dieses Aufsatzes sind zwei<br />

Aspekte besonders wichtig:<br />

Zum einen, dass er nicht abgehobene theologische<br />

Denkgebäude errichtete, sondern meist von konkreten<br />

Fragen ausging, die das Leben, die Menschen um ihn<br />

herum an ihn herantrugen. Ganz einfache,<br />

„kinderschwere“ 7 Fragen waren dies, die er an die oftmals<br />

begrifflich erstarrte Schultheologie seiner Zeit herantrug,<br />

so dass er deren verkrustete Denkmuster aufsprengen<br />

konnte.<br />

Diese Methode beherrschte er so meisterhaft, dass<br />

Johann Baptist Metz, ein Schüler Rahners, von dessen<br />

besonderer Fähigkeit schreibt, „Traditionen auf eine<br />

nichttraditionalistische Art zu retten“ 8 – dies sei seine<br />

besondere „Kunst zu erben“ 9 .<br />

Metz stellt weiters fest, dass Rahner, indem er von solchen<br />

alltäglichen Fragen ausging, die religiösen Bedürfnisse<br />

vieler Menschen erraten habe, die sich sonst selten oder<br />

nie in der offiziellen Lehre direkt angesprochen fühlen.<br />

Rahner habe so den Menschen das Gefühl gegeben, in<br />

seiner Theologie „buchstabiert und in seiner [= des<br />

jeweiligen Menschen] ihm selbst zumeist verborgenen<br />

Mystik erraten zu sein“ 10 .<br />

Warum sich viele Menschen so sehr in seinen Texten<br />

wiederfinden konnten, trotz der oft sperrigen Sprache,<br />

das mag an einer weiteren Eigenart der Rahnerschen<br />

Theologie liegen: Metz bezeichnet diese als „die<br />

lebensgeschichtlich angelegte Dogmatik des einfachen,<br />

ich wage zu sagen: des durchschnittlichen<br />

Christenmenschen – die mystische Biographie eines<br />

undramatischen Lebens, ohne große Wandlungen und<br />

Wendungen, ohne besondere Erleuchtungen und<br />

Konversionen.“ 11<br />

Rahner nahm den hier anklingenden Umstand der<br />

Monotonie seines Lebens und seines Glaubensweges<br />

nicht etwa einfach traurig zur Kenntnis, sondern<br />

entwickelte gerade aus dieser Gewöhnlichkeit seines<br />

Gebetslebens heraus eine tiefe Spiritualität des Gebetes<br />

im Alltag – und er ließ diese Alltäglichkeit, wenn auch<br />

implizit, in seine Theologie einfließen. Er trieb Theologie<br />

„ohne Vulgarisierungsangst, ohne Berührungsangst<br />

gegenüber dem alltäglichen, langweiligen, fast<br />

monomanen Leben und seinen kaum entzifferbaren<br />

religiösen Erfahrungen und Aufschwüngen. Rahners<br />

leidenschaftlicher Versuch, Schultheologie, gewöhnliche<br />

Theologie für alle zu treiben – ‚und sonst nichts’, hat seine<br />

genaue Entsprechung in der Absicht, die religiöse


Lebensgeschichte des Alltagschristen, gewissermaßen<br />

des Volkes dogmatisch ins Spiel zu bringen.“ 12<br />

3. TRANSZENDENTALE GOTTESERFAHRUNG:<br />

DIE ENTDECKUNG DER ALLTÄGLICHKEIT<br />

Im letzten Zitat war die Rede von den „religiösen<br />

Erfahrungen“ des Alltaglebens – und damit sind wir bei<br />

einem Herzensanliegen Karl Rahners angelangt. Er<br />

versuchte zu zeigen, wie man die Entdeckbarkeit Gottes<br />

in allen Dingen, mitten im Alltag, also mitten in der Zeit<br />

denken kann.<br />

Hier zeigt sich, wie auch in vielen anderen seiner<br />

Gedankengängen, wie Rahner die Spiritualität seines<br />

Ordens, in der er zutiefst verwurzelt war, in sein<br />

theologisches Denken eintrug und durchbuchstabierte,<br />

wenn auch meist nicht explizit. Diese ignatianische<br />

Spiritualität 13 hat Rahner selbst mit dem Buchtitel<br />

„Glaube, der die Erde liebt“ 14 zum Ausdruck gebracht;<br />

auch das zentrale jesuitische Wort „Gott suchen in allen<br />

Dingen“ 15 bringt es auf den Punkt: Keine abgehobene<br />

Spiritualität wird hier vertreten, sondern eine zutiefst<br />

geerdete Gottesbeziehung.<br />

Dem folgend sucht Karl Rahner also zu zeigen, wie man<br />

die Entdeckbarkeit Gottes in allen Dingen, mitten im<br />

Alltag, denken kann. Dies ist philosophisch gesehen zum<br />

einen aufgrund der Struktur von Erfahrung und zum<br />

anderen aufgrund dessen, wie Gott philosophisch<br />

gedacht wird, eine Schwierigkeit:<br />

Menschliche Erfahrung geschieht immer in den<br />

Kategorien von Zeit und Raum. Gott aber, der über diese<br />

Kategorien erhaben ist, ist nicht wie ein Gegenstand oder<br />

ein Einzelseienendes zu ‚be-greifen’, daher ist auch eine<br />

Gotteserkenntnis im herkömmlichen Sinne keine<br />

kategoriale Erfahrung oder Erkenntnis, sondern die in<br />

Sprache gefasste Reflexion auf eine ursprüngliche<br />

Erfahrung, die mit dieser Reflexion nie eingeholt werden<br />

kann. Diese ursprüngliche Erfahrung nennt Rahner auch<br />

transzendentale Erfahrung, oder Erfahrung der<br />

Transzendenz. Sie ist eine Erfahrung, die er offen legt,<br />

indem er sozusagen hinter die Struktur der kategorialen<br />

Erfahrung zurückfragt und ihre Grundlagen aufdeckt.<br />

Was damit gemeint wird, wird verständlich, wenn man<br />

folgende Überlegungen Rahners liest: „In Erkenntnis und<br />

Freiheit ist der Mensch immer zugleich beim einzelnen<br />

benennbaren und von anderen abgrenzbaren<br />

Einzelgegenstand seiner Alltagserfahrung und seiner<br />

einzelnen Wissenschaften und immer auch gleichzeitig<br />

darüber hinaus, auch wenn er dieses immer schon<br />

mitgegebene Darüberhinaus unbeachtet und<br />

unbenannt läßt. Die Bewegung des Geistes auf den<br />

einzelnen Gegenstand, mit dem er sich beschäftigt, geht<br />

immer auf den jeweiligen Gegenstand hin, indem er ihn<br />

überschreitet. Das einzelne gegenständlich und genannt<br />

Gewußte wird immer erfaßt in einem weiteren<br />

unbenannten, schweigend gegenwärtigen Horizont<br />

möglichen Wissens und möglicher Freiheit überhaupt,<br />

auch wenn es der Reflexion nur schwer und immer nur<br />

nachträglich gelingt, diese schweigend anwesende<br />

Bewußtheit noch einmal zu einem gewissermaßen<br />

einzelnen Gegenstand des Bewußtseins zu machen und<br />

verbalisierend zu objektivieren.“ 16<br />

An anderer Stelle schreibt Rahner über diesen Horizont<br />

des menschlichen Wissens, dass er „immer weiter<br />

zurückweicht, je mehr Antworten der Mensch sich zu<br />

geben vermag“ 17 ; er ist genauso grenzenlos wie der<br />

Bewegung des menschlichen Geistes. „Jeder<br />

Gegenstand unseres Bewußtseins, der uns in unserer<br />

Mitwelt und Umwelt, sich von sich aus meldend,<br />

begegnet, ist nur eine Etappe, ein immer neuer<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Die Entdeckung der Alltäglichkeit<br />

35<br />

Ausgangspunkt dieser Bewegung, die ins Unendliche<br />

und Namenlose geht. Was in unserem Alltags- und<br />

Wissenschaftsbewußtsein gegeben ist, ist nur eine kleine<br />

Insel [...] in einem grenzenlosen Meer des namenlosen<br />

Geheimnisses, das wächst und deutlicher wird, je mehr<br />

und je genauer wir im einzelnen erkennen und wollen.<br />

Und wenn wir diesem, wie leer erscheinenden Horizont<br />

unseres Bewußtseins eine Grenze setzen wollen, hätten<br />

wir ihn gerade durch diese Grenze schon wieder<br />

überschritten.“ 18<br />

In diesem unendlichen Geheimnis gründen wir, und<br />

dieses Geheimnis schickt sich uns immerfort implizit zu,<br />

als „geheimne Ingredienz“ 19 . Die Verwiesenheit in dieses<br />

Geheimnis hinein ist ein Wesensmerkmal des Menschen,<br />

den Rahner das „Wesen der Transzendenz“ 20 nennt; und<br />

sie wird uns manchmal, ganz plötzlich, mitten im Alltag,<br />

bewusst:<br />

„Mitten in unserem Alltagsbewußtsein sind wir die auf<br />

namenlose, unumgreifbare Unendlichkeit hin Beseligten<br />

oder Verdammten (wie man will). Die Begriffe und die<br />

Worte, die wir nachträglich von dieser Unendlichkeit, in<br />

die wir dauernd verwiesen sind, machen, sind nicht die<br />

ursprüngliche Weise solcher Erfahrung des namenlosen<br />

Geheimnisses, das die Insel unseres Alltagsbewußtseins<br />

umgibt, sondern die kleinen Zeichen und Idole, die wir<br />

errichten und errichten müssen, damit sie uns aufs neue<br />

erinnern an die ursprüngliche, unthematische,<br />

schweigend sich gebende und gebend sich<br />

verschweigende Erfahrung der Unheimlichkeit des<br />

Geheimnisses, in dem wir bei aller Helle des alltäglichen<br />

Bewußtseins wie in einer Nacht und weiselosen Wüste<br />

beheimatet sind; die uns erinnern an den Abgrund, in<br />

dem wir unauslotbar gründen.“ 21<br />

Von dieser ursprünglichen Erfahrung sagt Rahner, sie<br />

dürfe „nicht mit der objektivierenden, wenn auch<br />

notwendigen Reflexion auf die transzendentale<br />

Verwiesenheit des Menschen in das Geheimnis hinein<br />

verwechselt werden. Sie hebt den Charakter der<br />

Aposteriorität der Gotteserkenntnis nicht auf, aber diese<br />

Aposteriorität darf auch nicht in dem Sinne<br />

mißverstanden werden, als ob Gott einfach nur als<br />

Gegenstand unserer Erkenntnis von außen indoktriniert<br />

werden könnte.“ 22<br />

Dieser Erfahrung geschieht nämlich nie rein an sich,<br />

daher ist sie keine unzeitliche, übergeschichtliche<br />

Erfahrung, auch wenn sie über die Erfahrung von Zeit<br />

und Raum hinausgeht – denn sie passiert immer<br />

vermittelt durch gegenständliche bzw. kategoriale<br />

Erfahrung, und „darum kann diese transzendentale<br />

Erfahrung leicht übersehen werden. Sie ist<br />

gewissermaßen als geheime Ingredienz gegeben. Aber<br />

der Mensch ist und bleibt das Wesen der Transzendenz,<br />

d.h. jenes Seiende, dem sich die unverfügbare und<br />

schweigende Unendlichkeit der Wirklichkeit als<br />

Geheimnis dauernd zuschickt. Dadurch wird der Mensch<br />

zur reinen Offenheit für dieses Geheimnis gemacht und<br />

gerade so als Person und Subjekt vor sich selbst<br />

gebracht.“ 23<br />

Wichtig ist an dieser Stelle noch der Hinweis, dass der<br />

Ausdruck transzendentale Erfahrung streng genommen<br />

ein Widerspruch ist, denn das Transzendentale ist<br />

eigentlich immer Bedingung für Wahrnehmung und<br />

Erfahrung und nicht selbst Gegenstand der<br />

Wahrnehmung. Und so geht es bei dieser Erfahrung auch<br />

nicht darum, dass „das Transzendentale in sich selbst<br />

erfahren würde, sondern indem es in der gesamten<br />

Erfahrung, vor allem der eigenen Selbsterfahrung,<br />

unthematisch mit-erfahren wird, aber durch Reflexion<br />

thematisch gemacht und begrifflich ausgelegt werden<br />

kann.“ 24


Das Besondere an Rahners Denken lässt sich<br />

zusammenfassend so formulieren, dass hier eine<br />

Erfahrung Gottes konstatiert wird, die nicht abgehoben<br />

von der Welt passiert, sondern mitten im Leben, im Alltag,<br />

in der Zeit. Es ist eine ungeschichtliche Erfahrung, eine<br />

Erfahrung, die in jeder Einzelerfahrung mitschwingt, sie<br />

bedingt, ihre Grundlage ist. Und zugleich ist sie zutiefst<br />

geschichtlich, da sie immer aposteriori geschieht, immer<br />

vermittelt wird durch Geschichte.<br />

4. ERFAHRUNG VON EWIGKEIT IN <strong>ZEIT</strong><br />

Nun möchte ich auf einen weiteren interessanten<br />

Gedankengang Rahners eingehen, dem er in dem<br />

Aufsatz „Ewigkeit aus Zeit“ nachgeht. Er stellt hier die<br />

Frage, wie es für unser menschliches Denken überhaupt<br />

möglich sein kann, sich Ewigkeit vorzustellen.<br />

Weil der Mensch nicht anders kann, als in Kategorien<br />

von Zeit und Raum zu denken, wird Ewigkeit meistens<br />

als „eine nie aufhörende, ins Unbegrenzte<br />

weiterlaufende Zeit“ 25 gedacht. Geht man aber so an<br />

den Begriff der Ewigkeit heran, sie „als Weiterlaufen einer<br />

Zeit mit immer neuen und neu auszufüllenden und<br />

voneinander verschiedenen Zeitabschnitten“ 26 zu<br />

verstehen, dann wird Ewigkeit unter der „Tyrannei dieses<br />

Zeitbegriffes“ 27 eine ewige Hölle – eine nie enden<br />

wollende Öde, Wiederkehr des stets Gleichen, in der der<br />

Mensch zum Nie-Ankommen verdammt ist: er bleibt der<br />

ewige Wanderer.<br />

Rahner versucht nun, sich Ewigkeit vorzustellen als etwas<br />

Bleibendes, das keine zeitliche Abfolge in sich trägt. Dies<br />

ist für unser Denken aber schwierig, weil wir in unserer<br />

Lebenswelt keine Entsprechung für eine solche<br />

Vorstellung haben, denn auf Erden ist alles durch das<br />

„Hintereinander“ gekennzeichnet, das allem, was uns<br />

umgibt, eingeschrieben ist.<br />

Die Existenz von Bleibendem ohne ein Hintereinander<br />

kann Rahner dennoch behaupten, indem er den Spieß<br />

einfach umdreht und versucht, mitten in unserer<br />

Erfahrung der Zeit die Erfahrung von Ewigkeit zu<br />

entdecken. Er konstatiert eine „Paradoxie der Zeit selber,<br />

die im geheimen von der Ewigkeit lebt“ 28 , und spricht<br />

davon, dass wir „in einer seltsamen und unserer Reflexion<br />

immer wieder entgehenden Weise Ewigkeit schon in<br />

unserer Zeit erfahren“ 29 .<br />

Diese Erfahrung von Ewigkeit in der Zeit macht er nun<br />

an drei verschiedenen Apekten menschlichen Daseins<br />

fest:<br />

a) Die Erfahrung der Einheit von geschichtlichen<br />

Subjekten<br />

Auf den ersten Blick erscheint uns Zeit „als eine nach<br />

vorne und nach hinten hin sich ins Unbegrenzte<br />

erstreckende Kette von Einzelvorkommnissen, von denen<br />

jede die vorangehende ablöst, um sich zugunsten der<br />

nächsten wieder selber aufzulösen.“ 30 Zugleich, so<br />

behauptet Rahner, sind wir aber davon überzeugt, dass<br />

hinter diese Kette von unzusammenhängenden<br />

Einzelereignissen etwas steht, ein Bleibendes, das sich<br />

„als dasselbe durchhält, die wechselnden<br />

Erscheinungen trägt, sie zusammenhält zu einem<br />

Ganzen, zu einer Geschichte, die eben doch eine ist<br />

und nicht pulverisiert zerfällt in einen Staub von bloßen<br />

Einzelmomenten.“ 31<br />

Zur Illustration erzählt er das Beispiel die Entwicklung einer<br />

Blume. Wir sehen zunächst ein Samenkorn, das in die<br />

Erde gelegt wird. Aus dem Samenkorn wächst ein<br />

Pflänzlein, das immer größer wird und schließlich erblüht,<br />

um nach einiger Zeit zu welken und zu verrotten. Lauter<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Die Entdeckung der Alltäglichkeit<br />

36<br />

einzelne Ereignisse, die man als unzusammenhängend<br />

deuten könnte – wir behaupten aber aufgrund unserer<br />

Alltagserfahrung, hinter diesen Einzelstadien der Blume<br />

einen Träger der Eigenschaften der Blume zu erblicken.<br />

Wir behaupten ein Wesen „Blume“, könnte man<br />

formulieren, das bleibt und als solches erkennbar ist – und<br />

dieses kann nicht von der selben Qualität wie die Zeit<br />

sein, da es hinter der Zeit wirkt und so die Einheit der Blume<br />

erkennbar macht. In der Zeit ist also etwas erkennbar,<br />

das etwas anderes ist als diese Zeit – „ein Bleibendes<br />

mindestens, das Zeit zu geschichtlichen Zeitgestalten<br />

eint.“ 32<br />

b) Die geistige Erfahrung des Menschen, durch die die<br />

drei Größen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als<br />

Einheit erlebbar werden<br />

Dieses in der Zeit versteckte Überzeitliche lässt sich noch<br />

deutlicher erkennen, wenn man den Blick auf die<br />

menschliche Wahrnehmung von Zeit richtet. „Zeit ist nicht<br />

nur, sondern sie wird von uns so erfahren, daß wir ihrem<br />

Ablauf nicht nur schweigend untertan sind, sondern ihr<br />

gegenübertreten, Vergangenheit, Gegenwart und<br />

Zukunft zusammennehmen und geistig zu einer Einheit<br />

und Gestalt binden, die dem reinen Hintereinander der<br />

Zeit überlegen ist, in welchem immer der nächste<br />

Augenblick durch Vernichtung des vorhergehenden<br />

über ihn triumphiert.“ 33<br />

Gegen den möglichen Einwand, diese Erfahrung einer<br />

Einheit von Zeit spiele sich nur im Denken des Menschen<br />

ab und entspreche nicht der Zeit, wie sie an sich ist, bringt<br />

Rahner zwei Gedanken vor: Erstens, dass ein solches<br />

Denken nur möglich ist, wenn es ihm entsprechend in<br />

der Zeit etwas gibt, das mehr ist „als das bloß<br />

Zerrinnende“ 34 . Und zweitens, dass ein denkendes Subjekt<br />

eine einheitliche Zeit nicht denken könnte, auch als bloß<br />

gedachte, „wenn es völlig der rinnenden Zeit als dem in<br />

Wahrheit Wesensgebenden untertan wäre“ 35 .<br />

Denken ist also für Rahner zwar etwas, das immer in der<br />

laufenden Zeit passiert, aber es ist zugleich „ein Ereignis,<br />

das eine eigetümliche Überlegenheit über die Zeit hat,<br />

Ewigkeit ankündigt, weil solches Denken, das Zeit denkt,<br />

ihr nicht einfach untertan ist.“ 36<br />

c) Die Entscheidungsfähigkeit des Menschen, die<br />

Wirklichkeit schafft, die nicht einfachhin rückgängig<br />

machbar ist<br />

In diesem dritten Punkt ist von Entscheidungen die Rede,<br />

in denen ein Mensch „über sich selbst als Ganzes<br />

verfügt“ 37 , für die er im letzten ganz und gar selbst<br />

verantwortlich ist, die er nicht mit Ausreden auf sein<br />

soziales Umfeld, seine psychologische Prägung etc. von<br />

sich schieben kann.<br />

Ganz plakativ gesagt und stark vereinfacht geht es hier<br />

um so grundlegende Fragen wie die, ob ich mich im<br />

letzten für Gott entscheide oder gegen Gott, ob für die<br />

Liebe oder gegen sie – und wie ich diesen<br />

Grundsatzentscheidungen in meinem Leben Ausdruck<br />

verleihe, in vielen kleinen, alltäglichen Entscheidungen.<br />

Solche Grundsatzentscheidungen, Rahner nennt sie auch<br />

„letzte personale Entscheidungen“ 38 , sind, „mindestens<br />

wo sie das Ganze eines Lebens betreffen und durch den<br />

Tod endgültig werden, unwiderruflich, sind wahre<br />

Ewigkeit, die in der Zeit wird.“ 39<br />

Das meint: Der Mensch will in seiner Freiheit<br />

ernstgenommen sein, die Freiheitstaten seines Lebens,<br />

das im Moment des Todes an sein Ende gelangt, diese<br />

Freiheitstaten sind unwiderrufbar, wollen Geltung in<br />

Ewigkeit haben.


Anhand dieser Erfahrung, dass die Freiheit des Menschen<br />

Endgültigkeit beansprucht, wird deutlich, „daß unser<br />

ewiges Leben […] die Endgültigkeit unserer sittlichen und<br />

freien Lebenstat sein wird, in der wir uns als eine und<br />

ganze über alle Zerstückeltheit der Zeit hinweg zu<br />

denjenigen machen die wir endgültig sein wollten. Wenn<br />

aber so unsere Ewigkeit nichts anderes ist als die endgültig<br />

gewordene Geschichte, die wir in unserer Freiheit selbst<br />

getan haben, dann zeigt sich für uns erschreckend und<br />

beseligend zugleich, welche ungeheure Größe, Tiefe,<br />

Dichte unsere eigentlichen Lebenstaten haben.“ 40<br />

Und auch wenn Karl Rahner kurz darauf von der<br />

„unauslotbare[n] Tiefe und Kostbarkeit unserer Existenz“<br />

spricht, „die oft den Anschein macht, nur aus lauter<br />

Banalitäten zu bestehen“ 41 , wird deutlich, welch große<br />

Bedeutung er den kleinen Taten unseres Alltags zumaß:<br />

Welche Taten diejenigen sind, die Bedeutung für den<br />

endgültigen Ausgang unseres Lebens haben, das ist nicht<br />

von vorneherein ausgemacht. Oft sind es nicht die ganz<br />

großen Entscheidungen des Lebens, sondern kleine,<br />

unscheinbare Entscheidungen, die uns selber vielleicht<br />

gar nicht so bewusst sind, im letzten aber unser Verhältnis<br />

zu Gott und zu unserer Vergänglichkeit widerspiegeln und<br />

bestimmen.<br />

Diese Entscheidungen, die im Fluss unseres Lebens kaum<br />

herausragen, können die Gesamtsumme unserer<br />

Lebenszeit entscheidend prägen.<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Fußnoten<br />

1 Schulz, Michael: Karl Rahner begegnen, Augsburg: Sankt Ulrich<br />

1999, 12.<br />

2 Rahner, Karl: Man soll nicht zu früh aufhören zu denken.<br />

Gespräch mit Leo O’Donovan, in: Ders.: Im Gespräch 2,<br />

München: Kösel 1983, 47-59, 47f.<br />

3 Ders.: Der Werdegang eines Theologen. Gespräch mit Peter<br />

Pawlowsky, in: Ebd., 146-153, 146f.<br />

4 Vorgrimler, Herbert: Karl Rahner verstehen. Eine Einführung in<br />

sein Leben und Denken, Freiburg i. Br.: Herder 1985, 93.<br />

5 So entwarf Rahner gemeinsam mit Joseph Ratzinger ein<br />

Schema über die göttliche Offenbarung, dessen<br />

Gedankengang für die Offenbarungskonstitution Dei Verbum<br />

maßgeblich sein sollte.<br />

6 Vorgrimler, Karl Rahner verstehen, 163.<br />

7 Ebd., 46.<br />

8 Metz, Johann Baptist: Vermächtnis. Karl Rahner zu vermissen,<br />

in: Imhof, Paul / Biallowons, Hubert (Hg.): Karl Rahner. Bilder eines<br />

Lebens, Freiburg i.Br.: Benziger 1985, 166-171, 166.<br />

9 Ebd.<br />

10 Ders.: Karl Rahner – ein theologisches Leben. Theologie als<br />

mystische Biographie eines Christenmenschen heute, in: StZ 192<br />

(1974) 305-316, 310.<br />

11 Ebd., 309.<br />

12 Ebd., 309f.<br />

13 Dieser Name geht zurück auf den Begründer der Jesuiten,<br />

Ignatius von Loyola.<br />

14 Rahner, Karl: Glaube, der die Erde liebt. Christliche<br />

Besinnung im Alltag der Welt, Freiburg i.Br.: Herder 1966.<br />

15 Vgl. hierzu etwa: Lambert, Willi: Aus Liebe zur Wirklichkeit.<br />

Grundworte ignatianischer Spiritualität, Mainz: Grünewald 62003, 23. Dieses Buch ist eine sehr gute Einführung in die ignatianische<br />

Spiritualität.<br />

16 Rahner, Karl: Erfahrung des Heiligen Geistes, in: Ders.: Schriften<br />

zur Theologie XIII, Zürich: Benziger 1978, 226-251, 233f.<br />

17 Ders.: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des<br />

Christentums, Freiburg i. Br.: Herder 91984, 43.<br />

18 Ders., Erfahrung, 234.<br />

19 Ders., Grundkurs, 46.<br />

20 Ebd.<br />

21 Ders., Erfahrung, 234f.<br />

22 Ders., Grundkurs, 62.<br />

23 Ebd., 46.<br />

24 Ebd., 35.<br />

25 Ders.: Ewigkeit aus Zeit, in: Ders.: Schriften zur Theologie XIV,<br />

Zürich: Benziger 1980, 422-432, 423.<br />

26 Ebd., 424.<br />

27 Ebd.<br />

28 Ebd., 425.<br />

29 Ebd.<br />

30 Ebd., 426.<br />

31 Ebd.<br />

32 Ebd., 427.<br />

33 Ebd.<br />

34 Ebd., 428.<br />

35 Ebd.<br />

36 Ebd.<br />

37 Ebd.<br />

38 Ebd., 429.<br />

39 Ebd.<br />

40 Ebd., 431.<br />

MMag. Katharina Zimmerbauer, geb. 1979, studierte Fachtheologie und Religionspädagogik an der Karl-Franzens-Universität<br />

Graz und ist ebendort als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Moraltheologie und Dogmatik tätig. In ihrer Dissertation<br />

beschäftigt sie sich mit “Kreuzestheologie”. Sie wird seit 2007 durch PRO SCIENTIA gefördert.<br />

41 Ebd.<br />

Die Entdeckung der Alltäglichkeit<br />

37


Esther Jauk<br />

McTaggarts Versuch, die Irrealität der Zeit zu<br />

beweisen, ist ein eindeutig sprachanalytischer. Dabei<br />

sollen die Begriffe, mit denen wir Zeit beschreiben als<br />

widersprüchlich erwiesen werden, um so auf die<br />

Irrealität der Zeit selbst zu schließen. Das Anliegen ist<br />

es also, (1) unser herkömmliches Zeitverständnis so<br />

genau wie möglich zu beschreiben, um (2) seine<br />

theoretische Unzulänglichkeit, in diesem Fall seine<br />

Widersprüchlichkeit zu beweisen. Mit anderen Worten<br />

wäre dann dargestellt, dass das, was wir unter Zeit<br />

verstehen, ja dass Zeit so wie sie uns erscheint, nicht<br />

real ist. Im Grunde ist das ein ähnlicher Denkvorgang<br />

wie der der Einsteinschen Relativitätstheorie. Auch hier<br />

wird der Raum, so wie wir ihn sehen, also der<br />

euklidische Raum zu Gunsten einer diskursiv<br />

hervorgebrachten Raumkonzeption verworfen.<br />

Zunächst stellt McTaggart die Frage, welche<br />

sprachlichen Mittel uns überhaupt zur Beschreibung<br />

der Zeit zur Verfügung stehen. Hier unterscheidet er<br />

zwei grundlegend verschiedene Ordnungen von<br />

Zeitpositionen. Zum einen können ihnen die Prädikate<br />

“vergangen”, “gegenwärtig” und “zukünftig”<br />

zugeschrieben werden. Zum anderen können sie<br />

früher oder später sein als andere Momente in der<br />

Zeitreihe. Der Einfachheit halber werden erstere Aund<br />

zweitere B- Reihe genannt. Diese Feststellung<br />

schließt McTaggart mit den Worten, “Und es ist<br />

zunächst einmal klar, dass wir Zeit niemals anders als<br />

diese Reihen bildend betrachten können.”<br />

(McTaggart 1993, 68), womit er die Unvollständigkeit<br />

dieses Inventars ausschließt.<br />

Nun muss er zur Analyse der Charakteristika und<br />

Beziehungen zwischen diesen Zeitreihen übergehen.<br />

Im Bezug auf die B-Reihe kann man leicht erkennen,<br />

dass sie eine Relation zwischen zwei Punkten der<br />

Zeitserie darstellt, und zwar eine objektive und<br />

permanente. Ihre Sätze verändern ihren<br />

Wahrheitswert nicht mit dem Fortschreiten der Zeit.<br />

Der erste Weltkrieg wird immer früher gewesen sein<br />

als der zweite, egal welche zeitliche Position der<br />

Betrachter einnimmt, egal ob er heute, morgen oder<br />

im Jahr 1900 darüber spricht. Dem steht die A-Serie<br />

gegenüber, deren Mitglieder meistens indexikalisch<br />

oder auch zeichenreflexiv genannt werden. Dummett<br />

charakterisiert wie folgt, “Ein zeichenreflexiver<br />

Ausdruck ist ein Ausdruck wie “ich”, “hier” und “jetzt”,<br />

dessen wesentliches Vorkommen in einem Satz diesen<br />

Satz dazu befähigt, je nach den Umständen seiner<br />

Äußerung verschiedene Wahrheitswerte<br />

einzunehmen. Solche Umstände sind beispielsweise:<br />

vom wem, wann und wo er geäußert, an wen er<br />

gerichtet [...] wird.” (Dummett 1993, 122).<br />

Mit diesen Feststellungen im Hinterkopf steigt<br />

McTaggart in das eigentliche Argument ein, das wie<br />

folgt thesenartig zusammengefasst werden kann.<br />

(1) Zeit schließt Veränderung ein. Dieser Punkt wird<br />

nicht weiter diskutiert.<br />

(2) Nur die A-Reihe schließt Veränderung mit ein, bzw.<br />

kann diese erklären.<br />

(3) Die A-Reihe enthält einen Widerspruch und kann<br />

daher die Realität nicht zureichend erklären.<br />

(4) Zeit ist daher irreal. (vgl. Lowe 1987).<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Ist unsere Zeit irreal?<br />

McTaggarts Argumente, Einwände und Erwiderungen<br />

Ist unsere Zeit irreal?<br />

38<br />

Schauen wir uns genauer an, wie McTaggart diese<br />

Thesen entwickelt. Wenn wir (1), McTaggart<br />

folgend, als Grundüberzeugung annehmen, stellt<br />

sich die Frage wie die A-Reihe diese für Zeit<br />

notwendige Veränderung zu Stande bringt. Und<br />

weswegen sollte die B-Reihe von dieser<br />

Veränderung ausgeschlossen sein? Andernfalls, wie<br />

könnte die statische B-Reihe Veränderung erklären?<br />

Nehmen wir ein Beispiel zur Hand, während eines<br />

Sturmes werden die Äste eines Baumes heftig<br />

bewegt. Intuitiv wird man geneigt sein, zum einen<br />

die Veränderung in der Tatsache zu sehen, dass<br />

sich der Baum einmal bewegt und einmal nicht,<br />

dass also die Bewegung zu einem bestimmten<br />

Zeitpunkt beginnt und hernach wieder aufhört. Für<br />

McTaggart allerdings kann es niemals der Fall sein,<br />

dass ein Ereignis, dass einmal in der Zeit war, später<br />

aus der Zeitreihe heraustritt. Dadurch würde es<br />

aufhören in der Zeit zu sein, und solche Ereignisse<br />

sind nicht Teil der Dinge, die uns erscheinen. Ein<br />

Ereignis in der B-Reihe steht zu allen andern<br />

Ereignissen in einer Relation, die entweder als<br />

gleichzeitig, früher oder später zu charakterisieren<br />

ist. Egal, wie die Zeit fortschreitet, dieses Netz an<br />

Relationen bleibt immer gleich. Selbst wenn der<br />

Erste Weltkrieg heute vergangen ist, wird er immer<br />

früher als der Zweite Weltkrieg gewesen sein. Es ist<br />

also für McTaggart unmöglich zu behaupten, der<br />

Erste Weltkrieg habe aufgehört zu sein.<br />

Wenn also der Unterscheid zwischen Existenz und<br />

Nichtexistenz nicht als Veränderung bezeichnet<br />

werden kann, so würde man sie doch zumindest<br />

an Qualitäten der Dinge feststellen wollen. Einmal<br />

ist der Baum heftig bewegt, einmal ist er in Ruhe.<br />

Auch das allerdings kann die B-Reihe nicht<br />

dynamisieren, “But this makes no change in the<br />

qualities of the poker. It is always a quality of the<br />

that poker that it is one which is hot on that particular<br />

Monday. And it is always a quality of that<br />

poker that it is not hot at any other time. Both these<br />

qualities are true of it at any time- the time when it<br />

is hot and the time when it is cold. And therefore it<br />

seems to be erroneous to say that there is any<br />

change in the poker.” (McTaggart 1993a, 28). Laut<br />

McTaggart sind also die Zeitpunkte ihres Auftretens<br />

den Qualitäten der Dinge bereits definitorisch<br />

beigeordnet. Sein Vorhaben ist es, in der B-Reihe<br />

Veränderung zu suchen, um zu sehen, ob sie alleine<br />

Zeit konstituieren kann. Würde er also Veränderung<br />

finden, wäre die B-Reihe zeitlich. Diese wäre<br />

gegeben, wenn man sagen könnte, der<br />

Feuerharken wird heißt, denn das impliziert, dass er<br />

zuvor eine andere Eigenschaft gehabt haben muss.<br />

Ansonsten könnte er nicht “werden”. Außerdem ist<br />

er, wenn er heiß ist, definitiv nicht kalt. Wenn man<br />

aber - wie McTaggart - die Eigenschaften temporal<br />

einschränkt, ist es beim Anblick des kalten<br />

Feuerharkens noch immer wahr zu sagen, an<br />

einem bestimmten Montag sei er heiß gewesen.<br />

Daher kann man jetzt sagen, der Feuerharken hat<br />

immer die Eigenschaft an dem besagten Montag<br />

heiß und sonst kalt zu sein. Damit haben wir genau


dasselbe Ergebnis erlangt wie bei dem<br />

vorhergehenden Versuch, wir haben eine<br />

Veränderung angenommen, zuvor die Existenz, jetzt<br />

die Qualität und sind zu dem Ergebnis gekommen,<br />

dass sie den Dingen entlang der gesamten Zeitreihe<br />

zukommen.<br />

Wenn die B-Reihe also tatsächlich keine Veränderung<br />

beinhaltet, dann kann sie alleine die Zeit nicht<br />

konstituieren. Nun ist sie aber trotzdem, wie eingangs<br />

festgestellt, einer der beiden Möglichkeiten Zeit zu<br />

beschreiben. McTaggart formuliert das so, “Die B-Reihe<br />

kann jedoch nicht anders als zeitlich existieren, da<br />

“früher” und “später”, die Unterscheidungen, aus<br />

denen sie bestehet, offensichtlich Zeitbestimmungen<br />

sind.” (McTaggart 1993, 69), Aus diesem Befund<br />

schließt McTaggart, dass die A-Reihe die<br />

fundamentalere der beiden Zeitreihen sei, und die B-<br />

Reihe einschließt. Offensichtlich ist, dass man die B-<br />

Reihe aus der A-Reihe rekonstruieren kann, denn<br />

schließlich lassen die Aussagen “Gestern war ich<br />

schwimmen” und “Vorgestern war ich laufen” auch<br />

die Möglichkeit zu, zu sagen, “Ich war früher laufen<br />

als schwimmen.” Folglich, wenn keine A-Reihe existiert,<br />

existiert auch keine Zeit.<br />

Doch im Gegensatz zur B-Reihe verändern sich die<br />

Prädikate der A-Reihe mit dem Forschreiten der Zeit.<br />

In McTaggarts Worten,<br />

“Und in jeder Hinsicht außer einer bliebt es [Ereignis:<br />

hier Tod der englischen Königin] gleichermaßen frei<br />

von Veränderungen. Aber in dieser einen Hinsicht<br />

verändert es sich sicher wohl. Es fing als zukünftiges<br />

Ereignis an. Mit jedem Zeitpunkt wurde es ein Ereignis<br />

näherer Zukunft. Schließlich war es gegenwärtig.<br />

Dadurch wurde es vergangen, und es wir immer<br />

vergangen bleiben, obgleich es mit jedem Zeitpunkt<br />

weiter und weiter vergangen sein wird.” (McTaggart<br />

199, 70f.).<br />

Es scheint dann also so zu sein, dass Veränderung<br />

einzig dadurch stattfindet, dass man Attribute der A-<br />

Reihe auf die Ereignisse anwendet. Wenn wir uns jetzt<br />

die Charakteristika der A-Reihe genauer anschauen,<br />

wird auffallen, dass es sich hier nicht um die Relation<br />

zweier Punkte der Zeitserie handeln kann, weil “relations<br />

exclusively between members of the time series<br />

[...] can never change.” (Gotshalk 1930, 31). Dennoch,<br />

wenn man sich die Beispielsätze nochmals ansieht,<br />

“Gestern war ich schwimmen”, wird klar, dass auch<br />

die A- <strong>Pro</strong>positionen eines zweiten Bezugspunktes<br />

bedürfen. Intuitiv würde man sagen, ja sicher, der<br />

zweite Punkt ist der Standpunkt des Betrachters, was<br />

auch der Grund ist, weswegen wir diesen Punkt<br />

sprachlich nicht ausdrücken müssen. Schließlich hat<br />

der Betrachter keine Wahl darüber, von welchem<br />

zeitlichen Punkt aus er sprechen möchte, er spricht<br />

immer von dem aus, der präsent ist und den er<br />

gleichzeitig mit seinen Zuhörern erlebt. Hierbei kann<br />

man auch ganz gut erkennen, was das Wort<br />

“indexikalisch” bedeutet. Selbstverständlich, so könnte<br />

ein Opponent einwenden, kann jemand auch von<br />

einem anderen zeitlichen Punkt aus sprechen als dem<br />

gegenwärtigen. Zum Beispiel so, “Morgen wird das<br />

Ereignis E jetzt sein.” Das Prädikat “jetzt” bezieht sich<br />

normalerweise auf den gegenwärtigen Zeitpunkt, hier<br />

aber auf den, von dem man morgen dasselbe wird<br />

sagen können. Inwiefern das berechtigter Weise<br />

gesagt werden kann, darauf kommt ich später noch<br />

zurück.<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Ist unsere Zeit irreal?<br />

39<br />

Mit diesem Argument aber verstrickt sich der intuitive<br />

Philosoph in einen Widerspruch, denn der Standpunkt<br />

des Betrachters kann sich niemals außerhalb der<br />

Zeitserie, ja nicht einmal außerhalb der A-Serie<br />

befinden, denn auch er unterliegt genau derselben<br />

zeitlichen Veränderung wie alle anderen Punkte. Was<br />

wir aber gesucht haben war ein Punkt außerhalb der<br />

Zeitreihe, der den dynamischen Charakter der A-Serie<br />

erklären könnte. McTaggart sagt folgendes zu diesem<br />

<strong>Pro</strong>blem.<br />

“Past, present and future, then, are relations in which<br />

events stand to something outside the time series. Are<br />

these relations simple, or can they be defined? I think<br />

that they are clearly simple and indefinable. [...] We<br />

must begin with the A series rather than with past,<br />

present, and future as separate terms. And we must<br />

say that a series is an A series when each of its terms<br />

has, to an entitiy x outside the series, one, and only<br />

one, of three indefinable relations, pastness,<br />

prsentness and futurity, which are such that all the<br />

terms which have the relation of presentness to X fall<br />

between all the terms which have the relation of<br />

pastness to X, on the one hand, and all the terms,<br />

which have the relation of futurity to X, on the other<br />

hand.” (Taggart, 31f.).<br />

Das bedeutet also, dass die Realität der A-Serie von<br />

der Existenz dieses zeitlosen, undefinierbaren X<br />

abhängt, dessen Auffindung unmöglich ist. Aber, so<br />

könnte man fragen, warum sollte es dieses X nicht<br />

geben, wenn wir gesehen haben, dass es von<br />

theoretischer Notwendigkeit ist? Im Grunde wäre es<br />

genauso unplausibel, dass dieses zeitlose X nicht<br />

durch seine Beziehung zu einem A-Prädikat auch in<br />

die Zeit gelangte. Die Unbestimmtheit dieser<br />

Konklusion legt nahe, nochmals die schon eingangs<br />

gestellte Frage zu stellen. Wie lässt sich Veränderung<br />

aus der A-Serie erklären?<br />

Gotshalk fasst das <strong>Pro</strong>blem der beiden Bezugspunkte<br />

aus der Zeitreihe wie folgt zusammen, “In a sense the<br />

relations of the A series do not change. Thus, the<br />

death of Queen Victoria is future in respect to the<br />

death of Queen Anne, and the death of Queen Anne<br />

is past in respect to the death of Queen Victoria. And<br />

each is permanently so.” (Gotshalk, 32). Wäre das<br />

bereits der Endpunkt der Argumentation, müssten wir<br />

Veränderung und damit Realität der Zeit schon hier<br />

aufgeben. Doch McTaggart postuliert, dass die<br />

einzige Veränderung, die stattfinden kann, die in der<br />

Zuschreibung der Prädikate “vergangen”,<br />

“gegenwärtig”, “zukünftig” ist. Das heißt, wenn ich von<br />

einem Gegenstand nicht sagen kann, welches dieser<br />

Prädikate auf ihn zutreffen, kann er keiner anderen<br />

Veränderung unterliegen und ist damit nicht in der<br />

Zeit. Die A-Prädikate sind laut McTaggart also die<br />

einzigen Prädikate, die einem Gegenstand nicht<br />

zeitlos zugesprochen werden können. Ich kann von<br />

dem Feuerharken jederzeit sagen, dass er an diesem<br />

bestimmten Montag heiß war, aber ich kann nicht<br />

jederzeit sagen, dass der heiße Feuerharken jetzt<br />

präsent ist. Der oben beschriebene Satz, “The death<br />

of Queen Victoria is future in respect to the death of<br />

Queen Anne, “ beinhaltet noch zwei statische Punkte,<br />

doch wenn diese einem Wechsel der A-Prädikate<br />

unterliegen werden sie dynamisch. Zwar bleibt die Relation<br />

immer die gleiche, also der Tod Victorias wird<br />

niemals früher sein als der Annes, doch werden beide<br />

entlang der A-Serie laufen und so sukzessive durch


die A-Prädikate charakterisiert sein.<br />

An dieser Stelle können wir eine interessante<br />

Beobachtung einschieben, die bei Dahm 2007 genau<br />

dargelegt ist. Für McTaggart sind zwar beide Reihen<br />

Zeitreihen, da sie zeitbeschreibende Funktion haben,<br />

doch identifiziert er die B-Reihe strikt mit Statik und die<br />

A-Reihe mit Dynamik. Wichtig ist also festzuhalten, dass<br />

McTaggart die Statik der B-Reihe nicht an der Existenz<br />

der A-Reihe festmacht. Ob die A-Reihe also<br />

vorhanden ist oder nicht, die B-Reihe bleibt statisch.<br />

Genau das haben wir aber in den Beispielsätzen von<br />

den englischen Königinnen widerlegt, wonach die A-<br />

Reihe die B-Reihe dynamisiert hat. Dahm behauptet<br />

jetzt, dass die B-Reihe der A-Reihe nicht irgendwie<br />

beigeordnet sei, sondern dass sie ihre früher-später<br />

Relationen nur aufgrund ihrer Verbindung mit der<br />

dynamischen A-Reihe hat. Das leuchtet auch ein,<br />

denn statisch kann eine Zeitreihe bei McTaggart ja<br />

per definitionem nicht sein. Dahm schreibt, “Bedenkt<br />

man also, dass die B-Reihe nur durch die A-Reihe zu<br />

einer zeitlichen wird, dass B-Reihenereignisse ihre<br />

früher-später-Positionen aufgrund einer sukzessiven<br />

Gegenwärtigkeit innehaben, dann kann man auch<br />

im Falle der B-Reihe mit gutem Recht von<br />

Veränderung sprechen. Ohne A-Reihen-Dynamik<br />

haben wir also eine statische Reihe, doch mit der A-<br />

Reihe im Hintergrund ist die B-Reihe dynamisch zu<br />

interpretieren.” (Dahm 2007, 6f.) Obwohl dem<br />

zuzustimmen ist, bleiben zwei Fragen zurück. Zum<br />

einen: (1) Was ist dann die B-Reihe, wie sie McTaggart<br />

beschriebt, wenn sie nun nicht die korrekte ist? Zum<br />

anderen: (2) Was bliebe von der B-Reihe, nach Dahms<br />

Beschreibung, unter Abzug der A-Reihe? Schließlich<br />

wollte McTaggart die B-Reihe ja genau unter der<br />

Prämisse untersuchen, dass die A-Reihe nicht<br />

beigeordnet wäre. Zunächst zu (1): Hier müssen wir<br />

einen Blick auf McTaggarts C-Reihe werfen. Wenn<br />

man die A-Prädikate von der Zeitserie abzieht, so<br />

bleibt immer noch eine geordnete Reihe übrig, wie<br />

das etwa auch bei den Zahlen oder bei einer<br />

Menschenschlange der Fall ist, doch trotzdem findet,<br />

wie auch im Fall der beiden Beispiele, keine<br />

Veränderung statt. Zudem kann die C-Reihe keine<br />

Richtung ihrer Elemente darstellen, das heißt, ob die<br />

Zahlen jetzt von eins hinauf oder von 100 herunter<br />

gezählt werden. Dahm postuliert jetzt, dass die C-<br />

Reihe eigentlich das ist, was McTaggart als B-Reihe<br />

beschreibt. Und zu Recht, denn die C-Reihe löst mit<br />

ihrer definitorischen Unzeitlichkeit, den Widerspruch<br />

der B-Reihe zeitlich und gleichzeitig unveränderlich<br />

zu sein. In der Tat ist zum Beispiel die Zahlenreihe radikal<br />

gleichzeitig, also koexistent, 2 ist immer niedriger als 7<br />

und 3 immer zwischen 2 und 4. Nun zu (2): Wir haben<br />

bereits gesehen, dass es keine B-Reihe gibt ohne A-<br />

Reihe, weil sie nicht in der Zeit sein könnte. Umgekehrt<br />

gibt es aber auch keine A-Reihe ohne B-Reihe, weil<br />

man kaum Sätze mit A-Prädikaten sagen kann (z.B.<br />

“Schwimmen war ich gestern.”, “Turnen war ich<br />

vorgestern”) ohne B-Relationen zu implizieren (“Ich<br />

war früher turnen als schwimmen.”). Wenn die beiden<br />

Reihen einander bedingen, die eine nicht ohne die<br />

andere sein kann und die andere nicht ohne die eine,<br />

dann macht es keinen Sinn zu fragen, was B ohne A<br />

wäre. Die B-Reihe wäre schlicht nicht existent. Das<br />

heißt, McTaggarts Gedankenexperiment ist<br />

unangemessen, es kann nirgends hin führen.<br />

Dieser Einwand von Dahm ist ein Versuch, McTaggarts<br />

zweite Prämisse zu widerlegen, die besagt, dass nur<br />

die A-Reihe Veränderung einschließt.<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Ist unsere Zeit irreal?<br />

40<br />

Nun zur dritten Prämisse. Der Widerspruch der Prädikate<br />

der A-Reihe. Nachdem McTaggart davon ausgeht,<br />

dass Widersprüchlichkeit ein Beweis dafür ist, dass eine<br />

Sache in der Realität nicht existiert, könnte er mit<br />

diesem Argument zeigen, dass die Zeit, so wie wir sie<br />

sehen, eben nicht real ist. Die A-Prädikate sind<br />

miteinander inkompatibel, denn es kann nicht sein,<br />

dass ein Ereignis mehrere dieser Prädikate trägt. Der<br />

Satz wäre sinnlos. Aber andererseits sind sie auch<br />

kompatibel, denn sie werden jedem Ereignis<br />

notwendig zu teil, denn schließlich gibt es keine<br />

Ereignisse, die nur zukünftig und nie gegenwärtig oder<br />

vergangen sind. Insofern sind sie auch kompatibel, also<br />

koexistent. Laut McTaggart führt das in einen<br />

Widerspruch, denn A-Prädikate können nicht<br />

kompatibel und inkompatibel sein. Er schreibt dazu<br />

folgendes, “ Es ist nie wahr, so wird der Einwand lauten,<br />

dass M gegenwärtig, vergangen und zukünftig ist. Es<br />

ist gegenwärtig, wird vergangen sein und ist zukünftig<br />

gewesen. Oder es ist vergangen und ist zukünftig und<br />

gegenwärtig gewesen, [...] Die Charakteristika sind nur<br />

dann inkompatibel, wenn sie gleichzeitig sind, und<br />

dem widerspricht die Tatsache nicht, dass jeder Term<br />

sukzessive alle drei Charakteristika hat.” (McTaggart<br />

1993, 76). Es ist also offensichtlich, dass die<br />

beschriebene Koexistenz der Prädikate spezifiziert<br />

werden muss, denn ohne Spezifizierung ist es<br />

widersprüchlich zu behaupten, dass jedem Ereignis alle<br />

drei Prädikate zukommen. Intuitiv wird man sagen,<br />

jedes Prädikat trifft zu einer bestimmten Zeit zu, aber<br />

nicht zwei oder mehrere gleichzeitig. Hierbei sagt man<br />

das, was McTaggarts Zitat zum Ausdruck bringt,<br />

nämlich etwas “ist gegenwärtig, wird vergangen sein<br />

und war zukünftig.” McTaggart geht jetzt davon aus,<br />

dass die Zeit ausdrückenden Verben nichts anderes<br />

als A-Prädikate sind. Das hätte zur Folge, dass wir mit<br />

demselben Element spezifizierten, das wir ursprünglich<br />

spezifizieren wollten. Wir kommen also nicht weiter,<br />

denn das einzige, was wir erreicht haben, ist auf eine<br />

höher gelegene Zeitebene hinaufzusteigen und dort<br />

denselben Widerspruch vorzufinden.<br />

Selbstverständlich gibt es in der Grammatik auch eine<br />

zeitlose Variante des Verb “sein”, das einfach nur<br />

Attribuierung einer Eigenschaft ausdrückt. Schließlich<br />

gibt es auch Sprachen, die dieses Auxiliarverb<br />

überhaupt nicht ausdrücken, (z.B. das Russische). Aus<br />

diesem Grund versucht McTaggart jetzt die Sätze so<br />

umzuformulieren, dass sie nur mehr eine zeitlose Kopula<br />

und ein weiteres A-Prädikat enthalten, anstatt “E wird<br />

vergangen sein,” sagt er, “E ist vergangen in einem<br />

zukünftigen Moment,” das heißt also “E ist vergangen<br />

in der Zukunft.” Dadurch erhalten wir - laut Dummett -<br />

neun “second order tenses”, von denen drei mit den<br />

“first order tenses” übereinstimmen, nämlich<br />

“vergangen/gegenwärtig/zukünftig in der<br />

Gegenwart”.<br />

Vergangen Vergangenheit Vergangenheit<br />

Gegenwärtig in der Gegenwart in der Gegenwart<br />

Zukünftig Zukunft Zukunft etc.<br />

Bei den Fällen, die sich jetzt noch immer als<br />

widersprüchlich erweisen kann man eine weitere<br />

Zeitebene hinzufügen und so immer weiter. Damit ist<br />

klar, dass der spontane Vorschlag, an den man bei<br />

diesem <strong>Pro</strong>blem sofort denkt, zwar nicht unbedingt ein<br />

Widerspruch bleibt, dafür aber ein regressus ad infinitum.<br />

Die zweite Möglichkeit McTaggarts Argument zu


widerlegen - neben der die B-Reihe als veränderlich<br />

zu bezeichnen - ist es, diesen Widerspruch nicht als<br />

solchen gelten zu lassen.<br />

Damit ein Widerspruch überhaupt zustande kommt,<br />

müssen kontradiktorische oder konträre Prädikate auf<br />

denselben Gegenstand in derselben Hinsicht<br />

angewendet werden. Kein Zweifel, jemand kann<br />

gleichzeitig glücklich über das Überleben seiner Kinder,<br />

aber unglücklich über den Tod seiner Frau sein.<br />

Jetzt kann man behaupten, die A-Reihe beinhalte nur<br />

einen vermeintlichen Widerspruch, denn sie ist<br />

kompatibel im Bezug auf ihre Sukzessivität, aber<br />

inkompatibel im Bezug auf ihre Simultanität, nicht also<br />

im Bezug auf dasselbe. Dieser Einwand scheint<br />

gerechtfertigt. Genauso gut kann jemand die<br />

Verrichtung zweier Tätigkeiten im Bezug auf ihre<br />

Simultanität für inkompatibel (unvereinbar) halten, im<br />

Bezug auf ihre Sukzessivität aber für kompatibel<br />

(vereinbar). Kurz jemand kann Tätigkeiten nicht<br />

simultan, aber trotzdem sukzessive verrichten können.<br />

Das ist kein Widerspruch, denn durch die Adverbien<br />

kann der Widerspruch (etwas verrichten können und<br />

nicht verrichten können) ausgeräumt werden. Die<br />

Hinsicht - ausgedrückt durch Adverbien - spezifiziert<br />

hier und räumt den Widerspruch aus.<br />

Jetzt sollte man sich fragen, welches Verhältnis die<br />

Bezugspunkt (Hinsichten) bei Ereignissen haben. Die<br />

Prädikate “simultan” und “sukzessive” können weder<br />

gleichzeitig wahr noch gleichzeitig falsch sein, zweien<br />

Ereignissen muss notwendig entweder das eine oder<br />

das andere zugeschrieben werden können. Wir sehen<br />

also die Bezugspunkte sind ebenfalls kontradiktorisch.<br />

Jetzt ist die Frage, ob ein Widerspruch auch dann gültig<br />

ist, wenn er sich zwar nicht auf dieselbe Hinsicht<br />

bezieht, aber auf zwei kontradiktorische Hinsichten.<br />

<strong>Pro</strong>bieren wir es zunächst einmal bei einem konträren<br />

Widerspruch:<br />

Ein Gegenstand ist<br />

eckig/mehr Ecken habend im Bezug auf runde Dinge<br />

nicht eckig/weniger Ecken habend im<br />

Bezug auf quadratische Dinge<br />

Hier wurde eindeutig kein Widerspruch produziert,<br />

denn es gibt diesen Gegenstand, es muss einer sein,<br />

der ein, zwei oder drei Ecken hat (ob und wie erstere<br />

geometrisch möglich sind, ist hier irrelevant).<br />

Jetzt mit dem kontradiktorischen Widerspruch in den<br />

Hinsichten.<br />

A-Prädikate sind<br />

kompatibel im Bezug auf ihre Sukzessivität und<br />

inkompatibel im Bezug auf ihre Simultanität.<br />

Versuchen wir einmal die Bezüge hier zu klären. Die<br />

beiden Adjektive “kompatibel/inkompatibel”<br />

beziehen sich kontradiktorisch auf die A-Prädikate, also<br />

nur auf einen Gegenstand, damit entsteht ein<br />

Widerspruch. Die Präpositionalgruppen “im Bezug auf<br />

...” produzierten ebenfalls einen Widerspruch, sofern<br />

sie sich direkt auf den einen Gegenstand bezögen.<br />

Das tun sie aber nicht, sie beschreiben die Adjektive<br />

genauer, und beziehen sich jeweils auf eines von ihnen<br />

und spezifizieren sie damit. Es ist klar, dass hier zwar<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Ist unsere Zeit irreal?<br />

41<br />

zwei kontradiktorische Hinsichten vorliegen, sich diese<br />

aber auf zwei kontradiktorische Adjektive beziehen<br />

und somit nicht auf einen Gegenstand. Dieses Argument<br />

kann man auch daran überprüfen, dass die<br />

Adjektive lediglich mit den Hinsichten permutierbar<br />

sind, so ist es nicht möglich “kompatibel im Bezug auf<br />

ihre Simultanität und inkompatibel im Bezug auf ihre<br />

Sukzessivität” zu sagen. Folglich ist es nicht möglich,<br />

die Bezüge zwischen Hinsichten und Adjektiven zu<br />

missachten. Die oben angeführten Bedingungen für<br />

Widersprüche also nicht mehr vorhanden, denn es<br />

existiert kein Bezug zweier kontradiktorischer<br />

Eigenschaften auf eine Sache.<br />

Es gibt allerdings noch ein überzeugenderes Argument,<br />

den Widerspruch in dem Satz zu widerlegen.<br />

Schauen wir uns ein analoges aber alltagstauglicheres<br />

Beispiel an.<br />

Das Medikament ist<br />

kompatibel mit dem Tod und<br />

Inkompatibel mit dem Leben.<br />

Hier sieht man, dass die kontradiktorischen Elemente<br />

beider Spalten sich neutralisieren. Kompatibel mit dem<br />

Tod zu sein impliziert inkompatibel mit dem Leben zu<br />

sein, die beiden Ausdrücke haben dieselbe<br />

Bedeutung. Sie sind redundant.<br />

Bei den A-Prädikaten ist dasselbe der Fall. Wir haben<br />

festgestellt, dass zwei A-Prädikate - wenn sie<br />

Ereignissen zugeschrieben werden - zwar sukzessiv<br />

kompatibel, aber simultan inkompatibel sind. Es kann<br />

nicht sein, dass ich einem Ereignis zwei A-Prädikate<br />

gleichzeitig zuschreiben kann, sehr wohl aber kann<br />

ich sie nacheinander zuschreiben. Ereignisse können<br />

jetzt aber nicht gleichzeitig simultan und sukzessive<br />

stattfinden, wohl aber eines von beiden. Das heißt,<br />

wenn Ereignisse nicht simultan stattfinden, ist es<br />

impliziert, dass sie sukzessive stattfinden müssen (oder<br />

gar nicht). Daraus folgt, wenn ich diesen Ereignissen<br />

zwei A-Prädikate nicht gleichzeitig zuschreiben kann,<br />

dann ist es automatisch impliziert, dass ich sie ihnen<br />

nacheinander zuschreiben muss. Die Prämisse hierfür<br />

ist, (1) dass “sukzessiv inkompatibel” und “simultan<br />

kompatibel” tatsächlich nicht nur in ihren einzelnen<br />

Teilen kontradiktorisch sind, sondern auch als ganzer<br />

Ausdruck und dass (2) die A-Prädikate simultan<br />

inkompatibel sind. (1) haben wir gezeigt, im Bezug<br />

auf Ereignisse, denen die A-Prädikate zugeschrieben<br />

werden und die entweder simultan oder sukzessiv<br />

kompatibel sind. (2) haben wir schon eingangs aus<br />

der Analyse der zeitbeschreibenden Sprachelemente<br />

festgestellt. In der Tat, anders entwertete es den Sinn<br />

des Satzes. Abschließend kann man sagen, dass der<br />

Widerspruch hier mit der einfachen Frage nach den<br />

Hinsichten der beiden Adjektive gehörig in Zweifel<br />

gezogen werden kann.<br />

Ein anderes <strong>Pro</strong>blemfeld dieses Beweises ist die<br />

indexikalische Natur der A-Prädikate. Lowe<br />

behauptet, dass “McTaggart´s argument simply turn<br />

on a blunder in the logic of indexicals” (Lowe 1987,<br />

65). Wie meint er das? Nun, was meint man, wenn<br />

man “second order tenses” benutzt? Wenn man sagt,<br />

“Das Ereignis E wird gegenwärtig sein”, meint man<br />

korrekter Weise, “Wenn E existieren wird, wird es<br />

möglich sein den dann wahren Satz `E ist<br />

gegenwärtig´ zu äußern.” Lowe schreibt, “The mistake<br />

consists in forgetting the uneliminably indexical na-


ture of A-series expressions, at least while they are<br />

being used as opposed to being mentined.” (Lowe<br />

1987, 67). Es war oben schon einmal die Rede von<br />

der Tatsache, dass ein Individuum an seine zeitliche<br />

Perspektive gebunden ist. Aus diesem Grund kann<br />

man Ausdrücke wie etwa “jetzt” oder “gegenwärtig”<br />

genauso wenig aus einer anderen Perspektive<br />

anwenden wie “ich” im Bezug auf eine andere Person.<br />

Zwar ist es uns möglich, auch von anderen<br />

Perspektiven aus zu sprechen, doch erfordert das<br />

imaginative <strong>Pro</strong>jektion, oder wie man in der<br />

Grammatik sagt, indirekte Rede, nach dem Muster<br />

“Wenn ich “du” wäre, wäre es mir möglich zu dir `ich´<br />

zu sagen.” Dieses Muster scheint man auf alle<br />

möglichen indexikalischen Ausdrücke anwenden zu<br />

können, sowohl auf diejenigen der Zeit und des<br />

Raumes, als auch auf diejenigen der Person. Warum<br />

aber ist es dann für McTaggart scheinbar nicht<br />

interessant, sein Argument auch auf Person und Raum<br />

anzuwenden? Dummett zum Beispiel nimmt diese<br />

Gefahr nicht ernst, er schreibt, “Jeder Ort kann sowohl<br />

“hier” als auch “dort, “nah” und “fern” genannt<br />

werden, und jede Person kann sowohl “ich” und “du”<br />

genannt werden. Doch sind “hier” und “dort”, “nah”<br />

und “fern”, “ich” und “du” inkompatibel.” (Dummett<br />

1993, 122). Wenn unser intuitiver Opponent von vorher<br />

hier genauso wie bei den temporalen A-Prädikaten<br />

versuchen würde, sie ebenfalls mit Hilfe von<br />

zeichenreflexiven Ausdrücken zu spezifizieren, kommt<br />

er vermeintlich zu demselben Resultat. Dummett<br />

schreibt weiter, “Es würde nichts nützen, wenn ein Opponent<br />

sagen würde, dass London nahe daran weit<br />

weg, aber weit weg nahe dran ist oder dass es dort<br />

“hier”, aber hier “dort” ist, da es auch “`nah´ nah”<br />

und “`hier´ hier” und so weiter genannt werden<br />

könnte.” (ebd.). Dummett kontert also genau Lowes<br />

Hinweis bezüglich des indexikalischen Fehlschlusses,<br />

doch ist es interessant, dass auch Dummett mehrer<br />

Formen von Anführungszeichen benutzt, um<br />

anzudeuten, dass sich die zusätzlich einfach<br />

eingeklammerten Ausdrücke auf einem anderen<br />

Niveau befinden. Und genau diese indirekte Natur des<br />

Ausdrucks kann auch hier nicht widerlegt werden.<br />

Aber wie rechtfertigt er aus seiner Perspektive, dass<br />

McTaggart keine analogen Argumente für Raum und<br />

Person findet? Für Dummett sind hierbei die Thesen<br />

(1) und (2) nicht gegeben, dass also Zeit Veränderung<br />

einschließt und die A- Reihe diese Veränderung<br />

wesentlich erklärt. Selbst wenn man nämlich<br />

indexikalische Ausdrücke wie “dort” benutzt, so sind<br />

diese nicht konstitutiv für das Vorhandensein des<br />

Raumes. Das hat damit zu tun, dass es keine zur<br />

zwingenden zeitlichen Perspektive analoge<br />

Raumperspektive gibt. Der, der über den Raum spricht<br />

muss nicht Teil dieses Raumes sein, denn dieser ist nicht<br />

monodimensional wie die Zeit. In Dummetts Worten,<br />

“Im Gegensatz dazu [Zeit] ist die Verwendung<br />

räumlich zeichenreflexiver Ausdrücke nicht wesentlich<br />

für die Beschreibung von Objekten, insofern sie in<br />

einem Raum sind.” (ebd.) Das heißt also, die Prämisse<br />

(2) von McTaggarts Argument trifft beim Raum nicht<br />

zu. Raum gibt es nicht nur dann, wenn auf jeden<br />

Gegenstand im Raum bestimmte A-Prädikate<br />

beziehen kann, wie bei der Zeit “gegenwärtig”,<br />

“zukünftig” und “vergangen”.<br />

Christensen weißt auf ein anderes <strong>Pro</strong>blem hin. Seiner<br />

Meinung nach ist es nichts anderes als eine<br />

grammatikalische Notwendigkeit, dass die A-<br />

Prädikate zeitbestimmende Kopulae bei sich führen.<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Ist unsere Zeit irreal?<br />

42<br />

Die tensed verbs, wie “ist”, “war” oder “wird sein” sind<br />

also nicht - wie McTaggart behauptet - selbst A-<br />

Prädikate, da sie in Präpositionalgruppen transformiert<br />

werden können, die mit jenen semantisch<br />

übereinstimmen. In der Tat aber ist zu Fragen, ob “E<br />

wird gegenwärtig sein” dasselbe bedeutet wie “E ist<br />

gegenwärtig in der Zukunft,” ob es also korrekt ist,<br />

tensed verbs mit Präpositionlphrasen gleichzusetzen.<br />

Die Sprachpragmatik untermauert diesen Einwand,<br />

denn in der Tat verwenden wir letztere immer nur zum<br />

Zweck der Verstärkung der tensed verbs, niemals aber<br />

als ihr Ersatz. Nun ist aber klar, dass diese tensed verbs<br />

doch irgendeinen semantischen Gehalt bei sich führen<br />

müssen, denn würde man ausschließlich zeitlose<br />

Verben (“ist”) verwenden, wäre der Widerspruch<br />

überhaupt unvermeidbar. Um die Natur von tensed<br />

verbs genauer zu analysieren, schreibt Christensen,<br />

“The answer is that it is one kind of adverb - an adverb,<br />

because it modifies the verb. The formal difference<br />

between it an other adverbs is that it is incorporated<br />

physically into the verb, or, as we say, the verb<br />

is inflected.” (Christensen, 203). Er geht nämlich davon<br />

aus, dass es sowohl ein Irrtum ist, tensed verbs, genauer<br />

die zu ihnen gehörigen Adverbien und<br />

Präpositionalgruppen gleichzusetzen als auch letztere<br />

für strukturell einfacher zu halten. McTaggart produziert<br />

den Widerspruch, weil er meint in einem Satz mit einem<br />

tensed Verb und einen A-Prädikat eigentlich zwei von<br />

letzteren aufzufinden, die Zeitmomente verschiedener<br />

Ordnung sind (vgl. “second order tense”). Da das eine<br />

aber zu Spezifizierung des anderen eingesetzt wurde,<br />

löst er damit zwar den Widerspruch, führt ihn aber in<br />

einen Regress. Jede zur vermeintlich spezifizierende<br />

Ebene, erfordert wieder eine Erklärung derselben Art<br />

wie die vorhergehende. Christensen sieht aber die<br />

temporalen Adverbien für basaler und logisch<br />

fundamentaler an als die Präpositionalgruppe,<br />

dadurch könnte er McTaggarts Widerspruch als<br />

eigentlich gar nicht widersprüchlich entlarven. Er<br />

schreibt, “But it is then discovered that the latter expression<br />

[prepositional phrase] involves yet a further<br />

tensed copula: `at a past time´ means `at a time which<br />

is now past´. Again McTaggart who must push the regress<br />

another step further in the attempt to de-tense<br />

the A-predicate in the added prepositional phrase,<br />

by adding yet another prepositional phrase of similar<br />

form.” (Christensen 1974, 291). Aus dem Versuch der<br />

Vereinfachung von “E wird gegenwärtig sein” zu “E ist<br />

gegenwärtig an einem Moment, der jetzt zukünftig ist”<br />

wird “E ist gegenwärtig an einem Moment, der<br />

zukünftig ist an einem Moment, der jetzt gegenwärtig<br />

ist”. McTaggart hat versucht durch die<br />

Präpositionalgruppe den temporalen Gehalt des<br />

Verbs loszuwerden (“de-tense”), doch was er dadurch<br />

verursacht sind nur immer neue tensed verbs. Er hat<br />

also einen Lösungsansatz, der sich als falsch<br />

herausstellt, da er immer dorthin zurückführt, von wo<br />

er ausgegangen ist. Hier wird also klar, dass gerade<br />

indem McTaggart versucht den temporalen Gehalt<br />

der Verben, also die “inflected adverbs”, als<br />

Präpositionalgruppe darzustellen, kreiert er den Regress,<br />

dem er eigentlich durch genaue Analyse der<br />

tensed verbs hätte aus dem Weg gehen können.


Nach der Darstellung der beiden<br />

Argumentationsschritte McTaggarts und ihrer<br />

möglichen Angriffspunkte, lässt sich sagen, dass das<br />

Thema seines Gedankens zwar sehr anziehend ist, ja<br />

fast sofort neugierig macht, dass sein Versuch aber so<br />

viele Schwachpunkte enthält, dass er nur durch<br />

Ausarbeitung von Hilfstheoremen heute vertreten<br />

werden kann.<br />

Literatur<br />

Christensen, Ferrel: McTaggart´s Paradox and the<br />

Natur of Time. In: The Phylosophical Quarterly, Vol.24,<br />

No. 97, (Oct., 1974). 289-299.<br />

Dahm, Günter: McTaggarts Beweis der Irrealität der<br />

Zeit - ein Versuch seiner Widerlegung. Studienarbeit.<br />

München/Ravensbrück: Grin Verlag 2007.<br />

Dummett, Michael: McTaggarts Beweis für die Irrealität<br />

der Zeit: Eine Verteidigung. In: Klassiker der<br />

Zeitphilosophie. Hg. Von Zimmerli, Walter, Sandbothe,<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Mike. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft<br />

1993.<br />

Gotshalk, W.D.: McTaggart on Time. In: Mind, New Series,<br />

Vol. 39, No. 153 (Jan., 1930). 26-42.<br />

Lowe, E. J.: The Indexical Fallacy in McTaggart´s <strong>Pro</strong>of<br />

of the Unreality of Time. In: Mind, New Series, Vol. 96,<br />

No. 381, (Jan., 1987), 62-70.<br />

McTaggart, John McTaggart Ellis: Die Irrealität der Zeit.<br />

In: Klassiker der Zeitphilosophie. Hg. Von Zimmerli,<br />

Walter, Sandbothe, Mike. Darmstadt:<br />

Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993.<br />

McTaggart, John McTaggart Ellis: The Unreality of Time.<br />

In: The Philosophy of Time. Hg. von R. Le Poidevin/M.<br />

Mac Beath. Oxford: University Press 1993a. 23-32.<br />

Esther Jauk studiert Philosophie und Germanistik an der Universität Tübingen und der Universität Wien. Sie nimmt als Gast an<br />

der Sommerakademie 2008 teil.<br />

Ist unsere Zeit irreal?<br />

43


Cuthberts Leguan-<strong>Pro</strong>blem<br />

<strong>Pro</strong>tagonisten in philosophischen Gedankenexperimenten<br />

sind in der Regel ein wenig tragische<br />

Figuren – sie werden in Terrarien gestellt, aus denen es<br />

kaum heiles Entkommen gibt, und durch Szenarien<br />

gehetzt, die man schwerlich unbescholten bestehen<br />

kann. Ähnliches gilt, horribile dictu, in bestimmter Hinsicht<br />

auch für theologische Gedankenspiele, etwa jenem von<br />

Cuthberts versuchten Kauf eines Leguans: 1 Cuthbert, so<br />

wird hier angenommen, ist ein netter, tierlieber Student<br />

mit einem Faible für exotische Tiere; regelmäßig überlegt<br />

er montags auf seinem Weg ins zoologische Institut, ob<br />

er sich einen Leguan anschaffen soll. Aus göttlicher<br />

Perspektive ist die Sache gewissermaßen klar: Qua<br />

Allwissenheit weiß Gott immer schon, dass Cuthbert sich<br />

eben diesen Mittwoch einen Leguan kaufen wird – was<br />

vor die heikle Frage stellt: Kann Cuthbert sich mittwochs<br />

nun überhaupt noch gegen den Leguankauf<br />

entscheiden? In diesem Fall, horribilius dictu, hätte Gott<br />

eine falsche Vorhersage getroffen, was qua göttlicher<br />

Unfehlbarkeit nicht denkbar ist. Wenn Gott aber nicht<br />

irren kann, ist Cuthbert wohl kaum als frei zu bezeichnen,<br />

ganz gleich, wie frei er sich beim Kauf auch gefühlt<br />

haben mag – entscheidend ist schließlich nicht das<br />

subjektive Erleben, sondern sind objektive Fakten.<br />

Cuthbert steht also vor dem <strong>Pro</strong>blem, den Leguan aus<br />

freien Stücken kaufen oder nicht kaufen zu wollen, ohne<br />

Gottes Gottsein im klassischen Sinn bestreiten zu müssen.<br />

Das etwas triviale Szenario reißt, global gesprochen, hier<br />

vom göttlichen Attribut der Allwissenheit ausgehend das<br />

nicht-triviale <strong>Pro</strong>blem auf, Gott und Zeit<br />

zusammenzudenken; wiewohl die <strong>Pro</strong>blemfelder<br />

ineinanderspielen, scheint es sinnvoll, gegenwärtig<br />

(zumindest in der analytisch geprägten Tradition<br />

theologischer und religionsphilosophischer Reflexion)<br />

drei diskutierte Fragekomplexe zu unterscheiden: 2 erstens<br />

die gleichsam metaphysische Frage danach, wie<br />

Ewigkeit und Zeitlichkeit allgemein ins Verhältnis zu setzen<br />

sind: Ist Gott omnitemporal, wie das Bibel und patristische<br />

Traditionen favorisieren, oder atemporal, wie seit<br />

Augustinus und Boethius gelehrt wird? Welche<br />

ontologischen und theologischen commitments geht<br />

man damit ein? 3 Und grundlegender gefragt: Welcher<br />

Begriff von Zeit ist in den gegenwärtigen Diskursen, zumal<br />

mit den Naturwissenschaften nach Einstein, überhaupt<br />

angemessen? Zweitens die quasi epistemologische<br />

Frage danach, was Gott über die Zukunft weiß bzw.<br />

wissen kann – ob er etwa (sofern es solche gibt)<br />

irreduzibel indexikalische Überzeugungen haben könne,<br />

wobei zeitliche Indexikalität eine wesentliche<br />

Reflexionshinsicht darstellt: Kann Gott wissen, dass<br />

Cuthbert übermorgen einen Leguan kauft, wenn es sub<br />

specie aeternitatis keinen Begriff von übermorgen gibt?<br />

Oder deutet sich hier eine indexikalisch markierte Grenze<br />

des für Gott Wissbaren an? Und drittens die nicht zuletzt<br />

existentiell relevante Frage danach, ob der Glaube an<br />

einen allwissenden Gott einen theologischen Fatalismus<br />

impliziert, d.h. ob und wie es denkbar ist, dass Cuthbert<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Martin Dürnberger<br />

Leguane, Schachspieler, Bundeskanzler<br />

Zu einigen <strong>Pro</strong>blemen von Gottes Verhältnis zur Zeit<br />

wirklich frei entscheidet und agiert, obwohl Gott immer<br />

schon weiß, wie er entscheiden und agieren wird.<br />

Die umrissenen <strong>Pro</strong>bleme verquicken sich natürlich; das<br />

existentielle Primat der letztgenannten Frage scheint<br />

dabei evident zu sein, nicht bloß vor dem Hintergrund<br />

eines theologisch abgeleiteten Determinismus, sondern<br />

auch und besonders im Blick auf die Theodizee: Man<br />

kann etwa an Mackies bekannten Einwurf gegen die<br />

free-will-defense erinnern, ein allwissender Gott, der die<br />

Zukunft kenne, könnte (den hohen Wert der Freiheit und<br />

die logische Notwendigkeit der Möglichkeit des malum<br />

morale im Rahmen dieser Freiheit vorausgesetzt)<br />

aufgrund seiner Allwissenheit nur solche Menschen<br />

erschaffen, von denen er im voraus weiß, dass sie sich<br />

faktisch aus freien Stücken immer zum Guten entscheiden<br />

werden 4 – eine luzide Kritik, die nicht zuletzt das Verhältnis<br />

von Gott und Zeit und die Frage, wie es adäquat zu<br />

denken sei, betrifft.<br />

Die folgenden Zeilen können und wollen dabei nur in<br />

eingeschränkter Hinsicht aufschlussreich sein: Sie liefern<br />

keinen erschöpfenden Überblick, sondern präsentieren<br />

nur Schlaglichter; sie stellen keinen repräsentativen<br />

Querschnitt durch die Diskurse (etwa den theologischen<br />

Diskurs mit Naturwissenschaften nach der<br />

Relativitätstheorie) dar, sondern haben einen<br />

analytischen Einschlag, mit den Konsequenzen die sich<br />

daraus ergeben, etwa der rationalistischen Färbung; und<br />

sie erheben nicht den Anspruch auf Lösungen, sondern<br />

referieren nur vorhandene Überlegungen – in diesem<br />

Sinne eher einer bescheidenen Einführungs- als einer<br />

ambitionierten Antrittsvorlesung vergleichbar, so diese<br />

Analogie überhaupt erlaubt sein kann.<br />

Die Zeitlosigkeit Gottes<br />

Neuplatonistische Berge<br />

Leguane, Schachspieler, Bundeskanzler<br />

44<br />

Entscheidende Anstöße, Gottes Verhältnis zur Zeit zu<br />

denken, kommen über Augustinus und Boethius von der<br />

neuplatonistischen Tradition; im (philosophischen)<br />

Hintergrund steht hier die ‚philosophische Entdeckung<br />

der Transzendenz’ (Schmidinger) durch Plotin, die auch<br />

die Zeitlichkeit betrifft. Der spekulative Grundgedanke<br />

Plotins ist die logische und ontologische Vorrangigkeit der<br />

Einheit vor der Pluralität:<br />

Alles, was ist, ist durch das Eine: das, was im primären<br />

Sinne ist, ebenso wie alles, was sonst irgendwie unter<br />

das gerechnet wird, was ist. Was wäre es denn schon,<br />

wenn es nicht eins wäre? … Ein Heer ist nicht, wenn<br />

es nicht eins ist; ein Chor, eine Herde ist nicht, ohne<br />

eins zu sein. Und ebensowenig ist ein Haus oder ein<br />

Schiff, wenn sie das Eine nicht haben 5<br />

Ohne Einheit keine Herde, kein Heer, kein Haus – es<br />

braucht ein Prinzip, das aus Vielem etwas Bestimmtes<br />

macht: Ein Haufen von Baumaterialen würde für sich kein<br />

Haus machen – ist es der Zweck, der seine Einheit<br />

ausmacht. Wenn etwas ist, dann muss es eins sein – sonst<br />

wäre es nicht, sondern es gäbe nur seine Bestandteile.


Plotin schließt in dieser Logik bekanntlich auf das Eine, to<br />

hen, als Grundprinzip der Wirklichkeit: Dieses Grundprinzip<br />

kann nicht eine Pluralität sein, weil eine Pluralität ihre<br />

Einheit (ihr Zusammenspiel, die sie überhaupt erst<br />

Pluralität einzelner Elemente sein lässt – denn Pluralität<br />

setzt einen Horizont voraus, vor dem sie Pluralität ist)<br />

wieder von einem anderen empfangen müsste; nur<br />

Einheit verdankt sich selbst keinem anderen Prinzip und<br />

steht unter keinen Bedingungen. Genau das schließt<br />

allerdings Zeitlichkeit aus: Wenn Einssein nur in der Zeit<br />

sein könnte, wäre Zeit eine Art Formalprinzip der Einheit<br />

selbst, i.e. Einheit würde ihr Idion von einem anderen her<br />

empfangen oder nur innerhalb eines anderen Horizonts<br />

sein können. Zeit ist vielmehr, wie man auch täglich<br />

erlebt, ein Differenzfaktor: Zeit ist das Biotop der Pluralität.<br />

Einssein, so auch im Christentum die wirkmächtige<br />

(neu)platonische Tradition, geschieht in diesem Sinne<br />

gegen die Zeit durch die Zeit hindurch – sodass<br />

Geschichte eine Art Bedrohung transzendenter Wahrheit<br />

ist. Die Applikation dieser Überlegungen in theologische<br />

Theoriebildung markiert den Übergang eines omni- zu<br />

einem atemporalen Gottesverständnis. Eine erste,<br />

biblisch vertretene und patristisch weiterentwickelte<br />

Konzeption war davon ausgegangen, „daß Gott<br />

immerwährend [everlasting] ist. Er bestimmt zu allen<br />

zeitlichen Momenten, was geschieht, ‚während es<br />

geschieht’, weil er zu allen zeitlichen Momenten<br />

existiert.“ 6 Das entscheidende <strong>Pro</strong>blem einer solchen<br />

Omnitemporalität ist, ganz im Sinne der<br />

neuplatonistischen Kritik, die Beschreibung Gottes sub<br />

specie temporis – Zeit ist ein übergeordneter<br />

Bezugsrahmen, um Gott zu beschreiben, während die<br />

Idee eines solchen Rahmens im Blick auf Gott nicht<br />

treffend sein kann: „Sie scheint zu implizieren, daß die<br />

Zeit außerhalb Gottes steht, der in ihrem Strom gefangen<br />

ist.“ 7 Gerade hier setzt Boethius an: „Denn alles, was in<br />

der Zeit lebt, ... erfasst das Morgige noch nicht, das<br />

Gestrige aber hat es schon verloren.“ 8 Das kann für Gott<br />

nicht der Fall sein – er steht vielmehr außerhalb der Zeit,<br />

ihm kommt Ewigkeit zu: „Ewigkeit also ist der vollständige<br />

und vollendete Besitz unbegrenzbaren Lebens auf<br />

einmal.“ 9 Von hier aus wird auch Allwissenheit gedacht:<br />

Gott ist alles, was ist, immer präsent – Gott ist wie ein<br />

Beobachter auf einem hohen Berg, der eine <strong>Pro</strong>zession<br />

am Fuße des Bergs beobachtet: Während ein<br />

Beobachter am Fuße des Bergs die <strong>Pro</strong>zessen auf sich<br />

zukommen, vorbei- und schließlich wegziehen sieht<br />

(sodass sich ein Vorher, Jetzt und Nachher ergibt), sieht<br />

Gott immer den ganzen Weg der <strong>Pro</strong>zession. Thomas hat<br />

dieses Bild präziser zu fassen versucht und den Vergleich<br />

mit einem Kreis angedacht:<br />

Da ... das Sein des Ewigen nie aufhört, so ist die<br />

Ewigkeit jeder Zeit und jedem Augenblick der Zeit<br />

gegenwärtig. Dafür kann man, wenn man will, als Bild<br />

den Kreis ansehen. Ein auf der Kreislinie gegebener<br />

Punkt ist nämlich, obwohl er unteilbar ist, dennoch<br />

der Lage nach nicht zugleich mit jedem anderen<br />

Punkte mit da; denn der Zusammenhang der Kreislinie<br />

wird durch die räumliche Anordnung bewirkt. Der<br />

Mittelpunkt aber, der außerhalb der Kreislinie liegt,<br />

steht jedem auf der Kreislinie gegebenen Punkt<br />

unmittelbar gegenüber. Alles also, was in<br />

irgendeinem Teile der Zeit ist, ist mit dem Ewigen mit<br />

da, gleichsam ihm gegenwärtig, obwohl es im<br />

Hinblick auf die einen anderen Teile der Zeit<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Leguane, Schachspieler, Bundeskanzler<br />

45<br />

vergangen oder zukünftig ist. ... Es ergibt sich also,<br />

dass Gott Kenntnis von dem hat, was dem Zeitablauf<br />

nach noch nicht da ist. 10<br />

Versöhnungsgesten<br />

Von diesen prägenden und bestechenden Bildern her<br />

kann man versuchen, auch Cuthberts <strong>Pro</strong>blem in den<br />

Griff zu bekommen. Ein klassischer, bereits auf Origenes<br />

zurückgehender Einwand gegen die Behauptung,<br />

Gottes Vorherwissen eines Handlung x zum Zeitpunkt t<br />

impliziere theologischen Fatalismus, führt die Differenz<br />

von Vorherwissen und Vorherbestimmung ein – Gottes<br />

Vorherwissen, dass p zu t1, steht in keiner kausalen Kette<br />

zu p zu t1. In diesem Fall ist man offensichtlich zwar nicht<br />

von Gottes Wissen vorherbestimmt, aber offensichtlich<br />

von anderen (von Gott überblickten und gewussten)<br />

Faktoren, was theologisch ebenfalls problematisch<br />

erscheint: Wenn etwa in Analogie dazu ein<br />

Neurowissenschaftler alle meine Handlungen während<br />

der <strong>Pro</strong><strong>Scientia</strong>-SoAk voraussagen könnte, könnte ich<br />

mich sowohl subjektiv frei fühlen als auch davon<br />

ausgehen, dass es nicht der Neurowissenschaftler ist, der<br />

meine Handlungen kausal verursacht – aber es bliebe<br />

bei einem ungustiösen Determinismus. Gleiches gilt im<br />

Blick auf Gott: Der Determinismus wäre dann nicht<br />

theologisch, sondern bspw. materialistisch zu etikettieren,<br />

aber man würde dies in theologischen Bilanzbüchern<br />

nicht ohne Scham als Gewinn vermerken wollen.<br />

In der Regel lässt sich angesichts dieses <strong>Pro</strong>blems der<br />

Begriff des Determinismus hinterfragen – und zwar im (vor<br />

dem skizzierten boethianischen Hintergrund)<br />

naheliegenden Hinweis darauf, dass der Begriff des<br />

Vorherwissens im Bezug auf Gott problematisch, mehr<br />

noch: inadäquat ist. Tatsächlich ist „Vorher“ im Bezug<br />

auf Gott, der mit Boethius und Thomas atemporal zu<br />

denken ist, ein philosophisch heikles Etikett. Es gilt<br />

vielmehr: „just as my seeing you sitting, in the present,<br />

does not necessiate your sitting, so neither does God’s<br />

knowledge, in the ‚eternal present’, of your actions<br />

necessiate those actions.“ 11 Thomas von Aquin geht<br />

demnach davon aus, dass Gott die Geschichte nicht<br />

im strengen Sinn voraus kennen könne, da menschliche<br />

Handlungen „in der Gleichzeitigkeit, aber nicht im voraus<br />

erkannt werden können.“ 12 Gottes Vorauswissen, wenn<br />

man den Begriff noch verwenden will, determiniert nicht.<br />

Christoph Jäger hat diesen Einwand (rudimentär)<br />

modallogisch reformuliert: „Es gilt ... zwar<br />

notwendigerweise: Wenn Gott weiß, daß p, dann p;<br />

doch hieraus folgt keineswegs daß p notwendigerweise<br />

der Fall ist.“ 13 Die hypothetische Notwendigkeit de dictu<br />

(die sich aus dem Gottesbegriff ergibt, so wie sich das<br />

Unverheiratsein aus de Begriff des Junggesellen ergibt)<br />

lässt sich nicht in eine absolute Notwendigkeit de re<br />

ummünzen: Wenn Gott etwas weiß, dann weiß er es (das<br />

ist Folge unseres Gottesbegriffs) notwendig und<br />

unfehlbar; aber das heißt nicht in einem einfachen Sinn,<br />

dass es notwendig geschieht – aus der Allwissenheit folgt,<br />

dass Gott im Fall eines donnerstäglichen Leguankaufs<br />

Cuthberts in der Tat eine falsche Meinung gehabt hätte,<br />

aber nicht, dass Gott in diesem Fall auch dieser Meinung<br />

gewesen wäre.<br />

Die Relation verläuft dabei also gewissermaßen in die<br />

Gegenrichtung: Gottes Wissen hängt von unseren<br />

Handlungen ab – das, was Gott (aus unserer Perspektive)


immer schon weiß, wird von dem verursacht, was<br />

Cuthbert (in unserer Perspektive) mittwochs tut, i.e.<br />

Gottes Wissen würde von unseren Handlungen<br />

gleichsam „rückwärts“ determiniert. Allerdings ist die<br />

Idee einer solchen (kausalen) Beeinflussung Gottes<br />

(einmal abgesehen vom <strong>Pro</strong>blem einer Kausalität gegen<br />

die Zeit, wenn man das so salopp formulieren darf) durch<br />

unsere Taten traditionell verdächtig, etwa für Thomas:<br />

„Gott weiß die zukünftigen Dinge ... nicht, weil sie [für<br />

ihn] schon sind, sondern diese sind, weil Gott sie in seinem<br />

schöpferischen Wissen kennt. Sein Erkennen und Wollen<br />

ist nicht abhängig von den Dingen, sondern<br />

voraussetzungslos und frei.“ 14 Während Cuthberts Kauf<br />

eines Leguans mein gegenwärtiges Wissen kausal<br />

beeinflusst (Ich weiß, dass er sich einen Leguan kauft,<br />

weil ich mit ihm unterwegs bin und den Kauf<br />

beobachte), kann das bei Gott nicht der Fall sein – denn<br />

dies, so Nelson Pike summarisch (und im Verweis zu<br />

entsprechenden Stellen bei Boethius), hielt man<br />

traditionell vielfach „unvereinbar mit einem Begriff von<br />

Gott, nach dem Er unabhängig ist und nicht von<br />

Ereignissen in der natürlichen Welt beeinflusst werden<br />

kann.“ 15 Hier zeichnet sich, auch und nicht zuletzt in der<br />

scholastischen Theologie selbst, bereits die<br />

Sollbruchstelle der Analogie ab; ein auch neuerdings<br />

wieder präsentierter Versuch, dem <strong>Pro</strong>blem Herr zu<br />

werden ist das molinistische Konzept der scientia media:<br />

das Wissen Gottes um kontrafaktische Zustände. Der<br />

Grundgedanke dabei ist, leger formuliert, die Relation<br />

zwischen unseren Taten und Gottes Wissen nicht kausal<br />

zu denken. Molina hält (am Beginn gegen die Intention<br />

Thomas’ gewandt, wie ein Vergleich mit dem obigen<br />

von Stosch-Zitat zeigt) demnach fest:<br />

Denn die Dinge, die aus unserer Wahl hervorgehen<br />

oder von ihr abhängen, werden nicht deshalb<br />

geschehen, weil Gott von ihnen im voraus weiß, dass<br />

sie geschehen werden; sondern im Gegenteil: Gott<br />

weiß von ihnen im voraus, dass sie auf die eine oder<br />

andere Weise geschehen werden, weil sie durch<br />

unsere freie Wahl so geschehen werden; und wenn<br />

sie auf eine gegenteilige Weise geschehen würden,<br />

wie sie es könnten, wüsste Er ... im voraus, dass sie<br />

auf eine gegenteilige Weise geschehen würden. 16<br />

Wir können Gottes Wissen also zwar nicht (rückwärts-<br />

)kausal beeinflussen, haben aber eine Art von<br />

„counterfactual power over God’s past beliefs“ 17 – eine<br />

Lösung, die allerdings wohl eher grammatisch als<br />

kategorial zu denken ist, wie Hasker festhält: „It is not<br />

clear, however, how this resolves the basic dilemma.“ 18<br />

Die Rede von einer scientia media legt keine Lösung im<br />

engeren Sinn vor, sondern gibt eine Grammatik an, wie<br />

man allgemein das Verhältnis göttlicher Allwissenheit zu<br />

menschlicher Freiheit zu denken hat – ohne Auflösung<br />

eines der beiden Pole in eine Richtung hin.<br />

Eine neuerdings diskutierte Möglichkeit, die hier noch kurz<br />

vorgestellt sein soll, bezieht sich auch ein<br />

Gedankenexperiment Harry Frankfurts 19 ; das<br />

entscheidende <strong>Pro</strong>blem des Cuthbert’schen<br />

Leguankaufs scheint ja zu sein, dass echte Freiheit eine<br />

Wahlmöglichkeit voraussetzt (Kauf des Leguans vs. Nicht-<br />

Kauf des Leguans), was durch die göttliche Allwissenheit<br />

ausgeschlossen wird. Ein neuerer Lösungsversuch stellt<br />

die Prämisse, dass Freiheit eine Wahlmöglichkeit<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

voraussetze, in Frage – Cuthbert könne sich auch frei zum<br />

Leguankauf entschließen, ohne jemals eine echte Alternative<br />

gehabt zu haben. In Frankfurts Beispiel kontrolliert<br />

ein controller, nennen wir ihn Werner, einen Menschen<br />

namens Alfred. Werner will sichergehen, dass Alfred eine<br />

bestimmte Handlung ausführt, nämlich sein Amt als<br />

Bundeskanzler zurückzulegen; in der Tat hat Werner auch<br />

die medialen und politischen Ressourcen, um Alfred im<br />

Fall des Falles dazu zu zwingen, zurückzutreten, favorisiert<br />

allerdings die Variante, dass Alfred das freiwillig macht.<br />

Aus diesem Grund setzt Werner Alfred strenger<br />

Überwachung aus – zeigt sich, dass Alfred sein Amt<br />

freiwillig zurücklegen wird, unternimmt er nichts, während<br />

er in dem Fall, dass Alfred Widerstand leistet, seine<br />

Kontakte spielen lässt und ihn zum Rücktritt zwingt. Es zeigt<br />

sich in diesem Fall, dass Alfred sich durchaus aus freien<br />

Stücken zum Rücktritt entschließen kann, ohne dass die<br />

Möglichkeit, das Amt zu behalten, jemals wirklich<br />

bestanden hätte. Selbiges kann man auf Cuthbert hin<br />

anwenden. Eine Rückfrage an diese Überlegungen<br />

betrifft die Indikatoren, die die Entscheidung Alfreds<br />

andeuten bzw. bestimmen und an denen sich Werner<br />

orientiert – denn unter Umständen kehrt hier unter der<br />

Hand ein Determinismus zurück, der zwar nicht von<br />

Werner ausgeht, aber gleichwohl Determinismus ist (vgl.<br />

den Einwand weiter oben im Blick auf Origines): „If there<br />

is no causal determination, what prevents the agent from<br />

choosing otherwise than the way God believes she will<br />

choose? ... Since Frankfurt libertarians cannot say this,<br />

we are left with a great mystery.“ 20 Zugleich stellt sich die<br />

Frage der Übertragbarkeit auf das theologische <strong>Pro</strong>blem:<br />

Werner respektiert die Entscheidung Alfreds letztlich nur,<br />

insofern sie in seinem eigenen Sinn ist. Gott hingegen<br />

respektiert die Entscheidung des Menschen offensichtlich<br />

auch dort, wo dies nicht der Fall ist – und verfügt zudem<br />

per definitionem nicht über die Alternative Werners, auf<br />

Menschen Zwang auszuüben. Gleichwohl bleibt die<br />

Diskussion dieser Position in ihrem Ausgang offen und<br />

bietet das Gedankenexperiment einen neueren,<br />

anspruchsvollen Versuch, Gottes Allwissenheit und<br />

menschliche Freiheit zusammenzudenken.<br />

Die Zeitpoligkeit Gottes<br />

Heikle Rückfragen<br />

Leguane, Schachspieler, Bundeskanzler<br />

46<br />

Die <strong>Pro</strong>bleme, die die skizzierten Antworten bei all ihren<br />

Vorteilen mit sich bringen, haben vor allem im 20.<br />

Jahrhundert zu neuen Rückfragen geführt. Die Skepsis<br />

am boethianisch-thomistischen Ewigkeitsverständnis<br />

Gottes scheint dabei vornehmlich zweifach begründet.<br />

Zum ersten rührt sie von den bereits skizzierten<br />

Inkonsistenzen her, die die rationale Formulierbarkeit<br />

eines atemporalen Gotteskonzepts von in Frage stellen.<br />

Dieser vor allem in der analytischen Tradition katalysierte<br />

Zweifel findet sich etwa prominent bei Richard Swinburne,<br />

der davon ausgeht, dass ein atemporales<br />

Gottesverständnis bereits in der Tradition widersprüchlich<br />

ist. In seiner Kritik daran (re-)konstru-iert er in einem<br />

bekannten Essay „Gott und Zeit“ vier Prinzipien, die in<br />

unlösbare Widersprüche führen 21 – sodass er das biblische<br />

omnitemporale Konzept favorisiert, „dass Gott<br />

immerwährend ist, welche wir so verstehen müssen, daß<br />

Gott über alle Zeitspannen hinweg existiert.“ 22 Die<br />

„Zeitlichkeit“ Gottes ist freilich keine Bedingung, die<br />

Gottes Wesen an sich bestimmen würde, sondern frei<br />

gewählt: „In dem Maß, in dem er Gefangener der Zeit


ist, hat er gewählt, dies zu sein. Gott, nicht die Zeit, gibt<br />

den Ton an.“ 23 Aus der analytischen Tradition stammt<br />

auch Nelson Pikes Reformulierung des Allwissenheits- und<br />

Freiheitsproblems „im Rückgriff auf zeitlich relativierte<br />

Modalitäten“ 24 – vorausgesetzt, es ist möglich, einem<br />

Wesen wie Gott Wissen zu bestimmten Zeitpunkten<br />

zuzuschreiben (was aus boethianisch-thomistischer Position<br />

durchaus fraglich, in unserer alltäglichen Perspektive<br />

aber üblich ist: Wir sagen nun mal, dass Gott heute weiß,<br />

was morgen geschieht) gerät man in eine Aporie der<br />

eingangs skizzierten Form: Wie ist es möglich, dass<br />

Cuthbert sich zu t2 frei gegen den Leguankauf<br />

entscheiden kann und Gott zu t1 unfehlbar weiß, dass<br />

Cuthbert zu t2 den Leguan kauft? Pikes (hier nur<br />

holzschnittartig präsentiertes) Argument „ist deduktiv<br />

korrekt. Als entscheidende Frage bleibt dann nur, ob sein<br />

Rekurs auf zeitabhängige Modalitäten legitim ist.“ 25 Die<br />

Legitimität zeitabhängiger Modalitäten wird allerdings<br />

etwa auch von modernen Theologen, die dem<br />

Thomismus verpflichtet sind, geteilt und damit gegen<br />

Thomas optiert: Will man Allwissenheit Gottes klassischthomistisch<br />

verstehen, dann lassen sich, so etwa<br />

Schockenhoff, „die ungewollten deterministischen<br />

Konsequenzen dieses Denkansatzes nicht mehr<br />

vermeiden.“ 26<br />

Zum zweiten und wohl entscheidender ist vor allem die<br />

Theodizee als Stachel dieses Ewigkeitskonzepts zu<br />

nennen: Wenn es für Gott keine Zeit gibt und Gottes<br />

Standpunkt, wie man annehmen muss, der letztlich<br />

objektive ist – ist dann Zeit und alles, was wir in der Zeit<br />

erleben und vor allem auch: erleiden, also auch die<br />

Dauer des Leidens bloße Illusion? Insofern schlechterdings<br />

kein menschliches Erleben ohne Zeit denkbar ist, muss<br />

dieses Erleben, wenn Zeit illusionär ist, selbst ebenfalls den<br />

Index der Täuschung tragen:<br />

Wenn die Zeit aus der Perspektive der göttlichen<br />

Ewigkeit quasi ein offenes Buch ist, dann existiert für<br />

Gott kein Unterschied zwischen unveränderlicher<br />

Vergangenheit und offener Zukunft. Und wenn für<br />

Gott kein solcher Unterschied existiert, dann ist wohl<br />

zu vermuten, daß er überhaupt nicht existiert, was<br />

bedeuten würde, daß die Zeit illusionär ist. 27<br />

Zeit scheint dann ebenso wie alles, was wir konsekutiv in<br />

der Zeit erleben, eine Art Täuschung zu sein – sodass auch<br />

Abschaffung des Leidens, dessen Dauer eine Täuschung<br />

ist, letztlich ebenfalls illusionär ist: Auch eine letzte,<br />

äußerste Verzweiflung, die wir zu einem bestimmten<br />

Zeitpunkt erleben mögen, ist sub specie aeternitatis<br />

immer gegenwärtig zu denken, weil Gott immer alles<br />

zugleich präsent ist, wie sich eben jeder Punkt eines<br />

Kreises in Äquidistanz zum Mittelpunkt befindet. Gottes<br />

forcierte Atemporalität, die nicht zuletzt soteriologische<br />

Intuitionen wahren wollte, da das Bekenntnis zur<br />

(eschatologischen) Erlösung von Mensch und Geschichte<br />

durch den Gott Jesu Christi eines Gottes bedarf, der nicht<br />

in zeitliche Entwicklungen verstrickt ist, sondern<br />

souveräner Herr von Zeit und Geschichte ist, führt hier in<br />

soteriologisch heikle Rückfragen: Ein Gott, der mit den<br />

Menschen mitlebt und -leidet, für den unser irreduzibel<br />

zeitlich strukturiertes Erleben aber illusionär ist, ist völlig<br />

unplausibel.<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Leguane, Schachspieler, Bundeskanzler<br />

47<br />

John Polkinghorne spricht angesichts dieser Einwände<br />

sowie im Verweis auf den theologischen Diskurs mit den<br />

Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert davon, dass es<br />

„in der Theologie mittlerweile weitgehend anerkannt“<br />

sei, dass „Gott sowohl einen ewigen als auch einen<br />

zeitlichen Pol habe“ 28 . Gleichwohl bleibt damit die<br />

Frage, wie Gottes Verhältnis zur Zeit mit seinem<br />

gleichzeitigen Herrsein über Zeit und Geschichte zu<br />

denken ist.<br />

Blutige Nasen an den Grenzen der Sprache<br />

Von der analytischen Tradition her scheint es<br />

naheliegend, die Rede von göttlicher Allwissenheit an<br />

die Rede von seiner Allmacht zurückzubinden –<br />

Allwissenheit „unterliegt“ gewissermaßen den<br />

Bedingungen und Prinzipien göttlicher Allmacht. Was<br />

meint der Begriff der Allmacht? In einem naiven<br />

Verständnis meint Allmacht die Fähigkeit,<br />

gewissermaßen alles tun zu können. Armin Kreiner<br />

definiert dieses Verständnis wie folgt:<br />

Für jeden Zustand Z gilt, dass Gott die Macht hat, Z<br />

auch zu aktualisieren.<br />

An derlei Definitionen setzen klassische Paradoxa an,<br />

etwa Fragen danach, ob Gott einen Stein schaffen kann,<br />

der schwerer ist als er heben kann. Beantwortet man<br />

diese Möglichkeit positiv, würde die Rede von Gott nicht<br />

unter das Nicht-Widerspruchsprinzip fallen – in diesem<br />

Sinne wäre es etwa ebenfalls legitim zu sagen, Gott<br />

könne einen Tisch erschaffen, den er zugleich (in der<br />

gleichen Hinsicht!) nicht erschaffen habe (vgl. Kenny).<br />

In diesem Fall könnte man Theologie kaum mehr gegen<br />

den Vorwurf der Irrationalität und den Verdacht der<br />

Sinnlosigkeit verteidigen. Deshalb legt sich eine<br />

Formulierung des Allmachtsbegriffs nahe, die die<br />

Forderung logischer Konsistenz berücksichtigt. Allmacht<br />

heißt in diesem Sinne, alles tun zu können, was logisch<br />

möglich ist – im Sinne von:<br />

Für jeden widerspruchsfrei beschreibbaren Zustand<br />

Z* gilt, dass Gott die Macht hat, Z* zu aktualisieren.<br />

Der Satz vom zu schweren Stein ist in diesem Sinne,<br />

obwohl er ungleich unverdächtiger daherkommt, in<br />

etwa so einzuschätzen wie der Satz „Gott kann keinen<br />

Morgen schaffen, der draußen grüner ist als kalt“ – als<br />

sinnlos. Hier holt man sich als Theologe gewissermaßen<br />

eine blutige Nase, allerdings nicht, weil man gegen Gott<br />

anrennen würde, sondern weil man gegen die Grenzen<br />

der Sprache läuft. 29<br />

Entsprechend legt es sich in analytischer Tradition nahe,<br />

den Begriff göttlicher Allwissenheit im Rahmen dieses<br />

Allmachtskonzepts zu rekonstruieren:<br />

a) Wir können nur sinnvoll von Gottes Allmacht<br />

sprechen, wenn von dieser Allmacht im Rahmen der<br />

Logik (etwa des Nicht-Widerspruchprinzips) gedacht<br />

wird – eine sprachlogische Formulierung, die freilich<br />

ontologisch in Gottes Wesen begründet ist: „Nicht<br />

vernunftgemäß handeln, ist dem Wesen Gottes<br />

zuwider.“ (Papst Benedikt XVI)


) Das gilt auch für Gottes Allwissenheit: Wir können<br />

Gott nur Wissen zuschreiben, das sinnvoll bzw. logisch<br />

nicht widersprüchlich formulierbar ist: Gott kann etwa<br />

nicht wissen, ob es morgens kälter ist als draußen vor<br />

oder wie ein eckiger Kreis aussieht.<br />

c) Entsprechend der Analysen Pikes u.a. ist es logisch<br />

widersprüchlich, dass Gott alle Entscheidungen von<br />

x unfehlbar und immer schon voraus weiß und dass<br />

x zugleich echte (i.e. objektive, nicht bloß subjektiv<br />

erlebte) Freiheit in seinen Entscheidungen besitzt.<br />

Deshalb ist es nicht rational oder sinnvoll, im Bezug<br />

auf Gott von einem solchen Wissen zu sprechen.<br />

In der Regel wird dem Argument der Hinweis beigestellt,<br />

dass Zukünftiges nicht wissbar sei: „Gott muß alles wissen,<br />

was man wissen kann. Aber wenn die Zukunft noch gar<br />

nicht da ist, kann man sie auch nicht kennen. Auch Gott<br />

kann die Zukunft dann noch nicht kennen.“ 30 Als<br />

Kronzeuge wird gerne Aristoteles (De Interpretatione 9)<br />

hinzugezogen: De futuris contingentibus non est<br />

determinata veritas (in der Formulierung Guicciardinis).<br />

Die skizzierte Position wird in der Zwischenzeit, wie oben<br />

bereits erwähnt, aus anderen Gründen (vor allem<br />

aufgrund des Theodizee-<strong>Pro</strong>blems) auch von Theologen<br />

vertreten, die nicht analytisch geprägt sind und bspw.<br />

dem Thomismus nahestehen, etwa Eberhard<br />

Schockenhoff; ganz im Sinne der Argumentation<br />

Swinburnes wird dabei davon ausgegangen, dass sich<br />

Gott durch die Schöpfung eine Grenze gesetzt hat, die<br />

von göttlicher Macht nicht mehr im Sinne einer potentia<br />

Dei absoluta, sondern entlang einer potentia Dei<br />

ordinata sprechen lässt: Gott bindet sich an seine<br />

Schöpfung – und damit, um des Menschen und seiner<br />

Freiheit willen, in bestimmter Weise auch an die Zeit.<br />

Echte Freiheit des Menschen, also ein Universum mit<br />

offener Zukunft,<br />

setzt allerdings voraus, dass Gott sein eigenes Wissen<br />

um die Zukunft begrenzt hat. Ebenso wie Gottes<br />

Allmacht ist auch seine Allwissenheit nicht durch eine<br />

äußere Grenze, sondern durch seine eigene<br />

Schöpfung begrenzt, weil er eine Welt schaffen<br />

wollte, die Raum für das freie Handeln seiner<br />

Geschöpfe lässt. 31<br />

Gott als Schachspieler<br />

Eine Möglichkeit, diese Reflexionslinie weiter auszuziehen,<br />

deutet sich ebenfalls bei Thomas an und setzt beim<br />

Begriff der Allwissenheit an. Thomas bezeichnet Gottes<br />

Wissen um die Zukunft als scientia practica, als<br />

schöpferisches Wissen, wie es ein etwa Künstler im Bezug<br />

auf ein gerade entstehendes Kunstwerk besitzt. In diesem<br />

Sinne ist es – wenn man das Metaphernfeld, dem Thomas<br />

den Begriff entnimmt, ernst nimmt – weniger einem<br />

propositionalen knowing-that als einem praktischen<br />

know-how vergleichbar: „Dadurch wird die Offenheit<br />

der Zukunft gesichert, weil ja auch der Handelnde trotz<br />

des praktischen Wissens um seine zukünftige Tat weiterhin<br />

frei ist und in eine offene Zukunft schaut.“ 32 In diesem<br />

Sinne mag man formulieren: „Gott weiß die Zukunft als<br />

Zukunft, nicht als Gegenwart oder Vergangenheit; er<br />

weiß das Mögliche als Mögliches, nicht als Wirkliches<br />

oder bereits Geschehenes.“ 33<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Man kann versuchen, dieses Verständnis mit dem “chess<br />

master model” Peter Geachs 34 zu illustrieren: Geach<br />

vergleicht Gott mit einem perfekten Schachspieler, der<br />

zwar in der Tat nicht weiß, welchen Zug sein Gegenüber<br />

als nächstes plant, der aber das Spiel und seine<br />

Möglichkeiten so gut kennt und internalisiert hat, das<br />

letztlich nichts passieren kann, was er nicht als Möglichkeit<br />

kennen würde. Gottes Souveränität zeitlichen Abläufen<br />

gegenüber ist also der eines idealen Schachspielers<br />

vergleichbar, der das Spiel, alle seine Möglichkeiten und<br />

Varianten grundsätzlich beherrscht – sodass die prinzipiell<br />

un-bekannten Entscheidungen des Gegners zwar<br />

tatsächlich de iure unbekannt sind, de facto aber im<br />

Rahmen der von ihm gekannten Möglichkeiten bleiben.<br />

In diesem Sinne weiß also tatsächlich nicht, was passieren<br />

wird, aber er kennt das Feld aller Möglichkeiten und ist<br />

immer Souverän der Lage. Gottes Allwissenheit ist eine<br />

Form von know-how, die im Fortgang des Spiels zu jeder<br />

Zeit präsent ist. 35 Auch wenn die Schachparabel<br />

problematische Bilder bedienen mag (Gott als kühle<br />

Rechenmaschine, Gott als Gegner im Spiel des Lebens<br />

u.a.) 36 , bringt sie dennoch wesentliche Anliegen des<br />

christlichen Gottesbekenntnisses zur Geltung – nicht<br />

zuletzt die eschatologische Souveränität Gottes, die eine<br />

forcierte Verzeitlichung Gottes gerade in Frage stellt und<br />

etwa in einer prozesstheologischen Interpretation, die<br />

ebenfalls einen zeitlichen Pol Gottes annimmt, kaum<br />

mehr behauptbar ist.<br />

Soteriologische Spannung<br />

Leguane, Schachspieler, Bundeskanzler<br />

48<br />

Ganz im Sinne der Einleitung bleibt summarisch<br />

festzuhalten, dass mit diesem kurzen Überblick kaum<br />

mehr als ein Spiel von Andeutungen zum Diskurs gegeben<br />

werden konnte – weniger captatio benevolentia als<br />

Wirklichkeitssinn. Das <strong>Pro</strong>blem bleibt zwischen zwei Polen<br />

aufgespannt, die soteriologisch bestimmt sind: Die<br />

boethianische Kritik an der Omnitemporalität verdankt<br />

sich wesentlich der soteriologischen Motivation, dass ein<br />

Gott, der unter den Bedingungen von Zeitlichkeit existiert,<br />

Erlösung von Schöpfung und Geschichte nicht<br />

garantieren kann. So ist bereits die biblische die<br />

„Transzendentalisierung Gottes“ (Vorgrimler), die im Zuge<br />

der exilischen Schöpfungstheologie durchbricht und die<br />

ihn über Zeit und Geschichte hebt, soteriologisch<br />

motiviert. Im Exil setzt die genuin soteriologische Frage<br />

nach der Möglichkeit eines neuen Exodus ein: Wie ist Heil<br />

jetzt – im religiösen worst-case – noch möglich? 37 Dieses<br />

Fragen weist ein transzendentales Moment auf, d.h. es<br />

reflektiert auf die Bedingung der Möglichkeit eines<br />

zweiten Exodus, i.e. Heils schlechthin;<br />

Schöpfungstheologie (und damit auch die<br />

angesprochene Transzendentalisierung Gottes) ist hier<br />

angesiedelt – also im Bereich der Soteriologie. Franz<br />

Schupp bezeichnet sie aus diesem Grund als<br />

„transzendentale Bundestheologie, als Reflexion auf die<br />

Bedingung der Möglichkeit, wie sich Jahwe sein eigenes<br />

Volk schafft.“ 38 Augustinus und Boethius reformulieren<br />

dieses Heilswissen angesichts des Untergangs des Imperium<br />

Romanum – in der Tat ist Gott davon nicht affiziert,<br />

da er strictu sensu transzendent ist (was auch<br />

geschichtsphilosophisch bzw. theo-logisch festgehalten<br />

wird, etwa in der De Civitate Dei). Gerade deshalb ist<br />

nichts von dem, was passiert, außerhalb der<br />

Erlösungsmacht Gottes – er kennt und weiß um alles. Die<br />

soteriologisch befeuerte und philosophisch katalyisierte


Atemporalität Gottes will damit nicht zuletzt auch die Intuition<br />

wahren, dass das Bekenntnis zur eschatologischen<br />

Erlösung von Schöpfung und Geschichte durch den Gott<br />

Jesu Christi in der Tat nur dann adäquat formulierbar ist,<br />

wenn dieser Gott radikal von dieser Welt verschieden ist<br />

und nicht in ihr aufgeht.<br />

Eben diese radikale Verschiedenheit führt aber zu neuen<br />

soteriologischen Rückfragen nach der göttlichen<br />

Bezogenheit auf eben diese Welt: Ein Gott, der mit den<br />

Menschen mitlebt und -leidet, für den unser irreduzibel<br />

zeitlich strukturiertes Erleben aber illusionär ist, ist<br />

unplausibel – und wertet, auch gegen die exilische<br />

Schöpfungstheologie, in der sich Geschöpflichkeit mit<br />

dem Konzept des Bundes verschränkt, Geschöpflichkeit<br />

ab. In diesem Sinn will auch die Rede von einem zeitlichen<br />

Pol in Gott soteriologische Intuitionen wahren und<br />

adäquat berücksichtigen - in beiden Fällen gründen die<br />

metaphysischen Optionen in soteriological commitments..<br />

Dabei widerspricht die Annahme eines zeitlichen<br />

Pols, dem sich Gott im Schöpfungshandeln aus freien<br />

Stücken um der echten Freiheit des Menschen willen<br />

aussetzt, keineswegs einfachhin dem traditionellen,<br />

scholastischen Gottesbegriff – im Rückgriff auf den<br />

formalen Gottesbegriff des „id quo maius cogitari non<br />

potest“, wie ihn Anselm von Canterbury vorgelegt hat<br />

und der eine Denk- und Sprachregel (Barth) jeder Rede<br />

von Gott darstellt, kann man auch den Gedanken, dass<br />

die Zukunft der Schöpfung für Gott echte<br />

Überraschungen bereithält, wohl durchaus integrieren.<br />

Gerade im Blick darauf und die theologisch gespannte<br />

Rede sowohl von einer Zeitlosigkeit als auch einer<br />

Zeitpoligkeit Gottes, die in der ratio cognoscendi in einer<br />

soteriologischen Spannung gründet, sei abschließend ein<br />

berühmte Tagebucheintragung Kierkegaards zitiert, die<br />

Allmacht und Transzendenz Gottes dialektisch mit der<br />

Freiheit des Menschen zusammenspannt:<br />

Das Höchste, das überhaupt für ein Wesen getan<br />

werden kann, ist, es frei zu machen. Eben dazu gehört<br />

Allmacht, um das tun zu können. Das scheint<br />

sonderbar, da gerade die Allmacht abhängig<br />

machen sollte. Aber wenn man die Allmacht denken<br />

will, wird man sehen, daß gerade in ihr die<br />

Bestimmung liegen muss, sich selber so wieder<br />

zurücknehmen zu können in der Äußerung der<br />

Allmacht, daß gerade deshalb, daß durch die<br />

Allmacht Gewordenes unabhängig sein kann. 39<br />

Literatur<br />

Flint, Thomas, Divine <strong>Pro</strong>vidence. The Molinist Account, Ithaca/NY: CUP 1998.<br />

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1977<br />

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Jäger, Christoph (Hg.), Analytische Religionsphilosophie, Paderborn u.a.:<br />

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Jäger, Christoph, Analytische Religionsphilosophie – eine Einführung, in: ders.<br />

(Hg.), Analytische Religionsphilosophie, 11-51.<br />

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Kreiner, Amin, Das Theodizee-<strong>Pro</strong>blem und Formen seiner argumentativen<br />

Bewältigung, in: Ethik und Sozialwissenschaften 12 (2001), 147-157.<br />

Kretzmann, Norman, Allwissenheit und Unveränderlichkeit, in: Jäger,<br />

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Pike, Nelson, Göttliche Allwissenheit und freies Handeln, in: Jäger, Analytische<br />

Religionsphilosophie, 125-145. Polkinghorne, John, Theologie und<br />

Naturwissenschaft. Eine Einführung, Gütersloh: Kaiser 2001.<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Schockenhoff, Eberhard, Theologie der Freiheit, Freiburg im Breisgau u.a.:<br />

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Schupp, Franz, Schöpfung und Sünde. Von der Verheißung einer wahren und<br />

gerechten Welt, vom Versagen der Menschen und vom Widerstand gegen<br />

die Zerstörung, Düsseldorf 1990.<br />

von Stosch, Einführung in die Systematische Theologie, Paderborn u.a.:<br />

Schöningh 2006.<br />

Stump, Eleonore/Kretzmann, Norman, Ewigkeit, in: Jäger, Analytische<br />

Religionsphilosophie, 161-195.<br />

Swinburne, Richard G., Gott und Zeit, in: Jäger, Analytische<br />

Religionsphilosophie, 196-217.<br />

Fußnoten<br />

1 Durchaus frei nach: Flint, Divine <strong>Pro</strong>vidence, 36-37.<br />

2 vgl. Jäger, Analytische Religionsphilosophie, 27.<br />

3 Vgl. den berühmten Aufsatz von Eleonore Stump/Norman Kretzmann,<br />

Ewigkeit; sowie: Norman Kretzmann, Allwissenheit und Unveränderlichkeit.<br />

Beide spielen in diesem paper kaum eine Rolle.<br />

4 Mackie, Das Wunder des Theismus, 260-264.<br />

5 Plotin, Über das Gute oder das Eine, VI 9 [9] 1.<br />

6 Swinburne, Gott und Zeit, 196.<br />

7 Swinburne, Gott und Zeit, 196.<br />

8 Boethius, Consolatio Philosophiae, V, 6.<br />

9 Boethius, Consolatio Philosophiae, V, 6.<br />

10 Thomas, ScG I, 66.<br />

11 Hasker, The foreknowledge conundrum, 100.<br />

12 Polkinghorne, Theologie und Naturwissenschaft, 124.<br />

13 Jäger, Analytische Religionsphilosophie, 28.<br />

14 von Stosch, Einführung, 212.<br />

15 Pike, Göttliche Allwissenheit und freies Handeln, 138.<br />

16 Luis De Molina, Liberi arbitrii cum gratiae donis, divina praescientia<br />

providentia, praedestinatione et reprobatione concordia, hg. von John<br />

Rabeneck, Ona, Madrid 1953, q. 14, art. 13, disp. 52, n. 29.<br />

17 Hasker, The foreknowledge conundrum, 103.<br />

18 Hasker, The foreknowledge conundrum, 103.<br />

19 Frankfurt, Alternate Possibilities and Moral Responsibility.<br />

20 Hasker, The foreknowledge conundrum, 109.<br />

21 In äußerst grober Rekonstruktion: a) Alles, was in der Zeit geschieht,<br />

geschieht in einer Zeitspanne, nicht zu einem Zeitpunkt. Der Begriff der<br />

Zeitspanne, der eine Relation beschreibt, ist logisch dem Begriff des<br />

Zeitpunkts vorgeordnet – wir wissen schlechterdings nicht, was es heißen<br />

könnte, dass etwas nur zu einem Zeitpunkt t1 eine bestimmte Farbe hat,<br />

ohne jede zeitliche Dauer. b) Zeit hat ohne Naturgesetze keine Metrik, weil<br />

ohne sie keine Dauer oder eine Zeitspanne feststellbar ist. c) Die Zukunft ist<br />

offen, die Vergangenheit abgeschlossen und (auch von Gott, wie Thomas<br />

von Aquin bereits festhält) nicht mehr beeinflussbar. d) Es gibt irreduzibel<br />

indexikalisches Wissen. In der Folge schließt Swinburne daraus u.a., dass<br />

Gott nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt allwissend sein kann (wir<br />

würden nicht wissen, was das überhaupt bedeuten könnte – der<br />

Wissensbegriff wäre gleichsam überhaupt verabschiedet, er wäre sinnlos)<br />

bzw. dass auch bei Gott sein Handeln den Wirkungen dieses Handelns<br />

vorausgehen muss.<br />

22 Swinburne, Gott und Zeit, 213.<br />

23 Swinburne, Gott und Zeit, 213.<br />

24 Jäger, Analytische Religionsphilosophie, 29.<br />

25 Jäger, Analytische Religionsphilosophie, 29. – Vgl. eine ähnliche<br />

Rekonstruktion mit 8 Teilaussagen bei: Hasker, The foreknowledge<br />

conundrum, 98.<br />

26 Schockenhoff, Freiheit, 326.<br />

27 Kreiner, Das Theodizee-<strong>Pro</strong>blem und Formen seiner argumentativen<br />

Bewältigung, 153.<br />

28 Polkinghorne, Theologie und Naturwissenschaft, 124.<br />

29 Es stellt sich hier auch die Frage, ob eine Macht, die die erwähnten Steinund<br />

Morgen-Beispiele „bewältigen“ könnte, tatsächlich „größer“ (maius)<br />

sei als eine Macht, die das nicht könne – weil hier ja der Begriff des<br />

„größer“ nirgends mehr sinnvoll verhaken könnte. Es ist jedenfalls nicht<br />

ausgemacht, dass man mit dieser Einschätzung dem Anselmschen<br />

Gottesbegriff „id quo maius cogitari non potest“ nicht gerecht wird.<br />

30 Polkinghorne, Theologie und Naturwissenschaft, 124.<br />

31 Schockenhoff, Freiheit, 326.<br />

32 von Stosch, Einführung, 213.<br />

33 Schockenhoff, Freiheit, 326.<br />

34 vgl. Geach, <strong>Pro</strong>vidence and Evil, 57 f.<br />

35 Hier bietet es sich an, die Integration eines aktualen Konzepts von<br />

Allmacht anzudenken: Allmacht Gottes bedeutet, dass nichts von dem,<br />

was passiert, ohne Gott passiert. Mit Peter Knauer gesprochen: Gott ist der,<br />

ohne wen nichts ist – und entsprechend ist seine Allmacht zu verstehen. In<br />

diesem Sinn wäre auch streng von aktualer Allwissenheit zu sprechen: Da<br />

nichts von dem, was passiert, ohne ihn passiert, geschieht auch nichts,<br />

ohne dass Gott weiß, dass es geschieht.<br />

36 Ein kurzer Popkultureller Einschub: Ein Bild, das diese Intuition ebenfalls<br />

bedient, verwendet (der bekennende Katholik) J.R.R. Tolkien: Bei der<br />

Erschaffung Ardas, das in die Existenz gesungen wird, sind bereits<br />

engelsgleiche Geschöpfe, die Ainur, beteiligt, die die Melodien mitprägen<br />

und entwickeln. Als der Ainu Melkor bewusst Mißtöne einfügt, kann der<br />

Schöpfergott Eru Ilúvatar diesen Part dennoch so integrieren, dass<br />

insgesamt wieder ein melodiöses Ganzes entsteht. Auch hier bleiben<br />

freilich Rückfragen.<br />

37 Vorexilisch beantwortete Israel die Frage nach dem eigenen Heil über<br />

die ‚geschichtliche’ Kategorie des Bundes: Der (monolatrisch verehrte)<br />

Gott Israels hatte – innerhalb der Geschichte – einen Bund mit Israel<br />

geschlossen; mit der Geschichtskatastrophe des Exils wird das Konzept<br />

fragwürdig, weil ein Gott, der sich angesichts Ägyptens als so<br />

geschichtsmächtig erwiesen hatte, diese geschichtliche Katastrophe<br />

niemals zulassen hätte dürfen.<br />

38 Schupp, Schöpfung und Sünde, 156.<br />

39 Kierkegaard, Tagebücher, 216; zitiert nach: Schockenhoff, Freiheit, 322.<br />

MMag. Martin Dürnberger, geb. 1980 in Steyr, studierte Kombinierte Religionspädagogik und Fachtheologie an der Universität<br />

Salzburg. Derzeit ist er am Institut für Katholische Theologie (Systematische Theologie) der Universität Köln tätig. Er ist seit 2003<br />

Angehöriger von PRO SCIENTIA und war 2007 einer von zwei gewählten Jahressprechern der StipendiatInnen.<br />

Leguane, Schachspieler, Bundeskanzler<br />

49


„Wenn diese Schrift irgend Jemandem<br />

unverständlich ist und schlecht zu Ohren geht,<br />

so liegt die Schuld, wie mich dünkt, nicht<br />

nothwendig an mir.”<br />

(Friedrich Nietzsche)<br />

„MEINE ELTERN LEHRTEN MICH ETWAS ANDERES ...<br />

ALS SIE AUF DER STRASSE LAGEN... IN IHREM<br />

BLUT...<br />

VÖLLIG SINNLOS ERMORDET...<br />

SIE ZEIGTEN MIR, DASS DIE WELT NUR SINN<br />

ERGIBT,<br />

WENN MAN SIE DAZU ZWINGT...”<br />

(Frank Millers Batman)<br />

„Man kann jede Wahrheit<br />

ertragen, sei sie noch so zerstörerisch,<br />

sofern sie für alles steht und<br />

soviel Vitalität in sich trägt<br />

wie die Hoffnung, die sie ersetzt<br />

hat.”<br />

(E.M. Cioran)<br />

„All my questions are answers to my sins.”<br />

(Slipknot)<br />

[Zitate werden kursiv wiedergegeben. Zitate aus<br />

Schriften Nietzsches erfolgen unter Einsatz der Kritischen<br />

Studienausgabe von Colli/Montinari (in Folge: KSA) 1<br />

und<br />

unter Übernahme der im Original vorfindlichen<br />

Hervorhebungen (Sperrung, Fettdruck). Die Titel, der von<br />

mir verwendeten Werke Nietzsches, kürze ich in weiterer<br />

Folge – in Übereinstimmung mit der einschlägigen<br />

Literatur – 2 derart ab: AC = Der Antichrist / FW = Die<br />

Fröhliche Wissenschaft / GD = Götzen-Dämmerung / GM<br />

= Zur Genealogie der Moral / GT = Die Geburt der<br />

Tragödie / JGB = Jenseits von Gut und Böse / M =<br />

Morgenröthe / MA = Menschliches, Allzumenschliches /<br />

UB = Unzeitgemäße Betrachtungen / Za = Also sprach<br />

Zarathustra.]<br />

0. Einleitung<br />

Nietzsches Œuvre zeigt sich mir als die Dokumentation<br />

einer titanisch angelegten Treibjagd auf Antworten auf<br />

die Frage, wie ein Leben gelingen kann. Auch aus all<br />

den Überlegungen vordergründig theoretischer Natur<br />

tönt – wenn man Ohren hat – der Kriegslärm einer Ethik.<br />

„Was soll ich tun?”, will Nietzsche wissen. Doch niemand<br />

antwortet. Gott und all seine kläglichen Substitute sind<br />

tot, die Erde treibt zwecklos durch den Raum, von allen<br />

Sonnen losgekettet. Auch die Stimmen in ihm selbst sind<br />

verstummt, zum Tinitus degeneriert, zum Gesäusel<br />

verkommen, weil sie durch radikale Kritik ihrer einstigen<br />

Dignität beraubt wurden. Es gibt keinen vorfindbaren<br />

Halt mehr, keine verpflichtende Instanz, keinen universal<br />

gültigen Imperativ. Weder in der je Einzelnen noch<br />

außerhalb derselben. Nichts ist geblieben. Alles ist im<br />

Fluss.<br />

Nietzsche wirkt bald schon mit vollem Bewusstsein um<br />

die heiße Leere des Seins. 3<br />

Wie soll ich existieren, im<br />

Angesicht des Umstands, dass das Alles ein Nichts ist? –<br />

Wo der Leserschaft dieses <strong>Pro</strong>blem nicht unter<br />

Hammerschlägen vorgestellt wird, spaziert es auf<br />

Taubenfüßen zwischen den Zeilen.<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Stefan Rois<br />

Gewordenheit und Geltung. Oder: Die Zeit heilt alle Wunder.<br />

Oder: Blitzlicht auf Nietzsches „Zur Genealogie der Moral”<br />

Die Zeit heilt alle Wunder<br />

50<br />

Wer in eine derartige Situation hineinspricht, dem bietet<br />

sich die Möglichkeit der Resignation geradezu an: Wenn<br />

nichts als Vergänglichkeit bleibt und das Leben keinen<br />

übergeordneten Zweck hat, dann will ich es nicht mehr<br />

leben oder es so leben als lebte ich nicht, also die Kräfte<br />

wissentlich versiegen lassen bzw. sie gegen mich selbst<br />

richten. Eine weitere Option ist der Versuch, die Flucht<br />

nach hinten anzutreten, und sich durch Rückgriff auf<br />

bereits enttarnte oder Erfindung neuer, vermeintlich<br />

allgemein gültiger Illusionen von der schmerzvollen<br />

Wahrheit abzulenken. 4<br />

Der erste (und selten beschrittene)<br />

Weg ist jener der vorsätzlichen Lebensverneinung. Der<br />

zweite jener der über sich selbst nicht aufgeklärten<br />

Lebensverneinung, denn jedes Ideal, das zur<br />

Verdrängung oder Ablehnung der Gedanken von der<br />

völligen Transzendenzfreiheit und objektiven Sinnlosigkeit<br />

der Welt dient, dient auch der Degradierung des Daseins.<br />

Solange die Welt nicht genug ist, deren lückenlose<br />

Immanenz und deren Freiheit von jeglicher Bedeutungan-sich<br />

nicht akzeptiert wird, findet das Leben in dieser<br />

Welt immer im Hinblick auf Kommendes, Abwesendes,<br />

Nichtvorhandenes statt. Solange der Welt ein<br />

nichtweltlicher Sinn übergestülpt wird, ist das Leben in<br />

dieser Welt nie bei sich selbst und entwertet sich<br />

zugunsten eines Seins in einer Über-, Hinter-, Nichtwelt. 5<br />

Der Sinn, den es objektiv nicht gibt, wird als objektiv<br />

gegeben behauptet und verhindert somit die Affirmation<br />

der einzig möglichen Form von Sinn, die kein Spuk ist,<br />

nämlich des je und je individuell erschaffenen und<br />

ausgeübten Sinns.<br />

Nietzsche weist jede Art von Lebensverneinung zurück<br />

und versucht das Ungeheuerliche: Wege und Gründe<br />

aufzuzeigen das Leben ohne Netz und doppelten Boden<br />

zu bejahen. Er gibt die zum Scheitern verurteilte Suche<br />

nach dem Sinn auf, um damit zu beginnen Sinn zu<br />

generieren. Es gibt nichts zu finden. Es gilt alles zu<br />

erfinden... Nein, nicht einmal das. Es muss gelebt werden<br />

und nichts außerdem.<br />

Nietzsche arbeitet von Anfang an, jedoch mit<br />

zunehmender Deutlichkeit, heraus, dass die Frage nach<br />

dem Existentialsinn letztlich immer schon ein Symptom<br />

des Niedergangs, des geschwächten, verunsicherten,<br />

indirekten Lebens ist. Für den Starken ist sie<br />

uneingeschränkt bedeutungslos, eine lächerliche Scham.<br />

Denn sie setzt eine Selbstzerteilung des Menschen voraus,<br />

die diesem souveränen Tier unbekannt ist. Ist der Mensch<br />

in-dividualisiert, schmettert pure Praxis den Zweifel am<br />

Leben nieder. Wessen Instinkte noch nicht verpestet sind,<br />

wer seine Impulse nicht umlügt, wer sich dem Leben als<br />

bloßem Leben hingibt, will nicht wissen, was es bedeutet.<br />

Das Werden ist. Und das ist gut so. Die stehende Ewigkeit<br />

hingegen ist eine Lüge, ein frommer Wunsch, ein<br />

Ablenkungsmanöver. Die Zeit heilt alle Wunder.<br />

Nietzsches Unternehmen, die heitere Hingabe an dieses<br />

Kommen und Vergehen ohne Fluchtweg zu<br />

proklamieren, benötigt Vorarbeiten. Um die Kräfte zu<br />

entwickeln, die für das Gelingen dieses <strong>Pro</strong>jekts der Furcht<br />

erregenden Lebensbejahung unabdingbar sind, muss<br />

zuallererst die Wahrheit des Nichts und das Nichts dieser<br />

Wahrheit angenommen und die gängige<br />

Lebensverneinung als solche erkannt werden. Hierzu ist<br />

es wiederum notwendig die herrschenden Sinnstiftungen<br />

einer radikalen Kritik zu unterziehen. Der große<br />

Gegenstand – nicht unbedingt ausschließlich Gegner –<br />

Nietzsches ist hierbei die Moral, insbesondere in jener<br />

Erscheinungsform, die den Okzident offen oder<br />

verborgen seit etwa 2000 Jahren mit Abstand am


intensivsten prägt, nämlich der jüdisch-christlichen. Nur<br />

wer die alten Tafeln zerbricht, kann eine „Umwertung aller<br />

Werte” durchführen.<br />

„Mit der »Morgenröthe« nahm ich zuerst den Kampf<br />

gegen die Entselbstungsmoral auf.” 6<br />

, schreibt Nietzsche<br />

kurz bevor er – so berichtet eine berühmte Anekdote –<br />

ein Pferd und den so genannten Wahnsinn in die Arme<br />

schloss. M (1881) und FW (1882) sind die ersten Feldzüge<br />

gegen den körperlosen Geist der „décadence” und in<br />

vielfacher Hinsicht Zeugnisse der Suche nach dem<br />

souveränen Standpunkt, der sich erst im Weitblick und<br />

Tiefgang der nachfolgenden Phase als gefunden erweist.<br />

Der Zenit des Nietzscheanischen Denkens – im<br />

Allgemeinen, aber besonders auf das Moralproblem<br />

bezogen – scheint mir zwischen 1883 und 1887 erreicht<br />

und mit der Werktrias Za (1883, 1884, 1885), JGB (1886),<br />

sowie GM (1887) zu Papier gebracht. Diese Schriften<br />

verrichten eine Dekonstruktion der ethischen Systeme<br />

und führen Feldzüge gegen jegliche Absolutheits-<br />

Ambition. Die Texte aus 1888 – dem letzten Schaffensjahr<br />

Nietzsches (1889 ist Nietzsche nur noch in den ersten<br />

Jännertagen arbeitsfähig) – sind Dynamit. Mit monströser<br />

Energie entfaltet Nietzsche die Erkenntnisse der Vorjahre,<br />

was jedoch nicht nur mit einer beeindruckenden<br />

Strahlkraft der Texte einhergeht, sondern auch mit einer<br />

weiteren Verflachung der vorgenommenen<br />

Darstellungen.<br />

Zwischen den von mir hervorgehobenen drei Arbeiten<br />

bestehen starke inhaltliche Bänder, während die Form<br />

recht unterschiedlich ausgefallen ist. Za ist die vorsätzliche<br />

Verschwendung sprachlicher Mittel. Das Ausufern und<br />

Überlaufen, das Schenken und Schaffen des<br />

Übermensch-<strong>Pro</strong>pheten Zarathustra findet seine<br />

Entsprechung in der Gestalt des Textes. Viele zentrale<br />

Gedanken, die dort in metaphorischen Verdichtungen<br />

und fabelhaften Ausbrüchen, durchwegs den Duktus<br />

religiöser Texte persiflierend, vermittelt werden, legt JGB<br />

über weite Strecken im bewährten Aphorismusstil, mit<br />

deutlich kühlerem Elan aus. GM schließlich verfährt bei<br />

der Präsentation des Anliegens der Vorgängerschriften<br />

so durchkomponiert und systematisch wie kein zweiter<br />

Text Nietzsches. Allen dreien ist gemeinsam, dass sie<br />

bemüht sind, Moral als eine abgeleitete Größe zu<br />

entlarven. Moral als eine Normativität, die aus den<br />

Behauptungen von Existenz und Kenntnis<br />

uneingeschränkt gültiger Handlungsanweisungen<br />

(inhaltlicher oder formaler Natur) geboren wird, ist nicht<br />

immer da gewesen, ist nicht vom Himmel gefallen, hat<br />

keinen einfachen Ursprung. Der Anspruch von Sittlichkeit<br />

überhaupt hat – ebenso wie die verschiedenen Sitten<br />

und untrennbar verbunden mit diesen – eine komplexe<br />

Geschichte, seine Gültigkeit ist eine sukzessiv<br />

entstandene und kann darum auch wieder vergehen.<br />

Die jeweilige Moral der Gegenwart ist ein Knotenpunkt,<br />

der sich aus unzähligen Fäden zusammensetzt, die alle<br />

in eine nie völlig greifbare, unendlich komplex vernetzte<br />

Vergangenheit weisen und sich erst allmählich gefunden<br />

haben. Sie besitzt also keine Herkunft, sondern viele<br />

Herkünfte. Moral tritt mit einer Maske der Geltung auf,<br />

die zwar oft – aus der Sicht derer, deren zweite Haut sie<br />

ist – erwünschte Effekte hervorbringt, die aber unter<br />

Attacken konsequenter Rationalität zerbrechen muss. Ein<br />

Blick auf die Genese der Moral schürt hierbei nur den<br />

Verdacht. Auf die historische Rekonstruktion folgt der<br />

Todesstoß. Beim Barte des <strong>Pro</strong>pheten gelangt das<br />

Ockham’sche Rasiermesser zum Einsatz und der Wert der<br />

Moral wird aus der Perspektive des Lebens heraus<br />

relativiert und letztlich völlig destruiert.<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Für Nietzsche ist klar: Das Ethos hat stets seine<br />

Geschichtlichkeit und Bedingtheit vergessen müssen, um<br />

als etwas Transhistorisches und Absolutes auftreten zu<br />

können. Um dies aufzuzeigen, versucht er eine<br />

skizzenhafte und fragmentarische Genealogie der<br />

Moral. Durch sie soll angedeutet und erwiesen werden,<br />

wie differenziert und polyphon sich die Entstehung der<br />

Moral vollzog, auf welche durchwegs amoralischen<br />

Bedürfniskonstellationen ihr Auftauchen eine Reaktion<br />

ist und – das ist das eigentlich Entscheidende – welche<br />

katastrophalen Auswirkungen Moral in Bezug auf den<br />

Grad der Vollkommenheit des Lebens zeitigt. Es sollen<br />

damit wirkmächtige Strategien zur Verdeckung des<br />

Nihilismus ans Tageslicht befördert werden, um unverhüllt<br />

ins Auge des Nichts blicken zu können und die<br />

narkotisierende, entkräftende Selbsttäuschung gegen<br />

das Wagnis des großen Ja einzutauschen.<br />

Die vorliegende Arbeit nimmt Nietzsches Text GM in den<br />

Blick. Sie präsentiert zuerst einige allgemein gehaltene<br />

Gedanken zu dieser Schrift und versucht danach den<br />

Inhalt der Vorrede zu rekonstruieren.<br />

1. Zu „Zur Genealogie der Moral”<br />

1.1. Eckdaten<br />

Nietzsche selbst gibt im April 1888 in einem Brief an Georg<br />

Brandes an, GM zwischen 10. und 30.7. 1887 erstellt zu<br />

haben. Nicht alle Kommentatoren schenken dieser<br />

Datierung (vollen) Glauben. 7<br />

Es gilt jedoch als<br />

unbestritten, dass Nietzsche GM in verhältnismäßig kurzer<br />

Zeit während eines Aufenthalts in Sils-Maria im Sommer<br />

1887 verfasst hat. Die Rasanz der Niederschrift wirkt<br />

weniger imposant, sobald man sich Nietzsches<br />

Arbeitsweise vor Augen hält. Es dürfte kein heroischer<br />

Kraftakt für ihn gewesen sein, „aus dem großen Schatz<br />

aphoristischen Materials, das sich unablässig erweiterte,<br />

jeweils in ganz wenigen Wochen Manuskripte für den<br />

Druck zusammenzustellen und abschließend zu<br />

bearbeiten.” 8<br />

Das Werk erscheint im November 1887 im Verlag von<br />

C.G. Naumann (Leipzig). Auf der Rückseite des<br />

Titelblattes der ersten Ausgabe findet sich die<br />

Bemerkung: „Dem letztveröffentlichten »Jenseits von Gut<br />

und Böse« zur Ergänzung und Verdeutlichung<br />

beigegeben” 9<br />

Die Zeit heilt alle Wunder<br />

51<br />

. JGB wiederum war bereits selbst eine Art<br />

Appendix und zwar zu den vier Büchern von Za: „So<br />

gewiß auch dies »Vorspiel einer Philosophie der Zukunft«<br />

keinen Commentar zu den Reden Zarathustra’s abgiebt<br />

und abgeben soll, so vielleicht doch eine Art vorläufiges<br />

Glossarium, in dem die wichtigsten Begriffs- und Werth-<br />

Neuerungen jenes Buchs [...] irgendwo einmal<br />

vorkommen und mit Namen genannt sind.” 10<br />

Somit ist<br />

GM die „Erläuterung einer Erläuterung” 11<br />

.<br />

Als eine solche beleuchtet dieser Text den Gegenstand<br />

der Moral in erster Linie betreffs dessen Vergangenheit,<br />

während die vorangegangene, von ihm zu erläuternde<br />

Schrift – die sich als ein Vorspiel zu einer Philosophie der<br />

Zukunft ausweist – den Schwerpunkt auf Kommendes<br />

oder zumindest Erhofftes legt. 12<br />

In GM zeigt sich ein neu erstarkter „Wille zum<br />

Zusammenhang” 13<br />

, der sich in JGB bereits dort und da<br />

angedeutet hat. Anstatt von monolithischen<br />

Aphorismen und Reden, finden sich in GM wieder<br />

geschlossene Formationen von Kurzessays, die einem<br />

größeren Gedankengang verpflichtet sind. Formal<br />

vollzieht sich in und mit GM also weniger ein Anschluss<br />

an die mittlere Schaffensperiode, als vielmehr ein<br />

Rückgriff ins Frühwerk (v. a. GT und UB). 14


1.2. Titelreflexionen, Begriffsklärungen<br />

1.2.1. „Zur Genealogie ...”<br />

„Genealogie” steht seit dem 17. Jahrhundert für die<br />

historische Untersuchung eines Phänomens durch<br />

Erforschung seiner Abstammung. 15<br />

Auch Nietzsche<br />

betreibt eine Form von Ahnenkunde. Er versucht den<br />

Familienstammbaum ausgesuchter moralischer Größen<br />

und der Moral selbst zu skizzieren. Seine Genealogie<br />

versucht das – letztlich unendlich komplexe – Netz der<br />

Vorfahren gewisser Handlungsmaximen und<br />

Wertvorstellungen aufzudecken und auszudeuten.<br />

Nietzsche glaubt dabei weder an einen monokausalen<br />

Ursprung, noch an göttlich provoziertes Beginnen. Beide<br />

Ideen werden durch eine plausible Genealogie von<br />

vornherein abgeschmettert. „Die Geschichte mit ihren<br />

Mächten und Ohnmachten, mit ihren geheimen<br />

Rasereien und ihren Fieberstürmen ist der Leib des<br />

Werdens. Nur ein Metaphysiker kann ihr eine Seele in<br />

der fernen Idealität des Ursprungs suchen wollen.” 16<br />

Diese Methode sieht sich des Weiteren auch keiner<br />

Geschichtsteleologie, keiner geschlossenen Historie<br />

verpflichtet. Die Ereignisse werden nicht gesammelt, um<br />

in Ablaufgesetze eingeschrieben, sondern um zuallererst<br />

in ihrer Kontingenz und Einzigartigkeit ernst genommen<br />

zu werden. Wo die großen Dialektiker große<br />

Versöhnungen sehen, liegt im Grunde nur ein Karneval<br />

von Brüchen, Verrückungen, Singularitäten vor.<br />

Im Gegensatz zu herkömmlicher Geschichtsschreibung<br />

gesteht sich Nietzsches Genealogie zumindest implizit<br />

ein, wie begrenzt ihre eigene Reichweite ist und wie<br />

willkürlich sie selbst agieren muss. Denn „sie verweist auf<br />

eine sich in der Vergangenheit verlierende<br />

Vielfältigkeit” 17<br />

und der Ausgangspunkt, den sie für ihren<br />

Rückblick wählt, unterliegt keinem Maßstab im Sinne<br />

einer objektiven Rangordnung von Ereignissen, sondern<br />

dem Interesse und Belieben des Genealogen / der<br />

Genealogin. Eine Genealogie kann prinzipiell niemals<br />

vollständig, niemals omniperspektivisch sein. Wohl auch<br />

deswegen schreibt Nietzsche nicht „Die Genealogie der<br />

Moral”, sondern „Zur Genealogie der Moral”. 18<br />

Genealogie meint eine „Rekonstruktion der Herkunft von<br />

heute »Geltendem« aus bestimmten historischen<br />

Situationen und psychischen Dispositionen. [...]<br />

Hauptzweck der Genealogien ist es [...] den<br />

Machtkampf ans Licht zu bringen, der hinter dem<br />

Vertrauten und Selbstverständlichen, hinter dem hoch<br />

Verehrten und selbst hinter scheinbar »rein geistigen«<br />

Phänomenen am Werk war und ist.” 19<br />

Hinter den Dingen<br />

lauert „nicht deren geheimes, zeitloses Wesen, sondern<br />

das Geheimnis, dass sie gar kein Wesen haben oder ihr<br />

Wesen Stück für Stück aus Figuren konstruiert wurde, die<br />

ihnen fremd waren.” 20<br />

Die „wirkliche Geschichte” birgt also keine<br />

Wunderursprünge und keine transhistorischen<br />

Konstanten, welche eine Legitimation der Moral<br />

unterstützen würden. Im Gegenteil: Auch wenn<br />

genealogische Arbeit alleine nie die Geltung<br />

moralischer Imperativer vernichtet, so befördert sie doch<br />

deren Gewordenheit, das Zufällige, das <strong>Pro</strong>fane und<br />

Banale an ihnen zu Tage und erhärtet somit zumindest<br />

die Skepsis gegen ihren Absolutheitsanspruch.<br />

„Erforschung der Herkunft liefert keine »Fundamente«,<br />

vielmehr beunruhigt und zerteilt sie.” 21<br />

1.2.2. „... der Moral”<br />

Der Terminus „Moral” findet bei Nietzsche keine<br />

eindeutige Verwendung. 22<br />

Eine präzise Begriffsanalyse<br />

würde eine Vielzahl von unterschiedlichen Facetten ans<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Tageslicht befördern. Eine derartige Untersuchung würde<br />

bezüglich Intention und Kapazität dieser Arbeit fehl<br />

gehen. Ich begnüge mich hier mit der Feststellung, dass<br />

es auf basalster Ebene in Nietzsches Werk zwei<br />

verschiedene Stoßrichtungen des Begriffes „Moral” gibt.<br />

Einmal ist Moral etwas, als dessen Vernichter Nietzsche<br />

sich präsentiert. Diese „Moral” ist es, der er ohne<br />

Einschränkung den Krieg erklärt hat. Ich will sie – bei aller<br />

gebotenen Vorsicht – als den Sammelbegriff für<br />

jedwedes Gebilde von Werten, Normen, Tugenden<br />

bezeichnen, das den Starken und Vornehmen bei der<br />

Auslebung ihrer Macht Riegel vorschiebt. Sie stellt dem<br />

„Ich will” derjenigen, die Werte aus sich selbst heraus<br />

schaffen dürfen und können, ein ihnen äußerliches und<br />

vermeintlich allgemein geltendes „Du sollst” entgegen.<br />

Sie versucht die Impulsivität durch normative Ideen wie<br />

Gleichheit, Gewaltlosigkeit, Mitleid, usw. einzudämmen.<br />

Von dieser Moral der Erniedrigung des Lebens durch<br />

Bändigung der vitalen Individuen spricht er stets im<br />

Singular.<br />

Andererseits kennt Nietzsche auch „Moralen”, also den<br />

Plural des Begriffs. In dieser Verwendungsweise ist die<br />

Bestimmung von „Moral” nun weiter gefasst und<br />

Nietzsches Kriegserklärung nur noch eine partielle.<br />

Berühmt und berüchtigt ist etwa seine Dualität von<br />

„Sklavenmoral” und „Herrenmoral”. Die Sklavenmoral ist<br />

gleich zu setzen mit der oben erläuterten Singular-Moral<br />

– der „Moral als Widernatur” 23<br />

–, deren Entmachtung er<br />

wünscht. Die Herrenmoral hingegen ist eine ethische<br />

Haltung, die er befürwortet. Allerdings ist die<br />

letztgenannte – Nietzsche nennt sie auch die „Moral der<br />

Herrschenden” oder „vornehme Moral” – weit davon<br />

entfernt unter den landläufigen Begriff von Moral<br />

subsumierbar zu sein. Kaum jemand hält es für moralisch,<br />

die Gleichheit der Menschen (hinsichtlich ihrer Würde,<br />

ihren Rechten) zu verleugnen, kein Mitleid zu zeigen, 24<br />

Gewalt als legitimes Mittel anzusehen, 25<br />

die Vernichtung<br />

der Schwachen zu wünschen, 26<br />

bloße Willkür walten zu<br />

lassen, 27<br />

usw. Es entbehrt also nicht jeder Grundlage aus<br />

der Position des herkömmlichen Moralverständnisses die<br />

Herrenmoral eine „immoralistische Moral” oder<br />

schlichtweg „amoralisch” zu nennen. Unter jener Plural-<br />

„Moral” versteht Nietzsche also im Grunde jegliches<br />

Modell zur Handlungsorientierung. Als ein solches ist<br />

„Moral” nicht notwendig diesseits von gut und böse,<br />

wenngleich diese Art von Moral spätestens seit dem<br />

Aufstieg des Christentums beinahe die Alleinherrschaft<br />

im Abendland innehat: „Moral ist heute in Europa<br />

Heerdenthier-Moral – also nur, wie wir die Dinge verstehn,<br />

Eine Art von menschlicher Moral, neben der, vor der,<br />

nach der viele andere, vor allem höhere Moralen<br />

möglich sind oder sein sollten. Gegen eine solche<br />

»Möglichkeit«, gegen ein solches »Sollte« wehrt sich aber<br />

diese Moral mit allen Kräften: sie sagt hartnäckig und<br />

unerbittlich »ich bin die Moral selbst, und Nichts<br />

ausserdem ist Moral!«” 28<br />

1.3 Die Vorrede: „[E]ine Kritik der moralischen Werte” 29<br />

oder „[D]er Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in<br />

Frage zu stellen” 30<br />

Nietzsche bringt im zweiten Paragraph der Vorrede auf<br />

den Punkt, worum es sich bei GM handelt, nämlich um<br />

seine „Gedanken über die Herkunft unserer moralischen<br />

Vorurtheile” 31<br />

Die Zeit heilt alle Wunder<br />

52<br />

. Er meint im Wesentlichen die gleichen<br />

Gedanken schon in MA präsentiert zu haben. Es gelte<br />

nun zu hoffen, dass die seither vergangene Zeit für diese<br />

– vormals mangelhaft zum Ausdruck gelangten –<br />

Überlegungen eine Zeit der Reifung war.<br />

Auf die Frage nach der Entstehung unseres Gut und Böse<br />

kann man unterschiedliche Antworten geben – nicht


zuletzt deshalb, weil man die Frage auf unterschiedliche<br />

Weise verstehen kann. Solche Antworten, die auf<br />

göttliches Wirken verweisen, lehnt Nietzsche strikt als<br />

„hinterweltlerisch” ab. Zurückgeworfen auf die Immanenz<br />

des Irdischen verhelfen etwas historisch-philologische<br />

Übung und psychologische Begabung dazu, das<br />

<strong>Pro</strong>blem präzisierend zu reformulieren: „[U]nter welchen<br />

Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werturtheile<br />

gut und böse?” 32<br />

Mit der Ablehnung theologischer bzw.<br />

klassisch metaphysischer Theoreme geht also für<br />

Nietzsche die Einsicht einher, dass der moralische<br />

Standpunkt kein Standpunkt sui generis ist, sondern zur<br />

Gänze aus Amoralischem herleitbar. Gut und Böse sind<br />

kontingente Machwerke des Menschen und universale<br />

Geltungsansprüche darum illusionär.<br />

Es gilt zu erforschen, wie sich die profane Entstehung<br />

dieser Elaborate vollzog. Doch für Nietzsche ist das<br />

Erstellen von Hypothesen über die Genese von Gut und<br />

Böse kein Selbstzweck. Letzten Endes will er gar nicht<br />

wissen, wie die moralische Wertungsweise und damit<br />

moralische Werte in die Welt kamen, sondern welchen<br />

Wert die Moral selbst besitzt. 33<br />

Um aber diese Bewertung<br />

durchführen zu können, ist es unabdinglich ein Wissen<br />

über die historischen Gestalten der Moral zu besitzen,<br />

insbesondere um die diversen Entstehungsfaktoren und<br />

Kontextualitäten ihres Auftretens. 34<br />

Eine Genealogie der<br />

Moral hat also die Aufgabe die kritische Masse zu sichten<br />

und Funktionen, sowie Effizienz der einzelnen Phänomene<br />

freizulegen. Erst wenn ich weiß, welche Motivik sich hinter<br />

dem Erscheinen eines moralischen Wertes verbirgt, auf<br />

welche Konstellationen von Kraft er reagiert und mit<br />

welchem Erfolg, kann ich eine sinnvolle Einschätzung<br />

desselben in Angriff nehmen. In Nietzsches eigenen<br />

Worten: „[W]ir haben eine Kritik der moralischen Werthe<br />

nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in<br />

Frage zu stellen – und dazu thut eine Kenntniss der<br />

Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie<br />

gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und<br />

verschoben haben [...].” 35<br />

.<br />

Doch neben einer solchen geschichtsarchäologischen<br />

Bestandsaufnahme ist mindestens noch etwas für eine<br />

Bewertung der Moral notwendig: ein Maßstab, eine<br />

Kriteriologie. Ich kann mit einem Sachverhalt in- und<br />

auswendig vertraut sein, ich werde diesen doch nicht<br />

sinnvoll bewerten können, wenn mir nicht klar ist, woran<br />

ich ihn überhaupt beurteilen will. Nietzsche spricht als<br />

Verteidiger des Lebens. 36<br />

„Nietzsches Ansatz intendiert<br />

nicht nur das Woher der Moral, sondern auch ihr Wofür,<br />

nicht nur ihre Genealogie, sondern auch ihre Funktion<br />

und deren Legitimation. Die Instanz, vor der sich die Moral<br />

zu verantworten hat, ist das, was Nietzsche »Leben«<br />

nennt.” 37<br />

Nur Phänomene, die eine Förderung des Lebens<br />

bewirken, befürwortet Nietzsche. Und die gängige Moral<br />

steht bei ihm unter dem Verdacht nicht der Bejahung<br />

und Steigerung des Lebens zu dienen, sondern dem<br />

Willen zum Nichts Ausdruck zu verleihen, einen kraftlosen,<br />

resignativen Nihilismus zu fördern. Nietzsche stellt die<br />

bisherigen Werte auf den Prüfstand: „Hemmten oder<br />

förderten sie bisher das menschliche Gedeihen? Sind sie<br />

ein Zeichen von Nothstand, von Verarmung, von<br />

Entartung des Lebens? Oder umgekehrt, verräth sich in<br />

ihnen die Fülle, die Kraft, der Wille des Lebens, sein Muth,<br />

seine Zuversicht, seine Zukunft?” 38<br />

Je nachdem, ob ein<br />

Phänomen die Verwirklichung der „höchste[n]<br />

Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch” 39<br />

begünstigt<br />

oder stört, heißt Nietzsche es gut oder schlecht.<br />

Nachlassfragmente Nietzsches eröffnen das zuletzt<br />

Erörterte in konziser Form und entzieht gleichzeitig dem<br />

Verdacht eines genetischen Fehlschlusses, der gegen<br />

Nietzsches Moralkritik gerne vorgebracht wird, die<br />

Grundlage: „Die Frage nach der Herkunft unsrer<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Die Zeit heilt alle Wunder<br />

53<br />

Werthschätzungen und Gütertafeln fällt ganz und gar<br />

nicht mit deren Kritik zusammen, wie so oft geglaubt wird:<br />

so gewiß auch die Einsicht in irgendeine pudenda origo<br />

für das Gefühl eine Werthverminderung der so<br />

entstandenen Sache mit sich bringt und gegen dieselbe<br />

eine kritische Stimmung und Haltung vorbereitet.” 40<br />

bzw.:<br />

„[W]as sind unsre Werthschätzungen und moralischen<br />

Gütertafeln selber wert? Was kommt bei ihrer Herrschaft<br />

heraus? Für wen? in Bezug worauf? – Antwort: für das<br />

Leben.” 41<br />

Nun ist „Leben” bei Nietzsche ein sehr vielfältiger Begriff,<br />

dessen Vektoren letztendlich zum komplexen Theorem<br />

vom „Willen zur Macht” hinführen: „Aber was ist Leben?<br />

Hier thut also eine neue, bestimmtere Fassung des<br />

Begriffs »Leben« noth: meine Formel dafür lautet: Leben<br />

ist Wille zur Macht.” 42<br />

Ob Nietzsche effiziente, konsistente Begriffe von „Leben”<br />

und „Wille zur Macht” herausarbeitet, ist eine<br />

entscheidende Frage, aber eine, die die Anlage der<br />

vorliegenden Arbeit sprengt. Sicher ist: In GM werden<br />

kaum explizite und – in Anbetracht weiterer Nietzsche-<br />

Schriften – keinerlei erschöpfenden Bestimmungen<br />

vorgenommen. Diese Begriffe werden also schattenhaft<br />

eingesetzt, wirken aber mit Emphase im Unterholz des<br />

Zeichenwaldes.<br />

Was „Leben” für ihn in vollem Umfang und voller Tiefe<br />

nun auch bedeuten mag, es ist die Waage für den<br />

Moralrichter Nietzsche. Allerdings wird diese Waage<br />

selbst nicht abgewogen, oder besser: sie gilt dem<br />

Wägmeister als unwägbar. Der Wert des Lebens tritt in<br />

GM kommentarlos als unantastbar auf. GD liefert<br />

schließlich zwei erläuternde Stellen, mit deren Haltbarkeit<br />

m. E. vieles steht und fällt. Dort thematisiert Nietzsche<br />

explizit die Position des Lebens als eine nicht weiter<br />

übersteigbare und betont, „dass der Werth des Lebens<br />

nicht abgeschätzt werden kann.” 43<br />

Lebens-Werturteile<br />

sind stumpfsinnig und „kommen nur als Symptome in<br />

Betracht” 44<br />

. Die Frage nach dem Rang des Lebens ist<br />

sinnlos, weil kein Standpunkt eingenommen werden<br />

kann, von dem aus eine Einschätzung des Lebens<br />

möglich wäre. Es gibt nämlich keinen Ort außerhalb des<br />

Lebens. „Wenn wir von Werthen reden, reden wir unter<br />

der Inspiration, unter der Optik des Lebens: das Leben<br />

selbst zwingt uns Werthe anzusetzen, das Leben selbst<br />

werthet durch uns, wenn wir Werthe ansetzen ...” 45<br />

Auch<br />

die lebensfeindlichen Wertsetzungen der Sklavenmoral<br />

sind solche des Lebens, jedoch „des niedergehenden,<br />

des geschwächten, des müden, des verurtheilten<br />

Lebens.” 46<br />

An dieser Argumentation zeigt sich, wie problematisch<br />

der Begriff „Leben” bei Nietzsche zum Einsatz kommt.<br />

Ich will diesbezüglich lediglich den Hinweis tätigen, dass<br />

Nietzsche hier mit verschleiernden Äquivokationen und<br />

unscharfen Begriffsopulenzen operiert. Dasjenige<br />

„Leben”, das sich gegen sich selbst wendet, kann nur<br />

um den Preis eines Widerspruchs demjenigen „Leben”<br />

angehören, das Nietzsche gegenüber der Moral<br />

verteidigen will. Nimmt man Nietzsches Ausführungen<br />

beim Wort, so lässt sich feststellen: In seiner Moralkritik<br />

wendet sich das Leben gegen das Leben, das sich<br />

gegen das Leben wendet und zwar vom Standpunkt<br />

des Lebens aus. Dieser Satz ist jedoch absurd, solange<br />

angenommen wird, dass das Wort „Leben” hier viermal<br />

dasselbe bezeichnet. Die Differenzierungen, die<br />

notwendig wären, um ihm sinnvolle Konturen zu


verleihen, trifft Nietzsche jedoch nicht. Womit jedoch<br />

noch nicht schon gesagt ist, dass diese Differenzierungen<br />

nicht erfolgreich vorgenommen werden könnten, quasi<br />

hinter dem Rücken Nietzsches bzw. auf dessen Schultern<br />

stehend.<br />

Fußnoten<br />

1<br />

NIETZSCHE, Friedrich, Sämtliche Werke. Kritische<br />

Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), hrsg. v. Giorgio Colli und<br />

Mazzino Montinari, München/Berlin/New York ²1988.<br />

2 Vgl. das Siglenverzeichnis in: Kommentar zu Band 1–13, KSA<br />

14, 22ff. Weiters: OTTMANN, Henning (Hrsg.), Nietzsche-<br />

Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2000, 535.;<br />

STEGMAIER, Werner, Nietzsches »Genealogie der Moral«,<br />

Darmstadt 1994 (Werkinterpretationen), 237.; HÖFFE, Otfried<br />

(Hrsg.), Friedrich Nietzsche. Zur Genealogie der Moral, Berlin 2004<br />

(Klassiker Auslegen Bd. 29), VII.<br />

3 Nietzsches Überlegungen zum Nihilismus gipfeln im Gedanken<br />

der Ewigen Wiederkehr: „<br />

Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das<br />

Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich<br />

wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: »die ewige<br />

Wiederkehr«. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts<br />

(das »Sinnlose«) ewig!” (Nachlaß 1885 – 1887, KSA 12, 213.)<br />

4 „Die Frage des Nihilismus »wozu?« geht von der bisherigen<br />

Gewöhnung aus, vermöge deren das Ziel von außen her<br />

gestellt, gegeben, gefordert schien - nämlich durch irgendeine<br />

übermenschliche Autorität. Nachdem man verlernt hat an diese<br />

zu glauben, sucht man doch nach alter Gewöhnung nach eine<br />

andere Autorität, welche unbedingt zu reden wüßte, Ziele und<br />

Aufgaben befehlen könnte.” (Nachlaß 1885 – 1887, KSA 12, 355.)<br />

Nietzsche führt Beispiele solcher neuer Autoritäten an:<br />

Gewissen/Moral, Vernunft, sozialer Instinkt/Herde, Historie.<br />

Manfred Frank kommentiert: „Hat man diese Ersatzantworten<br />

als bloße Ausflüchte durchschaut und also die antitheologische<br />

Kehre mit Nietzsche mitvollzogen, dann kann man auch die<br />

Verzweiflung des tollen Menschen korrigieren.” (FRANK,<br />

Manfred, Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie,<br />

Frankfurt/M. 1988, 25.)<br />

5<br />

„Bleibt mir der Erde treu, meine Brüder, mit der Macht eurer<br />

Tugend! Eure schenkende Liebe und eure Erkenntnis diene dem<br />

Sinne der Erde! Also bitte und beschwöre ich euch. Lasst sie<br />

nicht davonfliegen vom Irdischen und mit den Flügeln gegen<br />

ewige Wände schlagen! Ach, es gab immer so viel verflogene<br />

Tugend! Führt, gleich mir, die verflogene Tugend zur Erde zurück<br />

– ja, zurück zu Leib und Leben: dass sie der Erde ihren Sinn gebe,<br />

einen Menschen-Sinn! [...] Unerschöpft und unentdeckt ist<br />

immer noch Mensch und Menschen-Erde.” (Za I, KSA 4, 99f.)<br />

6 EH, KSA 6, 332.<br />

7<br />

Colli/Montinari und Janz akzeptieren Nietzsches Information<br />

stillschweigend (KSA 14, 377; JANZ, Curt Paul, Friedrich Nietzsche.<br />

Biographie, Bd.3, München/Wien 1979, 371). Stegmaier setzt die<br />

Entstehungszeit zwischen 10.7. und 28.8.1887 an (STEGMAIER,<br />

Nietzsches „Genealogie der Moral”, 34), Raffnsøes<br />

Ausführungen deuten – ohne eine Festlegung zu beinhalten<br />

– auf eine ähnliche Position hin (RAFFNSØE, Sverre, Nietzsches<br />

„Genealogie der Moral”, Paderborn 2007, 23f), Brusotti und<br />

Höffe sprechen vom Zeitraum 10.6. bis 3.7.1887 (BRUSOTTI,<br />

Marco, Vom Zarathustra bis zu Ecce homo (1882-1889) [Art.],<br />

in: OTTMANN (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch, 120-137, dort 125.;<br />

HÖFFE, Otfried, Einführung in Nietzsches „Genealogie der<br />

Moral”, in: DERS. (Hrsg.), Friedrich Nietzsche. Zur Genealogie der<br />

Moral, 7.)<br />

8<br />

FRENZEL, Ivo, Friedrich Nietzsche. Mit Selbstzeugnissen und<br />

Bilddokumenten, Reinbek 1966 (rowohlts monographien), 120.<br />

Vgl. BRUSOTTI, Vom Zarathustra bis zu Ecce homo, 124.<br />

9<br />

Kommentar zu Band 1-13, KSA 14, 377.<br />

10<br />

Kommentar zu Band 1-13, KSA 14, 345.<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

11 STEGMAIER, Nietzsches „Genealogie der Moral”, 26.<br />

12<br />

Hierzu vgl. PÜTZ, Peter, Nachwort, in: NIETZSCHE, Friedrich, Zur<br />

Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, mit einem Nachwort,<br />

einer Zeittafel zu Nietzsche, Anmerkungen und bibliographischen<br />

Hinweisen von Peter Pütz, [München/Gütersloh] 1999, 149-182,<br />

hier 149.<br />

13 PÜTZ, Nachwort, 150.<br />

14<br />

Vgl. PÜTZ, Nachwort, 149f.<br />

15<br />

Vgl. RAFFNSØE, Nietzsches „Genealogie der Moral 17.<br />

16<br />

FOUCAULT, Michel, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in:<br />

DERS., Von der Subversion des Wissens, hrsg. v. Walter Seitter,<br />

Frankfurt a.M. 1987, 69-90, hier: 73.<br />

17 RAFFNSØE, Nietzsches „Genealogie der Moral, 19.<br />

18 Vgl. RAFFNSØE, Nietzsches „Genealogie der Moral, 14. Diverse<br />

Autoren betiteln verkürzt: „Nietzsches »Genealogie der Moral«”<br />

(z.B. Raffnsøe, Stegmaier, Höffe, Schweppenhäuser).<br />

Jedoch unterschlägt Nietzsche selbst mehrfach die<br />

abschwächende Präposition „Zur” und erhöht damit<br />

nachträglich – eventuell sogar vorsätzlich – den Anspruch des<br />

Textes.<br />

Er bespricht z.B. das Werk in EH unter dem Namen „Genealogie<br />

der Moral”.<br />

19 SALAQUARDA, Jörg, Christentum [Art.], in: OTTMANN, Henning<br />

(Hrsg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/<br />

Weimar 2000, 207-212, hier: 210.<br />

20<br />

FOUCAULT, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, 71.<br />

21<br />

GERLACH, Hans-Martin, Philosophie [Art.], in: OTTMANN,<br />

Henning (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung,<br />

Stuttgart/Weimar 2000, 489-499, hier: 497.<br />

22<br />

Vgl. SCHRÖDER, Winfried, Moralischer Nihilismus. Radikale<br />

Moralkritik von den Sophisten bis Nietzsche, Stuttgart 2005, 28ff.;<br />

SCHWEPPENHÄUSER, Gerhard, Nietzsches Überwindung der<br />

Moral. Zur Dialektik der Moralkritik in Jenseits von Gut und Böse<br />

und in der Genealogie der Moral, Würzburg 1988 (Nietzsche in<br />

der Diskussion), 14f.<br />

23 GD, KSA 6, 82.<br />

24<br />

„[D]urch das Mit‹leid› wird das Leben verneint,<br />

verneinungswü‹rdiger› gemacht, – Mitleiden ist die Praxis des<br />

Nihilismus.” (AC, KSA 6, 173.)<br />

25<br />

„Man hat auf das grosse Leben verzichtet, wenn man auf den<br />

Krieg verzichtet ...” (GD, KSA 6, 84.)<br />

26 „Die Schwachen und Missrathnen sollen zu Grunde gehn: erster<br />

Satz unsrer Menschenliebe.” (AC, KSA 6, 170.)<br />

27<br />

„Denn ein Sollen giebt es nicht mehr; die Moral, insofern sie<br />

ein Sollen war, ist ja durch unsere Betrachtungsart ebenso<br />

vernichtet wie die Religion .” (MA, KSA 2, 54.)<br />

28<br />

JGB, KSA 5, 124.<br />

29<br />

GM, KSA 5, 253.<br />

30<br />

GM, KSA 5, 253.<br />

31<br />

KSA 5, 248.<br />

32<br />

KSA 5, 249f.<br />

Die Zeit heilt alle Wunder<br />

54<br />

33<br />

Bislang blieb dieses <strong>Pro</strong>blem ungesehen: „<br />

Was die Philosophen »Begründung der Moral« nannten und von<br />

sich forderten, war, im rechten Lichte gesehn, nur eine gelehrte


Form des guten Glaubens an die herrschende Moral, ein neues<br />

Mittel ihres Ausdrucks, also ein Thatbestand selbst innerhalb einer<br />

bestimmten Moralität, ja sogar, im letzten Grunde, eine Art<br />

Leugnung, dass diese Moral als <strong>Pro</strong>blem gefasst werden dürfe:<br />

– und jedenfalls das Gegenstück einer Prüfung, Zerlegung,<br />

Anzweiflung, Vivisektion eben dieses Glaubens.” (JGB, KSA 5,<br />

106.)<br />

34<br />

Winfried Schröder spricht der naturgeschichtlichgenealogischen<br />

Analyse eine deskriptive Doppelfunktion zu: „<br />

Sie liefert eine systematisierende Beschreibung der<br />

verschiedenen »Moralen« und deckt deren Ursprung und<br />

Entwicklung auf<br />

.” (SCHRÖDER, Moralischer Nihilismus, 32.)<br />

35 GM, KSA 5, 253.<br />

36<br />

Im „Versuch einer Selbstkritik” aus dem Jahre 1886 stellt<br />

Nietzsche bereits sein Frühwerk GT in den selben Fragehorizont:<br />

„<br />

Was bedeutet, unter der Optik des Lebens gesehn,<br />

– die Moral? [...] Gegen die Moral also kehrte sich damals, mit<br />

diesem fragwürdigen Buche, mein Instinkt, als ein fürsprechender<br />

Instinkt des Lebens [...].”<br />

(GT, KSA 1, 17+19.)<br />

Diese Stoßrichtung hält er bis zum Ende seines Schaffens durch:<br />

„Ich bringe ein Prinzip in Formel. Jeder Naturalismus in der Moral,<br />

das heißt jede gesunde Moral, ist von einem Instinkte des Lebens<br />

beherrscht, – irgend ein Gebot des Lebens wird mit einem<br />

bestimmten Kanon von »Soll« und »Soll nicht« erfüllt, irgendeine<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Hemmung und Feindseligkeit auf dem Wege des Lebens wird<br />

damit beiseite geschafft. Die widernatürliche Moral, das heißt<br />

fast jede Moral, die bisher gelehrt, verehrt und gepredigt<br />

worden ist, wendet sich umgekehrt gerade gegen die Instinkte<br />

des Lebens, – sie ist eine bald heimliche, bald laute und freche<br />

Verurtheilung dieser Instinkte.“ (GD, KSA 6, 85.)<br />

37<br />

PÜTZ, Nachwort, 154.<br />

38 GM, KSA 5, 250.<br />

39<br />

GM, KSA 5, 253.<br />

40<br />

Nachlaß 1885 –1887, KSA 12, 160.<br />

41<br />

Nachlaß 1885 – 1887, KSA 12, 161.<br />

42 Nachlaß 1885 – 1887, KSA 12, 161.<br />

43<br />

GD, KSA 6, 68.<br />

44 GD, KSA 6, 68.<br />

45<br />

GD, KSA 6, 86.<br />

46<br />

GD, KSA 6, 86. Vgl. mit einem berühmten Wort Zarathustras: „<br />

Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und<br />

noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein.”<br />

(Za II, KSA 4, 147f.)<br />

Stefan Rois, geb. 1983, studiert Philosophie und Kunstwissenschaft an der KTU Linz, ist dort Tutor für Philosophie, absolvierte<br />

ein Erasmus-Semester in Tübingen (Deutschland), erhielt 2007 die Talentförderungsprämie des Landes OÖ für Literatur,<br />

brüllt für „FANG DEN BERG”; seit 2007 bei PRO SCIENTIA.<br />

Die Zeit heilt alle Wunder<br />

55


Karin Peter<br />

„Ein ‚Bruch’ in der Zeit“ –<br />

Annäherung an Bedeutung und Funktion<br />

apokalyptischer Vorstellungen<br />

Verführerisch und/oder hilfreich. Apokalyptische<br />

Vorstellungen tauchen in periodischen Abständen<br />

immer wieder auf. Sie beinhalten eine spezifische Sicht<br />

der Welt, eine eigene Vorstellung der aktuellen und der<br />

zukünftigen Zeit.<br />

1 AKTUELLE VERWENDUNG DES WORTFELDES<br />

„APOKALYPTISCH“<br />

Auch in unserer Zeit haben „Apokalyptik“ und damit in<br />

Verbindung stehende Begriffe Konjunktur. “Apocalypse<br />

Now” 1 und “Armageddon” 2 können als Titel großer<br />

Hollywood-Filme exemplarisch für das gegenwärtige<br />

Aufgreifen explizit apokalyptischer Begriffe gelten.<br />

Das Begriffsfeld „Apokalyptik/Apokalyptisch“ lässt weite<br />

Assoziationen zu, die im Umfeld der Bedeutungen<br />

„Schrecken“, „Horror“, „Katastrophe“, „Ende der Welt“<br />

angesiedelt sind. Gerade aufgrund dieser<br />

Konnotationen werden Begriffe des Wortfeldes<br />

„Apokalyptik“ häufig verwendet, um Faszination und<br />

Schrecken und damit auch Aufmerksamkeit bei<br />

potentiellen HörerInnen und LeserInnen zu wecken.<br />

Apokalyptische Rhetorik findet stets ein Publikum. 3<br />

Das Adjektiv „apokalyptisch“ wird gemeinhin als<br />

„furchterregendes Synonym für katastrophal“ 4<br />

verwendet. Oder als eine Entsprechung zu “Doomsday”,<br />

dem „Tag des Jüngsten Gerichts“, wobei in dieser<br />

Verwendung offen gelassen wird, welche<br />

Gegebenheiten als ursächlich für das bevorstehende<br />

Ende der Welt angesehen werden können. Diese<br />

Interpretationsoffenheit ist Ermöglichungsgrund dafür,<br />

dass das Schlagwort in Zeitschriften und Zeitungen in<br />

unterschiedlichsten Zusammenhängen Verwendung<br />

findet: bei der Berichterstattung über Naturkatastrophen<br />

ebenso wie bei der Darstellung aktueller technischer<br />

<strong>Pro</strong>bleme und der Schilderung von schier<br />

unüberwindbar gewordenen Schwierigkeiten einer<br />

friedlichen Gestaltung des Zusammenlebens aller<br />

Menschen. 5<br />

Im Falle der Beschreibungen von Katastrophen<br />

unermesslichen Ausmaßes, die Leid und Tod unzähliger<br />

Menschen mit sich bringen, wird der Apokalyptik-<br />

Terminus wohl gewählt, um das Unvorstellbare doch zum<br />

Ausdruck bringen zu können. Denn für die Beschreibung<br />

solch außergewöhnlicher Gegebenheiten gilt: “ordinary<br />

words were quite inadequate” 6 . Es scheint, als sei der<br />

Rückgriff auf bewährte, alte apokalyptische Begriffe<br />

nötig, um sich dem unfassbar Neuen annähern zu<br />

können. 7<br />

Neben dem Ringen um eine adäquate Sprache<br />

forcieren aber auch die Eigengesetzlichkeiten der<br />

medialen Welt in einer marktwirtschaftlich verfassten<br />

Gesellschaft den beinahe inflationären Gebrauch des<br />

Begriffs. Über die teils ironische Verwendung hinaus wird<br />

deshalb auch die überproportionale bzw. vorschnelle<br />

Anwendung des Terminus reflektiert. 8<br />

2 EINE KOMPLEXE BEGRIFFSBESTIMMUNG<br />

Die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes<br />

„apokalypsis“ hat – entgegen der gegenwärtig<br />

populären Verwendung des Begriffs – nichts mit dem<br />

Weltende und auch nicht von vornherein mit<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Apokalyptische Vorstellungen<br />

56<br />

Katastrophalität zu tun, sondern kann mit „Aufdecken,<br />

Enthüllung“ wiedergegeben werden. 9 Weiterführende<br />

Definitionen von „Apokalyptik“, die über das Offenlegen<br />

der ursprünglichen Wortbedeutung hinausgehen,<br />

erweisen sich mehr als „<strong>Pro</strong>blemanzeige“ 10 denn als<br />

„enthüllende“, hilfreiche Beiträge zu einer Klärung. Die<br />

bisherigen Versuche einer Begriffsdefinition können als<br />

gescheitert angesehen 11 , die vorherrschende Situation<br />

treffend als “semantic confusion” 12 beschrieben werden.<br />

Die begrifflichen Unklarheiten machen gleichzeitig aber<br />

auch etwas vom faszinierenden und innovativen<br />

Potential des Phänomens „Apokalyptik“ deutlich, das<br />

sich auch auf terminologischer Ebene nicht so einfach<br />

in ein striktes Konzept zwängen lässt. 13<br />

Gesichert ist, dass F. Lücke das Kunstwort „Apokalyptik“<br />

1832 in Anlehnung an die Verwendung in Offb 1,1<br />

geprägt hat. Er führt den Begriff im Rahmen seiner<br />

exegetischen Studien ein und meint damit eine<br />

bestimmte Gattung jüdisch-christlicher Literatur. 14<br />

Tatsächlich wird in der Folge Apokalyptik in erster Linie<br />

als literarisches Phänomen untersucht. Der Begriff findet<br />

aber zunehmend breitere Anwendung. Zum einen wird<br />

er auf bestimmte textliche Elemente – Themen, Motive,<br />

Modelle – angewandt, auch in Schriften, die nicht explizit<br />

der apokalyptischen Literatur zugerechnet werden<br />

können, zum anderen werden mit diesem Prädikat auch<br />

gedankliche und soziale Tendenzen beschrieben, die<br />

über alles Textliche hinausgehen. In bestimmten<br />

Vorstellungen und Denkstrukturen wird ebenso eine<br />

spezifisch apokalyptische Prägung entdeckt wie bei<br />

Personengruppen bzw. konkreten sozialen Milieus. 15<br />

Mit dem Anliegen einer umfassenden, adäquaten<br />

Beschreibung des Phänomens hat sich im Lauf der Zeit<br />

zumindest eine grobe Begriffsverwendung etabliert, in der<br />

zwischen Apokalypsen als bestimmter Art der Literatur<br />

und Apokalyptik als spezifischer Art des Denkens<br />

unterschieden wird. 16<br />

3 APOKALYPSEN: APOKALYPTISCHE LITERATUR<br />

Bereits die Forschungsergebnisse zum „engeren Bereich“<br />

des Phänomens Apokalyptik, der apokalyptischen<br />

Literatur, erweisen sich als höchst disparat. So wird<br />

kontrovers diskutiert, wodurch apokalyptische Literatur<br />

überhaupt gekennzeichnet ist. 17<br />

Auf der Höhe des gegenwärtigen Forschungsstandes<br />

werden weniger Definitionsversuche unternommen,<br />

sondern charakteristische Merkmale apokalyptischer<br />

Literatur benannt. Zu diesen zählen neben formalen<br />

Elementen (wie dem häufig pseudepigraphischen<br />

Charakter, dem Vorkommen von Visionen und<br />

Auditionen, der Beschreibung von Himmelsreisen) auch<br />

inhaltliche Aspekte (wie der Offenbarung himmlischer<br />

Geheimnisse, der Bedeutung dualistischer Strukturen,<br />

dem Auftreten von Retter- und Mittlergestalten und einer<br />

Periodisierung weltgeschichtlicher Abläufe – z.T. mit der<br />

Bestimmung der Jetztzeit als „letzter Zeit“ und der<br />

Erwartung des Endes) und theologische Intentionen (wie<br />

eine prinzipielle Theozentrik, die Ausrichtung auf das<br />

jenseitige Heil und eine Fokussierung auf einen<br />

determinierten Heilsplan Gottes, dem alles unterworfen<br />

ist). 18 Kennzeichnend ist nicht so sehr die<br />

Außergewöhnlichkeit einzelner Merkmale, sondern das<br />

Auftreten eines „Bündels“ an Charakteristika: “The genre


is […] constituted […] by a distinctive combination of<br />

elements, all of which are also found elsewhere. ” 19<br />

Auf diesem Hintergrund wird auch nachvollziehbar,<br />

weshalb es durchaus umstritten ist, eine spezifisch<br />

apokalyptische Gattung anzunehmen. 20 Von J. J. Collins<br />

stammt der wohl detaillierteste und einflussreichste, wenn<br />

auch in Einzelpunkten umstrittene Versuch der<br />

Bestimmung der Gattung 21 apokalyptischer Literatur: 22<br />

‘Apocalypse’ is a genre of a revelatory literature with a<br />

narrative framework, in which a revelation is mediated<br />

by an otherworldly being to a human recipient, disclosing<br />

a transcendent reality which is both temporal, insofar as<br />

it envisages eschatological salvation, and spatial, insofar<br />

as it involves another, supernatural world. 23<br />

An biblischer und frühjüdischer apokalyptischer Literatur<br />

lässt sich für Apokalypsen allgemein exemplarisch zeigen,<br />

dass sich in ihnen neben unterschiedlichen<br />

Beeinflussungen durch Literatur aus dem näheren und<br />

weiteren Umfeld auch unterschiedliche Erfahrungen von<br />

Konflikten und verschiedene soziale Faktoren<br />

widerspiegeln. In den entsprechenden biblischen<br />

Passagen finden sich Texte mit eindeutiger Nähe zu<br />

priesterlichen Kreisen, während in anderen Textteilen eine<br />

durchaus kritische Haltung gegenüber dieser Schicht zu<br />

bemerken ist. Ein Gutteil des apokalyptischen Materials<br />

ist von der Abgrenzung gegenüber einer herrschenden<br />

Gesellschaftsschicht angesichts einer bestehenden<br />

Unterdrückungssituation geprägt. 24<br />

Diese vielfältigen Ausformungen apokalyptischer<br />

Literatur lassen den Rückschluss auf die Annahme einer<br />

„einheitlich verorteten apokalyptischen Bewegung“ 25 auf<br />

den ersten Blick als ungültig erscheinen. Gerade sehr<br />

einschränkende Festlegungen wie die Einschätzung<br />

apokalyptischer Texte als „Konventikelliteratur“ 26 machen<br />

sich leicht angreifbar. Häufig wird in Apokalypsen<br />

nämlich ein größerer Adressatenkreis in den Blick<br />

genommen sowie eine universalere Zielsetzung gewagt. 27<br />

Trotzdem gibt es den berechtigten Versuch,<br />

Gemeinsamkeiten der Entstehungssituation<br />

apokalyptischer Literatur zu beschreiben, die aber<br />

durchaus divergent ausfallen. Sie schwanken zwischen<br />

der Annahme einer entsprechenden spezifischen<br />

religiösen Strömung 28 und einer prinzipiellen Art der<br />

Verarbeitung einer Notsituation 29 .<br />

Die auf eine konkrete soziologische Einordnung<br />

verzichtende und allgemein gehaltene Bestimmung<br />

apokalyptischer Literatur als schriftliche Verarbeitung<br />

einer Not- bzw. Krisensituation findet recht breite<br />

Zustimmung.<br />

4 APOKALYPTIK: EINE FASZINIERENDE DENKSTRUKTUR<br />

Der Versuch, das Phänomen Apokalyptik rein literarisch<br />

zu fassen, greift zu kurz. 30 Es geht entscheidender um<br />

Modelle und Denkschemata, die in periodisch<br />

auftretenden Wellen im Lauf der Geschichte unter<br />

unterschiedlichen geographischen, kulturellen, religiösen<br />

Bedingungen bedeutsam, ja prägend werden. 31<br />

Die disparaten Anwendungsmöglichkeiten der<br />

apokalyptischen Schemata und die damit verbundenen<br />

verschiedenen Aspekte haben auch entsprechend<br />

unterschiedliche Schwerpunktsetzungen bei den<br />

Definitionsversuchen zur Folge.<br />

Die allgemeinsten Annäherungen an die apokalyptische<br />

Denkstruktur beschreiben diese mit der Kernbedeutung<br />

des Terminus als „Enthüllung“. Wobei zunächst offen<br />

bleibt, ob sich dieses Aufdecken und Offenlegen auf<br />

gegenwärtige oder aber zukünftige Gegebenheiten<br />

bezieht. 32 Am grundsätzlichsten sind Deutungen, die<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Apokalyptische Vorstellungen<br />

57<br />

apokalyptische Denkstrukturen als Auseinandersetzung<br />

mit der aktuellen, gegenwärtigen Welt sehen. 33<br />

Apokalyptische Denkfiguren sind demnach<br />

Anstrengungen, „Orientierungen im Diesseits“ 34 ,<br />

„Enthüllung der Wirklichkeit“ 35 zu bieten. Dieser<br />

grundlegende Versuch der Interpretation des<br />

gegenwärtig Erlebten und einer umfassenden<br />

Lebensorientierung wird mit Hilfe symbolischer<br />

Repräsentationen vorgenommen. Dabei wird „eine<br />

umfassende Sicht der Wirklichkeit im Spiegel einer<br />

himmlischen Parallelwelt“ 36 präsentiert. Auf diese Weise<br />

soll es möglich werden, auch überfordernde<br />

Realitätserfahrungen einordnen und besser bewältigen<br />

zu können. 37<br />

Die Gegenwart, die mittels apokalyptischer Denkstruktur<br />

analysiert und bewältigt wird, wird stets als von großer<br />

Unsicherheit, ja Katastrophalität geprägt gesehen. In<br />

einer ersten Konkretisierung könnte es demnach heißen:<br />

„Apokalyptik ist Enthüllung der Wirklichkeit […] als einer<br />

untergehenden. Apokalyptik ist Enthüllung der<br />

Wirklichkeit im Untergang.“ 38 Das erwartete Ende stellt<br />

die eigentliche Tiefendimension der Wirklichkeit dar, es<br />

ist strukturierendes Prinzip der Erfahrung und Deutung der<br />

Gegenwart. 39<br />

Auslöser dieser als bedrohlich erlebten Situation können<br />

Erfahrungen der Unterdrückung, Verfolgung und<br />

Versklavung, der politischen und kulturellen<br />

Überfremdung ebenso sein wie soziale Ausgrenzung und<br />

Deklassierung. 40 Apokalyptisches Denken kann<br />

demzufolge als „Krisenphänomen“ 41 gesehen werden –<br />

mit der Absicht, diese Krise durch die Etablierung einer<br />

neuen Sichtweise zu bewältigen. Dieses Anliegen wird<br />

in erster Linie nicht mittels abstrakter Begrifflichkeiten,<br />

sondern mit Hilfe von Bildern bewältigt. Auch in der<br />

Anwendung des häufig gebrauchten Bildmaterials von<br />

Naturgewalten geht es eigentlich darum, „Strukturen des<br />

Bösen und […] der sich verselbständigenden Macht“ 42<br />

offen zu legen. 43<br />

Bei aller Auseinandersetzung mit der Gegenwart ist doch<br />

auch ein Zukunftsbezug entscheidend. Allerdings nicht<br />

die <strong>Pro</strong>gnostizierung zukünftiger Ereignisse, sondern die<br />

Eröffnung von Zukunft. Apokalyptik kann in einer zweiten<br />

Konkretisierung als „Enthüllung der Zukunft“ 44 bezeichnet<br />

werden, insofern sie eine Denkstruktur ist, die die<br />

Hoffnung auf eine gerechte Zukunft bestärkt.<br />

Hoffnung liegt in einem apokalyptischen Denkschema<br />

allerdings – und das erscheint auf den ersten Blick<br />

paradox – zunächst gerade in der Erwartung des Endes<br />

alles Gegebenen. Die Möglichkeit des Untergangs wird<br />

in der apokalyptischen Analyse der krisenhaften<br />

Gegenwart geradezu zu einem strukturierenden<br />

Moment der Weltdeutung. Von ihrem Ende her tritt die<br />

Bedeutung der Geschichte klar hervor. 45<br />

In dieser „negative[n] Apokalyptik“ 46 liegt in der<br />

Zerstörung der als ausweglos geschlossenen erfahrenen<br />

Wirklichkeit bereits ein Hoffnungsaspekt. Noch deutlicher<br />

wird dieser in der „positive[n] Apokalyptik“ 47 , in der das<br />

Ende der aktuell als so bedrängend erlebten Situation<br />

zur Vorbedingung von etwas gänzlich Neuem wird.<br />

Erwartet wird eine neue Welt, eine neue Zeit, ein<br />

gänzlicher Neubeginn, ein zweiter, neuer Äon. Der<br />

Untergang der bestehenden Welt wird zum Übergang<br />

für die neue, gerechte Welt. Gerade in Situationen der<br />

Not und des Erleidens von Unrecht und Gewalt können<br />

apokalyptische Bilder von der Überwindung des Bösen<br />

und dem Anbrechen neuen Heils ihre Kraft entfalten. 48<br />

Aus den Spezifizierungen gewinnt auch die allgemeine<br />

Bestimmung der Apokalyptik an Konkretion:<br />

Apokalyptische Schemata bieten ein Deutungsmuster


für aktuelle, im weitesten Sinn krisenhafte Geschehnisse<br />

und Entwicklungen, indem der Blick aus der düsteren<br />

Gegenwart auf eine lichte Zukunft gelenkt wird. Das<br />

spezifische Deutungsmuster leistet dabei zweierlei: Zum<br />

einen ermöglicht es ein tatsächliches Hinschauen und<br />

Offenlegen von gegenwärtigen, unheilvollen und Angst<br />

machenden Gegebenheiten, zum anderen verheißt es<br />

das Kommen einer radikal neuen Ordnung in der<br />

Zukunft. 49<br />

5 FASZINATION UND GEFAHR DES APOKALYPTISCHEN SCHEMAS<br />

Das grob skizzierte apokalyptische Denkschema mit<br />

seinem schonungslosen Blick auf die als krisenhaft<br />

erlebte Wirklichkeit und dem unbedingten Ringen um<br />

Gerechtigkeit bringt aber eine Tendenz der<br />

Vereinfachung mit sich, die als „Enthüllung im Dienste<br />

der Simplifizierung“ pointiert beschrieben werden kann<br />

– und die es näher in den Blick zu nehmen gilt.<br />

Apokalyptische Schemata sind von vornherein weder<br />

pauschal einer restaurativen Gesinnung zuzurechnen<br />

noch stets als treibender Motor von revolutionären<br />

Bewegungen zu sehen. Im Zuge revolutionärer<br />

Überlegungen und Vorgangsweisen wird zwar durchaus<br />

auf apokalyptische Motive und deren „subversive<br />

Kraft“ 50 zurückgegriffen, mit Bezugnahme auf dasselbe<br />

Material kommt es aber ebenso, sogar in<br />

überwiegendem Ausmaß, zu Argumentationsweisen, die<br />

das Erleiden und Erdulden von belastenden und<br />

unterdrückenden Situationen propagieren. 51<br />

Diese Zweideutigkeit, die der einen apokalyptischen<br />

Struktur innewohnt, macht einen wesentlichen Teil der<br />

von ihr ausgehenden Faszination aus. „Zweideutig wie<br />

ihre Sicht der Wirklichkeit bleibt auch die von ihr<br />

verbreitete Hoffnung“ 52 . Deutlich wird dies neben der<br />

Angst vor dem Weltende im Vertrauen auf einen<br />

Neuanfang. Diese Spannung kann sich durch <strong>Pro</strong>test<br />

gegen die übermächtige Situation äußern, die von<br />

konstruktiver Mitgestaltung auch in Zerstörungswut<br />

umschlagen kann. Mögliches Resultat kann aber auch<br />

das genaue Gegenteil, nämlich Resignation und<br />

Weltflucht sein. 53<br />

Diese Zweideutigkeit und die damit verbundene<br />

Faszination wurzelt gerade in der spezifischen Prägung<br />

der Apokalyptik. Der apokalyptische Blick auf die<br />

Wirklichkeit ist einer, der enthüllen, der Verborgenes ans<br />

Licht bringen will – im Bemühen um Erhellung<br />

untergründiger Strukturen und Gegebenheiten aber zu<br />

scharfer Kontrastierung neigt, ja geradezu dualistische<br />

Vereinfachungen mit sich bringt: weiß oder schwarz, hell<br />

oder dunkel, gut oder böse. 54 Diese vereinfachenden<br />

Zuordnungen sind aufgrund der konkreten Verortung<br />

nachvollziehbar und machen apokalyptische<br />

Denkstrukturen gleichzeitig universell faszinierend.<br />

Die Offenlegung des Gegebenen erfolgt strukturell stets<br />

aus der Perspektive der Einzelperson oder der eigenen<br />

Gruppe, die als gerecht und gut eingeschätzt wird.<br />

Davon klar unterschieden wird die Gruppe derer, die<br />

für die aktuell erfahrenen ungerechten Bedingungen<br />

bzw. die schlimme Notsituation verantwortlich gemacht<br />

wird. Erwartet wird nach einer Zuspitzung der Situation<br />

ein Neuanfang, der die bisherigen Machtverhältnisse<br />

nicht nur abschafft, sondern umkehrt und eine<br />

Belohnung der eigenen Gemeinschaft sowie eine<br />

Bestrafung der Gegner mit sich bringt. 55 In diesen<br />

Vorstellungen finden „Hass, Rachedurst und die Lust am<br />

Untergang“ 56 einen offensichtlich berechtigten Platz. Die<br />

Identität der eigenen Gemeinschaft wird in klarer<br />

Abgrenzung gegenüber dem Anderen, Bedrohlichen<br />

erlebt.<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Apokalyptische Vorstellungen<br />

58<br />

Das Simplifizierende aber auch Verhängnisvolle des<br />

apokalyptischen Schemas kann durch eine schlichte<br />

Änderung des Blickwinkels offenkundig gemacht werden<br />

– mit dem Resultat einer ebenfalls eindeutig<br />

kontrastierenden Unterscheidung zwischen Gut und Böse,<br />

allerdings unter exakt umgekehrter Einschätzung der<br />

beteiligten Parteien.<br />

6 „GEGENWÄRTIGE“ APOKALYPTIK<br />

Hinweise für Verwendung und Bedeutung<br />

apokalyptischer Deutungsmuster in der momentanen<br />

Welt, der jetzigen Zeit liefern der Gebrauch einschlägiger<br />

Begriffe im medialen Bereich sowie das neu<br />

aufkommende, auch differenzierte Bearbeiten des<br />

Themenkomplexes in der theologischen Forschung mit<br />

Mitte des 20. Jh. Doch damit nicht genug. Apokalyptik<br />

ist ein Faktor, der in der aktuellen Politik, ja überhaupt in<br />

der aktuellen Gesellschaft eine prägende Rolle spielt. Es<br />

gilt: “we are arguably in the throes of the most intense<br />

period of apocalyptic activity in recent history.” 57<br />

6.1 Spezifisches gegenwärtiger apokalyptischer<br />

Deutungen<br />

Mit strukturell neu auftretenden Gegebenheiten der<br />

Gegenwart entwickelt sich auch ein spezifisches<br />

Apokalyptik-Verständnis. 58 Auf eine Kurzformel gebracht:<br />

Gegenwärtige Apokalyptik ist „kupierte Apokalyptik“ 59 .<br />

Hinter diesem Terminus verbirgt sich eine apokalyptische<br />

Vorstellung, der der zweite Teil des apokalyptischen<br />

Schemas, die Erlösungsdimension des neu<br />

anbrechenden Äons abhanden gekommen ist. Der Fokus<br />

ist auf die gegenwärtig erlebte Krisenzeit gerichtet; die<br />

Hoffnungsperspektive, die in einem herkömmlichen<br />

apokalyptischen Schema mit dem Ende verbunden ist,<br />

fällt großteils aus. Stattdessen scheint höchstens eine<br />

Flucht in Gegenwelten der Medien- oder<br />

Unterhaltungsindustrie möglich. 60<br />

Trotz dieser eindeutigen Tendenz ist aber auch in kupierter<br />

Apokalyptik eine gewisse Hoffnungsperspektive<br />

enthalten, die allerdings eine spezifische Prägung<br />

aufweist. Sie richtet sich nicht – wie in herkömmlichen<br />

apokalyptischen Vorstellungen üblich – auf den sich mit<br />

dem Weltende neu zeigenden Äon, sondern besteht in<br />

der Sehnsucht nach einem „anderen Leben“ in dieser<br />

Welt. Deutlich wird dieses Anliegen in der als<br />

„prophylaktische Apokalyptik“ 61 bezeichneten<br />

Ausprägung, für die der unbedingte Versuch, die<br />

gegenwärtig bestehende Welt als solche doch noch zu<br />

retten und zu verändern kennzeichnend ist. Es wird ein<br />

„Kampf um den Erhalt der apokalyptisch gedeuteten<br />

Welt“ 62 angestrengt. Die der Apokalyptik prinzipiell<br />

innewohnende ambivalente Struktur birgt auch innerhalb<br />

kupierter Apokalyptik eine gegenteilige Tendenz. Diese<br />

zeigt sich in der Erwartung der völligen Zerstörung allen<br />

Lebens und der Aussicht auf eine Welt, in der kein Leben<br />

mehr möglich ist. 63<br />

Das prinzipielle Ausfallen bzw. die gänzlich spezifische<br />

Gestaltung der Erlösungsdimension der kupierten<br />

Apokalyptik hat seine Ursache wohl in einem tiefer<br />

liegenden Unterschied zur herkömmlichen Apokalyptik.<br />

Letztere ist von ihrem religiösen Ursprung her wesentlich<br />

durch das alles entscheidende Handeln Gottes geprägt.<br />

Völlig konträr dazu die Verhältnisbestimmung in kupierten<br />

apokalyptischen Denkweisen. Die Vorstellung des<br />

Handelns Gottes gerät dabei immer mehr in den<br />

Hintergrund und wird höchstens noch als immanentes<br />

Wirken Gottes in der Natur bzw. als der bleibende Garant<br />

für das Bestehen von Naturgesetzen wahrgenommen.<br />

Zunehmend verschwindet die Annahme Gottes<br />

überhaupt. Konsequenterweise bleibt der Mensch


dadurch alleiniges Subjekt und eigentlicher Gestalter der<br />

Geschichte. 64<br />

6.2 Gegenwärtige Manifestationen apokalyptischer<br />

Tendenzen<br />

Apokalyptische Tendenzen herkömmlicher oder<br />

spezifisch moderner Prägung bleiben nicht allein auf<br />

prinzipiell gedanklicher Ebene, sie manifestieren sich in<br />

der Wirklichkeit: in konkreten apokalyptischen<br />

Gruppierungen und Tendenzen der aktuellen Politik, in<br />

apokalyptisch geprägter Rhetorik, Literatur, Filmen, der<br />

bildenden Kunst.<br />

Apokalyptisch motivierte Gruppierungen haben bis in die<br />

letzte Zeit immer wieder durch ihre Konflikte mit<br />

staatlichen Gesetzen und z.T. durch große Tragödien<br />

Bekanntheit erlangt. 65 Generell ist aktuellen<br />

apokalyptischen Gruppierungen bei allen<br />

unterschiedlichen Beeinflussungen und inhaltlich teils<br />

konträren Anliegen gemeinsam, dass sie gegen die<br />

staatliche Ordnung operieren und eine „New World<br />

Order“ 66 anstreben. Charakteristisch für all diese<br />

angepeilten neuen Weltordnungskonzepte ist eine starke<br />

Konzentration auf dualistische Schemata, durch die die<br />

eigene Gruppierung von den als Feinden betrachteten<br />

Personen, Gruppen oder strukturellen Gegebenheiten<br />

abgehoben wird. 67<br />

Ein Rückgriff auf apokalyptische Argumentationsweisen<br />

wird nicht nur in obskuren Sekten, sondern auch in der<br />

allgemeinen Politik beobachtet. Für die USA kann eine<br />

zunehmende Anerkennung apokalyptischer<br />

Denkschemata konstatiert werden. Im Versuch,<br />

Deutungsherrschaft zu gewinnen, werden gegenseitige<br />

Abgrenzungen der konkurrierenden Lager ebenso<br />

forciert wie die Abhebung des eigenen Landes<br />

gegenüber als feindlich betrachteten Staaten. 68 In der<br />

Reaktion auf die Attentate auf das World Trade Center<br />

2001 zeigt sich eine breite Akzeptanz der<br />

apokalyptischen Einteilung der Welt in ein Gut-Böse-<br />

Schema, die sich auch in der in Intellektuellenkreisen<br />

verbreiteten Forderung nach einem “War Against<br />

Terror” 69 als einer adäquaten Antwort verdeutlicht. 70 Das<br />

Journalistenpaar V./ V. Trimondi konstatiert seit diesem<br />

Terroranschlag eine „ruckartig beschleunigte[]<br />

apokalyptische[] Kulturströmung“ 71 in den USA, die zutiefst<br />

religiös geprägt ist 72 und die Politik des Landes<br />

entscheidend mitbestimmt.<br />

V. / V. Triomondi gehen aber noch weiter. Sie nehmen<br />

eine untergründige „apokalyptische[] Matrix“ 73 an, ein<br />

unterschwelliges apokalyptisches Muster, das allen<br />

religiösen Gruppierungen, auch den Weltreligionen,<br />

zugrunde liegt. Besonders deutlich zeigt sich i.E. dieser<br />

allen Glaubensgemeinschaften zugrunde liegende<br />

Code in den Endzeitprophezeiungen der jeweiligen<br />

Religionen. 74 Die Faszination dieser Matrix, die ihren<br />

Niederschlag in den heiligen Schriften aller Religionen<br />

findet, liegt demnach in der apokalyptischen<br />

Zweideutigkeit, im „Hinundherpendeln zwischen<br />

düsterem Weltpessimismus und freudiger<br />

Jenseitshoffnung“ 75 . Die gemeinsame apokalyptische<br />

Matrix wird als verbindende Basis der verschiedenen<br />

Religionen „mit ihrem grenzenlosen<br />

Zerstörungspotential“ 76 gesehen, die die verschiedenen<br />

Gruppierungen in Konkurrenzkämpfe und schließlich<br />

auch in Kriege führt. 77<br />

Aktuelle künstlerische Auseinandersetzungen mit der<br />

Apokalyptik versuchen großteils, der Gefahr<br />

simplifizierender dualistischen Zuordnungen zu entgehen,<br />

was nicht immer gelingt.<br />

In der Literatur liegt die Hochblüte der Aufnahme und<br />

Verarbeitung apokalyptischer Motive mit Mitte der 80er<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Apokalyptische Vorstellungen<br />

59<br />

Jahre des 20. Jh. bereits einige Zeit zurück. Dennoch<br />

„gehören apokalyptische Züge zum Grundbestand<br />

schriftstellerischen Beschreibens unserer Zeit“ 78 . Was für<br />

die Jahre davor noch reine Auseinandersetzung mit<br />

Utopischem war, ist für gegenwärtige SchriftstellerInnen<br />

mit der Möglichkeit der Selbstvernichtung allerdings<br />

Realität geworden und bringt eine neue Art der<br />

künstlerischen Aufarbeitung mit sich. 79 Dem<br />

Grundanliegen des Aufdeckens gegenwärtiger<br />

Tendenzen wird durch das Offenlegen des der Moderne<br />

inhärenten Zerstörungspotentials nachgekommen. Eine<br />

explizite Hoffnungsbotschaft bleibt allerdings meist aus.<br />

Sie besteht nur mehr allein in der Existenz der Literatur<br />

selbst. Als Ausweg aus dem unausweichlich Scheinenden<br />

bleibt das Vertrauen in die gegebene Schöpfung und<br />

der Auftrag, einen Raum „solidarischer-politischer<br />

Praxis“ 80 zu schaffen. 81<br />

Mit dem geänderten Verständnis der Jetztzeit macht sich<br />

auch in der bildenden Kunst im 20. Jh. eine<br />

Bedeutungsverschiebung bemerkbar. Hinsichtlich<br />

apokalyptischer Visionen ist sie von „Gottlosigkeit“ 82<br />

sowie „negative[r] Anthropozentrik“ 83 geprägt. Das<br />

erwartete Ende der Geschichte wird als<br />

selbstverschuldet und endgültig gesehen, ohne einen<br />

Aspekt von Hoffnung. 84 Unberührt davon bleibt aber die<br />

Möglichkeit einer „innerbildlichen ‚Wende’ des<br />

Bild’themas’ im Sehprozess selbst“ 85 .<br />

Konkrete Manifestationen des Phänomens Apokalyptik<br />

sind auch in der Filmwelt zu finden. Als exemplarische<br />

Beispiele können neben den eingangs erwähnten Filmen<br />

Kassenschlager wie “Terminator 1+2” 86 “Independence<br />

Day” 87 , “Blade Runner” 88 und “The Matrix” 89 , aber auch<br />

der Zeichentrickfilm “The Lion King” 90 angeführt werden. 91<br />

Popularität und Erfolg scheinen hier allerdings in erster<br />

Linie durch den Rückgriff auf simplifizierende<br />

apokalyptische Deutungsmuster gegeben. Die<br />

genannten erfolgreichen Filme können jedenfalls als<br />

„Pseudo-Apokalypsen des großen Action-Kinos“ 92<br />

gelten, die zwar mit einzelnen simplifizierenden<br />

apokalyptischen Versatzstücken arbeiten, denen es<br />

aber an gegenwarts- und ideologiekritischem Potential<br />

mangelt. In einem strengen Sinn kommt in diesen Filmen<br />

auch keine kupierte Vorstellung der Apokalyptik zum<br />

Vorschein, da trotz der auch spürbar werdenden<br />

Zerstörungsenergie stets die Hoffnung auf ein<br />

unverändertes Bestehenbleiben der gegenwärtigen<br />

Umstände gegeben ist. 93<br />

Bei näherer Auseinandersetzung erweist sich das<br />

cineastische Feld aber doch als komplexer. So gibt es<br />

durchaus Filme, die ohne Auseinandersetzung mit<br />

endzeitlichen Schrecken das apokalyptische Anliegen<br />

des Offenlegens der – auch bedrohten – Realität<br />

aufnehmen. Dies kann exemplarisch in, allerdings z.T.


ereits älteren Filmen wie „La Dolce Vita“ 94 und Arbeiten<br />

der Regisseure H. Hartley 95 und D. Jarman 96 verwirklicht<br />

gesehen werden. 97<br />

Das im kulturell-gesellschaftlichen, aber auch im<br />

politischen Bereich selbstverständliche Optieren mit<br />

apokalyptischen Begriffen, mehr aber noch die<br />

ernsthafte Auseinandersetzung mit und die Anwendung<br />

apokalyptischer Strukturen – im Sinne tatsächlicher, oder<br />

aber auch simplifizierender „Enthüllung“ – ist Indiz für die<br />

Bedeutung apokalyptischer Denkweisen in der<br />

Gegenwart: „Apokalyptik ist somit ein ernstzunehmender<br />

politischer Faktor“ 98 , den es zu berücksichtigen gilt.<br />

7 LITERATURVERZEICHNIS<br />

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Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

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1999 (=Loccumer <strong>Pro</strong>tokolle 20/99). Loccum 2000, 14-25.<br />

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Gegenwart der Apokalyptik. Freiburg i. Br. 1999, 184-226.<br />

Fußnoten:<br />

1 Antikriegsfilm 1979 (Regie: F. Coppola).<br />

2 Science-Fiction- / Katastrophenfilm 1998 (Regie: M. Bay).<br />

3 Vgl. S. O’Leary 1998, 434.<br />

4 R. Lapide 2000, 59.<br />

5 Vgl. J. Paulien 2003, 152f.<br />

6 D. B. Forrester 2005, 49.<br />

7 Vgl. J. Ebach 1985, 9, 11; D. B. Forrester 2005, 49-51.<br />

8 Siehe A. Schwarz, Abgesagte Apokalypse. In: Die Presse,<br />

21.08.2002, 1.<br />

9 Vgl. A. Oepke 1990, 562f.<br />

10 U. H. J. Körtner 2006, 389.<br />

11 Vgl. G. von Rad 1968 5 , 316f. Dass sich dieser Befund über die<br />

Jahre nicht geändert hat, belegen u.a. J. J. Collins 1998 2 , 2 und<br />

R. Lapide 2000, 59.<br />

12 J. J. Collins 1998 2 , 2.<br />

13 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 8.<br />

14 Siehe F. Lücke, zit. n. U. H. J. Körtner 1988, 40.<br />

15 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 8; J. J. Collins 1998 2 , 12-14; J.<br />

Frey 2006, 45f. Gegen eine solche Ausweitung des Apokalyptik-<br />

Begriffes argumentiert H. Stegemann, rezipiert von J. Frey 2006,<br />

45f.<br />

16 Die grundlegende Unterscheidung differenziert hinsichtlich<br />

Form („Apokalypsen“ als spezifische Textgattung), Inhalt<br />

(„apokalyptische Eschatologie“ als spezifisch religiöse<br />

Perspektive, als bestimmtes Denkmuster) und Trägerkreis<br />

(„Apokalyptik“ als soziologische Größe). Auf diese von P. D.<br />

Hanson und M. E. Stone erarbeitete Unterscheidung beziehen<br />

sich J. J. Collins 1979, 3 sowie 1998 2 , 2 und J. Frey 2006, 45f.<br />

17 Erste grundlegende Überlegungen dazu stammen von Ph.<br />

Vielhauer. Er arbeitet folgende typische Stilelemente<br />

apokalyptischer Literatur heraus: Pseudonymität, Visionsberichte,<br />

„Vaticinium ex eventu“, Formen und Formenmischung,<br />

spezifische Vorstellungswelt (Zwei-Äonen-Lehre, Pessimismus und<br />

Jenseitshoffnung, Universalismus und Individualismus,<br />

Determinismus und Naherwartung, Uneinheitlichkeit). Siehe Ph.<br />

Vielhauer 1964 3 , 407-417.<br />

18 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 9.<br />

19 J. J. Collins 1998 2 , 12.<br />

20 G. von Rad 1968 5 , 331, FN 28 ist wohl der bekannteste Gegner<br />

der Annahme einer spezifisch apokalyptischen Gattung. Für ihn<br />

stellt apokalyptische Literatur keine eigene Gattung, sondern<br />

ein komplexes „mixtum compositum“ dar. Einen grundlegenden<br />

Überblick über die Diskussion der Gattungsfrage bietet J. J.<br />

Collins 1979, 1-20.<br />

21 E. P. Sanders favorisiert den literarisch-formal gefassten Genregegenüber<br />

dem weiter gefassten Gattungsbegriff. Ein<br />

einheitlicher Sprachgebrauch lässt sich aber auch im englischen<br />

Sprachraum nicht wirklich feststellen. Siehe A. Bedenbender<br />

2000, 48.<br />

22 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem<br />

Definitionsversuch bietet A. Bedenbender 2000, 48-61, 264, der<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

Apokalyptische Vorstellungen<br />

61<br />

trotz einiger Anfragen die prinzipielle Brauchbarkeit der<br />

Bestimmung explizit bestätigt.<br />

23 J. J. Collins 1979, 9.<br />

24 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 8f; J. J. Collins 1998 2 , 37f.<br />

25 M. Becker / M. Öhler 2006, 6, 8f.<br />

26 So bei Ph. Vielhauer 1964 3 , 420.<br />

27 Mit J. J. Collins 1998 2 , 38. Dieser spricht sich dezidiert gegen<br />

die Annahme eines einheitlichen sozialen Milieus aus, das als<br />

Entstehungsbedingung apokalyptischer Literatur zu gelten hat.<br />

28 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 9.<br />

29 3 Ph. Vielhauer 1964 420 spricht allgemein von „aktuellen<br />

Nöten“, die er aber – m.E. unnötigerweise – auf<br />

Konventikelgruppen beschränkt. Siehe auch J. J. Collins 19982 ,<br />

38, 41.<br />

30 Siehe auch M. Becker / M. Öhler 2006, 8; U. H. J. Körtner 1988,<br />

50.<br />

31 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 8; U. H. J. Körtner 1988, 50f; S.<br />

O’Leary 1998, 434.<br />

32 Meist ist eine Trennung ohnehin nur tendentiell möglich, der<br />

Vorteil eines idealtypischen Auseinanderhaltens besteht darin,<br />

dass ein differenzierter Blick auf die verschiedenen<br />

Verwendungsweisen des einen Schemas möglich wird.<br />

33 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 6f; D. B. Forrester 2005, 55.<br />

34 T. R. Peters 2000, 20.<br />

35 Buchtitel von J. Ellul 1981 zur Offenbarung des Johannes.<br />

36 M. Becker / M. Öhler 2006, 6.<br />

37 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 6f; J. Frey 2006, 92.<br />

38 U. H. J. Körtner 2006, 389.<br />

39 Vgl. U. H. J. Körtner 1988, 260.<br />

40 Vgl. Ebertz / Zwick 1999, 9.<br />

41 U. H. J. Körtner 1988, 57.<br />

42 U. H. J. Körtner 2006, 392.<br />

43 Vgl. U. H. J. Körtner 1988, 74 bzw. 2006, 392.<br />

44 2 G. Sauter 1965 , 241.<br />

45 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 6; U. H. J. Körtner 1988, 286f,<br />

290f.<br />

46 U. H. J. Körtner 1988 führt die Unterscheidung zwischen<br />

„negativer Apokalyptik“ und „positiver Apokalyptik“ in dieser<br />

Bedeutung ein. Die Termini finden sich immer wieder, u.a. auf<br />

den Seiten 151f, 278, 291. In anderer, quasi fortführender Weise,<br />

nämlich hinsichtlich der abwehrend-bekämpfenden bzw.<br />

erleidend-unterstützenden Haltung gegenüber dem<br />

gesellschaftlichen Establishment verwendet B. McGinn 1998, 32f<br />

die Termini „negative apocalypticism“ bzw. „positive<br />

apocalypticism“.<br />

47 U. H. J. Körtner 1988, 151f, 278, 291.<br />

48 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 6f; U. H. J. Körtner 1988, 291f<br />

bzw. 2006, 393.<br />

49 Vgl. D. B. Forrester 2005, 59; U. H. J. Körtner 2006, 390.<br />

50 J. Ebach 1985, 49.<br />

51 Vgl. U. H. J. Körtner 1988, 56f, 73f; S. O’Leary 1998, 434; B.<br />

McGinn 1998, 32f.<br />

52 U. H. J. Körtner 2006, 394f.<br />

53 Vgl. U. H. J. Körtner 1988, 315-317 bzw. 2006, 394f; B. McGinn<br />

1998, xvif.<br />

54 Vgl. U. H. J. Körtner 1988, 284, 293f bzw. 2006, 394f.<br />

55 Vgl. U. H. J. Körtner 1988, 313f.<br />

56 U. H. J. Körtner 1988, 313.<br />

57 M. Barkun 2000, 442.<br />

58 Hinsichtlich Vorstellungen der Apokalyptik sind<br />

ausschlaggebend: Allgemeines Krisenbewusstsein im Kontext<br />

des Zusammenbrechends des Fortschrittoptimismus;<br />

„Katastrophen-Ästhetik“; Möglichkeit der Menschen zur<br />

Selbstvernichtung; Bedeutung und Einfluss von Massenmedien;<br />

„Beschleunigung“ bzw. „Begrenzung“ von Zeit;<br />

Überforderungssituationen in der komplexen Realität mit dem<br />

Wunsch nach einfachen Lösungen. Siehe T. R. Peters 2000, 24f;<br />

U. H. J. Körtner 2006, 396f; R. Lapide 2000, 59; S. O’Leary 1998,<br />

423, 435f.<br />

59 Dieser Begriff geht zurück auf K. Vondung 1988, 12.<br />

60 Vgl. U. H. J. Körtner 2006, 387, 396f.<br />

61 G. Anders zit. n. U. H. J. Körtner 1988, 304.<br />

62 U. H. J. Körtner 1988, 304.<br />

63 Vgl. U. H. J. Körtner 1988, 304-307 bzw. 2006, 396f.<br />

64 Vgl. R. B. Schoepflin 2000, 436.


65 Die in der Öffentlichkeit populärsten apokalyptischen<br />

Vereinigungen – die Davidianer, die Sonnentempler und die<br />

Sekte Aum-Shinrikyo – sind aufgrund von Tragödien bzw.<br />

Anschlägen in die Schlagzeilen geraten. Vgl. M. Barkun 2000,<br />

443.<br />

66 M. Barkun 2000, 452.<br />

67 Vgl. M. Barkun 2000, 442f, 452, 456-459.<br />

68 Vgl. D. Thompson 1997, 387, 400-402.<br />

69 Siehe J. B. Elshtain 2003. Der Brief, der eine kriegerischen<br />

Antwort als einzig mögliche und damit notwendige Reaktion<br />

auf die Terroranschläge sieht, ist u.a. auch von F. Fukuyama, S.<br />

Huntington, R. Putnam und M. Walzer unterzeichnet.<br />

70 Vgl. D. B. Forrester 2005, 2-7.<br />

71 V. / V. Trimondi 2006, 36.<br />

72 Als entscheidende christliche Ausprägung der aktuellen<br />

apokalyptischen Strömung sehen sie den „Neo-<br />

Dispensationalismus“, der sich durch wörtliche Bibelauslegung<br />

und ein zunehmendes Aufheben der Grenzen zwischen<br />

Bibelinterpretation, dem Erkennen des Willens Gottes und dem<br />

Bemühen um politischen Einfluss auszeichnet und über jeweils<br />

aktuelle Deutungen des tagespolitischen Geschehens Eingang<br />

in die gegenwärtige Medienlandschaft findet. Vgl. V. / V.<br />

Trimondi 2006, 31-33, 36-38.<br />

73 Der Terminus findet sich häufig, eingeführt wird er in V. / V.<br />

Trimondi 2006, 11.<br />

74 Vgl. V. / V. Trimondi 2006, 11, 523.<br />

75 V. / V. Trimondi 2006, 15.<br />

Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />

76 V. / V. Trimondi 2006, 520.<br />

77 Vgl. V. / V. Trimondi 2006, 13, 15, 22f.<br />

78 G. Langenhorst 1999, 182.<br />

79 Vgl. K. J. Kuschel 1994, 232-234, 246f.<br />

80 K. J. Kuschel 1994, 259.<br />

81 Vgl. K. J. Kuschel 1994, 258-260.<br />

82 R. Burrichter 1999, 230.<br />

83 R. Burrichter 1999, 232.<br />

84 Vgl. R. Burrichter 1999, 229-232.<br />

85 R. Burrichter 1999, 231.<br />

86 Science-Fiction Film 1984 (Regie: J. Cameron) bzw. 1991 (Regie:<br />

J. Cameron). Eine genauere Untersuchung der Anspielungen der<br />

Terminator-Filme auf die Offenbarung des Johannes findet sich<br />

bei Boer, R., Christological Slippage and Ideological Structures<br />

in Schwarzenegger’s Terminator. In: Semeia Nr. 69/70 (1995), 165-<br />

193.<br />

87 Science-Fiction-Film 1996 (Regie: R. Emmerich).<br />

88 Science-Fiction-Film 1982 (Regie: R. Scott).<br />

89 Science-Fiction-Film 1999 (Regie: A. / L. Wachowski).<br />

90 Zeichentrickfilm 1994 (Regie: R. Allers / R. Minkoff).<br />

91 Vgl. J. Paulien 2003, 158f.<br />

92 R. Zwick 1999, 196.<br />

93 Vgl. R. Zwick 1999, 196f.<br />

94 Regie: F. Fellini 1960.<br />

95 “The Unbelievable Truth” 1989; “The Book of Life” 1998.<br />

96 “The Angelic Conversation” 1985; “The Last of England” 1987;<br />

“The Garden” 1990.<br />

97 Vgl. R. Zwick 1999, 203-223.<br />

98 U. H. J. Körtner 2006, 386.<br />

MMag. Karin PETER, geb.1977, ist seit März 2007 Mitarbeiterin am Forschungsprojekt “Transformation der Apokalypse” an der<br />

LFU-Innsbruck. Auch Ihre Dissertation wird sich apokalyptischen Schriften widmen. Die graduierte Religionspädagogin und<br />

Fachtheologin bereichert seit 2007 die Innsbrucker Gruppe von PRO SCIENTIA<br />

Apokalyptische Vorstellungen<br />

62


Mediale Zeit(en)


Clemens Tonsern<br />

Ein Held unserer Zeit<br />

– über die Zeitlosigkeit eines Unzeitgemäßen in der russischen Literaturgeschichte<br />

Im Jahr 1840 wird in Russland der Roman „Ein Held<br />

unserer Zeit“ erstmals vollständig zur Veröffentlichung<br />

gebracht. Das Werk des bis zu diesem Zeitpunkt<br />

vorrangig als Lyriker und Dramatiker in Erscheinung<br />

getretenen Kavallerieoffiziers Michail Jur’evic Lermontov<br />

(1814-1841) 1 irritiert und polarisiert die zeitgenössischen<br />

Literaturkritik ebenso wie das russische Lesepublikum. Der<br />

im Vorwort erhobene Anspruch, im Hauptprotagonisten<br />

Grigorij Aleksandrovic Pecorin den archetypischen<br />

russischen Adeligen seiner Zeit skizziert zu haben, wirkt<br />

provokant und schockierend zugleich. Lermontov selbst<br />

spricht eingangs von „einem Bildnis, aber nicht eines<br />

einzelnen Menschen; es ist ein Bildnis, das sich aus allen<br />

Lastern unserer Generation in ihrer vollen Entfaltung<br />

zusammensetzt“ (Lermontov in: Makanin 5).<br />

Pecorin erlangt als „Held seiner Zeit“ in direktem Erbe<br />

seines typologischen Bruders Evgenij Onegin 2 als<br />

Archetyp der literarischen Figur des „überflüssigen<br />

Menschen“ Unsterblichkeit. Für die Gegenwart und eine<br />

neues Zeitalter immer wieder neu adaptiert entwickelt<br />

sich Pecorin in Folge zu einem festen Bestandteil der<br />

russischen Literatur. Unterdessen tritt die laut<br />

Eigenbeschreibung „überflüssige Figur des fünften Aktes“<br />

(HuZ 156) nicht als ein um Sympathien bemühter Held in<br />

Erscheinung. Vielmehr hat Lermontov in Pec orin einen<br />

tragischen, jedoch nirgendwo um Verständnis und<br />

Mitleid heischenden Antihelden seiner Zeit entworfen,<br />

einer Zeit freilich, die von Lauer treffend als „Unzeit der<br />

nikolaiitischen Herrschaft – ohne Größe, ohne Ziel und<br />

Zukunft“ (Lauer 254) bezeichnet wurde.<br />

Die im Roman dargelegte ausufernde Deformation des<br />

Individuums durch eine als sinnlos empfundene<br />

Gegenwart entwickelt sich im Erbe Pecorins zu einem<br />

der fruchtbarsten Motive der russischen<br />

Literaturgeschichte. Der Bogen des an und in seiner Zeit<br />

scheiternden Helden lässt sich von Pecorin über den<br />

lethargischen Oblomov aus dem gleichnamigen Roman<br />

von Goncarov bis in die Gegenwart spannen. Die<br />

Ahnengalerie der Söhne, Enkel und Urenkel von Pecorin<br />

liest sich wie ein gedrängter Überblick über die<br />

bedeutendsten Werke der russischen Literatur.<br />

Die zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Figur des<br />

Adeligen Bel’tov aus dem Roman „Wer ist schuldig?“<br />

von Gercen stellt 1847 ebenso eine zeitgenössische<br />

Variante des lermontovschen Pecorin dar, wie der als<br />

erster Nihilist in der russischen Literaturgeschichte<br />

ungleich bekanntere Bazarov in „Väter und Söhne“ von<br />

Turgenev aus dem Jahr 1861.<br />

Ungeachtet der Geringschätzung, die Dostoevskij<br />

sowohl der Person Lermontov als auch seinem Werk<br />

entgegenbrachte, trägt auch der weltbekannte<br />

Raskolnikov aus „Verbrechen und Strafe“(Schuld und<br />

Sühne) deutliche Züge Pecorins.<br />

Eine Heldin ihrer Zeit verkörpert schließlich Pelageja<br />

Vlasova, die Hauptfigur im hierzulande leider<br />

schlichtweg ignorierten, jedoch mit Fug und Recht als<br />

epochal zu bezeichnenden Roman „Die Mutter“ von<br />

Maxim Gorkij aus dem Jahr 1906. Die<br />

Entwicklungsgeschichte der Arbeiterin Pelageja Vlasova<br />

gilt zudem als erstes Werk der Stilrichtung des<br />

„sozialistischen Realismus“, der die russische Literatur<br />

über Jahrzehnte dogmatisch beherrscht hat.<br />

Die Forderung des sozialistischen Realismus nach einer<br />

„historisch-konkreten Darstellung der Wirklichkeit in ihrer<br />

Mediale Zeit(en)<br />

Ein Held unserer Zeit<br />

64<br />

revolutionären Entwicklung“ (Terz 1) bleibt spätestens ab<br />

den 1970er Jahren eine Leerformel; zwanzig Jahre später<br />

zerfällt die Sowjetunion. Aus ihren Trümmern erhebt sich<br />

wiederum niemand geringerer als Grigorij Aleksandrovi<br />

Pecorin, der diesmal als Petrovic in Vladimir Makanins<br />

Roman „Underground oder Ein Held unserer Zeit“ im Jahr<br />

1998 eine surrealistische Auferstehung in einer vom<br />

Neoliberalismus entstellten postsowjetischen Gesellschaft<br />

feiert.<br />

Die sprichwörtliche Zeitlosigkeit und der ungebrochene<br />

Erfolg des „Helden unserer Zeit“ geht auf einen Roman<br />

zurück, der sich aus fünf thematisch voneinander<br />

unabhängigen Erzählungen zusammensetzt. Der<br />

namentlich nicht genannte Ich-Erzähler schildert darin<br />

chronologisch nicht geordnet Episoden aus dem Leben<br />

des jungen Adeligen Pecorin, den er dem Leser zunächst<br />

in zwei Reiseberichten aus der Außenperspektive und<br />

sodann in Rückgriff auf drei ausgesuchte Passagen aus<br />

Pecorins Tagebuch aus der Innenperspektive näher<br />

bringt. Die „organisch um Pecorin formierte Komposition“<br />

(Belinskij 90) von fünf in sich geschlossenen Erzählungen<br />

erlaubt es Lermontov in einer „Einschachtelungsmethode“<br />

(Stender-Petersen 152) sowohl den<br />

Helden als auch seine Zeit aus verschiedenen<br />

Gesichtspunkten zu beleuchten. Die Rahmenhandlung<br />

des Romans bildet eine Reise des Erzählers, der sich<br />

ebenso wie Pecorin als russischer Offizier zu erkennen gibt,<br />

durch den Kaukasus. Eine Reisebekanntschaft namens<br />

Maxymitsch berichtet in der ersten Erzählung mit dem<br />

Titel „Bela“ über einen befreundeten, waghalsigen<br />

jungen Offizier namens Pecorin, der unter Einsatz seines<br />

Lebens die Liebe der tscherkessischen Fürstentochter Bela<br />

erringt. Pecorins Leidenschaft für Bela verflüchtigt sich<br />

schnell und erst im Angesicht des von ihm<br />

mitverschuldeten Todes seiner noch jungen Frau regen<br />

sich in ihm tiefere Gefühle. Die erste Erzählung des<br />

Romans wird von der Eintönigkeit des Lebens russischer<br />

Garnisonssoldaten im Kaukasus sowie der zunehmenden<br />

Weltentfremdung und Apathie von Pecorin dominiert,<br />

der die alltäglichen Monotonie und fehlende innere<br />

Anteilnahme am äußeren Geschehen durch<br />

halsbrecherische Abenteuer zu durchbrechen versucht.<br />

Im Spannungsverhältnis von Besatzern und Besetzten folgt<br />

Pecorin den anderen russischen Militärangehörigen im<br />

Kaukasus in eine von Außen oktroyierte Isolation. Wein,<br />

Karten, Jagd und amouröse Abenteuer bieten nur wenig<br />

Zerstreuung, die Zeit bleibt ein durch inständig<br />

herbeigesehnte Zwischenfälle kaum geordnetes<br />

Kontinuum, das weder ein Gestern noch ein Morgen<br />

kennt. Auf die vom monotonen Soldatenalltag geprägte<br />

Gegenwart reagiert Pecorin schließlich mit einer<br />

tiefergehenden zweiten, nach Innen gewandten<br />

Isolation. Diese äußert sich in einer von seinen<br />

Mitmenschen als arrogant und lebensverachtend<br />

empfundenen, bewussten Entfremdung von Gesellschaft<br />

und Zeit und gibt dem Romangeschehen einen<br />

anhaltend düsteren Grundton vor.<br />

Die Gründe der Entfremdung Pecorins von seiner Umwelt,<br />

die nach Außen vor allem Irritation und nach Innen eine<br />

anwachsende Verhärmung des jungen Adeligen bewirkt,<br />

sind indes weder in göttlichen Prädestination noch in der<br />

Erziehung zu suchen (HuZ 52-53), sondern liegen<br />

ausschließlich in der von Lermontov als bedrückend<br />

beschriebenen „Zeit“, unausgesprochen demnach in der<br />

Gesellschaftsorganisation des von Nikolai dem II.<br />

autokratisch beherrschten Russland. In einem der<br />

zahlreichen Augenblicke der Selbstreflexion bekennt


Pecorin seinem Freund Maxymitsch: „Meine Seele ist von<br />

der Welt verdorben, meine Phantasie unruhig, mein Herz<br />

unersättlich; alles ist mir zu gering, an die Traurigkeit<br />

gewöhne ich mich ebenso leicht wie an den Genuß [...]“<br />

(HuZ 54).<br />

Die Gleichgültigkeit und Weltverachtung Pecorins<br />

bedingt nicht nur seine Unfähigkeit zur vollständigen<br />

Hingabe an Religion, Wissenschaft und Karriere (HuZ 53)<br />

sondern äußert sich darüber hinaus in einer Gefühlskälte,<br />

die ihn weder erfüllende Liebe noch tiefe Freundschaft<br />

empfinden lässt. In der zweiten Erzählung des Romans<br />

„Maxim Maxymitsch“ begegnet Pecorin nach langer Zeit<br />

seinem gleichnamigen alten Freund und Kameraden.<br />

Das kafkaesk kaum zu Stande gekommene Gespräch<br />

zwischen Maxymitsch und Pecorin bleibt auf wenige<br />

belanglose Floskeln reduziert, die abschließende Replik<br />

lässt jedoch bereits weiteres Unglück erahnen, wenn es<br />

heißt: „’Und was treiben Sie so?’ ‚Ich langweile mich’,<br />

erwiderte Pecorin lächelnd“ (HuZ 73).<br />

Die auf den zweiteiligen Reisebericht folgenden<br />

Veröffentlichungen aus dem Tagebuch von Pecorin<br />

zeugen vorrangig von einer sich nur noch weiter um sich<br />

greifenden Langeweile und Entfremdung. Pecorin tritt<br />

von nun an nicht mehr länger als tragisch Getriebener in<br />

Erscheinung, der „wenn er das Unglück anderer<br />

verschuldet, selbst nicht weniger unglücklich ist“ (HuZ 53),<br />

sondern erweist sich zunehmend als kühl berechnender<br />

Zeitgenosse, der lediglich im seinen Mitmenschen gezielt<br />

zugefügten Leid die selbstgewählte Isolation für kurze<br />

Augenblicke durchbrechen kann. In der<br />

Schmugglerepisode „Taman“ erwirkt die boshafte<br />

Neugierde Pecorins den sicheren Niedergang einer alten<br />

Frau und eines blinden Kindes. Die Schlussformel „Was<br />

scheren mich die Freuden und Leiden der Menschen“<br />

(HuZ 98) gibt bereits das Thema des nächsten Kapitels<br />

vor. In „Prinzeß Mary“ berichtet Pecorin in seinem<br />

Tagebuch von einer lediglich aus Langeweile<br />

begonnenen Romanze mit einer jungen Adeligen<br />

namens Mary. Pecorin treibt die junge Fürstentochter<br />

durch seine heuchlerische Liebe in den Wahnsinn und<br />

erschießt derer Verehrer Grušnickij kaltblütig in einem aus<br />

Überdruss provozierten Duell. Am Vorabend des Duells<br />

vermerkt Pecorin in seinem Tagebuch:<br />

„In meiner frühesten Jugend war ich ein<br />

Träumer; ich schwelgte mit Vorliebe<br />

abwechselnd in finsteren, dann wieder in<br />

leuchtenden Bildern [...]. Aber was ist von<br />

alldem geblieben? Nichts als eine große<br />

Müdigkeit [...]. In diesem vergeblichen Ringen<br />

zermürbte ich sowohl die Leidenschaft meines<br />

Herzens als auch die Beständigkeit meines<br />

Willens, die für das wirkliche Leben so nötig sind<br />

[...]“ (HuZ 219).<br />

Im letzten Abschnitt des Romans, der den Titel „Der<br />

Fatalist“ trägt, berichtet Pecorin über eine Wette mit<br />

einem Offizier namens Vulic. Im Gegensatz zu Pecorin<br />

glaubt Vulic an eine göttliche Vorherbestimmung und<br />

will dies in einer Wette mit Pecorin beweisen, indem er<br />

eine geladene Pistole gegen sich richtet, aus der sich<br />

unerklärlicher Weise jedoch kein Schuss löst. Pecorin hat<br />

ihm aber bereits zuvor böswillig ein baldiges Ableben<br />

prophezeit; Vulic wird noch in der selben Nacht von<br />

einem Betrunkenen ermordet. Mit dieser Episode<br />

beschließt Lermontov seinen Roman über den Helden<br />

seiner Zeit, dessen Leben er „als eine endlose Kette von<br />

traurigen und unglücklichen Widersprüchen, die sich<br />

gegen das Herz und die Vernunft richten“ (HuZ 108)<br />

beschreibt.<br />

Die Frage nach dem Ursprung und der Ursache dieser<br />

Widersprüche wird von Pecorin in den auffällig<br />

Mediale Zeit(en)<br />

Ein Held unserer Zeit<br />

65<br />

zahlreichen Momenten der Selbstreflexion nicht<br />

erhoben. Wer nun letztlich für den „archetypischen“<br />

Werdegang des russischen Adeligen Pecorin zur<br />

Verantwortung gezogen werden muß, wird von<br />

Lermontov zwischen den Zeilen lediglich angedeutet.<br />

Pecorin bleibt ein an den hohen Ansprüchen an sich<br />

selbst und an der Wirklichkeit gescheiterter Mensch. Das<br />

beständige Abgleiten in von Selbstmitleid gezeichneten<br />

Reflexionen über seine eigene Person wurde von Belinskij<br />

zwar als entscheidender Entwicklungsschritt hin zu einem<br />

Tätigwerden in der Welt begriffen (Belinsij 73), verhindert<br />

aber gleichzeitig, dass Pecorin zu einer wirklichen<br />

Auseinandersetzung mit seiner Zeit vorstoßen kann. Das<br />

nur vorsichtig angedeutete, übergeordnete Ziel des<br />

Romans, „die bittere Enthüllung der sozialen Verhältnisse,<br />

die einen solchen Menschentyp vorbrachten“ (Stender-<br />

Petersen 153) bleibt für Lermontov noch deutlich außer<br />

Reichweite.<br />

Nur fünf Jahre nach der Veröffentlichung von „Ein Held<br />

unserer Zeit“ eröffnet Aleksandr Ivanovic Gercen (1812-<br />

1871) durch die Publikation des Romans „Wer ist<br />

schuldig?“ in direkter Übernahme der Pecorinthematik<br />

eine intensive literarische Auseinandersetzung mit dem<br />

archetypischen, zeitgenössischen russischen Adeligen<br />

als überflüssiges Anhängsel seiner Zeit. Mutiger und<br />

direkter als Lermontov findet Gercen auf die im Titel<br />

seines „sozialphilosophisches Traktates“ (Ci•evskij II 28)<br />

aufgeworfene Frage eine sehr deutliche Antwort. Der<br />

Hauptprotagonist des Romans, der junge Adelige<br />

Bel’tov, tritt als „<strong>Pro</strong>test und Entlarvung“ des<br />

zeitgenössischen Lebens, als „Einwand gegen seine<br />

ganze Ordnung“ (WS 168) in Erscheinung, der an den<br />

„äußeren Umständen, den Verhältnissen“ (WS 229), d.h.<br />

der gesellschaftspolitischen Organisation seiner Zeit<br />

zerbricht, die ihm keine andere Existenz ermöglicht, als<br />

die eines „unnützen Menschen“ (WS 213). Der „Held<br />

seiner Zeit“ entfernt sich in der Person von Bel’tov von<br />

einer vornehmlich nach innen gerichteten<br />

(Nicht)Annahme der Gegenwart, die sozialkritische und<br />

aktivistische Komponente in der Ausformung des<br />

typischen jungen Adeligen nimmt erstmals spürbar zu.<br />

Als Pecorin dritter Generation offenbart sich schließlich<br />

Bazarov, der als nihilistische Hauptfigur aus Turgenevs’<br />

1861 publiziertem Roman „Väter und Söhne“ über<br />

mehrere Jahre hinweg den philosophischen und<br />

literarischen Diskurs der russischen Intelligenzija<br />

mitbestimmt hat. Während Herzen in „Wer ist schuldig?“<br />

ungleich stärker als Puschkin und Lermontov auf die<br />

äußeren Umstände als Ursprung für das Phänomen des<br />

„überflüssigen Menschen“ verweist, verdichtet sich in der<br />

Gestalt von Bazarov die durch Gercens’ Bel’tov<br />

vorübergehend aufgebrochene pecorinsche<br />

Selbstreferenz wieder zu einem von seiner Zeit und seinen<br />

Mitmenschen weitgehend losgelösten Helden. Bazarov<br />

übernimmt auf den ersten Blick als engagierter<br />

Naturwissenschaftler die aktivistische Tendenz von<br />

Bel’tov, sieht aber ein Einwirken auf die äußeren<br />

Umstände zur Umgestaltung der nach wie vor als sinnlos<br />

empfundenen Gegenwart als nicht zielführend an. In<br />

konsequenter Hingabe an seine materialistischen<br />

Grundsätze stirbt Bazarov schließlich mit sich und der<br />

Welt unversöhnt einen zufälligen und sinnlosen Tod.<br />

Auf Bel’tov und Bazarov folgen in der russischen<br />

Literaturgeschichte in der zweiten Hälfte des<br />

19.Jahrhunderts viele weitere, facettenreiche Spielarten<br />

des „Helden unserer Zeit“. Der Hauptprotagonist des<br />

gleichnamigen Romans „Oblomov“ von Goncarov löst<br />

als kontemplativ-untätiger Enkel von Pecorin bereits ab<br />

1859 eine intensive Debatte über das Nichtstun und die<br />

vermeintliche Überflüssigkeit der russischen Adeligen aus.<br />

Die lebhafte literarische Auseinandersetzung findet im<br />

legendären Aufsatz „Was ist Oblomovtum?“ des


adikalen Demokraten Dobroljubov ihren Höhepunkt,<br />

der die moralische Agonie und die selbstgefällige<br />

Lethargie des russische Adels schonungslos an den<br />

Pranger stellt (Lauer 280).<br />

Die Geschichte der Arbeiterwitwe Pelageja Vlasova im<br />

Roman „Die Mutter“ von Maxim Gorkij bedeutet im Jahr<br />

1906 eine zweifache Neuadaption der Pecorinthematik.<br />

Erstmals reflektiert nicht ein Mann, sondern eine Frau über<br />

das Geschehen der Gegenwart, dem sie sich anfangs<br />

hilflos ausgesetzt sieht. Darüber hinaus vollzieht Gorkij<br />

einen grundlegende Perspektivenwechsel: nicht der<br />

Werdegang eines privilegierten Adeligen, sondern der<br />

einer Arbeiterwitwe, die dem Beispiel ihres Sohnes<br />

folgend in das Lager der aufkommenden revolutionären<br />

Bewegung überwechselt, steht im Mittelpunkt des<br />

Romans. Die übergeordnete Intention seines Romans,<br />

der von konservativen Kritikern als „Tendenzwerk“ [...],<br />

dessen „Einfluß in reziprokem Verhältnis zu der<br />

literarischen Qualität“ (Kasack 146) verunglimpft wurde,<br />

hat Gorkij in unbewusster Übernahme des Vorworts von<br />

Lermontov in „Ein Held unserer Zeit“ offen gelegt. Von<br />

Gorkij heißt es wörtlich über seinen Roman „Die Mutter“:<br />

„Wenn ein Schriftsteller ein Buch schreibt, stellt er in ihm<br />

nicht das Porträt dieses oder jenes ihm bekannten<br />

Menschen dar, sondern er bemüht sich, in einem<br />

Menschen viele diesem einen ähnlichen Menschen<br />

darzustellen“ (Gorkij 434).<br />

Bereits in den 1970er Jahren hat sich Vladimir Makanin<br />

als eine der ersten russischen Schriftsteller von im Roman<br />

„Die Mutter“ bei Gorkij erstmals vorgezeichneten Stil des<br />

sozialistischen Realismus gelöst. Im Jahr 1998<br />

veröffentlicht der vielfach prämierte Autor ein<br />

fulminantes Werk, mit welchem Makanin an die hier<br />

genannten Lermontov, Gercen, Goncarov, Turgenev,<br />

Dostoevskij, ja letztlich sogar an Gorkij anknüpft, indem<br />

er mit „Underground oder Ein Held unserer Zeit“ ein an<br />

intertextuellen Bezügen reiches und bislang letztes<br />

Porträt des Helden seiner Zeit vorlegt.<br />

Im als nicht von ungefähr als „Metaroman der russischen<br />

Literaturgeschichte“ (Burkhart in: Makanin 700)<br />

bezeichneten Werk berichtet der Ich-Erzähler Petrovic,<br />

der sich als Wohnungswächter in einem weitläufigen<br />

Plattenbau verdingt, in deutlicher Anlehnung an „Ein<br />

Held unserer Zeit“ in fünf Abschnitten über sein<br />

selbstgewähltes Leben am Rande des Existenzminimums.<br />

Das hier bereits eingangs angeführte Zitat aus dem<br />

Vorwort von Lermontov in „Ein Held unserer Zeit“ vom<br />

wiederzugebenden „Bildnis, das sich aus allen Lastern<br />

unserer Generation in ihrer vollen Entfaltung<br />

zusammensetzt“ (Makanin 5) wird auch von Makanin<br />

seinem Werk als Motto vorangestellt. Die einzelnen<br />

Abschnitte lassen Petrovic sehr deutlich als Vertreter<br />

einer nach dem Ende der Sowjetunion sozial wie<br />

moralisch in ihren Grundfesten erschütterten russischen<br />

Gesellschaft hervortreten. Das an Petrovic gerichtete<br />

„Du bist hier überflüssig, Bruder!“ (Makanin 364) weckt<br />

nicht nur deutliche Anklänge an die Helden der Zeit<br />

Lermontovs’, Gercens’ und Turgenevs’, sondern steht<br />

allegorisch als Urteil über eine ganze Generation von<br />

im „Untergrund“ mühsam dahinvegetierenden<br />

Existenzen, welche von den tiefgreifenden<br />

Veränderungen ihrer Zeit übergangen und überfordert<br />

abseits des neuen, nunmehr kapitalistischen Zeitalters<br />

Russlands stehen.<br />

Der Held der „Jetztzeit“ Petrovic begibt sich als lediglich<br />

geduldete Existenz aus dem Mikrokosmos des<br />

heimatlichen Plattenbaus in ein an Pecorin und<br />

Grušnickij gemahnendes, ungleiches Duell mit einem<br />

Tschetschenen, den er auf einer Parkbank ohne<br />

ersichtliches Motiv hinterrücks ersticht und muss<br />

schließlich als Schmarotzer diffamiert den Plattenbau<br />

Mediale Zeit(en)<br />

Ein Held unserer Zeit<br />

66<br />

räumen. Die in Anbetracht des Rausschmisses<br />

angestellten Überlegungen von Petrovic bringen das seit<br />

Pecorin bekannte Spannungsverhältnis zwischen<br />

Individuum und der Gesellschaft sowie die besondere<br />

Tragik des „Helden unserer Zeit“ noch einmal deutlich<br />

zum Ausdruck, wenn es heißt:<br />

Nicht physische Gewalt [...] fürchtete ich, [...] -<br />

sondern den Verlust des Ortes, an den ich mich<br />

zurückziehen konnte, und ... den Verlust ihrer<br />

Liebe. Ich müsste außerhalb ihres Dunstkreises<br />

leben, das erkannte ich überraschend als<br />

<strong>Pro</strong>blem. Außerhalb der Gesellschaft dieser<br />

dumpfen, bornierten, traumatisierten, armen<br />

Menschen, deren Liebe ich so natürlich und<br />

selbstverständlich aufgenommen und<br />

verbraucht hatte, wie man beim Atmen<br />

farblosen Sauerstoff aufnimmt und verbraucht“<br />

(Makanin 364).<br />

Das Fehlen eines außerhalb des eigenen Ich liegenden<br />

Bezugspunktes und die daraus resultierende fehlende<br />

Anteilnahme und Hingabe an die Umwelt bilden bei<br />

Lermontov wie bei Makanin bleibende Kennzeichen der<br />

Helden ihrer Zeit. Die selbstgewählte wie auch die<br />

erzwungene Opposition zur der in der jeweiligen Jetztzeit<br />

mehrheitlich getragenen Weltanschauung erwirkt nicht<br />

die intendierte Freiheit und Unabhängigkeit. Vielmehr<br />

verstärkt sie die von Gercen in „Wer ist schuldig?“<br />

bloßgelegte Deformation des Individuums durch<br />

diejenigen „äußeren Verhältnisse“, von welchen sich Pe<br />

orin, Bel’tov, Bazarov und Petrovic eigentlich befreien<br />

wollten. Der pecorinsche Held erweist sich auf diese<br />

Weise als zeitloses erstes Opfer seiner Zeit und gereicht<br />

all jenen zum lebendigen Mahnmal, die diese aktiv<br />

mitgestalten.<br />

LITERATURVERZEICHNIS:<br />

Lermontov, Michail: 1989. Ein Held unserer Zeit. Aus dem<br />

Russischen von Günther Stein. Frankfurt am Main: Insel<br />

Verlag. Kurz: HuZ<br />

Herzen, Alexander: 1976. Wer ist schuldig? Deutsch von<br />

Alfred Eckelt. Mit einem Nachwort von Eberhard Reißner.<br />

Berlin und Weimar: Aufbau Verlag. Kurz: WS<br />

Kasack, Wolfgang: 1994. Russische Autoren in<br />

Einzelporträts. Stuttgart: Reclam.<br />

Gorki, Maxim: 1962. Die Mutter. Aus dem Russischen von<br />

Adolf Heß. Berlin: Aufbau Verlag.<br />

Makanin, Vladimir: 1998. Underground oder Ein Held<br />

unserer Zeit. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke.<br />

München: Luchterhand.<br />

Lauer, Reinhard: 2000. Geschichte der russischen Literatur.<br />

Von 1700 bis zur Gegenwart. München: Beck.<br />

Stender-Petersen, Adolf: 1993. Geschichte der russischen<br />

Literatur. München. Beck.<br />

Eliasberg, Alexander: 1923. Russische Literaturgeschichte.<br />

München: Beck.<br />

Ci•ewskij, Dmitrij: 1967. Russische Literaturgeschichte des<br />

19. Jahrhunderts. II. Realismus. Forum Slavicum Bd. 1 1967.<br />

München: Wilhelm Fink.<br />

Belinskij, Vissarion Grigorevic: 1958. Geroj našego<br />

vremeni. Socinenie M.L. Lermontova. Moskva:<br />

Gosudarstvennoe izdatel’stvo hudo•estvennoj literatury.<br />

Terc, Abram: 1956. to takoe socialisti<br />

eskij realizm. Moskva: Samizdat.


Fußnoten:<br />

1 Michail Jurcevic Lermontov (1814-1841), aus altem<br />

russischem Adel, studierte beginnend 1830 Philologie in<br />

Moskau und war ein Zeitgenosse und Freund von<br />

Aleksandr Sergeevic Puškin.<br />

Bis 1830 verfasst Lermontov bereits an die 300 Gedichte,<br />

es folgen die Dramen „Menschen und Leidenschaften“,<br />

„Maskerade“ sowie der Roman „Vadim“.<br />

Ab 1832 dient Lermontov als Kavallerieoffizier in der<br />

russischen Armee. Sein kritisches Gedicht „Der Tod des<br />

Dichters“ im Andenken an den 1837 verstorbenen Puškin<br />

bringt ihm eine Strafversetzung in den Kaukasus ein, das<br />

1839 veröffentlichte Versepos „Der Dämon“ festigt seinen<br />

Ruhm als aufstrebenden Dichter und „Byron auf<br />

russischem Boden“ (Eliasberg 35).<br />

Mediale Zeit(en)<br />

Nach einer vorübergehenden Rückkehr aus dem<br />

Kaukasus nach St. Petersburg wird Lermontov wegen<br />

eines Duells erneut strafversetzt.<br />

Im Jahr 1840 erscheint sein Roman „Ein Held unserer Zeit“,<br />

der hinsichtlich Thematik und Komposition in der<br />

russischen Literaturgeschichte bis heute seinesgleichen<br />

sucht und gemeinhin als Vorläufer der großen,<br />

bekannten Romane des russischen Realismus in der<br />

zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts gilt . Lermontov stirbt<br />

in Folge eines Duells 1841 in Pitjagorsk.<br />

2 Evgenij Onegin ist der Hauptprotagonist des<br />

gleichnamigen Versepos von Aleksandr Sergeevi<br />

Puškin (1799-1837) das zwischen 1823 und 1830<br />

entstand.<br />

Mag. Clemens Tonsern, geb. 1981, studierte in Graz Philosophie und Russisch und arbeitet ebendort an seiner Dissertation.<br />

Seine Diplomarbeit widmete sich dem Menschenbild des russischen Philosophen Alexander Herzen. Zwischen 2005 und<br />

2007 war er als Gastlektor an der Staatlichen Pädagogischen Universität Wolgograd tätig.<br />

Ein Held unserer Zeit<br />

67


Petre Puskasu<br />

Reinterpretation der Zeitgeschichte als politischer Sprengstoff im Kino:<br />

Der Fall Octobre (1994)<br />

« J´ai toujours essayé de faire mes<br />

films comme on pose des bombes..<br />

.Où la placer pour que ça fasse<br />

mal ? » 1<br />

Pierre Falardeau<br />

Der bekennende Marxist Pierre Falardeau ist einer der<br />

erfolgreichsten, politisch engagiertesten und wohl auch<br />

umstrittensten Filmemacher der kanadischen <strong>Pro</strong>vinz<br />

Quebec. Er setzt sich für die politische Unabhängigkeit<br />

der <strong>Pro</strong>vinz ein und nützt das Medium Film als Ventil für<br />

seine kompromisslose Kritik, die er gegen den<br />

kanadischen Föderalismus, die Alienation,<br />

Globalisierung und Amerikanisierung der Gesellschaft<br />

Quebecs richtet. Im vorliegenden Beitrag soll sein<br />

umstrittener Film Octobre (1994) analysiert werden, der<br />

für eine hitzige Debatte in den kanadischen Medien<br />

gesorgt hat.<br />

Pierre Falardeaus Spielfilm Octobre, an dessen<br />

Realisierung der Regisseur bereits seit 1981 arbeitete,<br />

problematisiert ein Schlüsselereignis der Oktoberkrise<br />

von 1970, die Entführung und Hinrichtung des<br />

quebeckischen Arbeitsministers Pierre Laporte durch<br />

die Chénier- Zelle der Front de Libération du Québec<br />

(FLQ). Diesen Ereignissen ging die Entführung des<br />

britischen Diplomaten Richard Cross durch die<br />

Libération- Zelle der FLQ am 5.Oktober 1970 voran. Die<br />

FLQ- Männer forderten als Gegenleistung für die<br />

Entlassung von Cross unter anderem die<br />

Veröffentlichung des FLQ- Manifests auf der Titelseite<br />

einer französischsprachigen Zeitung, die Freilassung der<br />

23 inhaftierten FLQ-Mitglieder, die Publikmachung der<br />

Identät des Polizeinformanten, der die FLQ infiltriert hat<br />

sowie die Zurverfügungstellung eines Flugzeugs nach<br />

Kuba oder Algerien zusammen mit 500.000 CAD in Gold.<br />

Davor hatte die FLQ ihre Aktivitäten auf Raubüberfälle<br />

und Bombenattentate beschränkt; zwischen 1963 und<br />

1970 ließ die FLQ etwa alle 10 Tage eine Bombe im<br />

Großraum Montreal hochgehen, wobei hier<br />

üblicherweise Briefkästen in den wohlhabenden<br />

anglophonen Wohnviertel Montreals, wie etwa<br />

Westmount, gesprengt wurden.<br />

Die föderale Regierung Kanadas unter Premierminister<br />

Pierre Elliott Trudeau lehnt indes jegliche<br />

Verhandlungen mit der FLQ ab; der quebeckische<br />

Premierminister Robert Bourassa reist nach New York ab<br />

und designiert den quebeckischen Arbeitsminister<br />

Pierre Laporte als Stellvertreter während seiner<br />

Abwesenheit. Einige Minuten vor dem Ablauf der von<br />

der FLQ gestellten Frist verkündet der quebeckische<br />

Justizminister Jérôme Choquette am 10. Oktober (um<br />

ca. 18 Uhr) die Ablehnung der Verhandlungen mit der<br />

FLQ seitens seiner Regierung. Etwa 20 Minuten später<br />

entführt die Chénier- Zelle Pierre Laporte vor seinem<br />

Haus in Saint- Lambert, wo er mit seinem Enkelsohn<br />

Fussball spielt. Eine Woche später wird Laporte erdrosselt<br />

aufgefunden.<br />

Die Oktoberkrise und die Ereignisse, die mit ihr<br />

zusammenhängen- etwa die Ausrufung des<br />

Ausnahmezustands in Quebec durch einen Quebecker,<br />

nämlich Pierre Elliott Trudeau, die Suspension der<br />

Bürgerrechte (das Gesetz, das Trudeau diese<br />

Maßnahme ermöglichte, datiert aus dem Jahr 1918!),<br />

der Einmarsch der kanadischen Armee in Montreal, die<br />

Mediale Zeit(en)<br />

Der Fall Octobre (1994)<br />

68<br />

drauffolgenden mehr als 500 Verhaftungen und<br />

Detentionen, die ohne <strong>Pro</strong>zess erfolgten,<br />

ist ohne Zweifel eines der traumatischsten Kapitel des<br />

quebeckischen und kanadischen Kollektivbewußtseins.<br />

Hierzu Gilles Marsolais:<br />

Cette opération menée par 12 000 militaires<br />

et policiers se solda par 30 000 „intimidations“<br />

perpétrées à l´occasion de ratissages de<br />

quartiers, des milliers de perquisations sauvages<br />

et l´arrestation arbitraire de 500 personnes.<br />

Plusieures d´entre elles, soumises à diverses<br />

humiliations et même à des simulacres<br />

d´exécution, furent incarcérées jusqu´à trois<br />

mois, dans l´isolement complet. Toutes furent<br />

relachées sans qu´aucune accusation ne soit<br />

finalement portée contre elles. 2<br />

Die Oktoberkrise ist gleichzeitig zu einem politischen<br />

Tabu geworden- das Archivmaterial der Gerichte, der<br />

Armee, des kanadischen Sicherheitsdienstes oder der<br />

quebeckischen Polizei, die die Oktoberkrise<br />

dokumentieren, bleibt bis dato unzugänglich, was eine<br />

objektive Rekonstruktion der Ereignisse von 1970 beinahe<br />

unmöglich macht- „il est impossible de faire le deuil<br />

d´Octobre (…) comme le démontrent les conclusions<br />

partielles des commissions et enquêtes, qui se sont<br />

heurtées au refus du gouvernement fédéral ou de la<br />

GRC 3 de fournir des documents“ 4 (Leroux). Bleibt der<br />

Diskurs der an der Oktoberkrise beteiligten Akteure, der<br />

FLQ- Mitglieder, der Historiker, der Journalisten, der<br />

Soziologen oder eben auch der Filmemacher; dieses<br />

Material ist sehr zahlreich, doch widersprüchlich. So<br />

wurden etwa im Zuge der Oktoberkrise Gerüchte und<br />

Falschmeldungen über die FLQ von der Regierung selbst<br />

verbreitet, um politisches Kapital aus der Krise schlagen<br />

zu können. 5<br />

Hierzu erinnert sich Francis Simard: „ À l´époque, (…) le<br />

ministre de la Justice, Jérôme Choquette, a refusé de<br />

rendre public le rapport de l´autopsie faite sur le corps<br />

de Pierre Laporte. Cela a permis aux deux<br />

gouvernements de se justifier, en laissant les rumeurs de<br />

torture se répandre. D´autres rumeurs, qui disaient que<br />

Laporte avait été achevé par l´Armée, après avoir été<br />

retrouvé vivant dans le coffre arrière de la Chevrolet,<br />

ont aussi couru.” 6<br />

Desinformation, Verbreitung von Gerüchten; Legenden<br />

und Halbwahrheiten haben ihr Übriges dazu<br />

beigetragen, dass die Oktoberkrise stark mystifiziert,<br />

politisiert und mannigfaltig interpretiert worden ist- „les<br />

légendes vivent plus longtemps que les faits, surtout<br />

lorsque ceux-ci sont dissimulés, maquillés ou interprétés<br />

à mesure qu´ils s´imposent à la mémoire“, 7 bemerkte in<br />

diesem Zusammenhang Bruno Bisson.<br />

Pierre Falardeau hinterfragt mit seinem Film die offizielle<br />

Lesart der Oktoberkrise, und das aus seiner gewohnten<br />

Ablehnungshaltung heraus, die Geschichte zu<br />

akzeptieren „as it is written by the Power Corporation<br />

mercenaries“ 8 (Stone), wobei seinem Film von einigen<br />

Kritikern Revisionismus nachgesagt wird.<br />

Falardeau selbst meint dazu, dass Octobre ein Versuch<br />

seinerseits gewesen ist, die Ereignisse um die Entführung<br />

und Ermordung Pierre Laportes aus der Sicht der FLQ-<br />

Leute darzustellen und die „états d´âme de quatre<br />

gars“ 9 zu verstehen. Falardeaus Hauptquelle für seinen


Film ist Francis Simard, einer der Akteure der Entführung<br />

und Hinrichtung von Pierre Laporte, der seine Erlebnisse<br />

in seinem Buch „Pour en finir avec octobre“ 1981<br />

festhält. Falardeaus Octobre beschäftigt sich also<br />

ausschließlich mit der Chénier- Zelle und dem<br />

Kidnapping Laportes, die aus der Sicht der 4 FLQ-<br />

Männer dargestellt werden und versucht, ihre<br />

Beweggründe zu eruieren. Die zentrale Frage, die sich<br />

Falardeau hierbei stellt, ist : „ A-t-on le droit de tuer pour<br />

des idées, pour défendre un concept de liberté ?” 10<br />

1.)ZUM INHALT UND STRUKTUR VON FALARDEAUS OCTOBRE<br />

« Le 10 octobre 1970, quatre militants du Front<br />

de libération du Québec kidnappent le ministre<br />

du Travail et de l´Immigration. Une semaine plus<br />

tard, la police retrouve le corps du ministre<br />

dans le coffre arrière de l´automobile qui a servi<br />

à l´enlèvement.<br />

Que s´est il passé exactement pendant cette<br />

semaine ? Pourquoi ? Comment ? Dans quelles<br />

circonstances ? Heure après heure, jour après<br />

jour, on suit de l´intérieur la vie de cinq hommes<br />

coincés pendant sept jours dans la maison de<br />

la rue Armstrong : leurs doutes, leurs espoirs,<br />

leurs peurs, leurs déchirements, leurs<br />

convinctions.<br />

Mis au pied du mur par le pouvoir, pris dans la<br />

logique implacable des événements,<br />

emportés par le poids des choses, l´un après<br />

l´autre ils affrontent leur destin. Ils décident.<br />

Seuls. Solitaires.» 11<br />

Pierre Falardeau über Octobre<br />

Die erzählte Zeit in Falardeaus Film ist die Woche vom<br />

10. auf den 17. Oktober 1970, Tag, an dem Laportes<br />

Leiche im Kofferraum eines blauen Chevrolets in der<br />

Nähe des Flughafens Saint- Hubert aufgefunden wird.<br />

Der Schauplatz des Films ist fast ausschließlich das Haus<br />

auf der Armostrong Street auf der Rive Sud von Montreal,<br />

in dem die vier Entführer Paul und Jacques Rose, Francis<br />

Simard und Bernard Lortie den Arbeitsminister von<br />

Quebec gefangen halten. Wir verlassen sehr selten das<br />

Haus an der Armstrong Street und werden in die gleiche<br />

Lage wie die FLQ- Männer versetzt; die einzige<br />

Informationsquelle, die zu diesem „huis-clos“<br />

durchdringt, übermittelt das Radio- „un sixième<br />

personnage qui nous fera réentendre le discours de<br />

Choquette et de Bourassa“ 12 (Privet). Falardeau<br />

identifiziert keinen seiner Charaktere, außer dem<br />

Charakter Pierre Laportes und bleibt auf diese Weise den<br />

Schilderungen Francis Simards aus „Pour en finir avec<br />

octobre“ treu, der in seinem Buch keine Namen nennt.<br />

Von ihren politischen Idealen beflügelt, entführen die<br />

vier FLQ- Männer Laporte am Anfang des Films, doch<br />

die Ereignisse überschlagen sich und ihre Aktion ist zum<br />

Scheitern verurteilt.<br />

So gesehen ist Octobre ein tragischer Film; die Lage der<br />

Entführer wird immer aussichtsloser- „c´est comme si<br />

j´étais dans un moulin à viande…La patente tourne et<br />

tourne, pis ça r´cule pas…On est dans l´entonnoir pis<br />

ça pousse...ça pousse...”, sagt der von Denis Trudel<br />

gespielte Charakter. Christian Poirier spricht in diesem<br />

Zusammenhang von einer „ représentation tragique,<br />

mélancolique et manquée de l´identité et de la réalité<br />

québécoises.” 13 Dieses Gefühl der Aussichtslosigkeit wird<br />

von den sich überschlagenden Ereignissen (die<br />

Ausrufung des Ausnahmezustands, der Einmarsch der<br />

kanadischen Armee in Montreal, die Verhaftungswellen,<br />

Laporte, der sich bei einem Fluchtversuch stark verletzt)<br />

Mediale Zeit(en)<br />

Der Fall Octobre (1994)<br />

69<br />

vermittelt und von der Reihenfolge und vom<br />

Schnittrhytmus der Sequenzen, von der Kamera Alain<br />

Dosties, die kaum das Haus auf der Armstrong Street<br />

verlässt, verstärkt. Die Kamera, die den vier FLQ-<br />

Männern auf Schritt und Tritt folgt, vermittelt ein Gefühl<br />

der Erstickung.<br />

Hierzu Pierre Falardeau:<br />

L´idée que la caméra reste toujours à<br />

l´intérieur avec eux, (...) j´étais pas tout à fait<br />

conscient, au début, de l´impact que ça<br />

aurait sur le spectateur. Mais c´est vrai qu´on<br />

étouffe avec eux, on a envie de dire : ouvrez<br />

les chassis, quelqu´un, faites quelque chose !<br />

(...) Et puis c´est la réalité qui est tragique, j´ai<br />

pas inventé l´horreur de tous ces événementslà<br />

; c´est vrai que les gars étaient comme dans<br />

un entonnoir... 14<br />

Die FLQ- Männer werden von Falardeau als alles andere<br />

als Übermenschen gezeigt- sie sind sich ihrer Sache<br />

keineswegs sicher und zögern. Sie haben Angst zu<br />

scheitern und entdeckt zu werden und zerbrechen an<br />

ihrer Unentschlossenheit, konsequent ihre politischen<br />

Überzeugungen bis zum Ende umzusetzen und Laporte<br />

zu töten. Am Ende des Films wissen sie nicht, was sie mit<br />

dem verblutenden Laporte tun sollen – einerseits haben<br />

sie Mitleid mit ihm, andererseits sind sie sich der<br />

Notwendigkeit bewußt, keine Schwäche zeigen zu<br />

dürfen.<br />

Einer der FLQ- Männer weist darauf hin, dass israelische<br />

Soldaten nicht zögern würden, bevor sie ein<br />

palestinesisches Kind töten; einer seiner Kameraden<br />

schreit ihn daraufhin an und meint, dass sie nicht das<br />

Recht hätten, jemanden für eine politische Idee zu<br />

töten.<br />

Das Dilemma der FLQ-Männer charakterisiert Nathalie<br />

Petrowski dieserart: „Quand ils ont enlevé Laporte, les<br />

gars avaient l´impression d´enlever un symbole, une<br />

sorte d´abstraction responsable de tous les maux de la<br />

terre (...) Et puis ils se sont retrouvés entre quatre murs<br />

avec un être humain, un gars ordinaire qui avait peur,<br />

qui avait faim, qui avait envie de pisser. Ils avaient<br />

tellement honte qu´ils n´osaient pas le regarder.” 15<br />

Die Spannung steigt abermals und die FLQ- Männer<br />

bringen den leblosen Laporte nach langem Zögern um,<br />

was Francis Simard in seinem Buch als „nécessaire et<br />

injustifiable“ bezeichnet, Camus zitierend. Hier<br />

verwendet Falardeau eine schier endlos scheinende<br />

30 Sekunden andauernde Plansequenz der<br />

Küchenwand, als sich die Hinrichtung ereignet. Die<br />

Exekution findet „hors- champ“ statt und wird<br />

musikalisch nicht untermalt. Louise Blanchard fasst den<br />

Plot des Falardeau´schen Films ausdrucksstark<br />

zusammen:<br />

Avec la dimension politique traitée seulement<br />

en fond de scène par le biais de la radio et<br />

de la télévision, le film expose avant tout l´état<br />

d´esprit des quatre hommes engagés dans un<br />

huis clos explosif, rue Armstrong, avec un<br />

otage sur les bras, révélant l´esprit<br />

d´improvisation dans lequel s´est commis<br />

l´enlèvement, l´attente frénétique des<br />

nouvelles du gouvernement, leur crainte<br />

d´être découverts, leur désillusion montante<br />

devant l´inertie des politiciens ainsi que leur<br />

angoisse et leur déchirement devant la<br />

perspective d´aller au bout de leurs<br />

convinctions en tuant Pierre Laporte. 16


Falardeaus Octobre funktioniert zudem auf zwei<br />

Ebenen. Er ist einerseits ein Krimi über ein Kidnapping,<br />

das mit einem Mord endet. Die Perspektive hier ist die<br />

der Entfürer, also die der Chénier- Zelle, und nicht wie<br />

üblich die des Opfers.<br />

Andererseits beinhaltet der Film einen starken<br />

separatistischen Diskurs.<br />

1.a.) Die Hollywood- Form von Octobre<br />

Als Krimi oder „suspence story“ verwendet Falardeaus<br />

Film konventionnele Vokabel und weist eine klassische<br />

Hollywood- Form auf, wie sie am besten von David<br />

Bordwell, Janet Staiger und Kristin Thomson in ihrem<br />

Werk „The Classical Hollywood Cinema“ 1985<br />

beschrieben wird. So schreibt hier Bordwell, dass eine<br />

der Regel, die sich das Hollywood- Kino selbst auferlegt<br />

hat, die Einhaltung einer „realistischen“ Linie ist, und<br />

zwar sowohl im aristotelischen Sinne, was er als „truth<br />

to the probable“ bezeichnet, als auch „realistisch“ im<br />

Sinne der Nähe zum Faktischen, zur historischen<br />

Tatsache. Das Hollywood- Kino versucht seine<br />

Artifizialität durch Anwendung von so genannten<br />

„continuity techniques“ (z.B.: Einhaltung der Kohärenz<br />

zwischen den Schnitten im Editierungsprozess) und<br />

„invisible storytelling“ zu cachieren. Darüber hinaus will<br />

es verständlich und unmissverständlich (unzweideutig)<br />

sein und eine universale Botschaft beinhalten, die also<br />

klassen- und nationsüberschreitend ist. 17<br />

Der Plot in Octobre setzt mit der Entführung Pierre<br />

Laportes durch die Chénier- Zelle der FLQ ein. Sie ist<br />

auch die narrative Linie des Films mit einer für die<br />

Hollywood- Form klassischen 3- Akt- Struktur, die einem<br />

linearen Spannungsbogen folgt: 18<br />

· Exposition (1. Akt);<br />

· 1. Wendepunkt (Plot Point1), der die Spannung<br />

steigert und den 2. Akt einleitet<br />

· 2. Wendepunkt (Plot Ponit 2), der meist eine<br />

Umkehrung darstellt und die Klimax und den<br />

3. Akt einleitet<br />

· Auflösung (3. Akt)<br />

Die narrative Linie von Octobre wird, wie ein klassischer<br />

Hollywood- Krimi, am Ende des 3. Aktes beendet, an<br />

dem die zentrale Frage des Films: „Was hat die vier FLQ-<br />

Männer dazu gebracht, Pierre Laporte zu entführen und<br />

zu ermorden?“ beantwortet wird. Der Film ist in einer<br />

unauffälligen Weise editiert und weist durchwegs glatte<br />

Schnitte auf, die reibunglos aneinander anschliessen-<br />

Großaufnahmen der Gesichter der FLQ- Männer und<br />

ihrer Waffen, als sie das Haus Laportes erreichen;<br />

Falardeau vermeidet zudem harte Schnitte- in der<br />

Szene, in der Laporte ins Auto geschoben wird,<br />

verwendet er Großaufnahmen und Totalen, die<br />

ebenfalls nahtlos ineinder übergehen. Diese Form wird<br />

durch die emotional manipulative Musik von Richard<br />

Grégoire vesrtärkt, die den Spannungsbogen der<br />

Storyline dramaturgisch unterstützt. Falardeau<br />

verwendet nach der Entführungsszene sogar eine<br />

Wendung, um die Spannung zu steigern- als die<br />

verkleideten Entführer mit dem Minister auf dem Boden<br />

ihres Autos eine Kreuzung passieren wollen, wird die<br />

Ampel rot, wobei auf der gegenüberliegenden<br />

Straßenseite ein Streifenwagen ebenfalls auf die grüne<br />

Ampel wartet. Als die Ampel grün wird, blockiert der<br />

Polizeiwagen die Straße, nachdem sie an ihm<br />

vorbeigefahren sind; die vier Männer im Auto schreien<br />

auf, als sie knapp davonkommen.<br />

Zudem wird diese Spannung zu verschiedenen Zeiten<br />

im Film reaktiviert- etwa wenn die Figur von Paul Rose<br />

in der Stadt von Polizisten in Zivil erkannt wird. Sie<br />

Mediale Zeit(en)<br />

Der Fall Octobre (1994)<br />

70<br />

verfolgen ihn, Rose flüchtet sich in das Haus eines<br />

befreundeten R.I.N. 19 - Mitglieds, wo er sich selbst eine<br />

Stirnschewellung mit einem Ziegel zufügt, sich verkleidet<br />

und auf diese Weise entkommen kann.<br />

Die FLQ- Männer werden außerdem häufig in einen<br />

Alarmzustand versetzt- etwa, als die Polizei ihr<br />

Nachbarhaus stürmt oder als der Ausnahmezustand<br />

ausgerufen wird, die kanadische Armee unter dem<br />

betäubenden Geräusch von Helikoptern und<br />

Polizeisirenen in die Stadt einmarschiert und Leute<br />

wahllos verhaftet werden.<br />

Der finale Zeitpunkt der „suspence“ kreist um die<br />

Entscheidung, Laporte zu töten oder nicht. Dieses<br />

Corneille´sche Dilemma zwischen ihrem menschlichen<br />

Empfinden und ihrer Pflicht dem bewaffneten Kampf für<br />

die Befreiung Quebecs gegenüber stellt den<br />

Hauptkonflikt dar.<br />

Am Ende töten die FLQ- Männer den quebeckischen<br />

Arbeitsminister.<br />

1.b.) Der separatistische Diskurs in Falardeaus Octobre<br />

« Moé, la seule démocratie que je connais,<br />

c´est la démocratie des coup de pied dans le<br />

cul, la démocratie des p´tits boss sales qui<br />

crient après toé à journée longue, pour un<br />

salaire de crève-faim. T´es pas content ? Quin,<br />

prends ton p´tit livre d´assurence-chômage, pis<br />

décâlisse, y´en a 20 à porte qui attendent pour<br />

avoir ta job.»<br />

Einer der FLQ- Männer in Octobre<br />

Die zweite Ebene ist der separatistische Diskurs des Films.<br />

So wird gleich am Anfang von Octobre folgender<br />

Scrolltext eingeblendet, um die Beweggründe des FLQ-<br />

Aktionen historisch zu kontextualisieren:<br />

Deux cents ans après la conquête<br />

de 1760 par l´armée anglaise,<br />

des québécois prennent les armes<br />

pour l´indépendance de leur pays.<br />

Le Front de Libération du Québec<br />

renouant avec la lutte des Patriotes<br />

de 1837, passe à l´action armée:<br />

attaques de casernes, vols d´armes,<br />

vols d´explosifs, hold up de<br />

financement, dynamitages etc.<br />

Années après années,<br />

vagues après vagues, les réseaux<br />

du FLQ sont démantelés par la police,<br />

pour renaître aussitôt.<br />

Pour faire libérer leurs camarades<br />

emprisonnés, des militants du FLQ<br />

déclenchent l´ « Opération Libération ».<br />

Ce film raconte une histoire vécue,<br />

basée non pas sur une reconstitution<br />

d´époque mais sur le respect<br />

des faits et des hommes.<br />

Diese Botschaft rekurriert im ganzen Film- es werden im<br />

Radio Ausschnitte des FLQ-Manifests vorgelesen; der<br />

Charakter von Paul Rose spricht von einem System der<br />

Exploitation, dass über 200 Jahre angedauert hätte; ein<br />

anderer der vier FLQ- Männer bemerkt, dass die<br />

Quebecker ein seit Generationen besiegtes Volk seien,<br />

das nicht weiß was es heißt, frei zu sein. Hierzu William<br />

Johnson: „ Both when the Felquistes speak and when


they listen to television, the litany of indignities against<br />

francophones is evoked, including the statement by CN<br />

president Donald Gordon that he could find no qualified<br />

francophone to promote to senior management.” 20 Die<br />

Aktualität der Oktoberkrise wird außerdem durch den<br />

Umstand suggeriert, dass Falardeau in seinem Film nicht<br />

auf die Einhaltung der Authentizität der dargestellten<br />

Epoche achtet- “le film se passe entre 70 et 90. Pour<br />

moi c´était (…) aussi une quéstion idéologique; c´était<br />

un moyen de dire que les choses ont peut- être pas<br />

changé tant que ça depuis 1970... ” 21<br />

Dieser Diskurs schwingt aber eher nur mit und ist nicht<br />

das Leitmotiv des Films, wie etwa in Falardeaus<br />

Filmpamphlet Le temps des bouffons. Das<br />

Hauptaugenmerk liegt auf der Tragödie der vier FLQ-<br />

Männer „who are shown to be lumpenproletarians who<br />

just lost control of the situation.“(White). 22<br />

2.) DIE ENTMYSTIFIZIERUNG DER OKTOBERKRISE<br />

Viele in Quebec hatten die Zeit der Oktoberkrise, die<br />

1970er Jahre, als eine romantische Epoche und die FLQ<br />

als eine Bande junger Männer, „ (qui) étaient eux aussi<br />

plus romantiques que révolutionaires même si leur<br />

révolte se réclamait de Karl Marx, Frantz Fanon et Ernesto<br />

« Che » Guevara” 23 (Marsolais) erlebt. Viele Quebecker<br />

haben die Abenteuer der FLQ verfolgt und die meisten<br />

von ihnen haben von dieser militanten Gruppe nach<br />

der Ermordung Laportes abgelassen. Mit der Zeit wurde<br />

das Bild der FLQ mystifiziert- ihre Mitglieder als moderne<br />

Abenteurer gezeichnet, die ein wenig naiv für ihre<br />

großen politischen Ideale in einen Kreuzzug gegen das<br />

Establishment und gegen das große Kapital gezogen<br />

sind.<br />

Dieses Bild der FLQ, das sich ins Kollektivgedächtnis der<br />

Quebecker eingeprägt hatte, zerstört Falardeau in<br />

seinem Film, der die Militanten der FLQ weder als<br />

Übermenschen, noch als wagemutige Guerrilleros,<br />

sondern als Durchschnittsmenschen zeigt, die<br />

unentschlossen sind und am Ende in die Knie gezwungen<br />

werden- „ils n´étaient pas des psychopathes ni des<br />

surhommes mais des simples êtres humaines (…) ni<br />

mercenaires, ni patriotes, ni déliquants, ni guérilleros. Du<br />

monde ordinaire comme vous et nous.“ 24 , bemerkt etwa<br />

Nathalie Petrowski, die zugibt, von diesem<br />

entmystifizierten und wenig schmeichelhaften aber wohl<br />

sehr realitätsnahen Bild der FLQ („remarquez que c´est<br />

probablement comme cela que tout c´est passé“, sagt<br />

sie an einer anderen Stelle) enttäuscht worden zu sein.<br />

Dies bestätitigt auch Karen Ricard, die festhält, dass<br />

Falardeaus Film „détruit le mythe encombrant<br />

d´Octobre 70 pour nous faire entrer, une fois pour toutes,<br />

dans l´histoire.” 25<br />

3.)ZUR FINANZIERUNG UND KRITIK VON FALARDEAUS OCTOBRE<br />

« Après toutes les chicanes, les batailles de<br />

chiens enragés, de sénateurs fous, 26 et les<br />

hoquets chienneux d´une SOGIC en voie<br />

d´extinction, Falardeau qui ne craint ni les<br />

grands mots, ni les affrontements, ni les<br />

dénonciations, a réussi envers et contre<br />

presque tous à tourner son film avec l´argent<br />

de Téléfilm. » 27<br />

Franco Nuovo<br />

Mediale Zeit(en)<br />

Der Fall Octobre (1994)<br />

71<br />

« (...) chaque fois que tu t´intéresses<br />

à l´histoire, t´as toujours un point de<br />

vue. Pour la conquête, par exemple :<br />

celui du conquérant ou celui du<br />

conquis. Si t´es du bord du conquis,<br />

l´autre bord ne va pas te donner de<br />

l´argent pour le faire. » 28<br />

Pierre Falardeau<br />

Die Geschichte der Finanzierung und Enstehung von<br />

Falardeaus Octobre ist gespickt von grotesken<br />

Begebenheiten, Affären, Absurditäten und Anekdoten;<br />

sie gleicht einer Odysse und könnte den Stoff für einen<br />

Roman liefern, 29 ähnlich Sergej Dovlatovs berühmten<br />

Roman „Das unsichtbare Buch“, den der russiche<br />

Dissident über die unzähligen Versuche, seine<br />

Erzählungen in der Sowjetunion zu veröffentlichen,<br />

verfasst und später in New York publiziert hat. Der Grund<br />

dafür ist nicht zuletzt die Tatsache, dass der<br />

Filmemacher ein historisches Kapitel (nicht ganz<br />

unbewußt) in einer Art und Weise behandelt, die die<br />

Kontroverse nahezu heraufbeschwört.<br />

Die Oktoberkrise ist nämlich ein einschneidendes<br />

traumatisches Erlebnis in der jüngsten kanadischen<br />

Geschichte gewesen, das sowohl die Föderalisten, als<br />

auch die quebeckischen Separatisten in eine Krise<br />

stürzte. Beide Seiten haben seither versucht, ihre Schuld<br />

an diesen Ereignissen zu rationalisieren, indem sie zu<br />

beweisen erpicht waren, dass die jeweils andere Seite<br />

weniger gerechtfertigt gehandelt und die größere<br />

Schuld an der Oktoberkrise zu tragen hätte. Letztere ist<br />

zu einem politischen Tabu geworden, das gerne<br />

gemieden wird.<br />

Es ist daher wenig verwunderlich, dass Falardeaus<br />

Octobre- <strong>Pro</strong>jekt, das die Oktobereignisse aus der<br />

Perspektive der FLQ zeigt und zudem einen<br />

separatistischen Diskurs vertritt, auf einen starken<br />

Widerstand seitens der föderalen und quebeckischen<br />

Förderungsorganismen gestoßen ist und mehr als 15<br />

Jahre auf seine Realisierung warten musste- „après tout,<br />

il ne faut pas réveiller le gros méchant monstre surtout<br />

avec l´argent du gouvernement fédéral.“ 30 (Joanisse)<br />

. Pierre Falardeau drückt in seinem Buch „La liberté n´est<br />

pas une marque de yougourt“ seine Frustration aus-<br />

„Non. Oui. Non. Oui. Non. La valse pendant des jours,<br />

des semaines, des mois. Oui. Non. Peut- être. Ça finit<br />

par tomber un peu sur le système“. 31<br />

Wie auch bei vorangehenden <strong>Pro</strong>jekten, in denen<br />

Falardeau seinen „discours identitaire“ gegenüber dem<br />

„discours économique“ den Filmförderungsorganismen<br />

gegenüber hat durchsetzen müssen, kam sein Octobre-<br />

<strong>Pro</strong>jekt „that has the stuff to provoke a debate about<br />

these events that is long overdue“ 32 (Legault) ebenfalls<br />

in einen direkten Interessenskonflikt mit dem<br />

föderalistischen Diskurs der Förderungsorganismen,<br />

allen voran dem von Téléfilm Canada und dem Office<br />

National du Film du Canada (ONF). Hierzu Ray<br />

Conlogue: „ (…) private- sector producers fled. SOGIC,<br />

the arm of the Quebec government which subsidizes<br />

film, refused to contribute a penny. Nobody in Quebec<br />

wanted anything to do with a movie about the FLQ<br />

uprising and the imposition of the War Measures Act.”<br />

33<br />

Mehr als das, es schalteten sich polititsche Akteure ein,<br />

um einen Finanzierungsstopp von Falardeaus Film zu<br />

erreichen. Hier ist die Rede vom liberalen Senator<br />

Philippe Gigantes, der diese Frage sogar vor das<br />

Parlament brachte.


3. a.) Die Affäre Gigantes<br />

« Le sénateur Gigantes part en guerre. Son<br />

cheval de bataille : la censure<br />

cinématographique. Il veut faire interdire le<br />

tournage d´un film sur la Crise d´octobre. » 34<br />

Pierre Falardeau<br />

Der Senator Philippe Deane Gigantes erhielt 1993 auf<br />

mysteriöse Art und Weise Teile des unveröffentlichten<br />

Drehbuchs Falardeaus und startete eine stark<br />

medialisierte Diffamationskampagne gegen<br />

Falardeaus Film- „Gigantes (…) went ballistic and<br />

complained in the media across the country that the<br />

movie (…) portrayed the FLQ as heroes, Laporte as a<br />

Mafia lapdog and Quebec anglos as slave drivers“. 35<br />

Gigantes zeigte sich schockiert darüber, dass die<br />

föderalen Institutionen Téléfilm Canada und der ONF<br />

es in Betracht zogen, einen separatistischen Film über<br />

die Oktoberkrise mit dem Geld kanadischer<br />

Steuerzahler zu fiananzieren: „Il (Falardeau) présente<br />

comme des héros sympathiques, qui pleurent quand<br />

ils lisent des poèmes, les quatre terroristes qui ont enlevé,<br />

séquestré, mutilé et étranglé Pierre Laporte. Pour justifier<br />

ces assassins, M. Falardeau décrit Pierre Laporte<br />

comme étant un vendu à la Mafia même s´il n´y a pas<br />

la moindre preuve ; et décrit M. Bourassa comme « un<br />

mangeur de grain » à génoux devant le fédéral qu´il<br />

veut aider a écraser le Québec.” 36<br />

Der Senator zeigte sich ebenfalls darüber empört, dass<br />

der ONF dem Ex- Terroristen Francis Simard 9000 CAD<br />

gezahlt hat, um die Verfilmungsrechte seines Buchs<br />

über die Oktoberkrise („Pour en finir avec octobre“) zu<br />

erwerben. Seiner Logik folgend war es skandalös, dass<br />

einer der Mörder des ehemaligen Arbeitsministers von<br />

Quebec Pierre Laporte mit seiner Untat noch Geld<br />

verdiente, das zu allem Überfluss vom Steuerzahler<br />

stammte. Rick Gibbons unterstützt Gigantes´ Kritik:<br />

„Seems Canada is not content simply to jail a murderer<br />

for his crimes, it must now provide money to make sure<br />

his story is told in the most sympathetic terms once he is<br />

released“ 37<br />

Doch gerade Gigantes´ Enmischung war<br />

wahrscheinlich dafür verwantwortlich, dass Téléfilm<br />

Canada und der ONF Falardeaus <strong>Pro</strong>jekt letztendlich<br />

finanzierten, denn sehr viele Kritikstimmen gegen eine<br />

politische Druckausübung verurteilten, vor allem in<br />

Quebec, den „Kreuzzug“ Gigantes gegen Falardeau,<br />

so zum Beispiel auch Martine Maltais und Michel<br />

Poulette von La Presse: „ qu´un sénateur fasse<br />

publiquement des pressions pour qu´on empêche le<br />

développement et le financement d´un film est une<br />

forme de censure qui ne leurre personne“. 38<br />

3.b.) Zur Kritik von Octobre in „English- Canada“<br />

« Les succès d´ Octobre font hurler des députés<br />

fédéraux » 39<br />

Le Soleil<br />

Als Falardeaus <strong>Pro</strong>jekt eine Finanzierungszusage<br />

erhalten hat (insgesamt etwa 2,2 Mio. CAD), wurden<br />

krititische Stimmen aus Ottawa besonders laut- man<br />

fragte sich, warum eine föderale Behörde (Téléfilm<br />

Canada) einen Film finanziert, der einen<br />

separatistischen Diskurs vertritt. Falardeaus Film löste<br />

eine öffentliche Debatte zwischen Quebec und dem<br />

Rest Kanadas ob der moralischen und politischen<br />

Implikationen, die die Ermordung Pierre Laportes nach<br />

sich trugen, aus. Der so genannte ROC (Rest of Canada,<br />

also Kanada ohne Quebec) lehnte Falardeaus Film als<br />

Mediale Zeit(en)<br />

Der Fall Octobre (1994)<br />

72<br />

<strong>Pro</strong>pagandafilm vehement ab- „en fait, il est difficile<br />

d´imaginer un film québécois récent qui ait été attaqué<br />

avec plus de haine qu´ Octobre... ” 40 (Privet).<br />

Hier wurde die Argumentationslinie des Senators<br />

Gigantes übernommen. So schreibt etwa The Sun: „ Yes,<br />

out of the tax- funded coffers of the National Film Board<br />

and Telefilm Canada, $ 1,4 million of your money was<br />

donated to help produce a propaganda film so onesided<br />

and so cowardly that the brutal murder of Laporte<br />

is made to appear as though it were an act of mercy”; 41<br />

John Williams denunziert Falardeaus Film als<br />

revisionistischen “film which presents a racist image of<br />

English- speaking Canadians”. 42 Andererseits<br />

denunzierte die anglokanadische Kritik den<br />

separatistischen Diskurs von Falardeaus Octobre, „a<br />

project aimed at heaping scorn, if not outright hate, on<br />

a clearly identifiable group of Canadians- English<br />

Canadians“ 43 (Gibbons). Falardeaus Octobre wird<br />

zudem als “docu- garbage” und als ein dem<br />

fantastischen Einfallsreichtum eines Revolutionärs<br />

entsprungener <strong>Pro</strong>pagandafilm abgetan, der als Ziel<br />

hat, „eine junge und formbare Generation der<br />

Quebecker anhand der Taten einer Mörder- und<br />

Räuberbande (FLQ) zu erziehen“, 44 wobei hier die<br />

Anglophonen als Bösewichte gezeigt werden, während<br />

die FLQ- Leute „come out smelling like roses“ 45 (Pelletier).<br />

Darüberhinaus stellt etwa Shlomo Schwartzberg von<br />

der Montreal Scene die Authentizität und die<br />

Glaubwürdigkeit von Falardeaus Octobre in Frage:<br />

„Almost as amusing as the idiotic Marxist agitprop in<br />

Octobre are the press notes for the film which inform<br />

us, among other tidbits, that Octobre is based on «<br />

respect for the facts and the men » who kidnapped<br />

Laporte.”, 46 während der Toronto Sun das größte<br />

<strong>Pro</strong>blem von Falardeaus Film darin sieht, dass die<br />

Oktoberkrise soweit zurück liegt, dass sie keinem mehr<br />

etwas sagt. 47 Der quebeckische Filmwissenschafter<br />

Georges Privet ist hierbei der Meinung, dass diese<br />

Haltung sehr gut den Abgrund, der English- Canada vom<br />

präreferendären Quebec trennt, veranschaulicht. 48<br />

3.c.) Zur Kritik von Octobre in Quebec<br />

« Depuis que Lord Durham a dit des Québécois<br />

qu´ils étaient un peuple sans histoire, plusieurs<br />

ont fini par le croire. Pas surprenant que lorsque<br />

surviennent des périodes mouvementées, on<br />

préfère les oublier au plus vite ou en laisser<br />

l´interprétation à ce que le cinéaste Pierre<br />

Falardeau considère comme « les fiers-à-bras<br />

du discours officiel » » 49<br />

Normand <strong>Pro</strong>vencher<br />

Die quebeckischen Kritiker und die frankophonen<br />

Medien loben Falardeaus Film in den höchsten Tönen<br />

und tun die kritischen Stimmen aus dem anglophonen<br />

Kanada, die sich nicht die geringste Mühe gegeben<br />

hätten, die Botschaft des Films zu verstehen, 50 als<br />

„critiques dithyrambiques, et souvent fort élitistes, voire<br />

« politically correct »“ 51 (Leblond) ab. So bezeichnet<br />

Karen Ricard Falardeaus Film als „approche unique et<br />

passionnée que même Eisenstein n´aurait pas<br />

reniée…“, 52 während Louise Blanchard vom Journal de<br />

Montréal Falardeaus Spielfilm als „œuvre intimiste et<br />

puissante“ charakterisiert, die „moins une leçon<br />

d´histoire sur le Québec qu´une plongée dans le cœur<br />

des hommes qui en ont écrit une page” 53 sei. Die<br />

Bedeutung des Films sah die quebeckische Kritik<br />

hauptsächlich darin, dass Falardeaus Octobre die<br />

Oktoberkrise entromantisiert, entmystifiziert und mit viel<br />

Luzidität die moralische Debatte um die Frage, „si l´acte<br />

de tuer pour ses idées est injustifiable en soi, les<br />

politiciens, les élus du peuple sont- ils quant à eux justifiés


de sacrifier l´un des leurs (en l´occurence un ministre<br />

du gouvernement) à la soi- nommée raison d´État ?” 54<br />

(Marsolais) behandelt.<br />

Falardeaus Octobre liefert somit, neben Michel Braults<br />

Les Ordres, einen wichtigen Beitrag zur<br />

Vergangenheitsbewältigung- „avant tout Octobre est<br />

un cadran qui vient réveiller un Québec ensommeillé<br />

en ces temps de grande tiédeur en lui mettant le nez<br />

dans son passé, en brassant les consciences” 55<br />

(Tremblay), denn die Tragik von Quebec, dessen<br />

Wahlspruch „Je me souviens“ ist, liegt darin, dass seit 24<br />

Jahren keiner außer ihm und Michel Brault es gewagt<br />

hat, von diesen Ereignissen zu sprechen 56 (Petrowski), die<br />

laut Gilles Marsolais „le sésame, la clef indispensable à<br />

la compréhension du Québec contemporain et de ses<br />

aspirations“ 57 darstellen.<br />

Im Umfeld des Referendums von 1995 beweist Octobre<br />

eindrucksvoll, dass selbst nach 24 Jahren alles, was mit<br />

der Oktoberkrise zu tun hat durch den Filter einer starken<br />

politischen Befangenheit, die den Riss zwischen Quebec<br />

und dem anglophonen Rest of Canada deutlich<br />

veranschaulicht, interpretiert wird. Hierzu zieht der<br />

quebeckische Filmwissenschafter<br />

Georges Privet folgendes Fazit : „ Avec Octobre,<br />

Falardeau offrait aux Canadiens une chance de mieux<br />

comprendre notre histoire. Force est d´admettre<br />

aujourd´hui qu´ils ne comprennent pas plus qu´en 70...” 58<br />

Fußnoten<br />

1 BÉGIN, Pierre- Luc: Québec libre! Entretiens politiques<br />

avec Pierre Falardeau, Éditions du Québécois,<br />

Ste- Foy 2004, S. 100<br />

2 MARSOLAIS, Gilles: Octobre au cinéma. La<br />

mouvance révélatrice d´une démocratie en péril in<br />

24 Images (93/94), Montreal 1998, S. 20<br />

3 GRC steht für „Gendarmerie Royale du Canada“/<br />

engl.: RCMP („ Royal Canadian Mounted Police“); die<br />

GRC oder die RCMP ist der kanadische Geheimdienst,<br />

vergleichbar mit dem US- amerikanischen FBI.<br />

4 LEROUX, Mannon: Les silences d´octobre. Le discours<br />

des acteurs de la Crise de 1970, vlb éditeur, Montreal<br />

2004, S. 139<br />

5 so wurde von der quebeckischen Regierung die<br />

Unwahrheit verbreitet, dass Laporte von der FLQ<br />

gefoltert wurde und dass dieser an den Folgen dieser<br />

Misshandlungen gestorben sei, um die Bevölkerung<br />

gegen die FLQ aufzuwiegeln. Ferner wurde die FLQ<br />

zwischen 1971-72 von der Antiterroreinheit der<br />

Montrealer Polizei künstlich am Leben erhalten. Davon<br />

wusste die Öffentlichkeit nichts und man konnte, allein<br />

von der Anzahl der in dieser Zeit veröffentlichten FLQ-<br />

Communiqués ausgehend, annehmen, dass die FLQ<br />

noch eine ernstzunehmende Bedrohung darstellte:<br />

vgl.: ibid., S. 138<br />

6 vgl. : BISSON, Bruno: Est- il possible de vraiment en<br />

finir avec Octobre ? in La Presse, Montreal, 08.10.1994<br />

7 ibid.<br />

8 vgl. : STONE, Jay : Changing Octobre History in The<br />

Citizen, Ottawa, 04.Oktober 1994<br />

9 Pierre FALARDEAU in Mireille LA FRANCE, op.cit., S.<br />

192<br />

10 vgl. : Gilles MARSOLAIS, Octobre au cinéma., op.cit.<br />

Mediale Zeit(en)<br />

Der Fall Octobre (1994)<br />

73<br />

11 Pierre FALARDEAU, La liberté n´est pas une marque<br />

de yougourt, Stanké, Montreal 2002, S. 146<br />

12 PRIVET, Georges: Octobre. Le parti prix in Voir,<br />

Montreal, 09. Dezember 1993<br />

13 Christian POIRIER, Le cinéma québécois. À la<br />

recherche d´une identité ?, op.cit., S. 213<br />

14 Pierre FALARDEAU in Mireille LA FRANCE, op.cit., S.<br />

193<br />

15 PETROWSKI, Nathalie: Octobre, prise 2 in La Presse,<br />

14. März 1993<br />

16 BLANCHARD, Louise: Octobre. Une œuvre intimiste<br />

et puissante in Le Journal de Montréal, Montreal,<br />

1.10.1994<br />

17 vgl. : BORDWELL, David et al. : The Classical<br />

Hollywood Cinema, Columbia University Press, New<br />

York 1985<br />

18 vgl. : FIELD, Syd : The foundations of screenwriting,<br />

Dell, New York 1994<br />

19 sc. Rassemblement pour l´Indépendence Nationale<br />

(quebeckische sepratistische Bewegung )<br />

20 GORDON, William: Les anglais. New film on the FLQ<br />

crisis conveys a heinous message in The Gazette,<br />

Montreal, 04.10.1994<br />

21 vgl.: PRIVET, Georges: Octobre. Le parti prix in Voir,<br />

Montreal, 09. Dezember 1993<br />

22 WHITE, Jerry : Cinema of Pierre Falardeau and<br />

Michel Brault, the FLQ and the Patriotes in Québec<br />

Studies, Volume 37, Spring/ Summer 2004<br />

23 Gilles MARSOLAIS : Octobre au cinéma, op.cit.<br />

24 PETROWSKI, Nathalie : Octobre in La Presse,<br />

Montreal, 29.09.1994<br />

25 RICARD, Karen: Octobre pour mémoire in Lectures<br />

(2/ 2), Montreal, Oktober 1994<br />

26 Anspielung auf die Affäre Gigantes. Dazu siehe<br />

weiter unten.<br />

27 NUOVO, Franco : Octobre, le film in Le Journal de<br />

Montréal, Montreal, 29.09.1994<br />

28 PERRAULT, Luc : Fallait- il tuer Pierre Laporte ? in La<br />

Presse, Montreal, 11.12.1993<br />

29 siehe Pierre FALARDEAUS La liberté n´est pas une<br />

marque de yougourt, op.cit.<br />

30 JOANISSE, Marc André: On a parlé d´Octobre in Le<br />

Droit, Ottawa-Hull, 8.10.1994<br />

31 Pierre FALARDEAU, La liberté n´est pas une marque<br />

de yougourt, op.cit., S. 149<br />

32 LEGAULT, Josée : New film on October Crisis brings<br />

back memories in The Gazette, Montreal, 30.09.1994<br />

33 CONLOGUE, Ray : Suspended in a political vacuum<br />

in The Globe and Mail, Toronto, 28.09.1994


34 Pierre FALARDEAUS La liberté n´est pas une marque<br />

de yougourt, op.cit., S. 154<br />

35 ALIOFF, Maurie : October then and now in The<br />

Mirror, Montreal, 29.09.1994<br />

36 GIGANTES, Philipp Deane: “Octobre”: de la<br />

littérature haineuse ! in La Presse, Montreal,<br />

10.04.1993<br />

37 GIBBONS, Rick : Paying to rewrite history in The<br />

Ottawa Sun, Ottawa, 06.12.1994<br />

38 MALTAIS, Martine und Michel POULETTE : Censure<br />

inadmissible in La Presse, Montreal, 19.03.1993<br />

39 PARSONS, Vic : Les succès d´ « Octobre » font hurler<br />

des députés fédéreaux in Le Soleil, Quebec,<br />

12.06.1995<br />

40 PRIVET, Georges: Octobre chez les anglos. Papiers<br />

glacés in Voir, Quebec, 12.01.1994<br />

41 Octobre in The Ottawa Sun, Ottawa, 10.05.1994<br />

42 vgl. : WHEELAND, Peter : Laporte´s last days in The<br />

Hour, Montreal, 29.09.1994<br />

43 GIBBONS, Rick : Paying to rewrite history in The<br />

Ottawa Sun, Ottawa, 06.10.1994<br />

44 vgl. Ibid.<br />

45 PELLETIER, Francine: A crying game in The Gazette,<br />

Montreal, 10.04.1994<br />

46 SCHWARTZBERG, Shlomo : A touch of Class in The<br />

Montreal Scene, Montreal, 05.10.1994<br />

Mediale Zeit(en)<br />

47 vgl. : PRIVET, Georges: Octobre chez les anglos.<br />

Papiers glacés in Voir, Quebec, 12.01.1994<br />

48 vgl. : ibid.<br />

49 PROVENCHER, Normand : « Octobre » de Pierre<br />

Falardeau. Un coup de poing aux tripes in Le Soleil,<br />

Quebec 1.10.1994<br />

50 vgl. : PRIVET, Georges: Octobre chez les anglos.<br />

Papiers glacés in Voir, Quebec, 12.01.1994<br />

51 LEBLOND, Laurent : « Octobre » : La vérité humaine<br />

toute crue in Le Rimouskois, Rimouski, 04.10.1994<br />

52 RICARD, Karen: Octobre pour mémoire in Lectures (2/<br />

2), Montreal, Oktober 1994<br />

53 BLANCHARD, Louise: Octobre. Une œuvre intimiste et<br />

puissante in Le Journal de Montréal, Montreal, 1.10.1994<br />

54 MARSOLAIS, Gilles: Octobre au cinéma. La mouvance<br />

révélatrice d´une démocratie en péril in 24 Images (93/<br />

94), Montreal 1998, S. 20<br />

55 TREMBLAY, Odile: Comme une bombe à retardement<br />

in Le Devoir, Montreal, 01.10.1994<br />

56 vgl. : PETROWSKI, Nathalie: Octobre, prise 2 in La<br />

Presse, 14. März 1993<br />

57 MARSOLAIS, Gilles: Octobre au cinéma. La mouvance<br />

révélatrice d´une démocratie en péril in 24 Images (93/<br />

94), Montreal 1998, S. 20<br />

58 PRIVET, Georges: Octobre chez les anglos. Papiers<br />

glacés in Voir, Quebec, 12.01.1994<br />

Mag. Petre Puskasu, geb. am 22. September 1982 in Kischinau (Rep. Moldau), studierte Romanistik und Keltologie an der<br />

Universität Wien. Seine Diplomarbeit handelt “Vom Filmen Québecs und Irlands. Auf Identitätssuche im Kino”. Derzeit<br />

absolviert er den Studiengang für Digitalfilm und 3 D Animation am SAE College in Wien.<br />

Der Fall Octobre (1994)<br />

74


Niku Dorostkar, Alexander Preisinger<br />

Zeitungsforen und Forenzeit1 Aspekte des Sprachwandels unter Zeitdruck<br />

1. KULTUR-, MEDIEN- UND SPRACHWANDEL IN DER <strong>ZEIT</strong><br />

UND DURCH DIE <strong>ZEIT</strong><br />

Objektive wie subjektive Beschleunigung ist zweifelsohne<br />

eines der zentralen Charakteristika der Moderne (vgl.<br />

Rosa 2005: 199–213): Die Erfindung der mechanischen<br />

Uhr, der Eisenbahn, des Flugzeuges und des Computers<br />

– sie alle laufen letztlich auf eine Steigerung der<br />

Lebensgeschwindigkeit und die „Entbettung“ (Giddens<br />

1996: 33–42) von Zeit und Raum hinaus. Wo zuvor Tag,<br />

Nacht und Jahreszeiten den Arbeits- und Lebensrhythmus<br />

bestimmen, treten während des <strong>Pro</strong>to- und<br />

Industriekapitalismus (17./18. Jh.) sukzessive<br />

Betriebssirenen und Arbeitsschichten als neue<br />

Organisationssignale des Alltags auf. Der sich<br />

entwickelnde Kapitalismus führt zu einer Zeitökonomie,<br />

die die Subjekte als Sozialdisziplinierung erfahren. Diesem<br />

„totale[n] Zeit- und Raumregime des aufkommenden<br />

Industriekapitalismus“ (Kaschuba 2004: 63) durch<br />

Arbeitstakt, Liefertermine und Fließbänder erzeugt soziale<br />

Spannungen und Widerstände und bringt gleichzeitig<br />

neue Vorstellungswelten hervor: Fahrpläne verketten<br />

Raum und Zeit, die Kartographie ermöglicht die<br />

Nationalisierung des Raums und der Tourismus entsteht,<br />

samt den für ihn so typischen Ausdrucksformen wie<br />

Reisebericht oder klassischer Bildungsreise.<br />

Kulminationspunkt der Beschleunigung ist die Stadt: Die<br />

stark wachsenden Großstädte, etwa Paris, London oder<br />

Berlin, werden um 1900 zum Brennpunkt der Moderne.<br />

Ober- und unterirdische Straßen, Massenverkehrsmittel,<br />

Wasser-, Strom- und Gasleitungen, Massenkonsum,<br />

Arbeitsteilung und eben die Steigerung der<br />

lebensweltlichen Dynamik führt zu einem großstädtischen<br />

Lebensstil, wie er etwa von Walter Benjamin im<br />

Passagenwerk oder Georg Simmel beschrieben wird: „So<br />

ist die Technik des großstädtischen Lebens überhaupt<br />

nicht denkbar, ohne dass alle Thätigkeiten und<br />

Wechselbeziehungen aufs pünktlichste in ein festes,<br />

übersubjektives Zeitschema eingeordnet würden.“<br />

(Simmel 2006: 17) Die großstädtische Atmosphäre führt<br />

zu der „Steigerung des Nervenlebens“ (Simmel 2006: 9)<br />

aufgrund der hohen Dichte an wahrnehmbaren<br />

Veränderungsprozessen.<br />

Unter vielen unterschiedlichen Einflussfaktoren gilt vor<br />

allem die auf ständiges Wachstum ausgerichtete<br />

Ökonomie als einer der Hauptmotoren. Nicht die Zeit,<br />

sondern ihr Fehlen (Hochschild 2006; Löpfe/ Vontobel<br />

2008) wird von den postmodernen Subjekten im Rahmen<br />

einer Ökonomisierung des Lebens unmittelbar<br />

wahrgenommen. „Wir schlafen nicht“ heißt der<br />

programmatische Titel eines fiktiven Interviews von<br />

Kathrin Röggla (Röggla 2004), in dem Manager mit<br />

Wochenarbeitszeiten jenseits der 50 Stunden vorgeführt<br />

werden.<br />

Der technische Fortschritt stellt nicht nur objektive<br />

Zeitmessungssysteme bereit, sondern transformiert durch<br />

diese die subjektive Lebenswirklichkeit selbst durch einen<br />

„osmotische[n] Aneignungsvorgang zwischen<br />

unterschiedlichen Wissenskulturen, Lebenswelten und<br />

Alltagen“ (Kaschuba 2004: 23). Als Beispiel für einen<br />

solchen Wandel individuellen Verhaltens und Handelns<br />

vor dem Hintergrund einer technischen Entwicklung<br />

wollen wir im Folgenden Zeitungsforen im Internet und<br />

deren spezifischer zeitökonomischer Sprachverwendung<br />

untersuchen.<br />

Mediale Zeit(en)<br />

Zeitungsforen und Forenzeit<br />

75<br />

Die Wahl von Sprache als Untersuchungsgegenstand<br />

erfolgt hierbei nicht zufällig, denn Sprache hat eine<br />

herausragende Bedeutung nicht nur für die Menschheit,<br />

sondern auch für das Menschsein: „Eine Sprache<br />

vorstellen, heißt, sich eine Lebensform vorstellen“, wie<br />

Wittgenstein es formulierte. Wenn sich die<br />

Beschleunigung der Moderne verändernd auf die<br />

Sprache auswirkt, müsste dies daher gleichzeitig<br />

bedeutsame Veränderungen in sämtlichen<br />

Lebensbereichen mit sich bringen, sprich: eine<br />

Veränderung der menschlichen „Lebensform“. Diese<br />

Verschränkung von Sprache, Medien, Mentalität und<br />

Kultur hat Giesecke (1998: 13) in folgendem simplen<br />

Statement auf den Punkt gebracht: „Medienwandel,<br />

Sinnenwandel, Kulturwandel und schließlich auch<br />

Sprachwandel gehen Hand in Hand.“ In diesem Sinne<br />

folgen wir Brachmann (2007: 45) in ihrer Einschätzung,<br />

dass Sprachwandel mit Medienwandel einhergeht, und<br />

dass die unsere Epoche dominierenden neuen Medien<br />

einen bedeutsamen Einfluss auf aktuelle<br />

Sprachveränderungsprozesse haben. Gerade das<br />

Internet wird von vielen Autoren als besonders<br />

gesellschaftsverändernd eingestuft, manche stellen gar<br />

den Vergleiche mit der Erfindung des Buchdrucks an<br />

(vgl. Jucker 2004; für eine Zusammenfassung von<br />

Forschungsbeiträgen zur transformierenden Kraft des<br />

Internets siehe Gleich 2002).<br />

Unsere Überlegungen gehen dahin, dass Internetforen<br />

als asynchrone und damit langsamere Mittel der<br />

Kommunikation sprachlich anders realisiert werden als<br />

die kurzlebigen Chats. Diese Unterschiede liegen u.a.<br />

im zeitlichen Aspekt der <strong>Pro</strong>duktionsbedingungen<br />

begründet. Um diese Überlegungen auszuführen, wollen<br />

wir im folgenden Abschnitt das sprachliche<br />

Ökonomieprinzip am Beispiel der Internetkommunikation<br />

erläutern, und im anschließenden 3. Kapitel wird eine<br />

allgemeine Charakterisierung von Foren- und Chat-<br />

Kommunikation vorgenommen. Im 4. Kapitel nehmen<br />

wir schließlich sprachliche Phänomene von Foren- und<br />

Chat-Kommunikation unter dem Aspekt des Zeitdrucks<br />

unter die Lupe, wobei wir anhand einer teilweise<br />

computergestützten Auswertung und Analyse einer<br />

derstandard.at-Forendiskussion auf Unterschiede dieser<br />

beiden Internetkommunikationsformen eingehen. Zuletzt<br />

erfolgt ein zusammenfassendes Resümee mit<br />

Schlussfolgerungen und Desiderata.<br />

2. SPRACHWANDEL DURCH <strong>ZEIT</strong>DRUCK: DAS<br />

ÖKONOMIEPRINZIP AM BEISPIEL DER<br />

INTERNETKOMMUNIKATION<br />

Für den Zusammenhang von Sprache unter Zeitdruck ist<br />

das Internet besonders ergiebig (vgl. Borscheid 2004:<br />

345–378). Erstens lässt sich das Internet als Ort<br />

verdichteter Kommunikation in unterschiedlichen<br />

Realisierungsformen (MUDs, Chats, MMORPG, eMail,<br />

Foren…) verstehen. Crystal schreibt dazu pointiert: „And<br />

as the Internet comes increasingly to be viewed from<br />

social perspective, so the role of language becomes<br />

central. […] If the Internet is a revolution, therefore, it is<br />

likely to be a linguistic revolution” (Crystal 2001: viii).<br />

Gerade der hohe Einfluss des Internets auf die Sprache<br />

ruft vermehrt Kulturkritiker, wenn nicht gar -pessimisten<br />

(als Paradebeispiel vgl. Schreiber 2006 oder Zimmer<br />

1997) auf den Plan, die, wie Peter Schlobinski (2000)<br />

schreibt, einen „Mythos vom unverständlichen<br />

Kauderwelsch“ samt Sprachverfall konstatieren.<br />

Auffassungen von Sprache, wie sie etwa Bastian Sick


(„Der Genetiv ist dem Dativ sein Tod“) in seinen<br />

Zwiebelfisch-Kolumnen 2 vertritt (vgl. Sick 2004), sind<br />

jedoch sehr konservativ und scheinen Sprache als ein<br />

normatives und nicht veränderbares System aufzufassen.<br />

Zweitens ist das Internet der zentrale Ort, an dem<br />

Beschleunigungsprozesse erfahrbar werden: Sämtliche<br />

Online-Kommunikationswege basieren auf unmittelbarer<br />

Informationsübertragung und ermöglichen bzw.<br />

erfordern sogar eine unmittelbare Reaktion des<br />

Gesprächspartners. Je nach Kommunikationssituation<br />

und -medium bilden sich besondere sprachliche Formen<br />

heraus, die beispielsweise auf einer Vermischung von<br />

Symbolsprache und Alphabet beruhen, und die es<br />

ermöglichen rasch zu antworten. Die Unmittelbarkeit der<br />

Online-Kommunikation drückt sich in der sogenannten<br />

Written Speech aus, also einer Mischform von<br />

mündlicher und schriftlicher Kommunikation. Die<br />

Interaktivität des virtuellen Raumes führt zur Verdichtung<br />

der Zeit durch eine Steigerung der Sinneseindrücke, ganz<br />

im Simmelschen Sinne. Jeder User kennt das Gefühl,<br />

objektiv sehr viel Zeit vor dem Internet verbraucht zu<br />

haben, die man subjektiv jedoch als kurz erfahren hat.<br />

Skeptiker haben bisher schon immer in der<br />

Einführungsphase und beim Populärwerden neuer<br />

Medien vor der Anwendung dieser Medien ob ihrer<br />

Gefährlichkeit gewarnt (vgl. zur Diskursgeschichte von<br />

Kind und Fernsehen in den 70er Jahren: Schneider 2004:<br />

217–230). Dass das Internet - wie oben skizziert -<br />

hinsichtlich seines schlechten Einflusses auf die Sprache<br />

verdammt wird, stellt ja nur ein Aspekt unter vielen dar,<br />

den wir an dieser Stelle aber näher beleuchten wollen.<br />

Zunächst muss man hierzu festhalten, dass<br />

Sprachwandel auch ohne das Internet stattfindet, schon<br />

immer stattgefunden hat und auch weiterhin stattfinden<br />

wird. Die Gültigkeit der Hypothese, dass alle natürlichen,<br />

gesprochenen Sprachen dem Sprachwandel<br />

unterworfen sind, ist ungeachtet ihrer schwierigen<br />

Beweisbarkeit heutzutage allgemein anerkannt.<br />

Sprachwandelsprozesse sind in zahlreichen Sprachen<br />

auf allen linguistischen Ebenen (Phonologie,<br />

Morphologie, Syntax, Pragmatik) gut dokumentiert,<br />

zudem konservieren im Fall von Schriftsprachen<br />

graphische Systeme ältere Sprachzustände, was<br />

beispielsweise im Französischen und Englischen<br />

besonders gut nachvollziehbar ist. Über die Gründe des<br />

Sprachwandels gibt es jedoch keine Einigkeit, sondern<br />

stark divergierende Ansichten und eine lange<br />

wissenschaftliche Debatte.<br />

Wir gehen davon aus, dass sich Sprache durch und im<br />

Gebrauch ändert und damit auf der Perfomanzebene<br />

angesiedelt ist, und nicht auf der Kompetenzebene<br />

(letzteres wird beispielsweise von Chomsky postuliert). Die<br />

neuen Medien, die eine Beschleunigung der<br />

Informationsprozesse erwirken, bringen neue Formen des<br />

Sprachgebrauchs mit sich, der sich beispielsweise in der<br />

Verwendung neuer Register, Anglizismen und<br />

Mischformen aus Sprechen und Schreiben<br />

niederschlagen. Diese Veränderungen auf der<br />

Perfomanzebene machen wiederum Anpassungen auf<br />

der Kompetenzseite notwendig. Näher zu untersuchen<br />

wäre in diesem Zusammenhang, inwieweit der medienund<br />

situationsspezifische Gebrauch von Sprache sich auf<br />

andere Medien und Situationen ausbreitet, inwieweit<br />

also z.B. Chat-spezifische Sprachformen außerhalb des<br />

Chats und des Internets im alltäglichen Sprachgebrauch<br />

Verwendung finden. Crystal (2001: 21) stellt solche<br />

Ausbreitungen vor allem auf lexikalischer Ebene, mit<br />

graphischen Einflüssen in geschriebener Sprache, fest<br />

und gibt für das Englische u.a. folgende Beispiele:<br />

Mediale Zeit(en)<br />

Zeitungsforen und Forenzeit<br />

76<br />

I need more bandwith to handle this problem<br />

(i.e. I can’t take it all in at once).<br />

Are you wired (i.e. ready to handle this).<br />

I got a pile of spam in the post today (i.e. junkmail).<br />

He’s living in hypertext (i.e. he’s got a lot to<br />

hide).<br />

Während es sich beim Ausdruck Spam um eine<br />

Bedeutungserweiterung handelt, stellen die anderen<br />

Beispiele neue idiomatische Redewendungen dar, deren<br />

Gebrauch in der Alltagssprache wohl dazu dient, so<br />

etwas wie Coolness auszudrücken. Diese<br />

Redewendungen werden zweifelsohne nicht von allen<br />

verstanden, jedoch könnte die nächste Generation von<br />

Englisch-Sprechern bereits über eine veränderte<br />

Kompetenz verfügen, die diese Idiome zu allgemein<br />

verständlichen und frequenten Äußerungen werden lässt.<br />

Nachdem die Beschleunigung von Informationsprozessen<br />

ein Phänomen der Moderne ist, kann sie nicht<br />

als universale Erklärung für Sprachwandel herangezogen<br />

werden - schließlich hat Sprachwandel ja schon vor der<br />

Moderne stattgefunden. Das Bedürfnis, zeitsparend zu<br />

kommunizieren, ist jedoch nicht nur eine Eigenschaft des<br />

modernen Sprachbenutzers, wenn man dem Konzept der<br />

Sprachökonomie folgt, das für unsere weiteren<br />

Überlegungen eine zentrale Rolle spielen wird. Dieses<br />

Konzept besagt nämlich, dass Sprachbenutzer danach<br />

trachten, mit möglichst geringem Aufwand möglichst<br />

große kommunikative Effekte zu erzielen. Zu diesem<br />

Aufwand zählt neben dem Energieaufwand und dem<br />

Artikulationsaufwand eben auch der Zeitaufwand.<br />

Hierbei muss man allerdings festhalten, dass Ökonomie<br />

nicht mit (zeitlicher) Kürze verwechselt werden darf:<br />

„Ökonomisch Handeln bedeutet gerade nicht<br />

Verzichten, sondern die vorhandenen Kräfte so<br />

einzuteilen, daß man möglichst wenig davon braucht,<br />

um sein Ziel zu erreichen – in der Sprache der Wirtschaft<br />

ausgedrückt: Rationalisieren“ (Ronneberger-Sibold 1980:<br />

239). Kürze allein (bzw. der Verzicht auf Länge) macht<br />

eine Äußerung noch nicht ökonomisch, nämlich v.a.<br />

dann nicht, wenn sie aufgrund ihrer Kürze ihren Zweck<br />

beim Hörer verfehlt. Letzteres ist nicht nur dann der Fall,<br />

wenn eine Äußerung nicht oder falsch verstanden wird,<br />

sondern auch dann, wenn ich beispielsweise cool wirken<br />

will und dies nicht erreiche. In wirtschaftlicher Metaphorik<br />

würde dies bedeuten, dass das sprachliche<br />

Ökonomieprinzip nicht Kosten-orientiert, sondern Kostenund-Nutzen-orientiert<br />

ist. Daher müssen neben den<br />

Kosten bzw. dem Aufwand (zeitlich, motorisch, kognitiv<br />

etc.) auch der Nutzen berücksichtigt werden, der sich in<br />

so unterschiedlichen Kategorien wie überzeugend,<br />

beeindruckend, lustig, unterhaltsam, informativ etc.<br />

niederschlagen kann.<br />

Der Nutzenaspekt ist letztlich auch dafür verantwortlich,<br />

dass der Sprachwandel nicht dazu führte, dass<br />

sprachliche Äußerungen immer kürzer bzw. weniger<br />

kostenintensiv werden. Gleichzeitig lässt sich darüber<br />

streiten, ob bzw. in welchem Sinne Sprachen im Laufe<br />

der Zeit immer ökonomischer werden.<br />

Das bisher Gesagte lässt sich gut anhand des obigen<br />

Beispiels von Crystal illustrieren. Der Ausdruck Spam ist<br />

sowohl im Englischen als auch im Deutschen ein Fall von<br />

Sprachwandel: Ursprünglich bezeichnete dieser Begriff<br />

im Englischen eine Marke für Dosenfleisch, das in Amerika<br />

praktisch überall erhältlich (und von Soldaten nicht<br />

besonders geschätzt) war. Ein Sketch aus der englischen<br />

Comedy-Serie Monty Python’s Flying Circus, in dem der<br />

Ausdruck übertrieben oft auf einer Speisekarte eines<br />

Cafés vorkam, förderte die Bedeutung des Ausdrucks als<br />

etwas Massenhaftes und Unerwünschtes. Schließlich fand<br />

das Wort im Internet Verwendung, indem in MUDs (Multi-


User-Dungeons), also in einer Chat-ähnlichen, virtuellen<br />

Umgebung, das Wort SPAM zig mal hintereinander<br />

gepostet wurde, um anderen den Raum für ihre Chat-<br />

Nachrichten zu stehlen 3 . Crystals Beispielsatz („I got a pile<br />

of spam in the post today“) bezieht sich auf eine weitere<br />

Bedeutungserweiterung, die dazu führt, dass man mit<br />

Spam nicht nur unerwünschte, massenhaft versendete<br />

Emails, sondern auch nicht-elektronische Post<br />

bezeichnen kann. Spam ist als Lehnwort auch im<br />

Deutschen gebräuchlich und insofern interessant, als dass<br />

es kein eigentliches deutsches Synonym dafür gibt wie<br />

im Englischen „junk-email“. Während es im Englischen<br />

offensichtlich ökonomischer ist Spam statt „junk-email“<br />

zu sagen, trifft dies auf das Deutsche daher in besonderer<br />

Weise zu, da Spam umständlich umschrieben werden<br />

müsste, könnte man den Ausdruck nicht auch im<br />

Deutschen verwenden. Dieser Fall von Sprachwandel<br />

lässt sich daher mit dem Ökonomieprinzip gut erklären:<br />

Indem im Englischen statt „junk-email“ Spam geäußert<br />

wird bzw. im Deutschen statt einer Umschreibung wie<br />

„unerwünschtes, massenhaft versendetes Email“, wird bei<br />

wesentlich geringeren Kosten ein mindestens gleich<br />

großer Nutzen erzielt.<br />

3. ASYNCHRONE UND SYNCHRONE INTERNET-<br />

KOMMUNIKATION: (<strong>ZEIT</strong>UNGS-)FOREN UND CHATS<br />

Im Unterschied zu Email- und Chat-Kommunikation<br />

existieren kaum Studien zum Sprachgebrauch in<br />

Internetdiskussionsforen, insbesondere Untersuchungen<br />

zu Online-Zeitungsforen wurden unseres Wissens bisher<br />

nicht durchgeführt. Crystals nicht unumstrittene<br />

Monographie mit dem Titel „Language and the Internet“<br />

(2001 bzw. 2006) berücksichtigt Forenkommunikation<br />

insofern, als dass diese unter Crystals Kategorie der<br />

asynchronen Chat-Gruppe fallen würde, die er in seiner<br />

Beschreibung von der synchronen Chat-Gruppe<br />

unterscheidet. Dieser Unterscheidung liegt der Zeitfaktor<br />

zugrunde: In synchronen Chats wird in Echtzeit, also<br />

gleichzeitig kommuniziert, in Foren hingegen<br />

zeitverzögert 4 . Dass Chat-Kommunikation tatsächlich<br />

synchron verläuft ist allerdings nicht unumstritten: So<br />

weisen Bittner (2003: 196) und Dürscheid (2004: 151)<br />

darauf hin, dass Chat-Beiträge nicht während ihres<br />

Entstehens, sondern erst danach (nach Absenden des<br />

Beitrags) angezeigt werden, womit Chat-Kommunikation<br />

anders als Face-to-Face-Gespräche streng genommen<br />

nicht in Echtzeit stattfindet. Nachdem der wechselseitige<br />

Austausch dennoch wesentlich schneller vonstatten geht<br />

als beispielsweise in der Emailkommunikation, kann man<br />

bei herkömmlichen Chats zumindest von quasisynchroner<br />

Kommunikation sprechen. Es existieren aber<br />

auch schon Technologien für tatsächlich synchronen<br />

Chat, bei dem die Teilnehmer einander beim Entstehen<br />

der Chat-Beiträge (samt Korrekturen, Löschungen etc.),<br />

in Echtzeit, zusehen können (dieser sog. Online-Chat wird<br />

beispielsweise vom <strong>Pro</strong>gramm ICQ unterstützt; vgl.<br />

Dürscheid ebd.). Im Folgenden sollen nun die<br />

Unterschiede zwischen Chats und Foren anhand<br />

bisheriger Forschungsarbeiten unter die Lupe genommen<br />

werden, wobei der Zeitaspekt und die Spezifika von<br />

Online-Zeitungsforen nicht unberücksichtigt bleiben<br />

sollen.<br />

3.1. Asynchrone Internetkommunikation: Foren<br />

Zunächst zu den allgemeinen Charakteristika von<br />

Internetforen nach Crystal (2006): Eine Forendiskussion<br />

erfolgt innerhalb eines Threads zu einem bestimmten<br />

Thema und kann von einem Moderator geleitet werden,<br />

muss es aber nicht. Dieser kann über so genannte<br />

Moderatorenrechte Nachrichten bzw. Postings löschen,<br />

verändern (editieren), in andere Threads verschieben<br />

etc. Zumeist wird in Foren auf das Recht der freien<br />

Meinungsäußerung verwiesen (so beispielsweise auch<br />

Mediale Zeit(en)<br />

Zeitungsforen und Forenzeit<br />

77<br />

auf derstandard.at 5 ), deren Missbrauch wird aber meist<br />

ebenso explizit nicht gewünscht und geahndet. Die<br />

häufige kritische Thematisierung von Zensuren durch User<br />

in einzelnen Zeitungsforenpostings legt nahe, dass<br />

Zensuren eine besondere Rolle in der<br />

Forenkommunikation spielen, die eine nähere<br />

Untersuchung verdienen würden, hier jedoch nicht<br />

näher behandelt werden kann. Foren erlauben weiters<br />

verschiedene Grade von Anonymität: In manchen Foren<br />

ist die Angabe des echten Namens obligatorisch,<br />

zumeist werden aber so genannte Nicks verwendet (so<br />

auch bei den von uns untersuchten Foren). Diese haben<br />

vor allem bei Chats eine besondere soziopsychologische<br />

Bedeutung: Sie ermöglichen u.a. die<br />

Festlegung eine Online-Identität und übernehmen<br />

selbstdarstellerische Funktionen. Die Nicks in<br />

Zeitungsforen geben dabei möglicherweise weniger<br />

personenbezogene Informationen wie Geschlecht,<br />

Alter, Beruf etc. preis, sondern stehen vielmehr für<br />

individuelle Weltanschauungen, Ideologien und die im<br />

Forum vertretenen Ansichten und praktizierten<br />

Diskursstrategien – eine Hypothese, die noch überprüft<br />

werden müsste.<br />

Für Crystal (2006: 139) besteht eines der wichtigsten<br />

Merkmale der Forenkommunikation darin, dass in Foren<br />

relativ kurze Nachrichten gepostet werden, die<br />

potenziell auf zahlreiche Antworten von anderen Usern<br />

treffen: „It is a medium which is designed to provoke<br />

and accept short messages and multiple reactions.“<br />

Dass die Antworten nur potentiell zahlreich erfolgen,<br />

deutet auf ein weiteres Kennzeichen von<br />

Forenkommunikation hin: Anders als bei Emails ist eine<br />

Reaktion auf mein Posting nicht zwingend, und ich sollte<br />

als erfahrener Poster auch keine Antwort auf meine<br />

Nachricht erwarten (übrigens ebenso wenig wie<br />

Begrüßungs- und Abschiedsformeln). In unserem Sample<br />

eines Diskussionsthreads auf derstandard.at (siehe<br />

Kapitel 4) waren von 517 Beiträgen 158 Antworten - dies<br />

deutet schon darauf hin, dass bei weitem nicht auf alle<br />

Beiträge reagiert wird. Die angesprochene Kürze der<br />

Nachrichten ergibt sich hierbei nicht nur aufgrund<br />

pragmalinguistischer Aspekte wie der begrenzten Zeit<br />

der Forenuser, sondern auch aufgrund von technisch<br />

vorgegebenen Platzbeschränkungen in Form von<br />

Zeichenlimits. Dieser Druck, kurze Nachrichten zu<br />

produzieren, zieht wiederum eine spezielle Sprachform<br />

nach sich, die sich den medienspezifischen<br />

Gegebenheiten anpasst (aber auch den<br />

forenspezifischen Ingroup-Konventionen, siehe unten).<br />

Charakteristisch ist ebenso, dass sich eine Forendiskussion<br />

über eine potentiell undefinierbar lange Zeitspanne<br />

ausdehnen und daher mehrere Jahre dauern kann. Dies<br />

hat zur Folge, dass ein User beispielsweise im Juni 2008<br />

im gleichen Diskussionsthread ein Posting von einem<br />

anderen User aus dem Jahr 2006 zitieren kann, womit<br />

Foren gewissermaßen den perfekten Gegenpol zur<br />

Flüchtigkeit gesprochener Dialoge darstellen. In Hinblick<br />

auf Zeitungsforen relativiert sich dieses Bild allerdings:<br />

Diskussionen beispielsweise zu einem Artikel der Online-<br />

Zeitungen erstrecken sich meist höchstens über einige<br />

Tage und stellen sich vollständig ein, sobald der Artikel<br />

an Aktualität einbüßt und daher auch von der am<br />

meisten besuchten Titel- bzw. Startseite der Online-<br />

Zeitung verschwindet. Zudem werden beispielsweise auf<br />

derstandard.at sämtliche Artikel (zumeist Online-<br />

Versionen der Printartikel) 30 Tage nach ihrem Erscheinen<br />

in das kostenpflichtige Archiv verschoben und die<br />

dazugehörigen Postings gelöscht, wie ein Blick in die<br />

Demoversion des Online-Archivs 6 zeigt. Ebenfalls<br />

charakteristisch ist die nicht-lineare, komplexe und für<br />

die Leser oftmals schwer zu rekonstruierende Struktur der<br />

Nachrichtenabfolge in Forendiskussionen. Zwar werden<br />

die Postings in der Reihe ihres Empfangszeitpunktes am<br />

Server gespeichert, und aktuelle Nachrichten finden sich


in der Regel weiter oben als ältere Nachrichten, jedoch<br />

werden die eingelangten Postings grafisch nicht in<br />

zeitlich-linearer Struktur dargestellt. Dies ist dem Umstand<br />

geschuldet, dass Postings entweder als Antwort auf ein<br />

anderes User-Posting verfasst werden können, oder als<br />

eigenständige Nachricht (letztere bezieht sich im Fall von<br />

Zeitungsforen auf den Online-Zeitungsartikel, ansonsten<br />

auf das Diskussionsthema). Eine solche Antwort wird in<br />

räumlicher Nähe zu dem Posting platziert, auf das es sich<br />

bezieht, um das Lesen zu erleichtern - was eben eine<br />

nicht-lineare Struktur nach sich zieht, die bei mehreren<br />

Antworten entsprechend komplex werden kann. Crystal<br />

(2006: 142; 150) liefert auch einige Zahlen zur<br />

Forenkommunikation, die die Wichtigkeit des Faktors Zeit<br />

unterstreichen: Im Durchschnitt werden nur fünf bis sechs<br />

Postings gelesen, bevor man seine eigene Nachricht<br />

postet. Eine Nachricht geht in Crystals Sample von 113<br />

Beiträgen durchschnittlich über 3,5 Zeilen, wobei 20% der<br />

Postings nur ein oder zwei Zeilen aufwiesen. Die Postings<br />

weisen durchschnittlich 1,45 Absätzen auf, und 70% der<br />

Beiträge bestehen nur aus einem einzigen Absatz. Was<br />

die Länge der Beiträge betrifft, scheint diese unter den<br />

Forennutzern ausgewogen zu sei – ein Merkmal, das auf<br />

Face-to-Face- Kommunikation nicht zutrifft. Die relativ<br />

geringe Anzahl von thematischen Abschweifungen in<br />

Forendiskussionen ergibt ebenfalls einen augenscheinlichen<br />

Unterschied zur Face-to-Face-<br />

Alltagskommunikation. Die Konzentration auf das Thema<br />

– Abschweifungen werden bei moderierten Diskussionen<br />

auch durch Löschung sanktioniert – könnte hierbei<br />

wiederum dem Zeitdruck geschuldet sein, wie Crystal<br />

spekuliert. Dies erscheint insofern plausibel, als dass ein<br />

Thread mit zahlreichen abschweifenden und/oder<br />

überlangen Nachrichten riskiert, von den anderen Usern<br />

gemieden zu werden. Relevanz und Prägnanz scheinen<br />

somit zu Motiven und Maximen der Forenkommunikation<br />

zu gehören, die Vorsaussetzungen für deren Gelingen<br />

darstellen.<br />

Für Crystal (2006: 156) liegt die Vermutung nahe, dass<br />

es sich beim Sprachgebrauch in Foren und noch mehr<br />

in Chats um eine neue linguistische Varietät bzw. ein<br />

neues Register handelt, d.h. um eine Sprachform, die<br />

von den Sprachbenutzern ausschließlich in spezifischen<br />

Situationen, in diesem Fall im Internet, eingesetzt wird. Er<br />

bezeichnet diese für das Internet spezifische Sprachform<br />

in Anlehnung an Orwells Newspeak als Netspeak (auf<br />

Deutsch in etwa: Netzsprache). Crystals Postulat einer<br />

Netzsprache ist nicht unkritisiert geblieben: So dementiert<br />

beispielsweise Dürscheid (2004: 147) die Existenz einer<br />

solchen Netzsprache, indem sie argumentiert, dass<br />

vermeintlich internetspezifische sprachliche Merkmale<br />

auch in anderen Verwendungskontexten auftreten, und<br />

dass diese internetspezifischen Ausdrücke –sollten sie<br />

tatsächlich existieren – nur situations- und<br />

sprecherabhängig verwendet werden. Umgelegt auf<br />

die Chat- und Forenkommunikation würde das<br />

bedeuten: Nicht alle Chat- und Forenuser bedienen sich<br />

der gleichen sprachlichen Mittel, und Chats und Foren<br />

divergieren hinsichtlich ihrer sprachlichen Merkmale und<br />

Gesprächsstruktur beträchtlich. Anders ausgedrückt:<br />

Eine Diskussion in einem Forum zu politischen Themen<br />

wird demnach mit großer Wahrscheinlichkeit andere<br />

sprachliche Stilmittel aufweisen als eine Diskussion in<br />

einem thematisch anders gelagerten Forum, etwa für<br />

ein bestimmtes Computerspiel.<br />

Die hochflexiblen Sprachformen, die im Internet<br />

anzutreffen sind, lassen sich also schon deshalb nicht<br />

auf ein homogenes Netspeak reduzieren, weil die<br />

Kommunikationsformen und -anlässe im Internet stark<br />

heterogen sind. Als Beispiele für internetspezifische<br />

Sprachformen werden zumeist Wortspiele, absichtlich<br />

falsche Orthographie, bestimmte hochfrequente<br />

Interjektionen und Neologismen genannt – ob und<br />

Mediale Zeit(en)<br />

Zeitungsforen und Forenzeit<br />

78<br />

welche dieser Sprachformen auftreten, hängt aber wie<br />

gesagt von der Kommunikationssituation im Internet ab.<br />

Forennutzer identifizieren sich auf diese Weise manchmal<br />

über einen forenspezifischen Sprachstil, wodurch<br />

Outgroup-User von Ingroup-Mitgliedern relativ leicht<br />

identifiziert werden können und für neue Mitglieder die<br />

Fähigkeit zu linguistischer Anpassung in der<br />

Forenkommunikation zu einer zentralen Voraussetzung<br />

wird. Dieser Peer-Group-Faktor scheint in Zeitungsforen<br />

jedoch eine geringere Rolle zu spielen, da beispielsweise<br />

die Gruppe der Online-Standard-User keine so<br />

homogene Gruppe darstellt wie beispielsweise ein Forum<br />

zu frauenspezifischen Themen.<br />

Weiters ist für die forenspezifische Sprachform<br />

charakteristisch, dass es sich dabei um eine „mixture of<br />

informal letter and essay, of spoken monologue and<br />

dialogue“ handelt (Crystal 2006: 154). Zahlreich<br />

auftretende Elemente sind zudem rhetorische<br />

Fragen bzw. im Englischen sog. tag questions (in der Form<br />

„ ... everybody should read this article. Am I right?“) und<br />

orthographische sowie grammatikalische Fehler, die auf<br />

einen Entwurfcharakter der eingesetzten Sprache<br />

hindeuten.<br />

3.2. Synchrone Internetkommunikation: Chats<br />

Der entscheidende Unterschied zwischen Chats und<br />

Foren besteht – Crystals Terminologie entsprechend – in<br />

der Synchronizität: Chats verlaufen synchron, d.h. in<br />

Echtzeit, und sind durch zeitliche Kopräsenz aller am Chat<br />

beteiligten User gekennzeichnet. Die User müssen also<br />

zur gleichen Zeit online und im Chat(-Kanal) eingeloggt<br />

sein, meist erscheinen die Nicks dieser User dann auch in<br />

einem vom Chatfenster seperaten Log. Chats finden<br />

nicht selten nur zwischen zwei Personen statt, während<br />

dies bei Foren den Ausnahmefall darstellt, da<br />

Forenpostings wie bereits erläutert auf multiple Antworten<br />

von zahlreichen anderen Forennutzern angelegt sind. Bei<br />

Chat-Kanälen, die themenspezifische Chats anbieten,<br />

kann es wie bei Foren Moderatoren bzw. Operatoren<br />

geben, die beispielsweise einen Chattenden bei<br />

Verstößen (z.B. bei Überfluten des Chatverlaufs durch<br />

Spams) „verbannen“ können, indem sie ihn ausloggen.<br />

Charakteristisch für Chats ist laut Crystal eine Mischung<br />

aus Sequenz, Simultanität und Überlappungen, die in<br />

dieser Form weder in Foren- oder Emailkommunikation<br />

noch in Face-to-Face-Alltagskommunikation vorkommt.<br />

Diese Mischung ergibt sich hierbei aus dem Umstand,<br />

dass bei einem Chat mehrere der Beteiligten gleichzeitig<br />

einen Beitrag produzieren können, bevor sie diesen<br />

absenden. Die grafische Darstellung dieser Beiträge<br />

erfolgt dann zwar zeitlich-linear in der Abfolge ihres<br />

Absendezeitpunkts, aber – im Gegensatz zu Foren – hat<br />

dies zur Folge, dass sich aufeinander beziehende Beiträge<br />

oftmals nicht mehr in räumlicher Nähe zueinander<br />

befinden, also nicht mehr direkt untereinander stehen.<br />

Dadurch werden auch adjency-Konventionen<br />

unterlaufen, d.h. zueinander gehörende Ausdruckspaare<br />

wie Frage-Antwort oder Gruß-Gegengruß treten nicht<br />

mehr paarweise auf, sondern versetzt. Der Überblick über<br />

die Diskussion wird auch dadurch erschwert, dass in einer<br />

Chat-Diskussion mehrere Themen gleichzeitig - und<br />

nicht nacheinander – abgehandelt werden. Die Themen<br />

in Chats halten sich auch nicht so lange wie in Foren, sie<br />

werden nach kurzer Zeit gewechselt und<br />

Abschweifungen sind mehr die Regel als die Ausnahme.<br />

An dieser Themeninkonsistenz beteiligt ist, dass in Chats<br />

oft nur um des Redens willen geredet wird (oder um des<br />

Chats willen gechattet), d.h. die Chattenden reden ohne<br />

wirklich etwas zu sagen zu haben (wie der Begriff Chat<br />

eigentlich schon nahe legt). Dies geschieht auch oft<br />

schon alleine deshalb, weil beim Chat Stille ambig ist:<br />

Wenn ein User zu lange nichts postet, wissen die anderen<br />

nicht, ob er der Diskussion noch folgt bzw. ob er


überhaupt noch online ist oder vor dem PC sitzt. Die<br />

Kommunikationsanlässe bei Chats sind aber schließlich<br />

auch grundlegend andere als bei Foren: Bei letzteren wird<br />

argumentativ verfahren, Sachverhalte werden geklärt<br />

und verhandelt, sie dienen der Informationsvermittlung<br />

oder Überzeugung etc. In Chats steht oftmals mehr der<br />

selbstreferentielle und kreative Sprachgebrauch im<br />

Vordergrund sowie die Stiftung einer Gruppenidentität.<br />

Letzere wird gerade auch durch einen Chat-Gruppenspezifischen<br />

Chat-Jargon bzw. -Slang erreicht, der mit der<br />

Zeit wiederum in das Gruppengedächtnis der Chat-<br />

Gruppe Eingang findet. Dieser Slang wird dann teilweise<br />

auch in semi-institutionalisierter Form in den FAQ kodifiziert<br />

und schlägt sich beispielsweise in Form von spezifischen<br />

Neologismen, Ellipsen, absichtlich missachteter<br />

Orthographie oder anderen bewusst angewendeten<br />

Normverstößen nieder. Dieser Chat-Jargon, mit dem sich<br />

die Chat-Teilnehmer von Außenstehenden abgrenzen,<br />

erklärt damit letztlich auch, warum die Sprache in Chats<br />

dem Sprachwandel stärker unterworfen zu sein scheint<br />

als die in Foren.<br />

Dass in Chats in sprachlicher Hinsicht mehr normative<br />

Verstöße zu finden sind und mehr Merkmale der<br />

Mündlichkeit als in Foren, lässt sich unserer Vermutung<br />

zufolge allerdings nicht nur auf diesen selbsreferentiellen<br />

Sprachgebrauch zurückführen, sondern auch auf den<br />

Zeitdruck, unter dem die Chattenden stehen. Dieser<br />

Zeitdruck ist noch größer als bei den Foren: Zwar sind wie<br />

oben ausgeführt Prägnanz und Relevanz für einen<br />

Forumsthread quasi überlebensnotwendig, aber die an<br />

einer Diskussion beteiligten Forenuser sind nicht zeitlich<br />

kopräsent und erwarten keine unmittelbaren Antworten<br />

auf ihre Postings. Als Forenuser kann ich mir mehr Zeit für<br />

mein Posting gönnen - im Fall eines Zeitungsforenusers<br />

maximal so lange, bis der Artikel ins Archiv verschwindet<br />

und die dazugehörige Diskussion gelöscht wird (im<br />

Idealfall werde ich mich als Poster jedoch beeilen, mein<br />

Posting abzuschicken, bevor der Artikel nicht mehr aktuell<br />

ist und von der Titel- bzw. Startseite verschwindet). Wenn<br />

ich mir beim Chat ebensoviel Zeit für das Verfassen<br />

meines Beitrages nehme, riskiere ich, dass die anderen<br />

Chat-Teilnehmer inzwischen bei einem gänzlich anderen<br />

Thema angelangt sind (in der Regel werden in der Zeit<br />

wohl bereits mehrere Themenwechsel erfolgt sein) und<br />

auf mein Statement nicht mehr eingehen können oder<br />

wollen. Wenn mein Beitrag dann auch noch zu lang ist,<br />

so dass die anderen Chat-User dadurch beispielsweise<br />

den Überblick über den Gesprächsverlauf verlieren,<br />

könnte ich leicht aus dem Chatraum „verbannt“ werden.<br />

Auch in einem Chat zu zweit wird mein Gegenüber nicht<br />

so lange warten wollen, bis ich meinen Beitrag poste.<br />

Dieser Zeitdruck wird auch dadurch verstärkt, dass<br />

die User wissen, dass sich technische Schwierigkeiten<br />

beispielsweise aufgrund von mangelnder<br />

Übertragungsgeschwindigkeit oder Serverüberlastungen<br />

in Form von lags (Verzögerungen) negativ auf den<br />

Kommunikationserfolg auswirken können. Crystal gibt<br />

folgende Zahlen und Merkmale für Chat-spezifischen<br />

Sprachgebrauch an, die u.E. zumindest teilweise auf den<br />

Druck, möglichst schnell bzw. möglichst kurze Beiträge<br />

zu verfassen, zurückzuführen sind:<br />

• In einem englischen Sample von 300<br />

Worten besteht ein Beitrag durchschnittlich<br />

aus 4,23 Wörtern und 80% der Beiträge aus<br />

5 Wörtern.<br />

• 80% der Wörter aus diesem Sample sind<br />

einsilbig, nur 4% zweisilbig (zum Vergleich:<br />

englische Alltagskommunikation ist noch<br />

etwas einsilbiger, Journalismus viel<br />

weniger).<br />

• Abkürzungen und Initialen kommen häufig<br />

vor, hingegen praktisch keine Absätze.<br />

Mediale Zeit(en)<br />

Zeitungsforen und Forenzeit<br />

79<br />

• Emoticons und verkürzte Worte wie ‘r’ für<br />

‘are’, ‘u’ für ‘you’ usw. treten häufig auf<br />

(v.a. im Englischen und Französischen,<br />

weniger im Deutschen).<br />

• Ebenso häufig sind „emotional noises“<br />

und comic-artige Interjektionen wie z.B.<br />

„bamf!“.<br />

• Kleinschreibung ist bei Chats die Norm.<br />

• Es sind praktisch keine bzw. kaum<br />

Apostrophe anzutreffen, aber dafür<br />

zahlreiche Ruf- und Fragezeichen.<br />

• In einem Chat mit mehreren Teilnehmern<br />

werden neu eintretende, grüßende User<br />

nicht oder kaum gegengegrüßt (dies liegt<br />

aber möglicherweise weniger am<br />

Zeitdruck als vielmehr daran, dass bei<br />

vielen Chat-Teilnehmern diese das<br />

Chatfenster überfluten würden, wenn<br />

jeder zurückgrüßen würde).<br />

• Chat ist gekennzeichnet von<br />

vereinfachter („perverser“) Orthographie<br />

und<br />

• nicht-standardsprachlichen Ausdrücken<br />

und umgangssprachlicher Grammatik.<br />

4. SPRACHLICHE PHÄNOMENE UNTER DEM ASPEKT DES<br />

<strong>ZEIT</strong>DRUCKS: (<strong>ZEIT</strong>UNGS-)FOREN UND CHATS IM<br />

EMPIRISCHEN VERGLEICH<br />

Im Folgenden wollen wir unsere Überlegungen zu Zeit<br />

und asynchroner Internetkommunikation exemplarisch<br />

an einer Forendiskussion auf derstandard.at verifizieren.<br />

Hierfür analysierten wir einen Diskussionsthread 7 , der am<br />

18. Juni 2008 zeitgleich mit dem Erscheinen des Online-<br />

Artikels „Doppelt hält nicht immer besser“ auf der<br />

Internetseite eröffnet wurde. Die Diskussion erreichte 521<br />

Postings und dauerte von 18.06.08 bis 20.6.08 (Stand vom<br />

16.07.2008), wobei wir die Diskussion schon am 19.06.08<br />

speicherten und damit 517 der 521 Postings in unserer<br />

Analyse berücksichtigten. Aufgrund einer Kooperation<br />

mit dem Austrian Academy Corpus (AAC) der<br />

Österreichischen Akademie der Wissenschaften konnten<br />

wir eine computergestützte Auswertung der digital<br />

vorliegenden Beiträge vornehmen. Die Daten wurden<br />

mit dem <strong>Pro</strong>gramm corpedUni in eine XML-kompatible<br />

Form gebracht und ausgewertet. Hierfür wurden<br />

folgende Schritte durchgeführt: Konvertierung der der<br />

Rohdaten vom DOC- ins XML-Format, Tokenisierung<br />

(Isolierung von verarbeitbaren Einheiten auf der<br />

Wortebene), Auszeichnen von Sätzen, Lemmatisierung<br />

und POS-Zuweisung, Nachbearbeitung (manuelle<br />

Korrekturen) und Analyse. Bei den Ergebnissen handelt<br />

es sich um vorläufige, sicherlich noch fehlerbehaftete<br />

Resultate, die jedoch relevante Schlussfolgerungen<br />

zulassen und vor allem einen Eindruck vermitteln, in<br />

welche Richtung zukünftige maschinelle Auswertungen<br />

und Analysen gehen könnten.<br />

Die automatische Auswertung förderte folgende<br />

Resultate zu Tage 8 :<br />

Gesamtanzahl der Beiträge 517<br />

Gesamtanzahl der Sätze 1456<br />

Gesamtanzahl der tokens 21026<br />

Gesamtanzahl der wTokens 17781<br />

Gesamtanzahl der Einträge mit wahrscheinlicher Verletzung der Groß/-<br />

Kleinschreibregeln 354<br />

Gesamtanzahl der Einträge mit wahrscheinlicher Übereinstimmung mit<br />

den Groß-/Kleinschreibregeln 163<br />

Durchschnittliche Satzlänge (wTokens / Sätze) 12.21


Durchschnittliche Beitragslänge (wTokens / Beiträge) 34.39<br />

Gesamtanzahl der Antworten 158<br />

Gesamtanzahl der Beiträge mit mindestens einem „Sie“ 54<br />

Gesamtanzahl der Beiträge mit mindestens einem „Du“ 9<br />

Gesamtanzahl der Beiträge mit mindestens einem „Du“ oder „Sie“ 63<br />

Wir werden diese Ergebnisse in weiterer Folge dahin<br />

gehend interpretieren, dass die Kommunikation in Foren<br />

im Vergleich zu Chats langsamer verläuft, und sich dies<br />

in sprachlichen Hinsicht bemerkbar macht. Die Chat-<br />

Kommunikation, mit ihrer „Knappheit, Kürze und<br />

Reduktion“ (Bittner 2005: 243), kann hierbei in mehrfacher<br />

Hinsicht zwar als graduelles, aber nicht als strukturelles<br />

Gegenstück zum Forum aufgefasst werden, zudem<br />

überschneiden sich etliche der bereits besprochenen<br />

Merkmale von Foren- mit jener der Chat-Kommunikation.<br />

Welche Merkmale der textuellen <strong>Pro</strong>duktion weisen nun<br />

auf die verlangsamten Kommunikationsstrukturen in den<br />

Foren hin? Diese Frage ist nur schwer beantwortbar, weil<br />

sich die textuelle Realisation aus einer überblickbaren<br />

Vielfalt an Einflussfaktoren ergibt. Es geht uns allerdings<br />

nicht darum, Merkmale monokausal zu erklären, sondern<br />

vielmehr auf den Aspekt des Zeitlichen hinzuweisen, der<br />

sich als Bestandteil in allen Einflussfaktoren finden lassen<br />

wird.<br />

Wir haben drei wesentliche Faktoren benannt, die uns<br />

als Indikator für eine zeitspezifische Sprachveränderung<br />

dienen sollen: Normsprachliche Texte brauchen mehr<br />

Zeit zur <strong>Pro</strong>duktion. Wie die Diskussion der Ergebnisse<br />

unserer maschinellen Auswertung zeigen wird, sind die<br />

Forumstexte deutlich regelkonformer konzipiert als Chats.<br />

Die durchschnittliche Satz- und Beitragslänge (definiert<br />

über die Anzahl von Wörtern pro Satz bzw. pro Beitrag)<br />

liegt über jener der Chats, die Sätze sind damit<br />

anzunehmenderweise auch komplexer. Viele der<br />

typischen Netspeak-Elemente (Emoticons, Abkürzungen,<br />

Asterisken, Verbstammbildungen, dialektale<br />

Formulierungen u.a.m.), deren Realisation u.a. durch die<br />

Dynamik des Chats begründet ist, werden in Foren kaum<br />

bzw. gar nicht angewandt.<br />

Auch die stärkere Normsprachlichkeit der Foren im<br />

Vergleich zu den Chats werten wir als Charakteristikum<br />

der langsameren <strong>Pro</strong>duktionsbedingungen. Bislang wird<br />

diskutiert, ob sich die Sprachverwendung im Internet<br />

eher an der Schriftlichkeit oder der Mündlichkeit<br />

orientiert. Was etwa E-Mails anbelangt, so unterteilt<br />

Baron die wissenschaftlichen Positionen, je nach Autor,<br />

in fünf völlig unterschiedliche Kategorien: Das Mail gilt<br />

als „a form of writing“, „a form of speech“, „a<br />

combination of written and spoken language“, „a<br />

distinct language“ oder „a still-evolving language style“<br />

(Baron 2003: 85). Die Antwort auf diese heterogenen<br />

Interpretationen könnte darin liegen, dass „Email<br />

resembles speech because writing in general has<br />

become more speechlike“ (Baron 2003: 92). Einen<br />

systematischeren Zugang finden<br />

Koch/Oesterreicher (1994), die in<br />

ihrem Modell zwischen medialer<br />

und konzeptueller Mündlichkeit/<br />

Schriftlichkeit unterscheiden.<br />

Dieses Modell wird von Dürscheid<br />

(2004: 154 f.) auf der medialen<br />

Ebene durch die Kategorie der<br />

Synchronizität erweitert, wobei<br />

synchrone Kommunikation als<br />

Diskurs und asynchrone als Text<br />

klassifiziert wird (jene sind laut<br />

Dürscheid Gegenstand der<br />

Diskurs- bzw. Gesprächsanalyse,<br />

diese der Textlinguistik):<br />

Abbildung (Dürscheid ebd.):<br />

Mediale Zeit(en)<br />

Zeitungsforen und Forenzeit<br />

80<br />

Diesem Modell zufolge würde der herkömmliche Chat in<br />

den Bereich der medial schriftlichen, quasi-synchronen<br />

Diskursart fallen, eine Anrufbeantworter-Durchsage oder<br />

-Aufnahme würde hingegen einen medial mündlichen,<br />

asynchronen Text darstellen, und eine Forumsdiskussion<br />

im Internet einen medial schriftlichen, asynchronen Text.<br />

Auf der Ebene der konzeptionellen Mündlichkeit/<br />

Schriftlichkeit hängt es laut Dürscheid wiederum von der<br />

Synchronizität ab, wie sehr konzeptionell mündlich bzw.<br />

schriftlich kommuniziert wird: „Je synchroner die<br />

Kommunikation, desto eher weist sie Merkmale (...) der<br />

konzeptionellen Mündlichkeit (auf).“ (Dürscheid 2004:<br />

155). Dieser Theorie zufolge müssten Chats als synchrone<br />

Diskurse wesentlich mehr Mündlichkeitsmerkmale<br />

enthalten als die asynchronen Forendiskussionen.<br />

Die Analyse unserer Forendiskussion auf derstandard.at<br />

bestätigt diese theoretische Annahme und widerlegt<br />

Crystals These eines einheitlichen Netspeaks, der sowohl<br />

in Chats als auch in Foren anzutreffen sein müsste: In<br />

unserem analysierten Thread finden sich wenige bis keine<br />

Merkmale von konzeptioneller Mündlichkeit wie<br />

Emoticons, Akronyme, Kontraktionen, Interjektionen oder<br />

Feedback-Signale (wie „mhm“ oder „aha“). So kommen<br />

in den von uns untersuchten 517 Postings nur zwei Mal<br />

„aha“ und ein Mal „ach“ vor, aber kein einziges Mal<br />

„hm“, „mhm“, „achso“ oder „oh“. In der insgesamt 21.884<br />

Wörter umfassenden Diskussion wird zudem nur je viermal<br />

„wenns“ und „gibt’s“ geäußert, dreimal „kanns“ sowie<br />

je zweimal „wärs“ und „gibts“. Im Vergleich dazu<br />

kommen zwölf Mal Kontraktionen durch Apostroph<br />

(„wenn’s“, „wär’s“, „auf’s“, „er’s“ etc.) vor. Zudem wird<br />

nur zehn Mal von Emoticons Gebrauch gemacht, und<br />

auch dialektale Formen treten kaum auf.<br />

Während das Ausschreiben von Wörtern im Chat zur<br />

Einstufung als „Newbie“ führen würde, zeichnen sich die<br />

Forenpostings auch durch Konventionalität bei der<br />

Verwendung von Abkürzen aus (etwa: d.h., u.a., usw.).<br />

Auch hier wird deutlich, dass Foren deutlich langsamere<br />

Formen der Kommunikation sind, für die symbolische<br />

Redundanz, etwa um die Eingabegeschwindigkeit zu<br />

erhöhen, keine Rolle spielt. In den untersuchten Beiträgen<br />

kann aber von spezifisch-themenbezogenen<br />

Abkürzungen („Gusi“, „Willi“, Parteiennamen,...) sehr wohl<br />

gesprochen werden, die aber mit dem Netspeak nichts<br />

zu tun haben. Emoticons kommen, bis auf eine<br />

Ausnahme, überhaupt keine vor, was darauf hinweist,<br />

dass die Themenzentrierung eher im Vordergrund steht<br />

als die persönliche Befindlichkeit der Diskutanten. Davon<br />

betroffen ist auch die Verwendung von Asterisken und<br />

Verbstammbildungen: Zu in Asterisken (*) gesetzte<br />

Verbstammbildungen zählen Ausdrücke wie *seufz*,<br />

*heul* oder *noch ein schluchts* (Bittner 2003: 244). Eine<br />

der Funktionen solcher Konstruktionen lässt sich unter dem<br />

Zeitaspekt erfassen: „Die Asteriske als Marker erlauben


gegenüber dem vergleichweise komplexen und<br />

aufwendigen Handlungsmodus dagegen, diese<br />

Metaebene schnell und flexibel zu eröffnen und auch<br />

mit der Diskursebene innerhalb einer einzigen Äußerung<br />

zu verbinden.“ (Bittner 2004: 245). Auch hier erweist sich<br />

das Forum als langsame Kommunikationsform – von den<br />

517 Beiträgen bedienen sich nur die folgenden zwei<br />

Beiträge einer solchen Form:<br />

››››› krendl | 19.06.2008 11:56<br />

Re: Re: Re: Re: Strache als Vize und<br />

Innenminister.Dann wirds Zeit zum Auswandern.<br />

Aber halt: dort hockt dann vielleicht ein Mölzer als<br />

Außenminister. *grusl*<br />

› natan | 18.06.2008 15:05<br />

Häupl...*würgh*...<br />

Akronyme, etwa *lol*, *g* oder *bg*, finden sich in der<br />

Beiträgen überhaupt keine. Naheliegend wäre es, das<br />

Ausbleiben solcher Formen in der Themenorientierung<br />

des untersuchten Forums zu sehen: Verbstammbildungen<br />

und Asterisken deuten eher auf phatisch-emotionale<br />

Beiträge hin und stehen damit in Kontrast zu den<br />

scheinbar rational argumentierenden, eben<br />

sachbezogenen Diskussionsbeiträgen. Wenn man jedoch<br />

die Beiträge aus dem untersuchten Korpus liest, lässt sich<br />

diese Charakterisierung nicht halten. Tatsächlich werden<br />

in allen Beiträgen persönliche Befindlichkeiten, allerdings<br />

durch andere Mittel, geäußert. Vor allem durch rhetorisch<br />

komplexere Strategien wie Ironie oder Sarkasmus, die<br />

wiederum mehr Zeit und textuellen Raum benötigen als<br />

jene Verbstammbildungen und Akronyme. Auch die für<br />

die Chat-Kommunikation so typischen<br />

umgangssprachlichen Merkmale sind in den<br />

untersuchten Beiträgen kaum vorhanden: Endungsabfall<br />

und Kontraktion („son“ für „so einer“), Gesprächspartikel<br />

(„ha“), homophone Akronyme in phonetischer<br />

Schreibweise („cu“ für „see you“), Großschreibung für<br />

steigende Lautstärke („HALT“) etc. (eine Liste mit<br />

Merkmalen findet sich bei Kilian 2001: 69-70) treten<br />

ebenso wie dialektale Formen nur selten auf, wie etwa<br />

in folgendem Beitrag:<br />

bernhardbernhard Neuwahlenund schon<br />

wieder samma alle in dem Rot-Schwarzen<br />

Gesudere, wenn ich die Postings so lese. Habt ihr<br />

den alle zusammen nicht geschnallt, daß ihr euch<br />

mit eurem Kastldenken die Wähler systematisch<br />

verkrault. Jemanden der täglich im Leben steht, hat<br />

mit diesen weltfremden Parteigejammere wirklich nix<br />

angefangen. Wer besser ist, wer schuld ist, wers<br />

schon immer gewußt hat, wer mit wem und<br />

überhaupt..... BÄÄÄÄÄÄÄÄHHHHHHH.<br />

Kilian verweist für den Chat auf die „ökonomische“ (69)<br />

Funktion einer solche umgangssprachlichen Ausrichtung.<br />

Dies muss allerdings bezweifelt werden: Zweifelsohne führt<br />

die Orientierung an einer umgangssprachlichen<br />

Mündlichkeit etwa zu Kontraktionen oder phatischemotionalem<br />

Ausdruck, gleichzeitig kann die<br />

Verwendung solcher umgangssprachlicher Formen aber<br />

auch zu Uneindeutigkeiten und Missverständnissen<br />

führen.<br />

Ein deutliches Indiz für den höheren Grad an Formalität<br />

in den von uns untersuchten Beiträgen ist zudem die<br />

häufige Siezung der Gesprächsteilnehmer: Die<br />

maschinelle Auswertung ergab, dass in 54 Beiträgen<br />

mindestens einmal „Sie“ vorkommt und nur in 9 Beiträgen<br />

mindestens einmal „Du“.<br />

Während manche, etwa Crystal, die Kleinschreibung als<br />

generelles Charakteristikum des Netspeaks ansehen, lässt<br />

Mediale Zeit(en)<br />

Zeitungsforen und Forenzeit<br />

81<br />

sich dies in unserem Material nicht bestätigen, dort findet<br />

sich Groß- und Kleinschreibung gemischt wieder:<br />

›››› ImmerSachlich | 19.06.2008 11:58<br />

Re: Re: Re: Ich meinte das eher im<br />

volkswirtschaftlichem Sinn. Das BIP steigt, die<br />

Unternehmensgewinne steigen und die<br />

unselbständig Erwerbstätigen erleiden derzeit<br />

einen massiven Reallohnverlust. Das verstehe ich<br />

eben unter „nicht fair“. Die Politik ist z. B. dadurch<br />

gefordert, EU-weit ein einheitliches Steuerrecht und<br />

einheitliche soziale Mindeststandards zu schaffen.<br />

Wir sind leider sehr weit davon entfernt.<br />

››››› pablo.ponte | 19.06.2008 12:12<br />

Re: Re: Re: Re: ein einheitliches steuerrecht<br />

wäre ideal. real betrachtet, ist dieser wunsch<br />

leider eine utopie.<br />

Die maschinelle Auswertung ergab, dass mit großer<br />

Wahrscheinlichkeit 354 von 517 Einträgen von den Groß-<br />

/Kleinschreibregeln des Deutschen abweichen (eine<br />

gewisse Fehlerwahrscheinlichkeit muss allerdings<br />

angenommen werden) 9 . Das heißt, dass<br />

wahrscheinlicherweise in 68% der Einträge gegen die<br />

Konventionen der Groß-/Kleinschreibung verstoßen wird,<br />

was allerdings nicht bedeutet, dass in diesen Beiträgen<br />

durchgehend klein geschrieben wird. Damit halten sich<br />

die User wahrscheinlicherweise immerhin zu 32%<br />

vollständig an die Groß-/Kleinschreibung. Dies kann als<br />

klares Indiz dafür gewertet werden, dass durchgehende<br />

Kleinschreibung im Forum nichts so weit verbreitet ist wie<br />

im Chat, bei dem sie quasi schon zur Norm geworden<br />

ist.<br />

Dabei geht die Kleinschreibung, wie der letztere zitierte<br />

Beitrag zeigt, nicht einher mit einer prinzipiellen<br />

Vernachlässigung der Orthographie. In Chats wie auch<br />

in Foren ist die Toleranz gegenüber Tippfehlern<br />

außerordentlich hoch, in dem von uns untersuchten<br />

Material fand sich keine metasprachliche Äußerung, die<br />

sich auf Rechtschreib- oder Grammatikfehler bezog.<br />

In einigen Beiträgen besteht ein Zusammenhang<br />

zwischen der Form des Postings und dem Nickname, wie<br />

beim Eintrag von „ImmerSachlich“ erkennbar ist.<br />

Spezifische schriftliche Ausprägungen (etwa nur<br />

umgangssprachliche Postings, beabsichtige Fehler etc.)<br />

werden von einzelnen Diskutanten gezielt als Mittel der<br />

Inszenierung verwendet, die Möglichkeit der<br />

Selbstinszenierung wird aber im Vergleich zu Chats und<br />

MOOs in Foren viel seltener genutzt (vgl. hierzu Becker<br />

2004: 413–429). Als Beispiel hierfür seien die Postings des<br />

Users „Der Alte vom Berge“ angeführt, dessen dialektaler<br />

Sprachgebrauch wohl mit seinem Nick - nomen est<br />

omen - korrespondieren soll:<br />

› Der Alte vom Berge | 18.06.2008 16:57<br />

Verordnete Geschlossenheit ? Na dann......reissts<br />

auf die Doppler. ^^<br />

›› Der Alte vom Berge | 18.06.2008 15:13<br />

Re: So grausam......wirds scho ned werden. Da<br />

Pappa wirds scho richten, dazu is er ja da. Aber,<br />

ehrlich gsagt, so als „Wünsch-dir-was“ für<br />

Abgesägte seh ih das Ganze aa ned gern.^^<br />

››› Der Alte vom Berge | 18.06.2008 14:03<br />

Re: Re: Hab ih aa ned behauptet,......es is selten<br />

nur Einer schuld an Allem, Gnä‘Frau. Ja sowas...das<br />

erinnert mi jetzt an die Personaldebatte. Ned falsch<br />

verstehen, ih bin kein Freund von Leut die no<br />

weniger halten als sie versprochen haben, oder so<br />

viel versprechen, das sie selber ned wissen wie‘s<br />

das alles halten sollen. Aber...ausser dem


„Watschenmann“ giebts jo aa Mittäter, die jetzt<br />

natürlich kräftig paddeln, damits ned mit<br />

untergehen. Der Tausch bringt nix, weil der neue<br />

„Kasperl“ die gleichen Witz reissen wird wie der alte.<br />

Die Spieler hinter dem Vorhang sollten wechseln,<br />

davor is eh nur Theater. Was den Häupel<br />

angeht...der is mittlerweile VOR dem Vorhang<br />

gelandet, wie mir scheint. „Alles geht einmal<br />

vorüüüber, alles geht einmal vorbei....“ als<br />

Hintergrundmusik ? ^^<br />

Ein interessantes Merkmal der Forenkommunikation ist<br />

die abnehmende Beitragslänge, wenn in Reaktion auf<br />

ein Posting weitere Kommentare erfolgen:<br />

› Erisian Liberation Front | 18.06.2008 16:32<br />

Man darf gespannt seinwie viele „Förderer“ die<br />

kleine Rudas beglücken muß, um ihre Karriere zu<br />

behalten? Mehr oder weniger als die Bures?<br />

Obwohl, mehr geht kaum noch...<br />

›› Claidheamh Mòr | 18.06.2008 19:14<br />

Re: keine Sorgeder Opi wirds scho richten.<br />

›› axt | 18.06.2008 18:45<br />

Re: du weißt von was du sprichst.<br />

›› Was guckst du? | 18.06.2008 18:35<br />

Re: Da Michl is eh schnö fertig.<br />

›› farbrauschen | 18.06.2008 18:28<br />

Re: was die kleine rudas macht, geht dich gar nix<br />

an.<br />

›› kurt kren | 18.06.2008 16:58<br />

Re: Siehst,so wird Politik auch für<br />

Schmuddeltypen wie dich interessant!<br />

Dabei scheinen die Postings tatsächlich sprach- bzw.<br />

chatähnlicher zu werden: So sinkt die durchschnittliche<br />

Satzlänge signifikant ab, die Beiträge sind eher<br />

kleingeschrieben und die Argumentation neigt zur<br />

Generalisierung, zu Ironie und Sarkasmus. Der<br />

Umgangston wird, wie auch in Chats, persönlicher und<br />

kollegialer, es entsteht der Eindruck einer unmittelbaren<br />

Kommunikation aufgrund der Beitragskürze und der<br />

Spontanität der rhetorischen Pointierungen. Von einer<br />

argumentativen Struktur kann in diesen Beiträgen nicht<br />

mehr gesprochen werden, da Ellipsen und<br />

Präsuppositionen zu dominant werden.<br />

Zwar lassen sich die Ergebnisse bezüglich der Länge von<br />

Beiträgen und Sätzen aufgrund unterschiedlicher<br />

Operationalisierungen (Anzahl von Zeilen, Absätzen,<br />

Wörtern pro Satz etc.) oftmals nicht direkt vergleichen,<br />

jedoch lässt sich unschwer die Tendenz erkennen, dass<br />

Beiträge und Sätze in Chats kürzer gehalten sind als in<br />

Foren. So hat bereits die Bestandsaufnahme im vorigen<br />

Kapitel gezeigt, dass in Crystals englischsprachigen<br />

Samples Forenbeiträge über durchschnittlich 3,5 Zeilen<br />

gehen, während Chat-Beiträge durchschnittlich nur aus<br />

4,23 Wörtern bestehen (diese sind wiederum zu 80%<br />

einsilbig), zudem kommen bei Crystal Absätze in<br />

Forenpostings häufiger vor als in Chat-Beiträgen.<br />

Während bei Crystal Chat-Beiträge durchschnittlich also<br />

nur aus 4,23 Wörtern bestehen, ergab unsere<br />

maschinelle Auswertung der Forenbeiträge auf<br />

derstandard.at, dass diese durchschnittlich aus 34,39<br />

Wörtern bestehen. Dass Chat-Sätze als kurz zu<br />

klassifizieren sind, ist auch ein Ergebnis der Studie von<br />

Al-Sa´di und Hamdan (2005: 411-413): Von 5.591<br />

untersuchten Chat-Sätzen waren 86% kurz und 14% lang,<br />

wobei Sätze ab 8 Wörtern als lang eingestuft wurden.<br />

Unsere maschinelle Auswertung der Forenbeiträge<br />

ergab demgegenüber eine durchschnittliche Satzlänge<br />

Mediale Zeit(en)<br />

von 12,21 Wörtern pro Satz. Der Vergleich von<br />

durchschnittlicher Satzlänge und durchschnittlicher<br />

Beitragslänge in Chats und Foren weist deutlich darauf<br />

hin, dass Sätze und Beiträge in Forendiskussionen<br />

wesentlich länger sind als in Chats.<br />

Was Chatter betrifft, so konstatieren Al-Sa´di/Hamdan<br />

(2005: 413): „However, whether a Cyberer is able to type<br />

fairly fast with a modicum of effort or finds speedy typing<br />

an inaccessible gift, it should be natural to expect many<br />

(and probably most) e-chatters to resort to short, succinct<br />

sentences to save time and effort“. In diesem Zitat<br />

spiegelt sich das Ökonomieprinzip wider: Der Chattende<br />

muss seine Beiträge und Sätze kurz halten, um Zeit und<br />

Energie einzusparen. Dies ist auf die (quasi-)-synchrone<br />

Kommunikationssituation beim Chat zurückzuführen, die<br />

ja beim Forum weg fällt, oder anders formuliert: Die<br />

Chattenden erwarten sofortige Reaktionen auf ihre<br />

Äußerungen, die Forenuser aber nicht. Die<br />

Segmentierung von Sinneinheiten zur raschen <strong>Pro</strong>duktion<br />

steht im Forum daher nicht im Vordergrund, in Chats<br />

hingegen schon. Die Satzlänge im Forum wird nicht von<br />

einem unmittelbaren Zwang zur Kommunikation<br />

beeinflusst, sondern von anderen, etwa inhaltlichen oder<br />

argumentatorischen, Überlegungen. Dem kommt auch<br />

entgegen, dass die älteren Beiträge in den<br />

derstandard.at-Forendiskussionen durch spätere<br />

Antworten aktualisiert und an die erste Stelle gesetzt<br />

werden. Eine zeitliche Begrenzung besteht nur insofern,<br />

als dass die Betreiber die Diskussion nach einigen Tagen<br />

schließen.<br />

Bittner weist ebenfalls darauf hin, dass Chat-Diskurse<br />

einen „niedrigeren Elaborationsgrad“ aufweisen „und<br />

zwar insbesondere deshalb, weil die Beiträge<br />

durchgängig viel kürzer sind.“ (2005: 241) Während im<br />

Chat die Kommunikation durch „Segmentierungserscheinungen<br />

wie die Aposopese (isoliertes Thema) und<br />

das isolierte Rhema“ (Bittner 2005: 243) geradezu<br />

gefördert werden, steht im Forum jedes Posting für eine<br />

in sich geschlossene Sinneinheit. Die Beiträge müssen<br />

damit in sich möglichst kohärent formuliert sein, sollen<br />

sie von anderen Teilnehmern verstanden werden. Dies<br />

erfordert wiederum einen erhöhten zeitlichen Aufwand<br />

und gleichzeitig die Pointierung der eigenen Meinung.<br />

Die Kürze der Argumentation wird in den untersuchten<br />

Beiträgen vor allem durch elliptische Konstellationen bzw.<br />

einen hohen Anteil an Präsuppositionen erreicht. Die<br />

rhetorische Funktion von Ironie und Sarkasmus ist ein<br />

wesentlicher Bestandteil einer Schreibstrategie, die mit<br />

den anderen Beiträgen um die Aufmerksamkeit der<br />

anderen User kämpft.<br />

5. RESÜMEE<br />

Zeitungsforen und Forenzeit<br />

82<br />

Wir haben versucht, aufgrund aktueller Forschungen zum<br />

Thema Internet und Sprachwandel das bisher eher<br />

unterbelichtete Phänomen der (Zeitungs-)<br />

Forenkommunikation im Internet unter dem Aspekt der<br />

Zeit bzw. des Zeitdrucks näher zu beleuchten. Einerseits<br />

haben sich hierfür theoretische Konzepte wie das<br />

sprachliche Ökonomieprinzip und die Synchronizität von<br />

Medien als relevante Bezugssysteme erwiesen.<br />

Andererseits konnte aufgrund bisheriger Studien zu Chat-<br />

Kommunikation und aufgrund einer von uns im kleinen<br />

Rahmen durchgeführten Analyse eines Forenthreads auf<br />

derstandard.at eine vergleichende Analyse von Chatund<br />

Forenkommunikation vorgenommen werden. Hierbei<br />

hat sich gezeigt, dass Chats aufgrund ihrer (Quasi-<br />

)Synchronizität dem Zeitdruck wesentlich stärker<br />

ausgesetzt sind als Forendiskussionen, was sich u.a. in<br />

folgenden Merkmalen niederschlägt: Forenbeiträge sind<br />

länger, verfügen über längere Sätze, orientieren sich<br />

mehr an der schriftsprachlichen Norm und weisen<br />

weniger Merkmale konzeptueller Mündlichkeit


(Emoticons, Feedback-Signale, Interjektionen,<br />

Kontraktionen etc.) auf als Chat-Beiträge. In diesem Sinne<br />

stellt das Internetforum auch eine langsamere<br />

Kommunikationsform dar als der Chat: Die User brauchen<br />

länger für das Verfassen eines Beitrages, eventuelle<br />

Antworten lassen länger auf sich warten, und die<br />

Diskussion dauert insgesamt länger als beim Chat (im Fall<br />

der von uns analysierten Forendiskussion waren dies zwei<br />

Tage). Da die Vergleichbarkeit von quantitativdeskriptiven<br />

Studien zu Chat- und Forenkommunikation<br />

aufgrund unterschiedlicher Operationalisierungen<br />

beispielsweise von Satzlänge meist nicht gegeben ist,<br />

bleibt eine umfangreichere vergleichende Studie ein<br />

wichtiges Forschungsdesiderat. Untersuchungen zur<br />

Satzkomplexität, auch in Hinblick auf Mündlichkeits-/<br />

Schriftlichkeitsmerkmale – konzeptionelle Mündlichkeit<br />

zeichnet sich ja beispielsweise auch durch häufiges<br />

Vorkommen von Parataxen aus – konnten in diesem<br />

Rahmen nicht vorgenommen werden und erscheinen für<br />

die Zukunft ebenfalls sinnvoll. Eine eingehendere Analyse<br />

der Rolle von Benutzernamen in (Zeitungs-)foren – im<br />

Unterschied zu Nicks in Chats – könnte ebenfalls<br />

interessante Resultate liefern (vgl. die Hypothese in<br />

Kapitel 3, wonach Benutzernamen in Zeitungsforen<br />

möglicherweise in stärkeren Ausmaß für individuelle<br />

Weltanschauungen, Ideologien und die im Forum<br />

vertretenen Ansichten und praktizierten Diskursstrategien<br />

stehen als im Chat). Die Möglichkeit (halb-)<br />

automatisierter Auswertungsverfahren mit Hilfe<br />

entsprechender Computerprogramme wäre bei all jenen<br />

wünschenswerten Folgeuntersuchungen möglicherweise<br />

stärker zu berücksichtigen und bietet sich im Fall von<br />

Internetkommunikation jedenfalls schon aufgrund des<br />

Vorliegen des Textmaterials in digitaler Form an.<br />

Unsere Analyse deutet weiters darauf hin, dass<br />

Forenkommunikation - insbesondere Zeitungsforenkommunikation<br />

- tendenziell anderen Zwecken<br />

dient als Chat-Kommunikation: Forenkommunikation<br />

übernimmt mehr argumentatorische Funktionen, weshalb<br />

Eindeutigkeit und Relevanz zu bedeutsamen Kriterien<br />

dieser Kommunikationsform werden. Sprachlich-kreative<br />

Äußerungen, Emoticons, Dialekt, absichtliche<br />

Normverstöße etc. tauchen im Forum daher auch<br />

deshalb nicht auf, weil dies dem Ökonomieprinzip<br />

zuwider laufen würde. Sprachlich ökonomisch handeln<br />

bedeutet hierbei nicht nur kosten-, sondern auch<br />

nutzenorientiert vorzugehen: Die Verwendung<br />

sprachlicher Mittel wie Dialekt, Emoticons etc. ist nur im<br />

Forum unökonomisch, weil nicht-nutzenorientier – im Chat<br />

hingegen können sie sehr wohl ihren Nutzen haben, da<br />

im Chat andere Kommunikationszwecke wie<br />

beispielsweise die Stiftung und Aufrechterhaltung einer<br />

Gruppenidentität im Vordergrund stehen. So wird ein<br />

Forenbeitrag, der von Rechtschreibfehlern strotzt und<br />

Zeichensetzung ignoriert, an intendierter Brillanz und<br />

Überzeugungskraft einbüßen, im Chat hingegen wird<br />

über diese Normverstöße im wahrsten Sinne des Wortes<br />

schneller hinweggegangen werden. Damit stellen unsere<br />

Ergebnisse auch Crystals Postulat eines Netspeaks, also<br />

eines einheitlichen internetspezifischen Sprachgebrauchs,<br />

in Frage. Die Annahme eines homogenen<br />

Netspeaks scheint in Anbetracht der stark heterogenen<br />

Kommunikationsformen und -anlässe im Internet nicht<br />

gerechtfertigt, vielmehr muss man davon ausgehen, dass<br />

sich nicht nur Chats und Foren in ihrer Sprachform<br />

voneinander unterscheiden, sondern dass es auch<br />

beträchtliche Unterschiede innerhalb dieser beiden<br />

Kommunikationsformen gibt, dass sich also Foren von<br />

Foren und Chats von Chats in sprachlicher Hinsicht stark<br />

unterscheiden können. In diesem Sinne verstehen wir<br />

unseren Aufsatz nur als einen ersten Anstoß, weiter in die<br />

Mikrostrukturen insbesondere von Forendiskussionen<br />

vorzudringen und sprachliche Merkmale<br />

unterschiedlicher Forengenres – wie beispielsweise<br />

Mediale Zeit(en)<br />

Zeitungsforen, Foren zu verschiedenen<br />

Diskussionsthemen, <strong>Pro</strong>blemlösungsforen oder Foren zu<br />

partizipativer Politik etc. – herauszuarbeiten.<br />

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Zeitungsforen und Forenzeit<br />

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Fußnoten<br />

1 Besonders bedanken möchten sich die Autoren dieses<br />

Artikels bei Dr. Mörth vom AAC (ÖAW), der das<br />

untersuchte Material mit korpuslinguistischen Methoden<br />

computergestützt ausgewertet und so die statistische<br />

Arbeitsgrundlage geschaffen hat.<br />

2 Vgl.: http://www.spiegel.de/kultur/zwiebelfisch.<br />

3 Vgl.: http://www.templetons.com/brad/spamterm.html.<br />

4 In der heute üblicheren, engen Definition von Chats<br />

bezeichnen diese jedoch ausschließlich den synchronen<br />

Typ, während Begriffe wie Forum und Mailingliste für die<br />

entsprechenden asynchronen Online-<br />

Kommunikationsformen stehen. Wir verwenden daher<br />

konsequenterweise für die synchrone Variante<br />

den Terminus Chat und für die asynchrone die<br />

Bezeichnung Forum.<br />

5 http://derstandard.at/?id=2934632<br />

6 http://derstandard.at/archiv<br />

7 Artikel und dazugehörender Diskussionsthread waren<br />

ab Erscheinen 30 Tage unter http://derstandard.at/<br />

?id=3381453 online abrufbar. Die Postings wurden am<br />

17.07.2008 gelöscht und der dazugehörende Artikel ins<br />

kostenpflichtige Online-Archiv verschoben.<br />

8 wtokens bezeichnet alle tokens, die keine Satzzeichen<br />

sind<br />

9 Für die Analyse von Groß-/Kleinschreibung wurde die<br />

Anzahl von Beiträgen errechnet, die wToken enthalten,<br />

die gegen die Konvention nicht mit einem<br />

Großbuchstaben beginnen. In diesen Fällen ist es sehr<br />

wahrscheinlich, dass der Text die Groß- /Kleinschreibung<br />

ignoriert. Auch die Gegenprobe zu diesen Fällen wurde<br />

maschinell errechnet.<br />

Mag. Alexander Preisinger, geb. 1982, absolvierte die Lehramtsstudien Deutsch, Geschichte, Sozialkunde, politische Bildung.<br />

Seine Interessen liegen u.a. im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Literatur. Er ist seit 2007 “<strong>Pro</strong>scientist”.<br />

Mag. Niku Dorostkar, geb. 1983 studiert Allgemeine und Angewandte Sprachwissenschaft sowie die Lehramtsfächer Deutsch,<br />

Psychologie und Philosophie. Er wird seit 2008 durch PRO SCIENTIA gefördert.<br />

Zeitungsforen und Forenzeit<br />

84


Zeit in Gesellschaft


Dr. Karin Rainer<br />

Zeit als Spende –<br />

Grundlagen, Hintergründe und Motivation für Freiwilligenarbeit heute<br />

Zeit – neben der viel zitierten Gesundheit – ist wohl das<br />

Wertvollste, das dem Menschen gegeben ist; ganz<br />

einfach aus dem Grund, dass sie nicht beliebig<br />

vermehrbar ist und – ökonomisch gesprochen – ein<br />

knappes Gut darstellt 1 . Wie wir individuell diese Zeit<br />

verbringen und sie nutzbringend für uns und auch für<br />

andere einsetzen, ist subjektiv sehr verschieden: was für<br />

den einen „vergeudete Zeit“ darstellt, ist für die andere<br />

eine wertvolle Bereicherung... Im Folgenden soll es<br />

demnach um jene Menschen gehen, die ihre Zeit nicht<br />

nur für die Erfüllung ihrer persönlichen Lebensziele<br />

einzusetzen scheinen, sondern auch für die Gesellschaft,<br />

das „Gemeinwohl“...<br />

Obwohl bei genauerem Hinsehen deutlich wird, dass<br />

auch die Freiwilligenarbeit oft mehr zum Erreichen der<br />

subjektiven Ziele beitragen kann als angenommen.<br />

1 FREIWILLIGKEIT – WAS IST DAS?<br />

EINE BEGRIFFSVERWIRRUNG – ODER DOCH NICHT?<br />

Allein hinsichtlich des Terminus ist sich die Fachwelt nicht<br />

sicher, wie eine Tätigkeit, die sich dem üblichen<br />

westlichen Arbeitsdenken weitgehend verweigert bzw.<br />

ihm sogar entgegenwirkt, einzuordnen ist. „Laienhilfe“,<br />

„Ehrenamt“, „Freiwilligenarbeit“, „soziales bzw.<br />

bürgerschaftliches Engagement“ oder neudeutsch<br />

„volunteering“ werden als unterschiedliche Begriffe für<br />

Arbeit verwendet, die zum Nutzen der Gesellschaft<br />

außerhalb der Erwerbstätigkeit in einem gewissen<br />

organisationellen Rahmen erbracht wird:<br />

„Grundsätzlich wird unter ehrenamtlicher Tätigkeit jede<br />

freiwillig erbrachte, nicht auf Entgelt ausgerichtete<br />

außerberufliche Tätigkeit verstanden, die am<br />

Gemeinwohl orientiert ist, auch wenn sie für einen<br />

einzelnen erbracht wird. Kostenerstattungen oder<br />

Aufwandsentschädigungen stehen der Ehrenamtlichkeit<br />

grundsätzlich nicht entgegen.“ (Stecker 2002, 44f)<br />

Auf die Diskussion, welcher dieser Termini nun der korrekte<br />

sei und ob bzw. welche feinen Abstufungen in diesen<br />

Begrifflichkeiten dominieren, soll jedoch hier nicht<br />

eingegangen werden 2 . An der grundlegenden Idee, die<br />

hinter der sogenannten „Zeitspende“ steht, ändert die<br />

Begrifflichkeit nichts. Im aktuellen Kontext soll aber zentral<br />

der Begriff der „Freiwilligkeit“ verwendet werden, der<br />

sowohl ideologische als auch definitorische Hürden am<br />

befriedigendsten zu meistern scheint.<br />

2 KENNZEICHEN DER FREIWILLIGENARBEIT<br />

Freiwilligkeit scheint als diffuses Konstrukt in der<br />

allgemeinen Wahrnehmung bekannt zu sein. Eine<br />

genauere Definition ist allerdings notwendig, um auf die<br />

verschiedenen, wichtigen Faktoren hinzuweisen, die hier<br />

zusammenspielen. Die Kennzeichen der Freiwilligenarbeit<br />

sind also nicht nur<br />

• Freiwilligkeit und<br />

• nicht auf monetäre Bezahlung gerichtetes<br />

Engagement.<br />

Das Ehrenamt wird auch definiert durch<br />

• eine gewisse Regelmäßigkeit und Dauer der<br />

Dienste<br />

• einen organisationellen Rahmen der die<br />

Hilfeleistung<br />

• außerhalb des eigenen (weiteren)<br />

Familienverbandes vorsieht.<br />

Zeit in Gesellschaft<br />

Zeit als Spende<br />

87<br />

Dass auch in der Familie ein enormes Maß an „typisch“<br />

ehrenamtlicher Tätigkeit durchgeführt wird, sollte<br />

eigentlich nicht weiter erwähnt werden müssen.<br />

Dennoch ist es wichtig, den Blick auch kurz auf jene harte<br />

Arbeit zu lenken, die vor allem Frauen in der Pflege und<br />

Betreuung nicht nur von Kindern, sondern auch von<br />

älteren hilfsbedürftigen Personen leisten 3 .<br />

Hier soll es allerdings zentral um jene Tätigkeiten gehen,<br />

die eben außerhalb des zu Unrecht! als<br />

selbstverständlich angesehenen innerfamiliären<br />

Kontextes stehen.<br />

3 ZAHLEN UND FAKTEN ZUR FREIWILLIGKEIT IN ÖSTERREICH<br />

Was leisten die Freiwilligen?<br />

Eine vollständige Erhebung von konkreten Zahlen kann<br />

wohl auch aufgrund der teilweise sehr informellen<br />

Haltung zu Dokumentation und Berichtswesen in<br />

manchen, vor allem kleineren Freiwilligenorganisationen<br />

kaum jemals erreicht werden. Es gibt jedoch eine<br />

europaweite Erhebung, die von einer beachtlichen<br />

Anzahl von 31% der Gesamtbevölkerung Österreichs<br />

spricht, die 2004 ehrenamtlich tätig gewesen sein soll 4 .<br />

Eine aktuelle österreichische Erhebung der Statistik<br />

Austria von 2007 liefert zwar teilweise konkrete Werte<br />

aufgrund einer Befragung im Zuge der Micro-Zensus-<br />

Erhebung, durch die teilweise mangelnde<br />

Differenzierung von hier zentraler formeller und<br />

informeller Freiwilligenarbeit wie z.B. Nachbarschaftshilfe,<br />

werden diese Daten nur ergänzend herangezogen.<br />

<strong>Pro</strong> Woche werden in Österreich die schwer vorstellbare<br />

Anzahl von 11,2 Millionen Stunden an unbezahlter Arbeit<br />

geleistet, was etwa 482.000 ganztägig arbeitenden<br />

Personen entspricht 5 .<br />

Die Arbeitsleistung der Ehrenamtlichen kann zwar<br />

aufgrund der schon erwähnten Dokumentationslage<br />

nicht leicht in Stunden bestimmt werden.<br />

Durchschnittlich kann aber von einer Arbeitsleistung von<br />

etwa 23,3 Stunden pro Freiwilliger/Freiwilligem und<br />

Monat ausgegangen werden:<br />

„Etwa ein Drittel (30%) arbeitet bis zu 10 Stunden, ein<br />

weiteres Drittel (37%) zwischen 11 und 20 Stunden. 20%<br />

der ehrenamtlichen MitarbeiterInnen arbeiten zwischen<br />

21 und 40 Stunden. Mehr als 40 Stunden ehrenamtlich<br />

tätig sind 13% der ehrenamtlichen MitarbeiterInnen. 6 “<br />

Generell muss aber auch darauf hingewiesen werden,<br />

dass sowohl die Frequenz als auch das Stundenausmaß<br />

von Freiwilligenarbeit stark variiert. Auch bezüglich der<br />

Wochentage, an denen die Dienstleistung erbracht wird,<br />

ist eine starke Variabilität zu erkennen: Freiwilligenarbeit<br />

wird zu 93% an Werktagen erbrach und zu 42% an<br />

Wochenenden. Bezüglich der Tageszeit der<br />

ehrenamtlichen Arbeit ist eine Tendenz zum Nachmittag<br />

zu erkennen (68%), weiters auch am Vormittag (50%) und<br />

abends (39%). In der Nacht zwischen 22:00 und 5:00 sind<br />

11% der Ehrenamtlichen aktiv und in der Früh immerhin<br />

4% 7 .<br />

Was tun die Freiwilligen?<br />

Freiwilligenarbeit hat also ihren Fokus geschichtlich auf<br />

jenen Sektor gerichtet, der generell zum Wohl der<br />

Gemeinschaft beiträgt. Waren es erst auch in der Antike<br />

politische Ämter, so änderte sich durch das Christentum<br />

und den Gedanken der „charitas“ auch die


Schwerpunkte von Ehrenamtlichkeit. Im Weiteren<br />

entwickelte sich das Ehrenamt zu einer Art Privileg, das<br />

sich nur Adel und Klerus leisten konnten – im Zuge der<br />

Emanzipation des aufstrebenden Bürgertums wurde die<br />

charitative Tätigkeit auch für diese Gesellschaftsschicht<br />

zugänglich und auch als politisches Zeichen interessant.<br />

Ehrenamtliches Engagement wurde vor allem auch zu<br />

einem Zeichen von Luxus: Die Freizeit, die nicht zur<br />

Sicherung des täglichen Lebens verwendet werden<br />

musste, konnte später auch für die Erfüllung von eigenen,<br />

aber auch von gesellschaftlichen Entwicklungen genutzt<br />

werden. Lange Zeit waren Wohltätigkeitseinrichtungen,<br />

die von Zeit- und Geldspenden engagierter BürgerInnen<br />

lebten, die einzige soziale Absicherung für einen Großteil<br />

der Gesellschaft. Erst mit der Entwicklung des uns auch<br />

heute bekannten Sozial- und Wohlfahrtsstaates wurde<br />

das ehrenamtliche Engagement seiner tragenden Rolle<br />

entkleidet und letztlich in die neuen gesellschaftlichen<br />

Strukturen integriert. 8<br />

Das heutige freiwillige Engagement wird hauptsächlich<br />

in folgenden Bereichen geleistet (geordnet nach der<br />

Anzahl der geleisteten Gesamtstunden pro Woche):<br />

• Kunst/Kultur/Brauchtumspflege (2118,5<br />

Stunden/Woche)<br />

• Rettungs-, Kat- und Notfallhilfe (Freiwillige<br />

Feuerwehr, Rettungsdienst, Krisenintervention)<br />

• Sport und Bewegung (in Vereinen etc.)<br />

• Religion/Kirche<br />

• Politisches/zivilgesellschaftl. Engagement<br />

• soziale und gesundheitsbezogene Dienste<br />

• Bildung und Jugendarbeit (z.B.: Nachhilfe)<br />

• Umwelt/Tierschutz (mit praktischen Aktionen) 9<br />

Wer sind die Freiwilligen?<br />

Es gibt auch im Freiwilligenbereich gewisse soziologische<br />

und gender-spezifische Differenzen. Bemerkenswert wie<br />

auch naheliegend ist vor allem auch, dass verschiedene<br />

Bereiche und Tätigkeiten von jeweils unterschiedlichen<br />

Gruppen von Freiwilligen vermehrt durchgeführt werden.<br />

Wenig verwunderlich, dass z.B. in eher „technischen“<br />

Bereichen wie der Freiwilligen Feuerwehr aber auch in<br />

Führungspositionen weitaus mehr Männer<br />

ehrenamtlichen Dienst versehen; soziale wie auch<br />

gesundheitsspezifische Dienstleistungen werden<br />

vermehrt von weiblichen Ehrenamtlichen durchgeführt.<br />

Generell werden von Frauen 63% der Freiwilligenarbeit<br />

durchgeführt, von Männern etwa 37%, die Intensität der<br />

erbrachten Dienstleistung hängt natürlich auch jeweils<br />

von den familiären Gegebenheiten ab 10 .<br />

Bezüglich des Alters ist auffällig, dass kaum Jugendliche<br />

in der Freiwilligenarbeit zu geben scheint. Für die<br />

Altersklasse von 20 bis 50 Jahren ist die Aufteilung der<br />

Freiwilligenarbeit relativ konstant: jede der Dekaden<br />

deckt etwa 20 bis 25% an der Gesamtheit der<br />

ehrenamtlichen Arbeit ab. Im Alter von 51 bis 60 und<br />

von 61 bis 70 Jahren leisten die Freiwilligen jeweils etwa<br />

15%, ab etwa 71 Jahren geht das ehrenamtliche<br />

Engagement verständlicher Weise stark zurück auf unter<br />

ein <strong>Pro</strong>zent 11 .<br />

Neben dem Alter sind es aber auch berufliche und<br />

familiäre Faktoren, die das Ausmaß der Freiwilligenarbeit<br />

beeinflussen.<br />

4 FREIWILLIGENARBEIT UND DIE GESELLSCHAFT<br />

Welchen Nutzen hat die Zivilgesellschaft durch die<br />

Freiwilligenarbeit?<br />

Wie noch zu zeigen sein wird, ist Freiwilligenarbeit<br />

einerseits in der vom heutigen demographischen<br />

Zeit in Gesellschaft<br />

Zeit als Spende<br />

88<br />

Wandel beeinflussten, von Zeitdruck geprägten<br />

Gesellschaft eine der wertvollsten Spenden überhaupt 12 .<br />

Besonders im Gesundheits- und Sozialbereich in der<br />

Pflege und Betreuung ist hoher Arbeits- und<br />

Handlungsbedarf. Daher bildet das Ehrenamt in diesem<br />

Sektor einen wesentlichen Beitrag für die<br />

Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit in der<br />

Zivilgesellschaft. Auch der Bedarf an psychosozialen<br />

Hilfeleistungen scheint im Steigen begriffen: staatliche<br />

Unterstützung beschränkt sich auch hier z.B. im Bereich<br />

der Arbeitslosigkeit und der Armut auf rein operationelle<br />

Hilfe, erstreckt sich aber nicht auf die persönliche Ebene.<br />

Handlungsbedarf und das Bedürfnis nach sozialen<br />

Kontakten durch engagierte und vor allem nicht unter<br />

chronischem Zeitdruck befindliche HelferInnen wird<br />

immer deutlicher. Auch Bereiche, die sonst vielleicht von<br />

öffentlichen Stellen nicht als Fokus für ihre Interventionen<br />

angesehen werden, sind für die Involvierung von<br />

Freiwilligenarbeit prädestiniert.<br />

Welche Gefahren bestehen bei freiwillig ausgeübter<br />

Arbeit?<br />

Ist auch die Freiwilligenarbeit in gewisser Weise ein<br />

gesunder und notwendiger Ausgleich zu Gewinnstreben<br />

und Ökonomisierungstendenzen unserer Gesellschaft, so<br />

ist andererseits auch der Verlass auf diese Art des<br />

Engagements ein Warnzeichen für uns. Ehrenamtliches<br />

Engagement ist auch dort so notwendig, wo traditionelle<br />

Familien- und Sozialbeziehungen in die Brüche gehen<br />

bzw. keine alternativen Versorgungsmöglichkeiten auf<br />

„menschlicher“ und nicht so sehr professioneller Ebene<br />

geboten werden.<br />

Auch wird oft übersehen, dass gewisse Bedürfnisse in der<br />

Versorgung deutlichen politischen Zuspruch und<br />

praktische Maßnahmen bedürfen und nicht durch die<br />

Einbindung von freiwilligem Personal gleichsam<br />

„kaschiert“ werden sollen. Freiwilligenarbeit sollte als<br />

positiver Zusatz angesehen werden und nicht als<br />

kosmetisches Pflaster für aktiven Handlungsbedarf.<br />

5 FREIWILLIGENARBEIT UND DIE WIRTSCHAFT<br />

Wie groß ist das wirtschaftliche Potential von<br />

Freiwilligenarbeit?<br />

Es wurde schon erwähnt, dass die Freiwilligenarbeit nicht<br />

unbedingt ohne finanzielle Abgeltung bzw.<br />

Aufwandsentschädigung durchgeführt werden muss.<br />

Aber auch auf anderer Ebene hat diese Zeitspende ein<br />

beachtliches wirtschaftliches Potential. Einerseits müssen<br />

natürlich Finanzmittel aufgewandt werden, um die<br />

Rahmenbedingungen für ehrenamtliches Engagement<br />

zu schaffen. Andererseits scheint vor allem in unserer von<br />

Leistungsdruck und „Akkordarbeit“ auch im Pflege- und<br />

Betreuungsbereich geprägten Gesellschaft Zeit für<br />

persönliche Beziehung zu fehlen.<br />

Welche Gefahren entstehen durch die freiwillig<br />

ausgeübte Arbeit?<br />

Ein wesentlicher Faktor, der als eine Art „Gefahr“ durch<br />

die freiwillige Arbeit – vor allem von Seiten der<br />

hauptamtlichen KollegInnen – angesehen werden kann,<br />

ist die Verdrängung und Besetzung von bezahlten<br />

Arbeitsplätzen mit Ehrenamtlichen. Dieses Faktum, das<br />

sicherlich durch kurzsichtige Planung von Seiten der<br />

„professionellen“ Organisationen auftreten kann, sollte<br />

allerdings durch folgende Aspekte entschärft werden:<br />

einerseits ist für viele Tätigkeiten eine langwierige<br />

Ausbildung erforderlich, die kaum im Zuge der<br />

Freiwilligenarbeit erworben werden kann; andererseits<br />

sollte die ehrenamtliche Tätigkeit, wie schon gezeigt<br />

worden ist, eher als zusätzliche Bereicherung und zur


Erfüllung zusätzlicher Bedürfnisse von KlientInnen<br />

eingesetzt werden.<br />

6 MOTIVE FÜR FREIWILLIGKEIT<br />

Warum tut also jemand etwas, das so offenkundig Mühe<br />

und Arbeit bedeutet, wenn er oder sie es nicht für Geld<br />

macht? Hier werden nun jene Motive bedeutsam, die<br />

sonst vielleicht eher sekundär bei der Erwerbsarbeit zum<br />

Tragen kommen.<br />

Betrachtet man im Sinne einer Metaanalyse die in den<br />

verschiedenen Werken angeführten Beweggründe, die<br />

für Freiwilligenarbeit angeführt werden, so kann man<br />

diese nach Heimgartner (2004: 31-41) unter individuelle,<br />

soziale, gesellschaftliche und religiöse Motivationen<br />

subsumieren. Auch nach nicht repräsentativen,<br />

exemplarischen und selbsterstellten empirischen<br />

Befunden können die von den KollegInnen<br />

angegebenen Gründe für ihren Eintritt und ihr Verweilen<br />

als Freiwillige bei Rettungsorganisationen diesen<br />

Kategorien zugeordnet werden.<br />

Unter die individuellen Beweggründe reihen sich die<br />

persönliche Sinnsuche, neben der Erprobung und<br />

Weiterentwicklung eigener Fähigkeiten, der Ausgleich zur<br />

oft unbefriedigend empfundenen Erwerbsarbeit und<br />

mittel- bzw. langfristig auch der Wunsch nach „echter“,<br />

bezahlter Arbeit. Letztlich kann auch die Nutzung von<br />

Infrastruktur und die – wenn auch minimalen –<br />

Aufwandsentschädigungen einen wesentlichen Beitrag<br />

zur Sicherung des Auskommens darstellen 13 .<br />

Unter die sozialen Beweggründe, die wesentlich für den<br />

Eintritt und die laufende Betätigung als Freiwillige sind,<br />

können altruistische Beweggründe gereiht werden, die<br />

allerdings auch in Frage gestellt werden können, da alle<br />

Ehrenamtlichen – wenn auch nur immateriell oder<br />

ideologisch – von ihrer Tätigkeit profitieren. Auch<br />

Geselligkeit und Zugehörigkeitsgefühl, das Gefühl,<br />

gebraucht zu werden, der Erwerb von sozialem Status<br />

und in manchen Fällen auch die Leistung von<br />

Wiedergutmachung können hier mitspielen.<br />

Als gesellschaftliche Beweggründe werden auf der einen<br />

Seite die Unzufriedenheit mit aktuellen<br />

Versorgungsleistungen, eine gewisse politische<br />

Basisorientierung aber auch bürgerliches<br />

Standesbewusstsein und die Erwartung von gleichen<br />

Dienstleistungen und Hilfestellungen bei eigenem Bedarf.<br />

Unter die religiösen/philosophische Motive für das<br />

Ehrenamt können die (christliche) Nächstenliebe und das<br />

streben nach gottgefälligen Werken gereiht werden.<br />

Eine andere Einteilung kann grob in intrinsische und<br />

extrinsische Faktoren erfolgen. Da jedoch intrinsische<br />

Motivationen immer auch stark durch die Umwelt bedingt<br />

werden, ist diese Unterteilung auch in anderen Bereichen<br />

der Motivationspsychologie in einer derart simplifizierten<br />

Sichtweise umstritten.<br />

Manche wissenschaftliche Betrachtungen stellen einen<br />

Zusammenhang der Freiwilligenmotivation mit der<br />

Bedürfnispyramide von Maslow her. Demnach kann ein<br />

Engagement im zivilgesellschaftlichen Sinn sowohl auf<br />

das Bedürfnis nach Gesellschaft, nach (materieller)<br />

Absicherung, aber auch nach einem höheren Ziel wie<br />

der Selbstverwirklichung zurückzuführen sein.<br />

Fest steht jedenfalls, dass für eine Zeitspende immer<br />

mehrere dieser Argumente ineinander greifen und die<br />

Freiwilligen motivieren, ihre Arbeitsleistung weiter in den<br />

Zeit in Gesellschaft<br />

Zeit als Spende<br />

89<br />

Dienst der Gesellschaft aber auch in die eigene<br />

Entwicklung zu investieren.<br />

7 SCHLUSSBEMERKUNG<br />

Über Freiwilligenarbeit oder ehrenamtliches<br />

Engagement in den verschiedensten Bereichen gibt es<br />

zahlreiche Betrachtungen, Meinungen und<br />

Perspektiven: die wissenschaftliche Sichtweise – sei es<br />

nun soziologisch, ökonomisch oder auch psychologisch;<br />

den philosophisch-ethischen und religiösen Blickwinkel;<br />

den praktischen, alltagsbezogenen und den sehr<br />

persönlichen, subjektiven Zugang jeder und jedes<br />

einzelnen Freiwilligen oder auch Außenstehenden.<br />

Neben all diesen zahlreichen Aspekten, Strömungen und<br />

Einzelmeinungen darf man aber nie vergessen, dass das<br />

zentrale Anliegen der freiwilligen Tätigkeit immer eine<br />

Verbesserung der Situation des Mitmenschen bleibt. Der<br />

sozialutopische Ansatz und auch das konkrete – wenn<br />

auch sehr langfristige, teils bewusste, teils unbewusste –<br />

Ziel der Freiwilligen ist es, auf verschiedene Art und Weise<br />

die Welt und die Gesellschaft, in der wir uns bewegen<br />

zu einem „besseren“, für alle lebenswerteren Ort<br />

umzugestalten.<br />

In einer Zeit der angeprangerten „sozialen Kälte“ ist es<br />

zudem ein deutliches Zeichen, sich bewusst auch den<br />

verschiedenen Spielarten des Ehrenamtes zu widmen<br />

und dies nicht – wie in früheren Zeiten – als<br />

selbstverständlich unerwähnt zu lassen; sondern<br />

vielmehr, diese freiwillige Tätigkeit im Dienst unserer<br />

Mitmenschen hinauszutragen und auch davon bewusst<br />

und stolz – im Sinne des Ehrenamtes – zu berichten. Durch<br />

die Tätigkeit als Multiplikator wird vielen anderen klar,<br />

dass die Idee hinter dem scheinbar blauäugigen<br />

Weltverbesserungs-Anliegen eine leicht<br />

nachvollziehbare ist, und keineswegs ohne eigenen<br />

Nutzen – selbst wenn dieser nicht in Geld abgegolten<br />

wird! – verwirklicht wird.<br />

Vielleicht wird dieser Exkurs auch andere KollegInnen<br />

dazu bringen, Ihre bisherigen ehrenamtlichen Tätigkeiten<br />

mit mehr Stolz und in einem größeren, nachhaltigeren<br />

Zusammenhang zu sehen; oder auch, um bewusst die<br />

Verantwortung, aber auch die großen Möglichkeiten


anzunehmen, die ein freiwilliges, soziales Engagement<br />

bieten können!<br />

8 LITERATUR<br />

Badelt, Christoph: Politische Ökonomie der<br />

Freiwilligenarbeit: theoretische Grundlegung und<br />

Verwendungen in der Sozialpolitik. Frankfurt am Main<br />

u.a.: Campus, 1985.<br />

Beer, Ursula: Geschlecht, Struktur, Geschichte. soziale<br />

Konstituierung des Geschlechterverhältnisses. Frankfurt<br />

am Main u.a.: Campus, 1990.<br />

Heimgartner, Arno: Ehrenamtliche bzw. freiwillige Arbeit<br />

in Einrichtungen Sozialer Arbeit. Frankfurt am Main u.a.:<br />

Lang, 2004.<br />

Holzer, Claudia: Ehrenamtliches Engagement: Motive<br />

pro und contra gemeinwohlorientierter freiwlliger Einstz.<br />

Wien: unveröff. Diplomarbeit, 2005.<br />

Pott, Ludwig: Der Spagat zwischen Ehrenamt und<br />

Dienstleistung. In: Gruppendynamik und<br />

Organisationsberatung 34 (2003), S. 347-353.<br />

Schmidt, Andreas: Die Bedeutung von Freiwilligenarbeit<br />

in modernen Gesellschaften un im Leben Freiwilliger.<br />

Wien: unveröff. Diplomarbeit, 2007.<br />

Statistik Austria: Struktur und Volumen der<br />

Freiwilligenarbeit in Österreich. Wien: 2007. http://<br />

www.statistik.at/web_de/static/<br />

struktur_und_volumen_der_freiwilligenarbeit_in_oesterreich_029573.pdf<br />

[20.06.2008]<br />

Stecker, Christina: Vergütete.Solidarität und solidarische<br />

Vergütung: Zuf Förderung von Ehrenamt und<br />

Engagement durch den Sozialstaat. Poladen: Leske +<br />

Budrich, 2002.<br />

Walchshofer, Michaela: Individueller und<br />

gesellschaftlicher Stellenwert des Ehrenamtes im<br />

Sozialbereich aus der Sicht ehrenamtlich tätiger<br />

Personen: eine Fallstudie in den Organisationen Buddy-<br />

Zeit in Gesellschaft<br />

Verein, Caritas und Rotes Kreuz. Wien: unveröff.<br />

Diplomarbeit, 2002.<br />

Fußnoten<br />

1 Die immanente Wichtigkeit der Zeit wird auch durch ihre<br />

Singularität in der Sprache deutlich: es gibt keinen<br />

befriedigenden Terminus, der synonym verwendet werden<br />

kann. Aus diesem Grund wird um Verständnis für die<br />

Redundanz in der vorliegenden Betrachtung ersucht.<br />

2 vgl zur näheren Verfolgung dieser Begriffsdebatte z.B.:<br />

Heimgartner 2004, 16-19 oder Holzer 2005: 10-17.<br />

3 vgl. z.B.: Beer 1990.<br />

4 vgl. Holzer 2005: 34f.<br />

Anm.: Bemerkenswert ist jedoch, dass auch in dieser Erhebung<br />

Österreich nur im unteren Mittelfeld liegt. Traditionell ist die<br />

Ehrenamtlichkeit in den nördlichen Ländern Europas am<br />

stärksten ausgeprägt. Nach aktuelleren Daten, die vom BMSK<br />

angeboten werden, sind 43,8% der ÖsterreicherInnen<br />

ehrenamtlich tätig. URL: http://www.bmsk.gv.at/cms/site/<br />

liste.html?channel=CH0854 [20.06.2008]<br />

5 URL: http://freiwilligenweb.at/pages/aktionen/bmsg.html<br />

[18.06.2006]<br />

6 Heimgartner 2004: 232<br />

7 Vgl. Heimgartner 2004: 231-237<br />

8 vgl. Schmidt 2007: 13ff<br />

9 Aufstellung in Anlehnung an: Statistik Austria 2007, 34<br />

10 Anm.: Interessante Abweichungen von dieser<br />

wissenschaftlichen Erhebung sind in den undatierten<br />

Informationen des BMSK zu finden, nach denen sich die<br />

Freiwilligen zu 47,1% aus Männern und 40,7% aus Frauen<br />

zusammensetzt. Da diese Zahlen weder datiert noch schlüssig<br />

auf 100% addieren, wurde hier im Haupttext auf die<br />

wissenschaftliche Studie von Heimgartner Bezug genommen.<br />

http://www.bmsk.gv.at/cms/site/liste.html?channel=CH0854<br />

[20.06.2008]<br />

11 Vgl. Heimgartner 2004: 235f<br />

12 Vgl. Heimgartner 2004: 104f<br />

13 Anm.: besonders im Einsatz bei der Weltmeisterschaft 2006 in<br />

Berlin konnte ich dieses Motiv bei zahlreichen der deutschen<br />

KollegInnen beobachten.<br />

MMag. Dr. Karin Rainer, geb. 1977, studiert(e) Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik, Psychologie, Romanistik<br />

und GenderStudies. Die gebürtige Wienerin ist seit 2002 in verschiedenen Funktionen für das Rote Kreuz tätig und staatlich<br />

geprüfte Rettungssanitäterin. Sie wurde 2008 in das Österreichische Studienförderungswerk PRO SCIENTIA aufgenommen.<br />

Zeit als Spende<br />

90


Paula Aschauer<br />

Vorwort<br />

Gerade in letzter Zeit waren die das Asyl- und<br />

Flüchtlingsrecht in den österreichischen Medien ein<br />

prägnantes Thema. Vor allem die Frage der<br />

Inschubhaftnahme (Minderjähriger) und der damit<br />

verbundene Entzug von (Lebens)Zeit und Freiheit stehen<br />

immer wieder zur Diskussion.<br />

Dieser Beitrag beschäftigt sich vorrangig mit der<br />

Ausgestaltung des österreichischen Fremdenrechts und<br />

die Rolle der Schubhaft darin. Die Schubhaft wird sowohl<br />

von bundesrechtlicher, menschenrechtlicher und<br />

höchstgerichtlicher Seite betrachtet.<br />

Die weiteren Ausführungen zeigen, wie umstritten die<br />

österreichische Ausformung und vor allem die praktische<br />

Anwendung der Schubhaft nach wie vor ist und welche<br />

Mängel besonders häufig hervorgehoben werden.<br />

In diesem Diskurs zeigt sich, wie schwierig es ist, rechtlich<br />

Gebotenes in der Praxis unter Achtung der<br />

Menschenrechte umzusetzen, ohne die innerstaatlichen<br />

Rechte und Pflichten außer Acht zu lassen.<br />

Bei den in dieser Arbeit verwendeten<br />

personenbezogenen Bezeichnungen (zB<br />

Asylwerber, Schubhäftling) gilt die gewählte Form für<br />

beide Geschlechter.<br />

.<br />

Abkürzungsverzeichnis<br />

AsylG Asylgesetz<br />

AVG Allgemeines Verwaltungsgesetz<br />

BMI Bundesministerium für Innere Angelegenheiten<br />

EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte<br />

EMRK Europäische Menschenrechtskonvention<br />

FrPolG Fremdenpolizeigesetz<br />

MRB Menschenrechtsbeirat<br />

NGO Non- Governmental Organisation<br />

VfGH Verfassungsgerichtshof<br />

VStG Verwaltungsstrafgesetz<br />

VwGH Verwaltungsgerichtshof<br />

A. SCHUBHAFT ALS INSTRUMENT DER ÖSTERREICHISCHEN<br />

RECHTSORDNUNG<br />

1. Allgemeines<br />

Die Schubhaft wird im Fremdenpolizeigesetz 2005<br />

geregelt und kann nur Fremden zuteil werden. Sie soll<br />

einerseits den Zweck erfüllen ein Verfahren zur Erlassung<br />

einer Ausweisung oder eines Aufenthaltsverbotes zu<br />

gewährleisten, und andererseits eine anstehende<br />

Ausweisung sicherzustellen.<br />

Es handelt sich bei der Schubhaft nicht um eine richterlich<br />

verhängte Haft oder Strafhaft, sondern um eine lediglich<br />

von einer Verwaltungsbehörde ausgesprochene und<br />

durchgesetzte Verwaltungshaft.<br />

2. Die Vollziehung der Schubhaft<br />

Geraubte Zeit?<br />

Schubhaft im Lichte der Menschenrechte<br />

Räumlichkeiten der Fremdenpolizei vollzogen, außer sie<br />

Innerhalb des Exekutivapparates ist die Fremdenpolizei<br />

mit der Vollziehung des Fremdengesetzes betraut, was<br />

vor allem aufenthaltsbeendigende Maßnahmen, wie<br />

etwa Ausweisung und Abschiebung oder Überprüfung<br />

der Voraussetzungen für einen Aufenthalt oder ein<br />

Aufenthaltsverbot betrifft. Die Schubhaft wird in<br />

Zeit in Gesellschaft<br />

Geraubte Zeit?<br />

91<br />

findet direkt im Anschluss an eine reguläre Freiheitsstrafe<br />

statt. In diesen Fällen kann sie, mit Zustimmung des<br />

Betroffenen, in der jeweiligen Strafvollzugsanstalt<br />

vollzogen werden.<br />

3. Dauer der Schubhaft<br />

Gesetzlich vorgesehen ist eine möglichst kurze<br />

Schubhaftdauer, maximal jedoch zwei Monate, in<br />

Ausnahmefällen sechs Monate.<br />

Gemäß § 22 Abs. 3 AsylG ist ein Verfahren über Antrag<br />

auf internationalen Schutz von den Behörden der ersten<br />

und zweiten Instanz prioritär zu behandeln, wenn der<br />

Asylwerber in Schubhaft genommen wurde. Solche Fälle<br />

sollten nach Möglichkeit innerhalb von drei Monaten<br />

entschieden werden.<br />

B. DAS FREMDENPOLIZEIGESETZ 2005<br />

1. Allgemeines<br />

Die Schubhaft ist vor allem im Fremdenpolizeigesetz<br />

geregelt, welches im Zuge des „Fremdenrechtspakets<br />

2005“ zusammen mit dem Asylgesetz 2005 von der<br />

österreichischen Bundesregierung erlassen wurde. Das<br />

Gesetz basiert auf der ersten Fassung 1997 und der<br />

Novelle 2003, geprägt durch die Verpflichtung der<br />

Umsetzung gemeinschaftlicher Richtlinen, wobei sich die<br />

Europäische Union hier auf die Ermächtigungsnorm des<br />

Art 63 EGV stützt. 1<br />

2. Regelung der Schubhaft im Fremdenpolizeigesetz<br />

Die Schubhaft wird in §§ 76-81 FrPolG genau geregelt.<br />

a) Gründe für die Inschubhaftnahme<br />

§ 76 bestimmt die Gründe für eine Inschubhaftnahme:<br />

nämlich um das Verfahren zur Erlassung eines<br />

Aufenthaltsverbotes oder einer Ausweisung zu sichern<br />

oder wenn auf Grund bestimmter Tatsachen<br />

anzunehmen ist, ein Asylwerbender könnte sich dem<br />

Verfahren entziehen. Absatz zwei gibt taxativ die<br />

Voraussetzungen für die Verhängung der Schubhaft an:<br />

wenn<br />

1. gegen den Asylwerber eine durchsetzbare - wenn<br />

auch nicht rechtskräftige - Ausweisung erlassen wurde;<br />

2. gegen den Asylwerber nach den Bestimmungen des<br />

Asylgesetzes 2005 ein Ausweisungsverfahren eingeleitet<br />

wurde;<br />

3. gegen den Asylwerbenden bereits vor Stellung des<br />

Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare<br />

Ausweisung oder ein durchsetzbares Aufenthaltsverbot<br />

verhängt worden ist oder<br />

4. wenn auf Grund des Ergebnisses der Befragung, der<br />

Durchsuchung und der erkennungsdienstlichen<br />

Behandlung anzunehmen ist, dass der Antrag des<br />

Fremden auf internationalen Schutz mangels<br />

Zuständigkeit Österreichs zur Prüfung zurückgewiesen<br />

werden wird (siehe Dublin II VO).<br />

Weiters wird die Verhängung der Schubhaft mittels<br />

Bescheid gemäß § 57 AVG vorgesehen.


Eine Anfechtung der Schubhaft ist mittels Beschwerde<br />

nach § 82 FrPolG möglich.<br />

b) Das gelindere Mittel<br />

§ 77 FrPolG sieht als Alternative zur Schubhaft ein<br />

sogenanntes „gelinderes Mittel“ vor. Nähere<br />

Ausführungen dazu siehe Kapitel C „Exkurs“.<br />

c) Vollzug der Schubhaft und ihre örtlichen Grenzen<br />

Die Schubhaft ist gemäß § 78 örtliche begrenzt. Prinzipiell<br />

ist sie im Haftraum der Fremdenpolizeibehörde zu<br />

vollziehen, die sie verhängt hat. Ist dies der<br />

Fremdenpolizeibehörde jedoch nicht möglich, ist die<br />

nächstgelegene Fremdenpolizeibehörde, die über<br />

Haftraum verfügt, um den Vollzug zu ersuchen. Sollte<br />

auch diese Behörde nicht in der Lage sein die Schubhaft<br />

zu vollziehen, so kann die Schubhaft im gerichtlichen<br />

Gefangenenhaus vollzogen werden.<br />

Es darf in diesem Kontext nicht übersehen werden, dass<br />

die Schubhäftlinge grundsätzlich in einer<br />

Fremdenpolizeibehörde oft neben Personen, die nach<br />

gerichtlich strafbaren Handlungen angehalten werden<br />

oder eine Ersatzfreiheitsstrafe nach VStG verbüßen,<br />

festgehalten werden.<br />

Hier verschwimmen schon merkbar die Grenzen<br />

zwischen einer Verwaltungshaft, welche die Schubhaft<br />

ja darstellen sollte, und einer gerichtlich angeordneten<br />

Strafhaft.<br />

Wie schon oben erwähnt, kann gemäß Abs.3 die<br />

Schubhaft im Anschluss an eine vollzogene<br />

Freiheitsstrafe, mit Zustimmung des Betroffenen, in der<br />

jeweiligen Strafvollzugsanstalt fortgesetzt werden.<br />

Absatz 4 sieht im Rahmen einer Abschiebung den<br />

Vollzug der Schubhaft in eigens eingerichteten<br />

Hafträumen auf dem Weg an die Bundesgrenze vor.<br />

Weiters wird vorgesehen, dass ein Schubhaftvollzug bei<br />

entsprechendem körperlichem Zustand des<br />

Schubhäftlings auch in Krankenanstalten möglich ist.<br />

d) Durchführung der Schubhaft<br />

§ 79 legt, fest, dass auch für Asylwerber die gleichen<br />

Regeln wie für anderweitig Inhaftierte nach dem VStG<br />

gelten.<br />

Es wird explizit auf Minderjährige eingegangen und<br />

vorgesehen, dass sie von den Erwachsenen getrennt<br />

unterzubringen sind, außer es handelt sich um ein<br />

Familienmitglied und der gemeinsamen Unterbringung<br />

steht nichts im Wege.<br />

e) Dauer der Schubhaft und ihre zeitlichen Grenzen<br />

In § 80 werden die zeitlichen Grenzen der Schubhaft<br />

gesetzliche geregelt.<br />

Grundsätzlich hat die Behörde nach darauf hinzuwirken,<br />

dass die Schubhaft einer möglichst kurzen Dauer<br />

unterliegt und sie endet mit Wegfall der<br />

Inhaftierungsgründen oder08nach Ablauf von zwei<br />

Monaten. Hievon gibt es jedoch zwei Ausnahmen:<br />

wurde ein Asylantrag nach § 51 noch nicht entschieden,<br />

so kann sich die Dauer der Schubhaft auf 6 Monate<br />

verlängern. Auf 10 Monate (innerhalb von zwei Jahren)<br />

kann die Schubhaftdauer verlängert werden, wenn ein<br />

Fremder nicht abgeschoben werden kann oder darf,<br />

weil seine Identität nicht festgestellt werden kann, weil<br />

noch keine Ein- oder Durchreisebewilligung für einen<br />

anderen Staat vorliegt, oder wenn der Fremde selbst<br />

Zeit in Gesellschaft<br />

Geraubte Zeit?<br />

92<br />

seine Abschiebung dadurch vereitelt, indem er sich<br />

beispielsweise Zwangsgewalt widersetzt.<br />

Für diese Verlängerungen sind besondere<br />

Überprüfungsmaßnahmen seitens der Behörden und der<br />

entscheidenden Instanzen vorgesehen.<br />

Mag. Klaus Kelz, Leiter der Fremdenpolizei Graz gibt an,<br />

dass solche Haftverlängerungen kein Einzelfall sind.<br />

Häufig würden Botschaften für Ihre Staatsangehörigen<br />

einfach keine Reisedokumente ausstellen, was die<br />

Abschiebung unmöglich mache. Auch komme es oft vor,<br />

dass Asylwerber eine falsche Identität angeben oder bei<br />

der Abschiebung mittels körperlicher Gewalt das<br />

Einsteigen in ein Flugzeug verhindern. 2<br />

f) Aufhebung der Schubhaft<br />

§ 81 sieht die Formlose Aufhebung der Schubhaft vor,<br />

wenn sie entweder nicht mehr aus den gesetzlich<br />

genannten Gründen in § 80 aufrecht erhalten werden<br />

darf, oder wenn es der Unabhängige Verwaltungssenat<br />

feststellt, dass die Voraussetzungen für eine Schubhaft<br />

nicht mehr vorliegen.<br />

C. SITUATIONSANALYSE IN ÖSTERREICH ANHAND<br />

HÖCHSTGERICHTLICHER JUDIKATUR<br />

1 Allgemeines zur Schubhaft- Situation in Österreich<br />

Grundsätzlich sind es vor allem regionale und nationale<br />

NGOs wie die Caritas, die Volkshilfe, der Evangelische<br />

Flüchtlingsdienst, die ARGE Schubhaft (in Tirol) und SOS<br />

Menschenrechte (in Oberösterreich), die mit dem BMI<br />

einen sogenannten Schubhaftbetreuungsvertrag<br />

unterhalten. Ein Schubhaftbetreuungsvertrag sieht vor,<br />

dass die genannten Organisationen regelmäßige,<br />

humanitäre, soziale und psychosoziale Betreuung, sowie<br />

rechtliche Beratung der Fremden sicherstellen.<br />

Daneben gibt es noch zahlreiche andere Organisationen<br />

wie den Flughafensozialdienst, Asyl in Not, Amnesty<br />

International, Deserteursberatung Wien und ZEBRA, die<br />

zwar keinen Vertrag mit dem BMI haben, sich aber auch<br />

im Bereich der Schubhaft engagieren. 3<br />

Vor allem durch deren rechtliche Beratung und durch<br />

Unterstützung von Asylanwälten, ist es Fremden möglich<br />

auch die ihnen zustehenden Rechte geltend zu machen.<br />

Diese Situation wird von ministerieller Seite nicht nur<br />

begrüßt, sondern teilweise auch kritisch betrachtet, da<br />

es durch das Engagement der Nicht-<br />

Regierungsorganisationen naturgemäß zur vermehrten<br />

Einreichung von Asylanträgen und Rechtsmitteln kommt.<br />

2. Grenzen der Schubhaft im Lichte<br />

Verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung<br />

Gerade in der jüngeren Vergangenheit geht der<br />

Verfassungsgerichtshof stark auf eine rechtmäßige und<br />

tatsächlich vollzogene Begründung einer<br />

Schubhaftnahme ein. So hob er, mit Bezug auf den<br />

Gleichheitssatz, einen die Schubhaft anordnenden<br />

Bescheid wieder auf. Es läge nämlich „eine Verletzung<br />

im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden<br />

untereinander durch Abweisung der<br />

Schubhaftbeschwerde eines Asylwerbers mangels<br />

nachvollziehbarer Begründung für die Anordnung bzw.<br />

Aufrechterhaltung der Schubhaft und Überlegungen zur<br />

Anwendung eines gelinderen Mittels“ 4 vor.<br />

In einer anderen Entscheidung betont der<br />

Verfassungsgerichtshof die Verpflichtung der Behörden<br />

zur Beachtung Gebotes der Verhältnismäßigkeit, das im<br />

Bundesverfassungsgesetz über den Schutz der<br />

persönlichen Freiheit genau festgelegt ist. 5 (siehe auch


Kapitel F „Alternativen zur Schubhaft“) Dieser Grundsatz<br />

der Verhältnismäßigkeit, so der Verfassungsgerichtshof,<br />

sei insbesondere bei Regelungen über bzw. bei<br />

Verfügungen von präventiven Freiheitsentziehungen zu<br />

beachten und die in §76 Abs2 Z4 FrPolG festgelegte<br />

Ermächtigung zur Schubhaftnahme sei immer im Lichte<br />

des aus dem PersFrSchG erfließenden unmittelbar<br />

anwendbaren Gebots der Verhältnismäßigkeit<br />

auszulegen.<br />

Auch in einem ähnlich gelagerten Fall, wo über eine<br />

Beschwerde gegen eine Schubhaftverlängerung zu<br />

entscheiden war, betont der Verfassungsgerichtshof,<br />

dass die zuständige Fremdenpolizeibehörde stets dazu<br />

verpflichtet sei, „die einzelnen Schubhafttatbestände<br />

verfassungskonform auszulegen und eine<br />

einzelfallbezogene Abwägung zwischen dem<br />

öffentlichen Interesse an der Sicherung des Verfahrens<br />

und der Schonung der persönlichen Freiheit des<br />

Betroffenen vorzunehmen“. 6<br />

Hier zeigen sich somit der Gleichheitssatz und auch das<br />

Verhältnismäßigkeitsprinzip als wichtige, von der<br />

Rechtssprechung entwickelte, juristische Grenzen der<br />

Schubhaft.<br />

3. Grenzen der Schubhaft im Lichte<br />

Verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung<br />

Wie der Verfassungsgerichtshof hat auch der<br />

Verwaltungsgerichtshof nach der Einführung der FrPolG<br />

im Jahr 2005 einige grundlegende Entscheidungen zu<br />

treffen. So erkannte er im Vorjahr, es könne „dem<br />

Gesetzgeber vor dem Hintergrund des<br />

verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes<br />

jedenfalls nicht zugesonnen werden, er sei davon<br />

ausgegangen, alle potenziellen “Dublin-Fälle” seien statt<br />

in Grundversorgung in Schubhaft zu nehmen.“ 7 Somit<br />

wird auch hier eindeutig festgestellt, dass eine<br />

Schubhaftnahme nur in den Grenzen der gesetzlich<br />

geregelten Gründe zulässig ist, keinesfalls aber einem<br />

gelinderen Mittel oder der üblichen Grundversorgung in<br />

einem potentiellen „Dublin-Fall“ automatisch vorzuziehen<br />

sei.<br />

In einem anderen Fall sprach sich der VwGH, nach<br />

Prüfung der genauen Lebensumstände des Fremden, für<br />

die Verhängung Schubhaft aus, obwohl oder gerade weil<br />

er in Österreich unter Umgehung des Arbeitsverbotes<br />

einen Restaurationsbetrieb aufgebaut hatte. „Weil er<br />

einerseits keine familiären Bindungen zu Österreich<br />

aufweist (seinen Angaben zufolge lebt seine Tochter in<br />

Ungarn, seine Ehefrau in Ägypten) und er andererseits<br />

angesichts der Schwere der von ihm begangenen<br />

Straftaten (Verbrechen des betrügerischen<br />

Datenmissbrauches, Vergehen der fahrlässigen Krida, der<br />

Nichtablieferung von Sozialversicherungsbeiträgen und<br />

falscher Angaben zum Zweck der Eintragung in das<br />

Handelsregister) eine beachtliche Minderung der für eine<br />

Integration wesentlichen sozialen Komponente erkennen<br />

lässt“ 8 erachtet der Verwaltungsgerichtshof in diesem<br />

Fall die Befürchtung der Asylwerber könne sich im<br />

Verborgenen halten, für begründet.<br />

Diese Ansicht ist aber, wie aus älteren Entscheidungen<br />

ersichtlich, weder unerwartet noch neu. So entschied der<br />

Verwaltungsgerichtshof schon 1999, dass „bereits die<br />

berechtigte Annahme der Möglichkeit der Verhängung<br />

eines Aufenthaltsverbotes“ für die Anordnung der<br />

Schubhaft ausreiche. 9<br />

Auch wurde allein das Betreten eines Asylwerbers bei der<br />

Verrichtung von Schwarzarbeit durch Organe des<br />

Arbeitsinspektorates als ausreichend angesehen, um die<br />

Notwendigkeit der Schubhaft im Hinblick auf die<br />

Zeit in Gesellschaft<br />

Geraubte Zeit?<br />

93<br />

Sicherung eines voraussichtlich zu verhängenden<br />

Aufenthaltsverbotes zu rechtfertigen. 10<br />

Die Grenzen der Schubhaft werden hier durch den<br />

Verwaltungsgerichtshof recht weit gelegt, auch wenn<br />

er immer wieder auf die Anwendung des „gelinderen<br />

Mittels“ hinweist. So auch in seiner bereits oben<br />

erwähnten Entscheidung 2001/02/0048<br />

zur Schubhaftbeschwerde einer Minderjährigen, die<br />

davor ihre Strafhaft verbüßt hatte, wo befunden wurde,<br />

dass die Behörde die Gründe die für die Anwendung<br />

des gelinderen Mittels, genauer hätte prüfen müssen.<br />

4. Die Schubhaft im Lichte der Menschenrechte<br />

a) Schubhaft und EMRK<br />

Art 5 lit. f der EMRK besagt „Jedermann hat ein Recht<br />

auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf einem<br />

Menschen nur in den folgenden Fällen und nur auf die<br />

gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:…<br />

wenn er rechtmäßig festgenommen worden oder in Haft<br />

gehalten wird, um ihn daran zu hindern, unberechtigt in<br />

das Staatsgebiet einzudringen oder weil er von einem<br />

gegen ihn schwebenden Ausweisungs- oder<br />

Auslieferungsverfahren betroffen ist.“<br />

Allgemein wird angenommen, dass dieser lit. f (wie lit.<br />

a) eine rein formelle Garantie enthält. Die<br />

Freiheitsentziehung wird durch mehrere Faktoren<br />

gerechtfertigt: einerseits durch die Absicht, den<br />

Betroffenen daran zu hindern, in das Staatsgebiet<br />

einzudringen und andererseits durch die Einleitung eines<br />

Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahrens die<br />

Ausweisung oder Auslieferung sicherzustellen. 11<br />

Immer wieder wird diskutiert, ob die Schubhaft nicht<br />

gegen das Menschenrecht auf Freiheit verstoße,<br />

welches in Art 5 der Europäischen<br />

Menschenrechtskonvention, welche in Österreich<br />

ratifiziert wurde und in Verfassungsrang steht, verankert<br />

ist.<br />

In einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes wird<br />

aber ausdrücklich festgehalten, dass die Vorschriften<br />

über die Schubhaft keinen “verfassungswidrigen<br />

Freiheitsentziehungstatbestand” im Hinblick auf Art. 5<br />

MRK enthalten; „selbst bei Zutreffen der gegenteiligen<br />

Argumentation wird übersehen, dass nach Art. 5 Abs. 1<br />

lit. f legcit die Haft im Rahmen eines<br />

Ausweisungsverfahrens ausdrücklich für zulässig erklärt<br />

wird.“ 12<br />

Konventionskonform sei auf jeden Fall eine innerstaatlich<br />

gesetzmäßige Freiheitsentziehung, wenn sie auch<br />

gemäß den gesetzlichen Bestimmungen und nicht<br />

willkürlich durchgeführt werde, so der Europäische<br />

Gerichtshof für Menschenrechte. 13<br />

Eine Freiheitsentziehung sei aber nur dann - und nur<br />

solange konventionskonform, als sie dem anvisierten<br />

zulässigen Zweck diene, wie beispielsweise die<br />

Anhaltung von Personen, die von schwebenden<br />

Ausweisungsverfahren betroffen sind, oder die<br />

Verhinderung eines unberechtigten Eindringens in das<br />

Staatsgebiet. 14<br />

Außerdem wurde festgestellt, dass die<br />

Konventionsorgane der EMRK zwar die<br />

Konventionsmäßigkeit der Haft festzustellen haben,<br />

„nicht aber die Rechtmäßigkeit der Ausweisung oder<br />

Auslieferung selber“ 15<br />

Eine richtungsweisende Entscheidung im Lichte der EMRK<br />

zum aktuellen Diskussionspunkt der langen


Verfahrensdauer, wurde ebenfalls bereits 1975 getroffen,<br />

wo bestätigt wurde, dass „die Rechtmäßigkeit der Haft<br />

nach lit. f möglicherweise entfallen kann, wenn das<br />

Auslieferungs- bzw. Ausweisungsverfahren nicht mit der<br />

erforderlichen Beschleunigung durchgeführt wird.“ 16<br />

b) Die kritische Auseinandersetzung mit der Schubhaft<br />

in Österreich<br />

Der Menschenrechtsbeirat des Innenministeriums<br />

beschäftigt sich sehr intensiv mit der österreichischen<br />

Vollzugspraxis der Schubhaft und äußert sich hier in Form<br />

von Berichten und Empfehlungen. So wurde aus einem<br />

Anlassfall im Jahr 2005, als ein Asylwerber während der<br />

Schubhaft starb, bemängelt, dass es keinen<br />

österreichweiten Standard für medizinische Versorgung<br />

in Schubhaft, und keine Rechtsgrundlage für die in die<br />

körperliche Integrität eingreifende<br />

Zwangsuntersuchungen und Zwangsbehandlungen in<br />

den Polizeianhaltezentren gäbe. 17<br />

Wie bereits erwähnt, erntet Österreichs Schubhaftpraxis<br />

nicht nur vom hiesigen Menschenrechtsbeirat Kritik,<br />

sondern auch international, so wie beispielsweise<br />

Thomas Hammaberg, der EU-<br />

Menschenrechtskommissar.<br />

In seinem Bericht vom Dezember 2007 sprach er<br />

folgende vier Empfehlungen aus: 18<br />

- Die Inhaftierung von Asylwerbern während<br />

einer Zuständigkeitsprüfung überprüft werden,<br />

- Schubhaft solle nur dann angeordnet werden,<br />

wenn die Abschiebung in unmittelbarer Zukunft<br />

erfolgen könne,<br />

- Für (abgelehnte) Asylwerber solle es<br />

grundsätzlich kostenlosen Rechtsbeistand<br />

geben und<br />

- Die Zellen der Schubhaft sollen allgemein mehr<br />

geöffnet werden.<br />

Vor allem auf die teilweise sehr lange Dauer von bis zu<br />

acht Monaten weist der Bericht hin und fordert eine<br />

Anwendung der Schubhaft nur dann, wenn eine<br />

Abschiebung unmittelbar bevorstehe.<br />

Der Grazer Rechtsanwalt Dr. Klaus Kocher meint im<br />

Rahmender Lehrveranstaltung aus Flüchtlings- und<br />

Asylrecht, die Schubhaft sei schon aus humanitären<br />

Gründen unzumutbar und fügt hinzu, dass viele<br />

Flüchtlinge schon vor der Flucht negative Erfahrungen<br />

mit dem Staatsapparat gehabt hätten; ja gerade auch<br />

oft deshalb geflohen seien. Er kritisiert die Abhängigkeit<br />

der Entscheidungsträger im Asylverfahren von den<br />

jeweiligen Dolmetschern und äußert sich eher negativ<br />

zu den im Jahr 2005 eingeführten<br />

Schubhaftmaßnahmen und dass hier der Schutz für<br />

traumatisierte Fremde fehle.<br />

Auch die Regelung, dass eine Arbeitserlaubnis an die<br />

Aufenthaltserlaubnis gekoppelt ist, könnte nach RA Dr.<br />

Kocher eine gut durchdachte Änderung vertragen.<br />

D. ALTERNATIVEN ZUR SCHUBHAFT<br />

1. Allgemeines<br />

Eine weitere Grenze der Schubhaft stellt ihre Alternative,<br />

das sogenannte „gelindere Mittel“ dar.<br />

„Die Ergänzung der Schubhaft durch das Rechtsinstiut<br />

des gelinderen Mittels ist einerseits aus Aspekten der<br />

Menschenrechte ein positives Signal, weil hiermit- so die<br />

Rahmenbedingungen gegeben sind- die<br />

Zeit in Gesellschaft<br />

Geraubte Zeit?<br />

94<br />

Freiheitsbeschränkungen Fremder auf ein Mindestmaß<br />

reduziert werden könnnen<br />

Seine gesetzliche Grundlage findet das gelindere Mittel<br />

in § 77 FrPolG, wo vorgesehen ist, dass die Behörde kann<br />

von der Anordnung der Schubhaft Abstand nehmen<br />

kann, wenn sie Grund zur Annahme hat, dass deren<br />

Zweck durch Anwendung gelinderer Mittel erreicht<br />

werden kann. Dies kann bedeuten, dass der Fremde in<br />

von der Behörde bestimmten Räumen Unterkunft nimmt<br />

oder sich in periodischen Abständen bei einem dem<br />

Fremden bekannt gegebenen Polizeikommando meldet.<br />

Voraussetzung für die Anwendung des gelinderen Mittels<br />

ist die vorgängige erkennungsdienstliche Behandlung<br />

des Fremden durch die Behörde.<br />

Mag. Klaus Kelz gibt an, dass in der Praxis eher selten auf<br />

die Möglichkeit des gelinderen Mittels zurückgegriffen<br />

wird.<br />

Bei Zuwiderhandeln gegen die behördlichen Auflagen,<br />

kann statt des gelinderen Mittels wieder die Schubhaft<br />

angeordnet werden.<br />

2. Exkurs: Minderjährige in Schubhaft<br />

a) Rechtliche Grundlagen<br />

Das FrPolG sieht in §77 vor, dass gegen Minderjährige<br />

das gelindere Mittel anzuwenden ist, außer es besteht<br />

„Grund zur Annahme, dass der Zweck der Schubhaft<br />

nicht erreicht werden kann.“<br />

Außerdem gibt es diesbezüglich zahlreiche internationale<br />

völkerrechtliche Vereinbarungen und Verträge sowie<br />

internationale Standards. Hier sind beispielsweise die<br />

„Richtlinien über allgemeine Grundsätze und Verfahren<br />

zur Behandlung asylsichernder, unbegleiteter<br />

Minderjähriger“ des Hochkommissärs der Vereinten<br />

Nationen für Flüchtlinge, die UN-Kinderrechtskonvention<br />

und die UN-Mindeststandards für Jugendverfahren zu<br />

erwähnen.<br />

In Österreich stehen Minderjährige grundsätzlich unter<br />

dem besonderen Schutz der Gesetze ( § 21 ABGB). Diese<br />

Schutzbedürftigkeit wird durch ein mögliches<br />

Verständigungsproblem minderjähriger Fremder noch<br />

erhöht.<br />

So entschied der Verwaltungsgerichtshof etwa, dass<br />

selbst nach der Entlassung einer Minderjährigen aus der<br />

Strafhaft, nicht automatisch eine Schubhaft die Folge sein<br />

darf, sondern „Es wäre daher (....) von der Behörde zu<br />

begründen gewesen, warum sie Grund zur Annahme<br />

fand, dass der Zweck der Schubhaft durch die<br />

Anwendung gelinderer Mittel nicht erreicht werden<br />

könne.“ 19 Damit hob der VwGH einen die Schubhaft<br />

begründenden Bescheid als rechtswidrig auf.<br />

b) Clearingstellen als weiterer Alternativvorschlag des<br />

MRB<br />

Der Menschenrechtsbeirat in Österreich fordert im<br />

Zusammenhang mit der <strong>Pro</strong>blematik der Unterbringung<br />

unbegleiteter minderjähriger Fremder die Einrichtung<br />

eigener „Clearingstellen“. 20 Aufgabe dieser Einrichtungen<br />

wäre es, einerseits für die Unterbringung und Verpflegung<br />

der Minderjährigen aufzukommen und andererseits für<br />

eine rasche Ausforschung von Familienangehörigen und<br />

die Feststellung der verwandtschaftlichen Verhältnisse zu<br />

sorgen. Außerdem solle es statt dem herkömmlichen<br />

Asylverfahren ein sogenanntes „Clearingverfahren“<br />

geben, durch welches die rasche Feststellung des<br />

fremdenrechtlichen Status des Minderjährigen möglich<br />

ist. Je nach Ausgang des Verfahrens wären dann die


notwendigen Schritte für eine Integration oder auch für<br />

die Rückkehr in den Herkunftsstaat zu setzen.<br />

c) Das <strong>Pro</strong>blem der Altersfeststellung als weiter Grenze<br />

der Schubhaft<br />

Gibt ein Fremder an, minderjährig zu sein, so muss er dies<br />

nachweisen. Oft ist dies aber mangels verfügbarer<br />

Dokumente nicht möglich.<br />

Daher muss das Alter seitens der Behörden geschätzt<br />

werden. Hierbei sind nicht nur das äußere, körperliche<br />

Erscheinungsbild, sondern auch der Faktor der<br />

psychischen Reife als Beurteilungskriterium<br />

heranzuziehen.<br />

Diskussionen über die medizinische Feststellung des Alters,<br />

etwa durch ein Handwurzelröntgen oder ein<br />

Panoramaröntgen das den Entwicklungsstand der<br />

Weisheitszähne zeigen kann, sind nach wie vor im Gange.<br />

Gegen einen solchen radiologischen Eingriff sprechen<br />

sicher die hohe Strahlenbelastung, die hier außerhalb von<br />

einem gesundheitlichen Diagnoseprozess zum Einsatz<br />

kommen würde und andererseits der Eingriff in das Privatund<br />

Familienleben nach Art 8 Abs. 2 EMRK. Außerdem<br />

gibt es heute noch keine wirklich gut ausgereifte<br />

Methode, die das exakte Alter einer Person feststellbar<br />

macht.<br />

Da man also auf die Schätzung des Kindesalters<br />

angewiesen ist, sollte im Zweifel zugunsten des<br />

Minderjährigen entschieden werden.<br />

E. CONCLUSIO<br />

Abschließend kann festgestellt werden, dass aus<br />

zahlreichen Entscheidungen hervorgeht, dass die<br />

Schubhaft als Sicherungshaft des Verwaltungsapparates<br />

sowohl Verfassungs- als auch Europarechts- und<br />

Menschenrechtskonform ist.<br />

Die praktische Umsetzung ist in Österreich aber nach wie<br />

vor wenig ausgereift und wird von vielen Seiten kritisiert.<br />

Nicht nur die Bedingungen der Unterbringung, sondern<br />

auch die medizinische, psychologische Versorgung und<br />

die rechtliche Beratung der Asylwerber ist<br />

verbesserungsbedürftig. Auch die rechtliche Beratung<br />

hat noch nicht ihre optimale Ausgestaltung gefunden.<br />

Es wird somit auch in Zukunft nötig sein, dass der MRB<br />

und die involvierten NGOs immer wieder auf Missstände<br />

aufmerksam machen, um so eine Verbesserung der<br />

Umsetzung der Schubhaft seitens des BMI und der<br />

Behörden zu erreichen.<br />

Denn nur nach genauer vorhergehender Prüfung kann<br />

eventuell gerechtfertigt werden, dass einem Menschen<br />

ein Stück seiner Lebenszeit und seiner Freiheit genommen<br />

wird.<br />

Zeit in Gesellschaft<br />

LITERATURVERZEICHNIS:<br />

Veit, Theodor (Hrsg): Asylrecht als Menschenrecht,<br />

Band V, Wien-Stuttgart 1969<br />

Frowein/ Peukert: Europäische<br />

Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, Kehl<br />

1985<br />

Reichel, Paul: Die Schubhaft im österreichischen<br />

Fremdenrecht, Salzburg 1997<br />

Putzer/ Rohrböck: Leitfaden zur neuen Rechtslage<br />

nach dem Asylgesetz 2005, Wien 2007<br />

Fußnoten:<br />

1 Mag. Wolfgang Taucher, Leiter des Bundesasylamtes, im<br />

Rahmen der LV „Flüchtlings- und Asylrecht“ am 09.11.2007 in<br />

Graz<br />

2 Mag. Klaus Kelz. Leiter der Fremdenpolizei Graz, , im<br />

Rahmen der LV „Flüchtlings- und Asylrecht“ am 19.10..2007 in<br />

Graz<br />

3 http://www.zebra.or.at/lexikon/s.html,06.02.2008<br />

4 VfGH 24.09.2007, B372/06<br />

5 VfGH 24.06.2006, B362/06<br />

6 VfGH 15.06.2007, B1330/06<br />

7 VwGH 24.10.2007, 2006/21/0267<br />

8 VwGH 23.07.1999, 99/02/0081<br />

9 VwGH 16.02.1999, 99/02/0011<br />

10 VwGH 27.04.2000, 2000/02/0088<br />

11 Frowein/ Peukert: Europäische Menschenrechtskonvention,<br />

EMRK-Kommentar, Kehl 1985, Rn 81<br />

12 VwGH 18.05.2001, 2001/02/0056<br />

13 EGMR 18.12.1986, Bozano gegen Frankreich<br />

14 EGMR, 22.3.1995; Quinn gegen Frankreich,<br />

15 Caprino v United Kingdom, B 6871/75<br />

16 Lynas v Switzerland E 7317/75<br />

17 http://www.menschenrechtsbeirat.at/cms/<br />

index.php?option=com_content&task=view&id=274&Itemid=196<br />

18 http://no-racism.net/article/2385/ 06.02.2008<br />

19 VwGH 18.05.2001. 2001/02/0048<br />

20 Bericht des Menschenrechtsbeirates des BMI, zum <strong>Pro</strong>blem<br />

„Minderjährige in Schubhaft“, 11.07. 2000<br />

Paula Aschauer, geboren 1986, studiert Rechtswissenschaft in Graz, Fribourg und Bern. Sie engagiert sich u.a. im Akademischen<br />

Forum für Außenpolitik und nahm hier 2006 am Vienna Model of United Nations teil. Ihre Interessen liegen v.a. im Bereich des<br />

Völker- und Europarechts. Sie ist seit 2008 Angehörige von PRO SCIENTIA.<br />

Geraubte Zeit?<br />

95


David Wineroither<br />

Was fängt die Demokratie mit der Zeit an?<br />

Überlegungen zu Repräsentation und “political leadership”<br />

EINLEITUNG<br />

Was hat die Welt nicht schon alles gesehen - nach außen<br />

und innen ungehemmt Machtexpansion betreibende<br />

“totalitäre” Diktaturen; zahllose “gemäßigtere”<br />

autokratische Formen, sogenannte “autoritäre”<br />

Diktaturen; den Zusammenbruch etlicher Demokratien in<br />

der “Zwischenkriegszeit” (zwischen den beiden<br />

Weltkriegen) und anschließende (dritte und vierte)<br />

Demokratisierungswellen 1 . Die Demokratie als<br />

erstrebenswerteste Herrschaftsform scheint heute<br />

universale Geltung zu besitzen - selbst eine lange Reihe<br />

skrupelloser Potentaten beansprucht dieses Etikett für sich.<br />

Andere gaben und geben sich offener: Es bedarf einer<br />

“Diktatur auf Zeit”, um die Gesellschaft sozial und<br />

ökonomisch demokratiefit zu machen, was sich dann<br />

euphemistisch “Entwicklungsdiktatur” nennt.<br />

Vor allem jedoch: Die Anzahl der demokratischen Länder<br />

nimmt zu (absolut wie relativ, wie man hinzufügen sollte).<br />

Werfen <strong>Pro</strong>zesse politischer Transformation von der<br />

Diktatur zur Demokratie die Frage nach Kriterien auf,<br />

anhand derer ein politisches System als zweifelsohne<br />

demokratisch konsolidiert ausgewiesen ist, stellt sich für<br />

die bereits etablierten “älteren” Demokratien die Frage<br />

nach der Erreichung und Bestimmung von (mehr)<br />

Demokratie-Güte. Dem will dieser Beitrag nachgehen und<br />

rekurriert auf eine kombinierte Darstellung eines<br />

fundamentalen demokratietheoretischen Aspekts mit<br />

einer politologischen “Leerstelle”, einem bis dato “blinden<br />

Fleck” in der einschlägigen Forschungslandschaft: (a) der<br />

möglichst weitgehenden Bindung der Politik an die<br />

Vorstellungen der Regierten im Rahmen repräsentativer<br />

Demokratie und (b) ihrer <strong>Pro</strong>jektion im Zeitverlauf.<br />

Die Ausführungen orientieren sich im Wesentlichen an der<br />

Beziehung von gewählten Politikern (bzw. Parteien) und<br />

verallgemeinerbaren ebenso wie artikulationsfähigen<br />

gesellschaftlichen Interessen im Sinne eines auf Angebot<br />

(Politik) und Nachfrage (Bürger bzw. Wähler) basierenden<br />

Marktmodells ausrichtet. Diese ist naturgemäß am<br />

dichtesten im Umfeld von Wahlen, die in dieser<br />

Perspektive folgerichtig zur vielgepriesenen “Olympiade<br />

der Demokratie” 2 mutieren. Als Referenz für den<br />

Zeitverlauf wird somit die Dauer einer Legislaturperiode<br />

bestimmt.<br />

DER DEMOKRATIETHEORETISCHE HINTERGRUND<br />

Demokratie heißt wörtlich Volksherrschaft. Demokratie<br />

steht damit im vornherein in einem Spannungsverhältnis<br />

mit einer Repräsentativregierung. Je weniger politische<br />

Macht politische Repräsentanten ausüben, desto<br />

geringer sollte sie sein. 3 Die meisten Demokratietheorien<br />

akzeptieren mehr oder weniger widerwillig die<br />

Hervorbringung einer politischen Elite in modernen<br />

Demokratien. Das setzt für jene wie die Gruppe der<br />

“partizipativen”, der “diskursiven” (Habermas) wie der<br />

“deliberativen” (Rawls) Ansätze aber ein permanentes<br />

Bemühen um Verringerung des Machtabstandes<br />

zwischen Regierenden und Regierten voraus, eine<br />

andauernde Vergewisserung der Mächtigen durch<br />

Kommunikation mit dem von politischen Entscheidungen<br />

betroffenen Bürger. Das ist umso bedeutender, weil die<br />

Demokratie nicht auf Konservierung des<br />

gesellschaftlichen “status quo” ausgerichtet ist 4 , sondern<br />

den Wandel verwaltet 5 (Blondel) und Unsicherheit<br />

organisiert 6 - das sind die Fundamente des<br />

Wohlfahrtsstaates, der den Staat zweifelsohne gestärkt<br />

oder, diesmal kritisch gesehen, “aufgebläht” haben.<br />

Was oben die andauernde Vergewisserung durch<br />

Kommunikation genannt wurde, legt ein weiteres Fundament<br />

frei, nämlich jenes demokratischen politischen<br />

Wettbewerbs. Es soll nicht überraschen, dass eine<br />

ausgefeilte Theorie politischen Wettbewerbs sich erstens<br />

“ökonomisch” nennt und zweitens die Bedeutung einer<br />

Demokratietheorie erlangt hat: Ende der 1950er Jahre<br />

legte Anthony Downs seinen Entwurf für eine<br />

“Ökonomische Theorie der Demokratie” 7 vor. In diesem<br />

Modell stehen sich schonungslos stimmenmaximierende<br />

Parteien und ein postulierter rationaler, schonungslos<br />

interessen- und nutzenabwägender Wähler gegenüber.<br />

Damit wurde nicht weniger als eine Theorie politischer<br />

Handlungen und Entscheidungen beansprucht. 8 Ihr wohnt<br />

der Vorteil aller “rational choice”-Ansätze inne: sie fußen<br />

auf einer drastischen Verringerung von<br />

forschungsnotwendigem Kontextwissen zur Bestimmung<br />

von Handlungen und vereinfachen deren Rekonstruktion<br />

aus Ergebnissen von Handlungen und sozialer Interaktion 9 .<br />

Für die Dokumentation der Dichte und Intensität<br />

politischen Wettbewerbs ist ebenfalls eine Hilfestellung<br />

gegeben, wenngleich expandierende Umfrageforschung,<br />

ihre exzessive Rezeption in den Parteizentralen und ihr<br />

gemeinsames <strong>Pro</strong>dukt “permanent campaigning” (Sidney<br />

Blumenthal) sowie “going public” 10 -Strategien ein<br />

zunehmend systematisches Substitut bilden.<br />

Zurück zur Demokratietheorie und genauer der<br />

Bestimmung von Demokratie selbst: Hier bietet sich<br />

komplementär zur “Ökonomischen Theorie” mit ihrer<br />

Betonung der prozeduralen Dimension von Demokratie<br />

eine schmale Definition an: Dahls “Polyarchie”-Vorlage<br />

mit ihrer Basis “contestation open to participation” 11 .<br />

Dieses Konzept “has become the most frequently cited<br />

framework for empirically oriented democratization studies<br />

in recent decades.” 12<br />

Im anschließenden Kapitel wird beschrieben, wie die<br />

“Polyarchie” mit vertikaler und horizontaler<br />

Gewaltenteilung und politischer Verantwortlichkeit mit<br />

dem Ausmaß, der Intensität und der Dynamik politischen<br />

Wettbewerbs in Beziehung gesetzt werden soll.<br />

MACHT, KONTROLLE UND WETTBEWERB<br />

Was fängt die Demokratie mit der Zeit an?<br />

96<br />

Die Konsolidierungsqualität in einigen der “neuen”<br />

Demokratien in Lateinamerika, Osteuropa und Asien ist<br />

auch fünfzehn oder zwanzig Jahre nach erfolgter Transition<br />

mit Einschränkungen behaftet, die von einer<br />

“defekten” Demokratie sprechen lassen. 13 Betrachtet man<br />

die Regierungspraxis und die darin reflektierten<br />

Beziehungsmuster von Politik und (Wahl-)Volk wird deutlich,<br />

dass die <strong>Pro</strong>bleme in diesem Punkt mitunter am weitesten<br />

ausgeprägt sind. Es handelt sich um “electoral” und<br />

“delegative democracies” mit Wahlgängen, die<br />

zumindest den demokratischen Grundanforderungen<br />

gerecht werden, aber anschließend in eine autonome<br />

Politikkreation übergehen - das Volk bleibt passiv, die<br />

Gewählten agieren (fast) ohne öffentliche Kontrolle, der<br />

Wettbewerb um die Regierungsmacht ist gering (ein Indiz<br />

liegt im teilweise überwältigenden Amtsinhaberbonus vor,<br />

der die - nächste - Wiederwahl schon lange vorab zu<br />

garantieren scheint). Worum es in dieser Beschreibung von<br />

Defiziten im Wettbewerbsregime aber geht, ist nichts<br />

anderes als die Identifizierung ausgeprägter zeitlicher<br />

Schwankungen machtpolitischer Asymmetrien zwischen<br />

“Volk” und “Politik”. Der Befund ist nicht neu: Karl<br />

Loewenstein beklagte schon vor mehr als vierzig Jahren<br />

das “demo-autoritäre” Deutschland Adenauers, worunter


er “zumindest während der Dauer der Legislaturperiode”<br />

eine Regierung verstand, die “politische Führung autoritär<br />

und ohne jede Begrenzung durch das Parlament oder die<br />

Wählerschaft ausübt” 14 .<br />

Auffällig ist das zeitliche Auseinanderklaffen der<br />

Entwicklung von ökonomischer Demokratietheorie<br />

einerseits und der Analyse der für den politischen Markt<br />

konstitutiven Akteure (Politiker und Parteien bzw. Bürger<br />

und Wähler), vor allem auf der “Nachfrageseite”, in der<br />

Demokratisierungs- und Konsolidierungsforschung: 1997<br />

erschien das Buch “Democracies with adjectives” 15 , erst<br />

im vergangenen Jahr ein Artikel in der maßgeblichen<br />

politologischen Fachzeitschrift über “Democrats with adjectives”<br />

(mitverfasst vom gebürtigen Österreicher<br />

Andreas Schedler) 16 . Die Feststellung einer<br />

demokratiepolitischen Wünschbarkeit von politischer<br />

“Responsivität” ist im Detail natürlich abhängig vom<br />

demokratischen Konsolidierungsgehalt. Demokratisierung<br />

und Konsolidierung werden ihrerseits von “power dispersion”<br />

wenn schon nicht bedingt, so doch entscheidend<br />

begünstigt. 17<br />

Politische Parteien verfolgen grundsätzlich drei Ziele: “office,<br />

vote and policy” 18 . Ihre Verwobenheit ist ebenso<br />

unstrittig wie komplex. Das zeitlich lückenloseste<br />

handlungsleitende Motiv dürfte dabei das (Wieder-<br />

)Wahlgebot sein, wenngleich ein Kardinalfehler in etlichen<br />

Forschungsarbeiten der Vergangenheit in der<br />

rudimentären Differenzierung von Interessen im<br />

Regierungslager lag, etwa zwischen dem oberen<br />

Parteiapparat und dem Regierungschef und<br />

Parteivorsitzenden. Bestens dokumentiert sind “electoral<br />

cycles”: die Politik einer Regierung entspricht der Nähe<br />

und Ferne zu Wahlterminen. Ein solches Verhaltensmuster<br />

betrifft zentrale Indikatoren wie die Bilanz des Bundes- bzw.<br />

Staatshaushalts und spiegelt sich sogar in<br />

makroökonomischen Kenndaten. Der Wähler seinerseits<br />

benützt “midterm elections” in der überwiegenden Zahl<br />

der Fälle zur “Bestrafung” von Regierungen, Stärkungen<br />

sind die Ausnahme. Diese bundespolitische Hypothek lässt<br />

sich auch aus vielen Landtagswahlergebnissen in<br />

Österreich herauslesen. 19<br />

Die kurzen Ausführungen in diesem Aufsatz blenden jene<br />

Wettbewerbsanteile aus, die sich nicht auf die Politiker/<br />

Parteien-Wähler-Beziehung zurückführen lassen. <strong>Pro</strong>bleme<br />

der Zuerkennung von “responsivity” als Umsetzung eines<br />

Volkswillens, der alles andere als eindeutig sein kann und<br />

der sich zudem in Form von Wahlergebnissen lediglich auf<br />

aggregierter Ebene leicht “ablesen” lässt, bleiben<br />

ausgespart. 20<br />

Aus mehrfacher Perspektive lässt sich argumentieren, dass<br />

diese “Marktbeziehung” am Tag nach einer<br />

geschlagenen Wahl zu wirken beginnt. Das Ende von<br />

Legislaturperioden und die Ausrufung von vorzeitigen<br />

Wahlen ist in vielen Fällen selbst Ausdruck einer<br />

bestimmten Verteilung von Wettbewerbschancen der<br />

Regierungsparteien. Parteien und staatlichen Behörden<br />

fallen Schlüsselrollen in der Wählermobilisierung und<br />

Wettbewerbsintensität zu. 21<br />

Die Güte demokratischen Wettbewerbs besteht aus bzw.<br />

verwirklicht sich in einem Amalgam aus uneingeschränkter<br />

“accountability”, “responsivity” 22 und (“party”)-political<br />

competition” (nachfolgend ARC). Przeworski et al.<br />

unterscheiden “responsiveness” (auch: “mandate representation”)<br />

und “accountability” des Einflusses von Wahlen<br />

auf den Gehalt politischer Repräsentation 23 .<br />

Ausgangspunkt ist die Beobachtung, wonach Wähler<br />

sowohl nach “retrospektiven” (Evaluation von<br />

Regierungspolitik und Abstimmungsverhalten der Opposition)<br />

als auch “prospektiven” Maßstäben (inhaltliche<br />

Konvergenz mit den Wahlplattformen, Vertrauen in<br />

Was fängt die Demokratie mit der Zeit an?<br />

97<br />

Wahlversprechen, allgemeine <strong>Pro</strong>blemlösungskompetenz<br />

für zukünftige Herausforderungen etc.) über<br />

Parteien und Politiker urteilen 24 . Erstes meint die<br />

Artikulation von Interessen der Wähler in Richtung Politik,<br />

die diese in Wahlprogrammen bzw. Wahlversprechen<br />

übernehmen und - bis zu einem gewissen Grad - als<br />

Richtschnur ihrer tatsächlichen Politik verwenden. Zweites<br />

beschreibt die Entscheidung des Wählers als Abstimmung<br />

über die erbrachten politischen Leistungen einer<br />

Regierung.<br />

ARC trägt zu einer Verringerung der machtpolitischen<br />

Asymmetrie zwischen Politik und Volk bei. Eine offene<br />

Frage ist, wie mit der Machtverteilung quer zur<br />

festzustellenden Intensität des politischen Wettbewerbs<br />

um die Regierungsmacht umgegangen werden soll. Das<br />

betrifft neben der obligatorischen Berücksichtigung der<br />

vertikalen Gewaltenteilung die Interpretation der Rolle<br />

des Regierungschefs (in Parlamentsdemokratien) 25 . Gurr<br />

et al. identifizieren in ihrer “institutionalized democracy’<br />

drei Dimensionen: den Wettbewerbscharakter im Sinne<br />

Dahls, die Offenheit der Rekrutierung für Spitzenämter und<br />

die Machtposition des “chief executive” 26 . Die Ergebnisse<br />

dürfen jedoch durch ihre Konzentration auf die “polity”-<br />

Ebene in Bezug auf die tatsächliche Macht des<br />

Premierministers als statisch, in Hinblick auf die<br />

Veränderungen seines Einflusses und ihre Dynamik als<br />

äußerst träge angesehen werden. 27 Die Ergründung der<br />

Kräfteverhältnisse im Parlament (wie bei Pérez-Liñán) oder<br />

die Bestimmung des Regierungstypus (präsidentiell, semipräsidentiell,<br />

parlamentarisch 28 ) reichen jedenfalls nicht<br />

dazu aus, ein umfassendes Bild der politischen<br />

Wettbewerbsstrukturen zu zeichnen - schon gar nicht in<br />

ihrer Dynamik während einer Legislaturperiode. Andere<br />

Ansätze wie Vanhanens Index (Wahlbeteiligung mal 100<br />

minus <strong>Pro</strong>zentanteil der stärksten Partei) führen sogar zu<br />

einer verzerrten Wahrnehmung von<br />

Wettbewerbsintensität. 29<br />

Wie bereits angedeutet wurde, kennt die<br />

demokratiepolitische und performative Bejahung von<br />

“responsivity” der Regierenden in Repräsentativdemokratien<br />

Grenzen. Negative Züge trägt<br />

insbesondere der “Populismus”, obwohl er historisch eher<br />

unbelastet ist. “Output” und Logik von “electoral cycles”<br />

sind ebenso problematisch: Übertriebene Ausschläge<br />

solchen Verhaltens, sehr wohl bedingt durch existente<br />

wahlpolitische Anreize, schädigen die Volkswirtschaft und<br />

mittelfristig den politischen Wettbewerb und signalisieren<br />

demokratische Konsolidierungsprobleme. Ungarn mit<br />

seinen exorbitant hohen Budgetdefiziten und stark<br />

schwankenden Haushaltsausgaben darf hierfür als (negatives)<br />

Paradebeispiel gelten.<br />

Morlinos eindeutiges Bekenntnis gegen die “Westminster”-<br />

Demokratie setzt Nicht-Konsolidierung und<br />

eingeschränkten Wettbewerb voraus. Majoritäre<br />

Institutionen erscheinen dann vielmehr als Hemmnis auf<br />

dem Weg zur Stabilisierung und Garanten einer<br />

Verringerung von “accountability”, wohingegen neben<br />

Korporatismus auch Klientelismus als positive Phänomene<br />

betrachtet werden. 30 Erneut schimmert in dieser Haltung<br />

die für das beworbene <strong>Pro</strong>jekt unabdingbar zu leistende<br />

Beschreibung der Existenz bzw. des Ausmaßes vom<br />

Konsolidierungsbedarf im heutigen Ungarn durch. Es muss<br />

im Detail analysiert werden, wie sich die positive Funktion<br />

von “Responsivität” und ihre Beziehung zu Klientelismus<br />

und Korporatismus bei größerem Konsolidierungsbedarf<br />

verändert. Beide Phänomene sollten aber nicht<br />

vorschnell mit dem Prädikat<br />

“wettbewerbsunterdrückend” etikettiert werden.<br />

Im demokratischen Bedingungsgefüge (Kontext<br />

demokratisch-liberaler Konsolidierung) würde sich mein<br />

Zugang in einer Matrix wie folgt darstellen:


Identifikation<br />

Repräsentation<br />

“good governance”<br />

Responsivity<br />

Accountability<br />

Quelle: Eigene Darstellung<br />

Das Hauptgewicht der Bestimmung demokratischer<br />

Qualität im vorliegenden Kontext ist an der Schnittstelle<br />

zwischen “Input” im bzw. in das politische System und den<br />

politischen Entscheidungsprozess (Regierung, Parlament,<br />

Verfassungsgerichtshof etc.) zu verorten. In der Matrix<br />

wäre das Ideal von Wettbewerbsdemokratie - in einer<br />

demokratischen “Idealbesetzung” von Gesellschaft - als<br />

Fusion von “responsivity” und “accountability”<br />

vorzustellen. Die gegenläufige Tendenz einer Reduktion<br />

von Wettbewerb wohnt demgegenüber Verbindungen<br />

von Populismus und Klientelismus inne. Da es sich hier für<br />

alle vier Felder um idealtypische Konstruktionen handelt,<br />

sollte darauf hingewiesen, dass a. viele weitere<br />

Kombinationen möglich sind und b. selbst eine einseitige<br />

akteursspezifische Nutzenmaximierung in manchen<br />

Demokratiemodellen positive Aspekte haben kann. Die<br />

viel gescholtenen “Kartellparteien” 31 wären, grob<br />

gesprochen, als eine Kombination von “accountability”<br />

und Klientelismus anzusehen. Studien über die Motive<br />

politischer Akteure sind abseits (psycho-)biographischer<br />

Werke eher rar. Die Arbeiten über “vote-, office-, and<br />

policy-seeking” von Parteien oder ihre Rolle in der<br />

Veränderung der institutionellen Landschaft sind aber<br />

wichtige Ausgangspunkte. 32<br />

Die Wettbewerbsstruktur ist zumindest auf der Ebene des<br />

Parteienwettbewerbs ununterbrochen von Volatilität<br />

geprägt. Mitunter konkretisieren sich Wettbewerbsschübe<br />

oder veränderte Rahmenbedingungen aber in einzelnen<br />

(Nicht-)Entscheidungen politischer Akteure. Ein Beispiel<br />

aus Österreich: Selbst in einer strukturkonservativen Partei<br />

wie der ÖVP forcierten wesentliche Teile der Parteispitze<br />

nach der Wahlniederlage im Herbst 2006 eine zweigeteilte<br />

Führungsspitze im Sinne der “Präsidentialisierungsthese”.<br />

Neben die “klassische” Vergabe des Parteivorsitzes an<br />

einen bewährten Parteipolitiker (Molterer) sollte ein<br />

populärer Vertreter von außerhalb des Parteiapparates<br />

(Grasser) die Regierungsmannschaft anführen, womit die<br />

Spitzenkandidatur für die nächste NR-Wahl verbunden<br />

gewesen wäre. 33<br />

DIE NUTZBARKEIT VON ARC:<br />

ANWENDUNGSFORMEN UND IMPLIKATIONEN<br />

Akteursspezifische<br />

Nutzenmaximierung<br />

Populismus<br />

Klientelismus<br />

ARC hat den Vorteil, das Ausmaß des <strong>Pro</strong>duktes von<br />

politischen Repräsentanten allgemein und der politische<br />

Exekutivmacht und Autonomisierung vom artikulierbaren<br />

Willen des im Zeitverlauf zu rekonstruieren oder, was<br />

vielleicht spannender ist, zu prognostizieren. Es reagiert<br />

sensibel auf Verschiebungen demokratischer Güte in<br />

ausgewählten Teilbereichen des Wettbewerbsregimes.<br />

Dieses <strong>Pro</strong>jekt ist auf der Basis noch zu erarbeitender<br />

Indikatoren und deren Gewichtung messbar und<br />

erleichtert damit politische Kontrolle (siehe Campbell/<br />

Schedler oder “democratic audit”).<br />

Der vorgetragene Ansatz verspricht zudem neue<br />

Anhaltspunkte in den hitzigen Diskussionen um die<br />

Leistungsbilanz von Wettbewerbs- und<br />

Konkordanzdemokratien 34 , weil er prinzipiell auf alle<br />

Realtypen politischer Systeme angewendet werden kann.<br />

Die auf den ersten Blick erkennbare Nähe zur<br />

Was fängt die Demokratie mit der Zeit an?<br />

98<br />

Konkordanzdemokratie mit ihren charakteristischen, sogar<br />

programmatischen machtteilenden Arrangements<br />

relativiert sich durch die Bindung von ARC an die<br />

Wettbewerbsintensität. In diesem Aspekt darf wiederum<br />

die Mehrheits- bzw. Konkurrenzdemokratie als überlegen<br />

eingestuft werden, womit eine Art “Waffengleichheit”<br />

eintritt. ARC ist keine Funktion des Typus Mehrheit oder<br />

Konsens: Zum Beispiel liegen Abwahl- und<br />

Wiederwahlhäufigkeit von Regierungen im britischen<br />

“Westminster”-Regierungssystem und im “semisouveränen”<br />

Deutschland auf demselben Niveau.<br />

Ähnliches gilt für die Amtszeit des Premiers bzw. Kanzlers.<br />

Der Premierminister hat sehr wohl ein erweitertes Potential<br />

zur Wahrnehmung von “political leadership”, doch war<br />

Adenauer mächtiger als Wilson und Schmidt einflussreicher<br />

als Callaghan. 35 Entscheidend ist die Formel “Mehr Macht<br />

ist gleich mehr Wettbewerb”.<br />

Ein weiterer Vorteil drängt sich auf: Es wird eine für die<br />

Beurteilung der “new democracies” wenig vorteilhafte<br />

Allianz einer Orientierung an Vorbildern konsolidierter<br />

westlicher Demokratien und demokratietheoretischer Postulate<br />

vermieden, an deren Ideal diese zwangsläufig<br />

scheitern müssen. Die ARC-Analyse lässt die Möglichkeit<br />

einer demokratiequalitativen Gleichwertigkeit oder sogar<br />

(temporären) Überlegenheit der “neuen” im Vergleich zu<br />

den “älteren” Demokratien im Teilregime des -<br />

ausdrücklich weit gefassten - politischen Wettbewerbs zu.<br />

Ein Beispiel: Als eines der ersten mittel- und<br />

osteuropäischen Länder (zuzüglich jener im<br />

postsowjetischen Raum) brachte Ungarn eine<br />

wiedergewählte Regierung vor (2006). Die bisherige Praxis<br />

bestand ausnahmslos in Niederlagen der regierenden<br />

Koalitionen. In einigen Demokratien Westeuropas ist das<br />

gegensätzliche Extrem beobachtbar: sei es erkauft durch<br />

Minderheitenregierungen wie in Schweden oder “Große<br />

Koalitionen” in Österreich. Mehr- und Vielparteiensysteme<br />

nehmen dem Wähler oft die Möglichkeit direkt über die<br />

Zusammensetzung zu entscheiden: Obwohl<br />

Koalitionsfestlegungen vielfach entscheidende Teile von<br />

Wahlkampagnen sind, hängt die Koalitionsbildung nach<br />

der Wahl von Parteienverhandlungen und dem<br />

Wahlergebnis ab - das die Parteien mitunter zwingt,<br />

vorherige Aussagen abzuändern, um überhaupt eine<br />

tragfähige Mehrheit bilden zu können. In Belgien schließen<br />

sich bevorzugt Wahlverlierer zu einer Regierungskoalition<br />

zusammen; in der dortigen Konkordanzdemokratie<br />

allerdings auch eine Barriere gegenüber radikaleren<br />

Parteien, welche die Populismus- oder Demagogie- oder<br />

sonstige Prämie der Mobilisierung von Minderheiten (oft<br />

gegen andere Minderheiten und damit das<br />

Konkordanzsystem im Ganzen) nicht in<br />

Regierungsverantwortung umsetzen können.<br />

Alle diese Facetten des politischen <strong>Pro</strong>zesses in liberalen<br />

Demokratien sollen nicht verdecken, dass sich die<br />

Regierungssysteme einen notwendigen Spielraum für<br />

selbstgesteuertes Handeln bewahren. Verhandlungen<br />

zwischen Staat und NGO’s etwa finden im “Schatten der<br />

Hierarchie”, sprich unter dem Organisations- und<br />

überwiegend auch dem Entscheidungsprimat staatlicher<br />

Agenturen statt. Wie sonst wäre die von manchen<br />

beklagte Zurückdrängung sozialpartnerschaftlichen<br />

Einflusses während der Kanzlerschaft Wolfgang Schüssels<br />

möglich gewesen, obwohl dessen Partei selbst “bündisch”<br />

aufgebaut ist, Wirtschafts- und Landwirtschaftskammer<br />

politisch dominiert und den Sozialpartnern im Rahmen des<br />

Begutachtungsverfahrens für Bundesgesetze privilegierte<br />

Rechte eingeräumt sind? Schließlich: Falls der Wähler<br />

durch seine Wahlentscheidung ohnehin für die Verteilung<br />

der Macht zwischen den Parteien zuständig wäre, wie<br />

könnte dann ein Politiker wie Schüssel trotz mäßiger<br />

Beliebtheit ein starker Parteiführer gewesen sein? Er verlor<br />

als Parteiobmann bzw. Spitzenkandidat die<br />

Nationalratswahlen der Jahre 1999 und musste bereits


1995 einen wachsenden Rückstand zur SPÖ verantworten,<br />

sodass drei von vier Wahlen unter seiner Ägide eine<br />

Niederlage darstellen. Schüssel machte dieses Manko wett<br />

- durch sein Image als dennoch bravouröser Wahlkämpfer,<br />

vor allem aber die ihm von Freund und Feind<br />

zugeschriebene Brillanz als Verhandlungstaktiker.<br />

Schließlich könnte der beschriebene Zugang Material für<br />

die “Politische Bildung” zur Verfügung stellen mit dem<br />

Zweck, eine realistische Sichtweise auf das Verhalten<br />

politischer Akteure zu entwickeln; im Besonderen in der<br />

Illustration ihrer Verwobenheit und wechselseitigen<br />

Bedingung. Diesbezüglich herrscht gegenwärtig (noch)<br />

vielerorts mangelndes Verständnis. Die in Forschung und<br />

Wahrnehmung der Bürger traditionell unterbewertete Rolle<br />

der parlamentarischen und außerparlamentarischen<br />

politischen Opposition dient als Beleg. In einer Epoche<br />

zunehmender Politik- oder passender<br />

Politikerverdrossenheit könnte eine realistische,<br />

“abgeklärtere” (wenngleich nicht leidenschaftslose)<br />

Sichtweise auf den politischen <strong>Pro</strong>zess und die Funktionen<br />

einzelner politischer Akteure vor dem Verfall in Agonie und<br />

Apathie bewahren.<br />

Die Synthese der Ergebnisse soll, nochmals in einem kurzen<br />

Satz präsentiert, der normativen Grundlage folgend aus<br />

negativem Blickwinkel darstellen: Je ausgeprägter der<br />

Charakter von “Demo-Autorität” und “delegative democracy”,<br />

also zeitlich limitierter Demokratiequalität, desto<br />

wichtiger ist die Einhegung von Exekutiv- und individueller<br />

Politikermacht.<br />

FUßNOTEN<br />

1 Vgl. Samuel P. Huntington, The Third Wave. Democratization<br />

in the Late Twentieth Century, Oklahoma 1991.<br />

2 Peter Grafe, Wahlkamp. Die Olympiade der Demokratie,<br />

Frankfurt/Main 1994.<br />

3 Zu “political leadership” als unverwechselbarer und<br />

“innengeleiteter”, das heißt autonomer Führungsleistung<br />

eines Einzelnen siehe David Wineroither, “Herrschen lernt<br />

sich leicht, regieren schwer” - “Leadership” und<br />

Herrschaftsform im Deutschland des 20. Jahrhunderts,<br />

Frankfurt/Main et al. 2007.<br />

4 Vgl. Hartmut von Hentig, Die große Beschwichtigung -<br />

Zum Aufstand der Studenten und Schüler, in: Merkur (22)<br />

1968, Seite 385-400.<br />

5 Die “political leadership”-Typologie bei Blondel verortet<br />

Politiker bzw. Diktatoren in einer Matrix aus Ausmaß und<br />

Dynamik politischen Wandels. Vgl. Jean Blondel, Political<br />

Leadership. Towards a General Analysis, London - Beverly<br />

Hills 1987, Seite 97.<br />

6 Vgl. Adam Przeworski, Democracy and the Market. Political<br />

and Economic Reforms in Eastern Europe and Latin<br />

America, New York - Cambridge 1991, Seite 12-13.<br />

7 Anthony Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie,<br />

dt. Übersetzung, Tübingen 1968.<br />

8 Kritik und Würdigung bei Manfred G. Schmidt,<br />

Demokratietheorien. 3. Auflage, Opladen 2000.<br />

9 Einen Ausweg aus der “black box” von Präferenzen und<br />

Handlungen zur Bestimmung von “prime ministerial power”<br />

versuchten etwa Francesco Cavatorta / Eoin O’Malley,<br />

Finding a party and losing some friends: Overcoming the<br />

weaknesses of the Prime Ministerial Figure in Italy, in: Contemporary<br />

Politics, 10 (3) 2004, Seite 271-286 zu finden,<br />

indem sie seine Durchsetzungsfähigkeit im<br />

Vetospielerkontext ergründen.<br />

10 Vgl. Samuel Kernell, From Going Public: New Strategies<br />

of Presidential Leadership, Washington 1986.<br />

11 Robert A. Dahl, Polyarchie. Participation and Opposition,<br />

New Haven - London 1971, Seite 5.<br />

12 Dirk Berg-Schlosser, The quality of democracies in Europe<br />

as measured by current indicators of democratization<br />

and good governance”, in: Journal of Communist<br />

Studies and Transition Politics, 20 (1) 2004, Seite 28-55, Seite<br />

30.<br />

13 Vgl. Wolfgang Merkel et al., Defekte Demokratie. Band<br />

1: Theorie, Opladen 2003.<br />

14 Karl Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Auflage,<br />

Tübingen 1969, Seite 93-94.<br />

15 Vgl. David Collier / Steven Levitsky, Democracy with<br />

Adjectives: Conceptual Innovation in Comparative Research,<br />

in: World Politics 3/1997, Seite 430-451.<br />

16 Vgl. Andreas Schedler / Rodolfo Sarsfield, Democrats<br />

with adjectives: Linking direct and indirect measures of<br />

democratic support, in: European Journal of Political Research<br />

46: 637-659, 2007.<br />

17 Vgl. Carsten Q. Schneider, The Consolidation of Democracy.<br />

Comparing Europe and Latin America, London<br />

- New York 2008 (forthcoming).<br />

18 Vgl. Wolfgang C. Müller/ Kaare Strom (Hg.), Policy, Office,<br />

or Votes? How Political Parties in Western Europe<br />

Make Hard Decision, Cambridge 1999.<br />

19 Ein prägnantes Beispiel ist die oberösterreichische<br />

Landtagswahl 2003: Die SPÖ legte nach einem<br />

aggressiven und populistischen, primär die<br />

Unzufriedenheit mit der Bundesregierung<br />

thematisierenden Wahlkampagne im Vergleich mit dem<br />

Ergebnis von 1997 um über 11% zu. Die ÖVP stagnierte,<br />

ihr Vorsprung schmolz von knapp 16% auf 5%.<br />

Aussagekräftiger ist aber der Umfragestand aus dem Jahr<br />

2000: Damals signalisierten mehrere Umfragen eine absolute<br />

Stimmenmehrheit der “Volkspartei” und ein<br />

beispielloses Tief der SPÖ bei 23%!<br />

20 Vgl. Powell, Responsiveness, Seite 93.<br />

Was fängt die Demokratie mit der Zeit an?<br />

99<br />

21 Vgl. Aníbal Pérez-Liñán, Neoinstitutional Accounts of<br />

Voter Turnout: Moving Beyond Industrial Democracies”,<br />

in: Electoral Studies, 20 (2) 2001, Seite 281-297.<br />

22 In seinem Überblick über die “accountability”-Konzepte<br />

in der Demokratie- und Demokratisierungsforschung<br />

verweist Schmitter unter anderem auf “corporate social<br />

accountability,” “communitarian responsiveness,” and<br />

“individual moral responsibility.” (Philippe C. Schmitter, The<br />

Ambiguous Virtues of Accountability, in: Journal of Democracy,<br />

15 (4) 2004, Seite 47-60, Seite 48) Die Bedeutung<br />

der für das Forschungsprojekt vorgesehenen Konzepte<br />

wird unter dem Punkt “Arbeitsschritte” eingehender<br />

erläutert.<br />

23 Adam Przeworski / Susan C. Stokes / Bernard Manin<br />

(Hg.), Democracy, Accountability, and Representation,<br />

Cambridge 1999.<br />

24 Vgl. Morris P. Fiorina, Retrospective Voting in American<br />

National Elections, New Haven 1981.<br />

25 Zur negativen Korrelation von “political leadership” und<br />

(konsolidierter) Demokratie siehe Anton Pelinka, Politics


of the Lesser Evil. Leadership, Democracy and Jaruzelski’s<br />

Poland, New Brunswick 1998.<br />

26 Vgl. Monty G. Marshall, Keith Jaggers and Ted Robert<br />

Gurr, Polity IV: Political Regime Characteristics and Transitions,<br />

1800-2001 (Maryland, MD: University of Maryland,<br />

Integrated Network for Societal Conflict Research, Centre<br />

for International Development and Conflict Management,<br />

2001.<br />

27 Der internationale Bedeutungswandel des Premiers<br />

geht nicht auf Veränderungen in seinen<br />

verfassungsmäßigen Rechten zurück. Vgl. Thomas<br />

Poguntke / Paul Webb, The Presidentialization of Politics.<br />

A Comparative Study of Modern Democracies, Oxford<br />

2005; Eoin O’Malley, The Power of Prime Ministers: Results<br />

of an Expert Survey, in: International Political Science<br />

Review, 28 (1) 2007, Seite 7-27.<br />

28 Vgl. Jack Bielasiak, Party Competition in Emerging Democracies:<br />

Representation and Effectiveness<br />

in Post-communism and Beyond, in: Democratization, 12<br />

(3) 2005, Seite 331-356.<br />

29 Tatu Vanhanen, <strong>Pro</strong>spects of Democracy: A Study of<br />

172 Countries, London 1997. Für einen präziseren Entwurf<br />

vgl. Andreas Schedler, Zur (nichtlinearen) Entwicklung des<br />

Parteienwettbewerbs (1945 bis 1994), in: Österreichische<br />

Zeitschrift für Politikwissenschaft, 1/1995, Seite 17-34.<br />

30 Leonardo Morlino, Anchors and Democratic Change,<br />

in: Comparative Political Studies, 38 (7) 2005, Seite 743-<br />

770, Seite 748.<br />

31 Vgl. Richard S. Katz / Peter Mair, Changing Models of<br />

Party Organization and Party Democracy. The Emergence<br />

of the Cartel Party, in: Party Politics, 1 (1) 1995, Seite 5-28.<br />

32 Siehe zum Beispiel Shaun Bowler / Todd Donovan / Jeffrey<br />

A. Karp, Why Politicians Like Electoral Institutions: Self-<br />

Interest, Values, or Ideology?, in: The Journal of Politics, 68<br />

(2) 2006, Seite 434-446.<br />

33 Vgl. David Wineroither, Bundespräsident und<br />

Bundeskanzler: Konsens, Konflikt oder Neutralität, in:<br />

Andreas Khol et al. (eds.), Österreichisches Jahrbuch für<br />

Politik 2006, München - Wien 2007, Seite 603-623, Seite 620-<br />

621.<br />

34 Zur Unterscheidung selbst siehe Arend Lijphart, Patterns<br />

of Democracy. Government Forms and Performance in<br />

Thirty-Six Countries, New Haven - London 1999.<br />

35 Vgl. Ludger Helms, Presidents, Prime Ministers and Chancellors.<br />

Executive Leadership in Western Democracies,<br />

London - New York 2005.<br />

David Wineroither, geb. am 14. Dezember 1981, Politologe, Research Fellow an der “Ungarischen Akademie der<br />

Wissenschaften”. Bei <strong>Pro</strong> <strong>Scientia</strong> seit 2006.<br />

Was fängt die Demokratie mit der Zeit an?<br />

100


<strong>ZEIT</strong> Geschichte


„Insgesamt ist somit das Panorama äußerst komplex“<br />

Horst Pietschmann<br />

1. EINLEITUNG<br />

Das Überthema des diesjährigen Readers von <strong>Pro</strong><br />

Sciencia lautet “Zeit”, deshalb wählte ich den etwas<br />

sperrigen Titel “Antihispanismus gestern und heute - die<br />

`Schwarze Legende´ seit Beginn der Neuzeit bis zu<br />

`Zeitbilder 2000´”. Dies soll folgende Tatsache deutlich<br />

machen: Anti-Ideologien sind sehr zeitbeständig, so auch<br />

der Antihispanismus. Mit den Wurzeln in der frühen Neuzeit<br />

prägte er ein Bild von Spaniens Geschichte, das, obwohl<br />

von der Geschichtswissenschaft längst widerlegt, heute<br />

in den Köpfen vieler Zeitgenossen gegenwärtig ist, und<br />

auch in Geschichtslehrbücher wie Zeitbilder 6, 2000<br />

eingeflossen ist.<br />

Das Phänomen einer antispanischen „Schwarzen<br />

Legende“, das in der akademischen Diskussion in den<br />

spanischsprachigen und angelsächsischen Ländern ein<br />

Thema von Interesse darstellt, ist bislang in der<br />

deutschsprachigen Forschung, abgesehen von einigen<br />

Ausnahmen, noch wenig bearbeitet worden.<br />

Rückständig, finster, intolerant, faul und vor allem: extrem<br />

grausam – viele Spanier leiden unter ihren traditionellen<br />

Stereotypen. In diesem Zusammenhang ist vor allem die<br />

Darstellung der Kolonisierung Hispanoamerikas von<br />

Bedeutung. Im österreichischen Lehrbuch für Geschichte<br />

Zeitbilder 6, 2000 wird den Lernenden eine Textstelle aus<br />

Bartolomé de Las Casas Brevísima Relación de la<br />

Destrucción de las Indias, einer polemischen<br />

Anklageschrift des 16. Jahrhunderts, als sachliche Quelle<br />

zur Behandlung der autochthonen Bevölkerung in den<br />

spanischen Kolonien vorgestellt. Demnach „wissen“ wir<br />

von Las Casas „wie der Erlass [des spanischen Königs zur<br />

Behandlung der Indios] umgesetzt wurde“ 1 . Danach wird<br />

eine Stelle des besagten Werkes zitiert, die die Spanier<br />

als schreckliche Barbaren darstellt und äußerst<br />

anschaulich über Gräueltaten an der einheimischen<br />

Bevölkerung Westindiens berichtet:<br />

Die neugeborenen Kinder konnten sich nicht entwickeln,<br />

weil die Mütter, von Anstrengung und Hunger erschöpft,<br />

keine Nahrung für sie hatten [...] einige Mütter erdrosselten<br />

vor Verzweiflung ihre Kinder. […] Sie [die spanischen<br />

Aufseher] gaben [den Indios] Stock- und Rutenhiebe,<br />

Peitschenschläge, Fußtritte und nannten sie nie anders<br />

als Hunde. Als Ergebnis kann man annehmen, dass in den<br />

vierzig Jahren mehr als 12 Millionen Männer, Frauen und<br />

Kinder getötet worden sind. 2<br />

Es ist eine Tatsache, dass die conquistadores mit echter<br />

Brutalität vorgegangen sind, dennoch ist diese Textstelle<br />

stark tendenziös und auch historisch nicht korrekt, wie im<br />

Laufe des Beitrags klar werden wird. Das Verhalten<br />

Spaniens in den Kolonien scheint in diesem Lehrbuch auf<br />

den Gewaltaspekt reduziert zu sein, während eine Seite<br />

später, wo von den Eroberungen der Holländer,<br />

Engländer und Franzosen gesprochen wird, in keinem<br />

einzigen Wort der Gewalt dieser Völker gegenüber den<br />

eingeborenen Stämmen gedacht wird. Die Quelle Las<br />

Casas zur Schilderung der spanischen Grausamkeiten<br />

wird dem gegenüber im Vergleich zu anderen<br />

abgedruckten Quellen im Lehrbuch sogar<br />

überdurchschnittlich lange zitiert.<br />

Das Phänomen einer antihispanistischen Darstellung der<br />

Geschichte, die die Brutalität der Spanier in ihren Kolonien<br />

mit besonderem Nachdruck unterstreicht, wird in der<br />

historischen Wissenschaft als „leyenda negra“, „Schwarze<br />

Legende“ bezeichnet. Diese Legende prägt das<br />

<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />

Roland BERNHARD<br />

Antihispanismus gestern und heute<br />

Die „Schwarze Legende“ seit Beginn der Neuzeit bis zu „Zeitbilder 2000“<br />

Antihispanismus gestern und heute<br />

102<br />

historische Bewusstsein und hat hispanophobe Vorurteile<br />

in das Geschichtsbild vieler Menschen eingeprägt.<br />

In diesem Beitrag soll in einem ersten Punkt dem Begriff<br />

der „Schwarzen“ wie auch einer Spanien verherrlichenden<br />

„Weißen Legende“ auf den Grund gegangen werden.<br />

Danach wird aufgezeigt, wie neuere Erkenntnisse der<br />

Geschichtswissenschaft dem Begriff „Schwarze Legende“<br />

seine Berechtigung verleihen, indem Aspekte der<br />

Kolonialgeschichte dargelegt werden, die das Schwarz-<br />

Weiß-Schema durchbrechen und Graustufen erkennen<br />

lassen.<br />

2. DIE „SCHWARZE“ UND DIE „WEIßE LEGENDE“<br />

Julian Juderías hat im Jahr 1913 den Begriff leyenda negra<br />

geprägt, der folgendes Phänomen bezeichnet: Es gibt<br />

eine Legende über Spanien, die in breiten Kreisen als eine<br />

objektive Darstellung der Vergangenheit angesehen wird.<br />

Durch diese sind seit dem 15. Jahrhundert negative<br />

Stereotypen in propagandistischer Weise über Spanien<br />

verbreitet worden. Die leyenda negra kann als ein Teil einer<br />

„Ideologie“ 3 bezeichnet werden, durch die bewusst eine<br />

spanienfeindliche Stimmung geschürt worden ist. Juderías<br />

erklärt dies folgendermaßen:<br />

Unter „leyenda negra“ verstehen wir die Stimmung, die<br />

durch fantastische Erzählungen über unsere Heimat [...]<br />

geschaffen wurde, die grotesken Beschreibungen, die<br />

man über den Charakter der Spanier als Individuen und<br />

als Kollektiv gemacht hat, [...] die Anschuldigungen, die<br />

zu aller Zeit gegen Spanien gerichtet wurden, und in denen<br />

man sich auf übertriebene, schlecht interpretierte oder<br />

gänzlich falsche Tatsachen stützte. 4<br />

Es handelt sich gemäß Juderías um „fantastische<br />

Erzählungen“ über Spanier, die ein Bild geprägt haben,<br />

das nicht der Realität entspricht. Ein wichtiger Aspekt der<br />

„Schwarzen Legende“ ist, wie schon erwähnt, das<br />

Verhalten der conquistadores bei der Eroberung und<br />

Kolonisierung der Neuen Welt. Ihnen wird vorgeworfen, in<br />

unvergleichbarer Weise grausam gewesen zu sein, die<br />

Indianer unterdrückt und ihre Kultur zerstört zu haben.<br />

Grausames Wüten und sinnlose Barbarei seitens der<br />

Spanier wären auf der Tagesordnung gestanden. Es wird<br />

sogar von „Genozid“ 5 gesprochen. Sind das nun alles<br />

fantastische Erzählungen?<br />

Einige Argumente scheinen dagegen zu sprechen: Gut<br />

zwei Jahrzehnte nach der ersten Landung der Europäer<br />

auf den karibischen Inseln, ist die autochthone<br />

Bevölkerung schon stark dezimiert. Auch in Mexiko lebten<br />

im Jahr ca. 12.000.000 Einwohner, im Jahr 1570 zählten<br />

spanische Zensuslisten nur mehr 3,72 Millionen, im Jahr 1650<br />

gar nur mehr 900.000 Personen indigenen Ursprungs. 6 Der<br />

Bevölkerungsrückgang nach der Ankunft Kolumbus wird<br />

regional unterschiedlich auf 80-98% geschätzt. 7 Für einen<br />

neutralen Beobachter drängt sich sofort der Gedanke auf,<br />

die Spanier mussten dort arg gewütet haben, damit<br />

dergleichen passieren konnte. Auch einige<br />

zeitgenössische Quellen erwecken Entsetzen: Pedro de<br />

Valdivia schreibt dem König im Jahr 1550, dass die<br />

Araukaner sich nicht unterwerfen haben wollen,<br />

weswegen er nicht vergessen hat, sie zu bestrafen: „Ich<br />

habe befohlen, dass man 200 von ihnen die Nase und<br />

die Hände abschneidet.“ 8<br />

Kann angesichts solcher Fakten von einer „Schwarzen<br />

Legende der Kolonisierung Lateinamerikas“ gesprochen<br />

werden? Lange Zeit hat, vor allem in Spanien, eine „Weiße


Legende“ vorgeherrscht. Es waren dies Bilder, die viele<br />

Iberer lange Zeit von ihrer eigenen Vergangenheit hegten 9<br />

und die gekennzeichnet waren durch den Heroismus der<br />

conquistadores, die den menschenfressenden Indianern<br />

endlich ein wenig Zivilisation beibrachten. Die Eroberung<br />

der Neuen Welt wäre eine großartige Erlösungstat der<br />

Spanier gewesen, die die Lehren des Abendlandes an die<br />

abergläubigen Indianer vermittelte. Auch dies entspricht<br />

nicht der historischen Wirklichkeit. Ebenso, wie die „Weiße<br />

Legende“ eine Verdrehung der Geschichte darstellt, die<br />

oft für politische Zwecke und zur Identitätsstifung<br />

instrumentalisiert worden ist, ist auch die „Schwarze<br />

Legende“ für ideologische Zwecke bewusst geschaffen<br />

worden, wie weiter unten noch ausgeführt werden wird.<br />

Es ist insofern gerechtfertigt von einer „Schwarzen<br />

Legende“ zu sprechen, als sich nachweisen lässt, dass in<br />

der Darstellung der Eroberung und Kolonisierung<br />

Hispanoamerikas seit der Frühen Neuzeit eine sehr<br />

einseitige Fokussierung auf Gewalt und Brutalität besteht.<br />

Obwohl die anderen europäischen Völker der frühen<br />

Neuzeit in keiner Weise milder mit „dem Anderen“<br />

umgegangen sind, wird vor allem immer wieder Spanien<br />

in diesem Zusammenhang als Negativbeispiel hingestellt.<br />

Viele Aspekte der spanischen Kolonisierung werden dabei<br />

einfach ausgeblendet. Einige davon sollen hier aufgezeigt<br />

werden.<br />

In der Geschichtswissenschaft ist die „Schwarze Legende“<br />

heute schon flächendeckend und auch interdisziplinär<br />

untersucht und die Existenz einer leyenda negra<br />

antiespañola unbestritten. Im Jahr 2001 erschien die<br />

Hablitation von Peer Schmidt in Buchform, 10 in der die<br />

antispanische <strong>Pro</strong>paganda insbesondere zur Zeit des<br />

Dreißigjährigen Krieges aufgearbeitet wurde. Der Begriff<br />

leyenda negra wird in neueren historischen und<br />

literarischen Lehrbüchern und Überblickswerken<br />

verwendet. Beispiele dafür sind die beiden Reclam<br />

Standartwerke Kleine Geschichte Spaniens aus dem Jahr<br />

2004 (in einem Artikel des Historikers Friedrich Edelmayer) 11<br />

und Martin Franzbachs Geschichte der spanischen<br />

Literatur im Überblick aus dem Jahr 2002. 12 Auch der<br />

Grazer Romanist Klaus-Dieter Ertler verwendet 2002 in<br />

seinem Standartwerk zum lateinamerikanischen Roman<br />

den Begriff „leyenda negra“, 13 ebenso wie Hanns Prem in<br />

seinem Oldenbourg Grundriss der Geschichte zu<br />

Altamerika, für den die „leyenda negra“ 14 eine „unkritisch<br />

negative Sichtweise der spanischen Eroberung“ ist.<br />

Der Sprachwissenschaftler Jesús Troncoso García legte<br />

eine Studie vor, in der er nachwies, dass die<br />

antihispanistischen Bilder, die im 16. und 17. Jahrhundert<br />

geformt wurden, noch heute in didaktischen Texten in<br />

Amerika und Europa gegenwärtig sind. Es kommt dabei<br />

zu „Desinformation“ und „Manipulation“ 15 in Bezug auf<br />

die Geschichte der conquista.<br />

3. EINIGE ASPEKTE DER GRAUEN REALITÄT<br />

3.1 Bevölkerungsverluste<br />

Eroberungen und Kriege sind prinzipiell von Gewalt<br />

gekennzeichnet. Wo Krieg herrschte, kam es zu allen<br />

Zeiten, in allen Kulturen und unter allen Völkern zu<br />

Gräueltaten. Auch die spanischen Eroberer haben diese<br />

Tradition nicht unterbrochen. Festgehalten werden muss,<br />

dass die Frühe Neuzeit eine für unsere Begriffe sehr<br />

gewaltbereite Zeit war 16 und dass kein europäisches Volk<br />

in dieser Hinsicht eine Ausnahme darstellte.<br />

Die Eroberung Lateinamerikas, die die conquistadores mit<br />

von den Inkas und den Azteken unterworfenen und in<br />

Gewaltherrschaft dominierten Völkern gemeinsam<br />

durchgeführt haben, brachte eine Zeit des Krieges hervor.<br />

Nach ein paar Jahren stellte sich in den meisten Gebieten<br />

<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />

Antihispanismus gestern und heute<br />

103<br />

eine relativ ruhige Friedenszeit ein. Die indigenen Eliten<br />

arrangierten sich großteils mit den Spaniern und besetzten<br />

weiterhin einflussreiche Stellungen in der<br />

Kolonialgesellschaft. 17 Es entwickelte sich ein relativ<br />

stabiles Gesellschaftssystem und während in Europa ein<br />

Krieg nach dem anderen tobte und Aufstände an der<br />

Tagesordnung waren, blieb Lateinamerika mehr als 200<br />

Jahre lang großteils davon verschont. Natürlich baute<br />

diese Gesellschaft in hohem Maß auf Unterdrückung und<br />

Ausbeutung von indigenen Arbeitskräften auf, doch muss<br />

erwähnt werden, dass Unterdrückung und Ausbeutung<br />

ebenso im Europa jener Zeit in großem Stil praktiziert<br />

wurden und die spanischen Kolonisatoren diesbezüglich<br />

keine Ausnahme darstellten.<br />

Trotz dieser relativ ruhigen Zeit starben die Indianer in<br />

Massen weiter. Die Ursache dieses Sterbens lag zum<br />

größten Teil in Krankheiten, die von den Spaniern<br />

importiert wurden, und denen das Immunsystem der<br />

amerindischen Bevölkerung nicht gewachsen war.<br />

Lateinamerika, von den Seuchenzügen Eurasiens bis 1492<br />

verschont, kam plötzlich in Kontakt mit Pocken,<br />

Diphtherie, Masern und Typhus, was zu den starken<br />

Verlusten unter der autochthonen Bevölkerung bis ca.<br />

1650 führte. Die spanische Krone versuchte massiv, dem<br />

entgegen zu wirken. Am dramatischen Rückgang der<br />

Zahl der Indianer ist darüber hinaus auch die Vermischung<br />

der Indios mit den Spaniern beteiligt, die „eine<br />

kontinuierlich ansteigende Mischlingsbevölkerung<br />

entstehen ließ, die schließlich [in diesem Fall] im modernen<br />

Mexiko zum beherrschenden Bevölkerungselement<br />

aufstieg.“ 18<br />

In der Textstelle von Las Casas in Zeitbilder 6, 2000 werden<br />

Stock- und Rutenhiebe, Peitschenschläge und Fußtritte<br />

der Spanier für den Tod von 12 Millionen Menschen<br />

verantwortlich gemacht. Durch diese Darstellung besteht<br />

kein Zweifel daran, dass die Spanier den Tod der 12<br />

Millionen Indios bewusst herbeigeführt hätten. Angesichts<br />

der wirklichen Ursachen für die Menschenverluste und<br />

den Versuchen von Seiten der spanischen Krone und der<br />

Kirche dem entgegen zu wirken, wird offensichtlich, wie<br />

unrichtig diese Darstellung ist.<br />

3.2 Aus Selbstkritik wird <strong>Pro</strong>paganda<br />

Ein anderer Aspekt, der es wert ist, beachtet zu werden,<br />

ist, dass die Spanier bald nach der Entdeckung Amerikas<br />

ihr Verhalten den Indianern gegenüber kritisch reflektiert<br />

haben. Schon in der ersten Zeit nach der Entdeckung war<br />

die Behandlung der einheimischen Bevölkerung ein<br />

wichtiger Gegenstand spanieninterner Debatten. 19 Der<br />

spanische Dominikaner Antonio de Montesinos trug im<br />

Jahr 1511 mit seiner Kritik an den Praktiken der<br />

Kolonisatoren dazu bei, dass die spanische Krone im Jahr<br />

1512 die „Leyes de Burgos“ erließ, die den Indianern<br />

zumindest theoretisch Schutz zukommen ließen. Die<br />

indianerfreundliche Partei gewann in Spanien immer<br />

mehr an Boden, 20 und der innerspanische Diskurs, der sich<br />

in der Folge besonders in der Schule von Salamanca<br />

entwickelte, trug durch Denker wie Francisco de Vitoria<br />

und unter dem Einfluss des Papstes maßgeblich zum<br />

Entstehen des Völkerrechts bei. Von Spanien beeinflusst<br />

erließ Papst Paul III. im Jahr 1537 die Bulle Sublimis Deus,<br />

worin er sich folgendermaßen ausdrückte: Allen die sich<br />

erdreisten zu behaupten, dass die Indianer den<br />

Kolonisatoren zu Gehorsam verpflichtet wären als seien<br />

sie Tiere, oder die es wagen sie auf Knechtschaft zu<br />

reduzieren sei gesagt:<br />

dass die Indios und alle andern Völker, die künftig mit den<br />

Christen bekannt werden, auch wenn sie den Glauben<br />

noch nicht angenommen haben, ihrer Freiheit und ihres<br />

Besitzes nicht beraubt werden dürfen; vielmehr sollen sie<br />

ungehindert und erlaubterweise das Recht auf Besitz und


Freiheit ausüben und sich dessen erfreuen können. Auch<br />

ist es nicht erlaubt, sie in den Sklavenstand zu versetzen.<br />

Alles was diesen Bestimmungen zuwiderläuft, sei null und<br />

nichtig. 21<br />

Diese Bulle wirkte auch auf den Theologen Vitoria, der<br />

mit seinen rechtsphilosophischen Abhandlungen das<br />

spanische Geistesleben nachhaltig prägte, und der<br />

aufgrund seines Werkes De Indis (1539) als Begründer des<br />

modernen Völkerrechts gilt. 22 Anders formuliert bedeutet<br />

dies, dass in Spanien während der Kolonisierung und<br />

durch die Frage, wie mit „dem Anderen“ umgegangen<br />

werden soll, das moderne Völkerrecht entstand.<br />

In diesem Zusammenhang muss auch die berühmte<br />

Brevísima Relación de la Destrucción de las Indias des<br />

Bischofs und Spaniers Bartolomé de Las Casas gesehen<br />

werden, die anfangs schon zitiert worden ist. Die Erzählung<br />

war als ein innerspanischer Diskussionsbeitrag gedacht,<br />

in der Las Casas auf die schlechte Behandlung der Indios<br />

von Seiten einiger spanischer Kolonisatoren aufmerksam<br />

machen wollte. Mit zahlreichen blutrünstig und einseitig<br />

dargestellten Übertreibungen und Ausschmückungen der<br />

Geschichten der Eroberungen trat er 1542 mit seiner<br />

Anklageschrift vor Kaiser Karl V. und präsentierte diese,<br />

um mit allen Mitteln schärfere Gesetze gegen spanische<br />

Kolonisten zu erzwingen. Das ist ihm auch gelungen, denn<br />

Karl V., aufgrund des Sterbens der Indios in den Kolonien<br />

immer stärker verunsichert, erließ am 20.11.1542 die Leyes<br />

Nuevas. Es waren dies für die damalige Zeit äußerst<br />

fortschrittliche „Neue Gesetze“, die die Indianer schützen<br />

und die Privilegien und Rechte der Spanier in Amerika<br />

einschränken sollten. 23<br />

Von spanischer Seite wurde dieses Ringen um die Rechte<br />

der Indios und das Infragestellen der eigenen<br />

Vorgehensweise vieler spanischer Theologen,<br />

Intellektueller und Karls V. oft als iberische Fähigkeit zur<br />

Selbstkritik interpretiert. Nicht so bei den Feinden Spaniens:<br />

Die Brevísima Relación verwandelte sich in den Händen<br />

von Nicht-Spaniern in die antihispanistische Kampfschrift<br />

schlechthin. Das Werk ist untrennbar mit der „Schwarzen<br />

Legende“ verbunden, es war der „Grundstock für die<br />

Beschuldigungen gegen Spanien“. 24 In zahlreiche<br />

Sprachen übersetzt und immer wieder neu aufgelegt,<br />

diente sie „wo es auch immer antihispanistische<br />

<strong>Pro</strong>pagandisten gab, als bevorzugte Waffe im Kampf.“ 25<br />

Zwei von vielen möglichen Beispielen dafür, sollen hier<br />

angeführt werden:<br />

In einer Zeit blutigster Konflikte in Großbritannien, in denen<br />

England mit derartiger Gewalt gegen Irland vorging, dass<br />

diese sogar mit den ethnischen Säuberungen des 20.<br />

Jahrhunderts verglichen wurde, 26 plante England das<br />

Zentrum der spanischen Macht in den Kolonien<br />

anzugreifen. 27 Doch bevor man den Gegner auf der Basis<br />

von Moralität angreifen konnte, musste er zuerst<br />

diskreditiert werden. Dazu wurde in England im Jahr 1656<br />

noch einmal Las Casas Brevísima Relación aufgelegt,<br />

geschmückt mit einigen Illustrationen der spanischen<br />

Grausamkeiten des niederländischen Kupferstechers<br />

Theodore de Bry. Dabei ließen die puritanischen<br />

Übersetzer, wie Louis Kelly in einer Arbeit zeigte, ihre<br />

eigenen Interpretationen so stark in die Texte einfließen,<br />

dass ihnen bis zu einem gewissen Grad eine<br />

Mitverantwortung für die Spannungen zwischen England<br />

und Spanien in der Mitte des 17. Jahrhunderts zukommt. 28<br />

Dies war typische Vorgehensweise der Feinde Spaniens,<br />

die bis ins 20. Jahrhundert praktiziert wurde, und ein<br />

Element der „Schwarzen Legende“ darstellt: Wenn gegen<br />

Spanien Krieg geführt wurde, legte man die alten<br />

Geschichten über die Eroberung der Neuen Welt wieder<br />

auf und eröffnete damit eine neue Front auf ideeller<br />

Ebene. 29 Spanien war in der Mitte des 17. Jahrhunderts<br />

<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />

Antihispanismus gestern und heute<br />

104<br />

Englands Hauptfeind, „the great“, „the natural enemy“<br />

wie Oliver Cromwell es ausdrückte. 30 Indem man<br />

propagandistisch gegen Spanien ins Feld zog, konnte man<br />

selbst strahlend gegen sie auftreten und hatte eine<br />

Rechtfertigung für kriegerische Betätigung. Die Historikerin<br />

Melanie Perreault zeigte in einer Arbeit zu interkultureller<br />

Gewalt im englischen Atlantik, 31 wie es England gelang,<br />

seine gewalttätige Präsenz im 17. Jahrhundert moralisch<br />

zu rechtfertigen, während im gleichen Atemzug Spanien<br />

massiv für die gleichen Taten kritisiert wurde.<br />

Ein anderes Beispiel aus noch neuerer Zeit: Vor dem<br />

Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898, in dem Spanien<br />

Kuba verlor, wurde in den USA eine neue Auflage von Las<br />

Casas Brevísima Relación herausgegeben. Auch hier ging<br />

man nach dem gleichen Schema vor: zuerst die<br />

moralische Diskreditierung und dann der Angriff auf die<br />

Kolonien. 32<br />

Dieses propagandistisch in vielfältiger Weise verwendete<br />

und für den innerspanischen Diskurs zum Schutz der Indios<br />

geschriebene Werk Las Casas hat in der Zeit von<br />

Jahrhunderten, teilweise mit manipulierten Übersetzungen,<br />

dazu beigetragen, die Mär von der besonderen<br />

Grausamkeit der Spanier in die Köpfe von Millionen von<br />

Menschen einzupflanzen. Las Casas gab mit seiner<br />

Selbstkritik den Feinden Spaniens eine Waffe in die Hand,<br />

die diese für höchst effiziente <strong>Pro</strong>paganda verwendeten.<br />

In England wurde das Verhalten gegenüber der indigenen<br />

Bevölkerung kaum reflektiert, weswegen sich das Land<br />

auch nicht so stark angreifbar machte wie Spanien.<br />

Wie in der Einleitung des vorliegenden Artikels gezeigt, wird<br />

diese Anklageschrift noch heute in österreichischen<br />

Lehrbüchern als historische Quelle zitiert. In diesem<br />

Lehrbuch ist aber nicht davon die Rede, dass die<br />

Engländer in ihren Kolonien wegen ihrer Schwerter unter<br />

den Indianern als „Messermänner“ gefürchtet waren und<br />

dass in Neuengland und South Carolina sogar Skalppreise<br />

eingeführt wurden, wobei man für einen „Rothaut-Skalp“<br />

bis zu acht Pfund bezahlt bekam. 33 Auch hört man nichts<br />

davon, dass es in den USA heute fast keine Indianer mehr<br />

gibt.<br />

Folgender Gedanke von Iris Engstrand, Historikerin in<br />

Southern California, ist in diesem Zusammenhang<br />

interessant. Sie macht darauf aufmerksam, dass<br />

Engländer, Portugiesen und Franzosen aus genau den<br />

gleichen Motiven, und mit der gleichen Gewalt die<br />

Kolonisierung in den von ihnen eroberten Gebieten<br />

vorangetrieben haben, aber nicht als Eroberer bezeichnet<br />

werden. Während die Engländer als settler und die<br />

Holländer als „Händler“ in das kollektive Gedächtnis<br />

eingegangen sind, scheint die Betitelung „Eroberer“ für<br />

Spanien reserviert zu sein. 34 Engstrand schreibt weiter:<br />

The cruelest deeds of individual Spaniards have become<br />

emblematic of a people and have been described in<br />

detail in various monographs, given ample space in<br />

general textbooks, and popularized in movies and<br />

television for American audiences stretching from Cape<br />

Horn to the Bering Strait. 35<br />

Engstrand bringt die Sache auf den Punkt. Während die<br />

grausamen Taten einzelner Spanier immer wieder als<br />

Beweise für die Niederträchtigkeit des spanischen Volkes<br />

ins Feld geführt werden, verschweigt man oft die intensiven<br />

Bemühungen der spanischen Krone, für den Schutz der<br />

Indios zu sorgen. Andere kolonisierende Völker haben zwar<br />

die gleichen Grausamkeiten begangen, ihnen ist es aber<br />

gelungen, sich besser darzustellen und so hat sich im Laufe<br />

der Jahrhunderte ein anderes Bild durchgesetzt. Engstrand<br />

spricht davon, dass der Darstellung der Brutalität der<br />

Spanier viel Platz in den allgemeinen Lehrbüchern gewährt<br />

wird. Auch dies wurde in der vorliegenden Arbeit anhand<br />

Zeitbilder 6, 2000 schon gezeigt. Eine Analyse der Begriffe,


die in diesem Lehrbuch verwendet werden, um den<br />

gesamten europäischen Kolonisierungsprozess<br />

darzustellen, lässt Beachtenswertes zum Vorschein treten.<br />

Während die spanische Kolonisierung mit den Begriffen<br />

auf der linken Seite der nachfolgenden Tabelle<br />

beschrieben wird, werden die Begriffe der rechten Spalte<br />

im Zusammenhang mit der englischen, französischen, und<br />

holländischen Kolonisierung verwendet: 36<br />

Beschreibung spanischer Kolonisierung<br />

zerstören, töten 5x<br />

erobern 3x<br />

grausam 2x<br />

ausrotten 2x<br />

Gier 1x<br />

Sklaven 3x<br />

Beschreibung englischer, französischer, holländischer<br />

Kolonisierung<br />

festsetzen<br />

landen<br />

errichten Reich<br />

entdecken<br />

gründen<br />

Kaperungen, Überfälle<br />

Von „grausam“, „zerstören“ oder „töten“ ist nur im<br />

Zusammenhang mit den Spaniern die Rede. Mit „Reich<br />

errichten“, „gründen“ und „landen“ hingegen wird die<br />

Kolonisierung der Nicht-Spanier beschrieben. In diesem<br />

Vergleich lässt sich eine deutliche Tendenz erkennen,<br />

durch die das Einfließen der „Schwarzen Legende“ in<br />

dieses Schulbuch aufgezeigt wird.<br />

3.3 Die mestizisierte Bevölkerung in Hispanoamerika<br />

Hier muss nun auf die Tatsache hingewiesen werden, dass<br />

die spanischen Kolonisatoren auf schon vorhandenen<br />

Strukturen von Hochkulturen in Lateinamerika gestoßen<br />

sind und auf jene aufgebaut haben. Auf diese Weise kam<br />

es zu einer echten Vermischung mehrerer Kulturen, in der<br />

die indigene Bevölkerung eine aktive Rolle spielte, 37 und<br />

in der neue Identitäten entstanden. In Nordamerika ist es<br />

zu einer solchen Kulturbegegnung nicht gekommen, wie<br />

an den Hautfarben der dort lebenden Bevölkerung leicht<br />

zu erkennen ist. Die Indianer Nordamerikas sind von der<br />

Bildfläche verschwunden, es gibt sie fast nicht mehr, denn<br />

sie sind wirklich ausgerottet worden. Die im vorigen Punkt<br />

angeführte Tabelle wirkt angesichts dieser Tatsache noch<br />

erstaunlicher, denn das Verb „ausrotten“ wird nur im<br />

Zusammenhang mit der spanischen Kolonisierung<br />

verwendet, und dort gleich zwei Mal.<br />

In Spanisch-Amerika wurden Schulen und Universitäten vor<br />

allem aus Missionsgründen bald für die autochthone Elite<br />

geöffnet. Im Jahr 1538 kam es zur Gründung einer<br />

Universität, in der Indios zugelassen waren. Spanische<br />

Mönche unterrichteten sie, nachdem sie ihre Sprache<br />

erlernt hatten. Die ethnischen Gruppen vermischten sich<br />

und die Kolonialgesellschaft wurde von der indigenen<br />

Bevölkerung wesentlich mitgeprägt und kulturell<br />

beeinflusst. Beispielsweise wurden als Gewohnheitsrecht<br />

zahlreiche Rechtsbräuche der Indianer, sofern sie nicht<br />

den christlichen Moralvorstellungen entgegenstanden, in<br />

die spanische Rechtsordnung aufgenommen. 38 Der<br />

Historiker und Spezialist für lateinamerikanische Geschichte<br />

Horst Pietschmann hält fest, dass es wichtig sei,<br />

anzuerkennen, „dass sich jenseits der grundlegend von<br />

Fremdherrschaft und auch Gewalt bestimmten<br />

Beziehungsverhältnisse vielfältige Formen von Interaktion,<br />

Kollaboration, wechselseitigen Reaktionen auf die neuen<br />

Verhältnisse und selbst Anpassung entwickelten, die in den<br />

einzelnen Kolonien den weiteren Gang der historischen<br />

<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />

Antihispanismus gestern und heute<br />

105<br />

Entwicklung entscheidend bestimmten.“ 39<br />

Pietschmann konstatiert, dass es nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg und im Zuge der Dekolonisation in Afrika, Asien<br />

und der Karibik, sowie der Ausbreitung des Marxismus und<br />

eines verstärkten Nationalismus in den jungen Staaten<br />

Lateinamerikas zu einem Paradigmenwechsel in der<br />

Historiographie über Lateinamerika gekommen sei. Die<br />

Beurteilungen der iberischen Expansion waren im 20.<br />

Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg eher positiv, wobei<br />

in den conquistadores vor allem Helden und Sendboten<br />

einer weit überlegenen Zivilisation gesehen wurden. Dies<br />

änderte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.<br />

Nun dominierten vor allem negative Sichtweisen, in denen<br />

die Eingeborenen überwiegend als unschuldige Opfer<br />

von brutalen Eroberern hingestellt und nur als Objekte<br />

von Ausbeutung und Unterdrückung gesehen wurden.<br />

„Beide Sichtweisen sind nicht nur eurozentrisch, sondern<br />

auch historisch falsch“ wie man aufgrund einer „Flut von<br />

neu erschlossenen Quellen aus europäischen und<br />

lateinamerikanischen Archiven inzwischen aufdecken<br />

konnte.“ 40 In beiden Sichtweisen wird die indigene<br />

Bevölkerung abgewertet und ihr eine passive Rolle<br />

zugewiesen, die historisch nicht haltbar ist.<br />

1984 hat die mexikanische Regierung nach Beratung von<br />

Seiten einer nationalen Historiker-Kommission eine<br />

Erklärung herausgegeben, in der sie sich gegen eine<br />

eurozentristischen Auffassung der Geschichte<br />

Lateinamerikas wandten und die Revision einiger Begriffe<br />

vorschlug. Bezeichnungen wie „Entdeckung“ und<br />

„Eroberung Amerikas“, „europäische Landnahme“ etc.<br />

seien historisch einseitig, da sie nur Europa, Spanien oder<br />

Portugal als historisch Handelnde herausstreichen und die<br />

amerikanische Urbevölkerung als lediglich passiv die<br />

Geschichte erleidend darstellen. Statt „Entdeckung<br />

Amerikas“ sollte vielmehr von einem „encuentro de<br />

culturas“ (Zusammenprall aber auch Begegnung von<br />

Kulturen) gesprochen werden, was der historischen<br />

Realität besser entsprechen würde. In Lateinamerika<br />

wurde diese Begrifflichkeit sofort gut aufgenommen, allein<br />

Fidel Castros Kuba polemisierte heftig dagegen. 41 Bei<br />

einer Versammlung der nationalen Kommissionen für das<br />

500. Jubiläum der „Entdeckung Amerikas“ im Jahr 1984<br />

sagte der mexikanische Delegierte in diesem<br />

Zusammenhang: „Begreifen wir, dass trotz anfänglicher<br />

Konflikte, der Kämpfe und der Eroberungen, am Ende die<br />

Annäherung und die Verschmelzung der Völker Bestand<br />

hatte!“ 42<br />

Für Mexiko lassen sich in gesellschaftspolitischer Hinsicht<br />

folgende gesicherte Aussagen über die<br />

Kolonialgesellschaft machen, die in diesem<br />

Zusammenhang erwähnenswert sind: 43<br />

1) Der indigene Adel erhielt generell den Status spanischer<br />

Hidalgos (Edelleute) und wurde in seinen Rechten<br />

anerkannt. Er war von Tributleistungen befreit und ihm<br />

wurde Einfluss auf die nach spanischem Stadtrecht<br />

verfassten indigenen Dorf- und Stadtgemeinden<br />

garantiert.<br />

2) Dem indigenen Stadtregiment wurde die niedere<br />

Rechtssprechung unter Aufsicht eines spanischen<br />

Beamten überlassen.<br />

3) Das Tribut- und Dienstleistungssystem der Krone in der<br />

Neuen Welt orientierte sich an vorspanischen<br />

Gegebenheiten.<br />

4) Neue indigene Gruppen konnten sozial und in<br />

Führungsrollen in den indigenen Dorf- und<br />

Stadtgemeinden aufsteigen.<br />

5) Europäische Bildung wurde dem indigenen Adel


geöffnet.<br />

6) Vielen Fällen von ungerechter Bedrückung und<br />

Ausbeutung von indianischen Dorfgemeinschaften<br />

stehen zahlreiche Fälle erfolgreicher Nutzung des Rechts<br />

und von politischen Druckmitteln durch indigene<br />

Gemeinden zur Behauptung ihrer Rechte gegenüber.<br />

7) Diese Fakten werden in einer Geschichtsauffassung,<br />

die von der leyenda negra geprägt ist, außer Acht<br />

gelassen. Die „Schwarze Legende“ konstruiert einen<br />

reinen Antagonismus zwischen der spanischen und der<br />

indigenen Kultur, wobei erstere die zweitere völlig zerstört<br />

habe.<br />

4. Fazit<br />

Die „Schwarze Legende“ und, aus ihr hervorgehend, der<br />

Antihispanismus prägen eine große Zeitspanne. In der<br />

frühen Neuzeit aufkommend, wurde sie im Laufe der<br />

Geschichte immer wieder neu aufgewärmt, um<br />

schließlich sogar in ein österreichisches<br />

Geschichtelehrbuch des 21. Jahrhunderts, Zeitbilder 6,<br />

2000, einzugehen. Mit dem Begriff „Schwarze Legende“<br />

wird in der Geschichtswissenschaft eine<br />

Geschichtsschreibung über den spanischen<br />

Kolonisationsprozess bezeichnet, welche eine beispiellose<br />

Brutalität der Spanier mit besonderem Nachdruck<br />

unterstreicht. Die Existenz einer solchen Legende gilt als<br />

unbestritten. Trotzdem könnte die Beschäftigung mit der<br />

„Schwarzen Legende“ könnte den Anschein erwecken,<br />

die Gräueltaten der conquistadores verharmlosen oder<br />

sogar rechtfertigen zu wollen. In einem solchen Falle<br />

würde einer so genannten „Weißen Legende“ das Wort<br />

gesprochen werden, die darin besteht, den spanischen<br />

Kolonisationsprozess unkritisch positiv zu bewerten. Die<br />

Gräueltaten der Spanier während der Eroberung der<br />

Neuen Welt, müssen aus moralischer Sicht verurteilt<br />

werden. Trotzdem ist es wichtig festzuhalten, dass diese<br />

sich nicht von dem Vorgehen anderer Völker in einer<br />

ziemlich blutrünstigen frühen Neuzeit unterscheiden und<br />

jede moralische Monoevaluation fehl am Platz ist.<br />

In dieser Arbeit wurde ein simplifizierendes Bild, das<br />

Spanien als im Gegensatz zu anderen Ländern als<br />

besonders brutal hinstellt, kritisiert, und versucht einige<br />

Graustufen sichtbar werden zu lassen. Wie der Historiker<br />

Pietschmann, auf den ich mich in diesem Beitrag öfter<br />

bezogen habe, in Bezug auf die spanische Kolonisierung<br />

gesagt hat: „Insgesamt ist somit das Panorama äußerst<br />

komplex“. 44 Diese Komplexität wird von der „Schwarzen<br />

Legende“ nicht berücksichtigt und viele Facetten des<br />

<strong>Pro</strong>zesses werden ausgeklammert. Die Beschuldigung,<br />

den ungeheuren Bevölkerungsverlust in den Kolonien und<br />

das Sterben von Millionen von Indianern durch Gewalt<br />

bewusst herbeigeführt zu haben, basiert auf falschen<br />

Behauptungen. Das Sterben der Indios ist in erster Linie<br />

auf Epidemien zurückzuführen und von spanischer Seite<br />

wurde massiv versucht, diesem entgegen zu wirken.<br />

Ausgeblendet wird durch die „Schwarze Legende“, dass<br />

sich die spanische Krone und die Kirche bemüht haben,<br />

den Indios nach den damals gültigen Grundsätzen Recht<br />

widerfahren zu lassen. Durch die Bemühungen der Schule<br />

von Salamanca, und anderer spanischer Gelehrter ist in<br />

diesem Zusammenhang sogar der Grundstein für das<br />

Völkerrecht gelegt worden. Die Brevísima Relacion des<br />

Bischofs Las Casas, ein vorerst innerspanischer<br />

Diskussionsbeitrag, durch den der Kaiser aufgerüttelt<br />

werden sollte, verwandelte sich in den Händen der Feinde<br />

Spaniens zur antihispanistischen Kampfschrift schlechthin<br />

und ist untrennbar mit der leyenda negra verbunden. Die<br />

anschaulichen Schilderungen der Grausamkeiten der<br />

spanischen conquistadores wurden des öfteren als<br />

moralische Rechtfertigung gesehen, die hegemoniale<br />

<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />

Weltmacht Spanien im 16. und 17. Jahrhundert auf Basis<br />

von Moralität anzugreifen, weswegen das Werk in vielen<br />

Sprachen zahlreiche Neuauflagen erfuhr. Dadurch<br />

prägten sich Bilder ins kollektive Bewusstsein vieler<br />

Menschen ein, die mit der historischen Realität wenig zu<br />

tun haben. Heute noch wird die Brevísima Relacion in<br />

Geschichtelehrbüchern zitiert.<br />

Die indigene Bevölkerung hat die Kolonialgesellschaft stark<br />

geprägt und spielte somit eine aktive Rolle. Das heißt nicht,<br />

dass sie nicht unterdrückt und ausgebeutet wurde, ähnlich<br />

wie es auch im Europa der Zeit mit anderen<br />

Bevölkerungsgruppen der Fall war. Nach einem<br />

Zusammenprall der beiden Kulturen kam es aber zu einer<br />

mehr oder minder konfliktreichen Verschmelzung<br />

derselben und zu neuen historischen Identitäten, die heute<br />

Lateinamerika prägen. Das Aufrechterhalten der Bilder der<br />

„Schwarzen Legende“, die von der historischen<br />

Wissenschaft längst revidiert sind, bergen für die derzeitige<br />

Gesellschaft Lateinamerikas ein Konfliktpotential. Sie<br />

können aufgrund ihrer simplifizierenden Art, die Welt in gut<br />

und böse einzuteilen, von lateinamerikanischen Diktatoren<br />

in populistischer Weise für die Rechtfertigung ihrer Regime<br />

ausgeschlachtet werden, was bisweilen auch passiert. Die<br />

antihispanistische Ideologie scheint ziemlich zeitbeständig<br />

zu sein, und immer wieder neue Möglichkeiten der<br />

politischen Instrumentalisierung anzubieten.<br />

5. Bibliographie<br />

Antihispanismus gestern und heute<br />

106<br />

Castillo y Caballero, Javier Sáenz: La leyenda negra<br />

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<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />

Fußnoten:<br />

1 Josef Scheipl/Alois Scheucher/Anton Wald (u.a.): Zeitbilder 6, Vom<br />

Hochmittelalter bis zum Wiener Kongress. Wien 2 2000, S. 72f.<br />

2 Ebd, S. 73.<br />

3 Javier Sáenz del Castillo y Caballero: La leyenda negra hispanoamericana.<br />

In: Revista Americana<br />

Francisco de Vitoria. URL: http://213.229.161.87/web/<br />

default.asp?id_pagina=767. (am 10.06.2008).<br />

4 Julian Juderías: La Leyenda Negra. Estudios acerca del concepto de<br />

España en el Extranjero. Barcelona<br />

1943, S. 15f (alle spanischen Zitate dieses Beitrags wurden von mir ins<br />

Deutsche übersetzt).<br />

5 Tzvetan Todorov: La Conquista de América. El problema del otro. México<br />

1995, S. 143.<br />

6 Vgl. Renate Pieper: Hispanoamerika. Die demographische Entwicklung.<br />

In: Horst Pietschman (Hg.):<br />

Handbuch der Geschichte Lateinamerikas. Bd.1: Mittel-Südamerika und die<br />

Karibik bis 1760. Stuttgart<br />

1994, S 318.<br />

7 Vgl. Ebd.<br />

8 Todorov: Conquista, S. 159.<br />

9 Vgl. Hendrik Henrichs: Un holandés „distinto“: Johan Brouwer y la historia<br />

de España. In: Revista de Occidente, 304, September 2006. URL: http://<br />

www.revistasculturales.com/articulos/97/revista-de-occidente/608/1/unholandes-distinto-johan-brouwer-y-la-historia-de-espana.html.<br />

(am<br />

02.07.2008).<br />

10 Peer Schmidt: Spanische Universalmonarchie oder „teutsche Libertet”.<br />

Das spanische Imperium in der <strong>Pro</strong>paganda des Dreißigjährigen Krieges.<br />

Stuttgart 2001.<br />

11 Vgl. Friedrich Edelmayer: Die spanische Monarchie der Katholischen<br />

Könige und die Habsburger (1474-1700). In: Peer Schmidt: Kleine Geschichte<br />

Spaniens. Stuttgart 2004, S. 125.<br />

12 Vgl. Martin Franzbach: Geschichte der spanischen Literatur im Überblick.<br />

Stuttgart 2002, S. 72.<br />

13 Klaus-Dieter Ertler: Kleine Geschichte des lateinamerikanischen Romans.<br />

Strömungen– Autoren – Werke. Tübingen: 2002, S. 56.<br />

14 Hanns J. Prem: Geschichte Altamerikas. Oldenbourg/München 2007<br />

(Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 23), S. 258.<br />

15 Jesús Troncoso García: Enfatemática del antiespañolismo en los textos<br />

de historia en países europeos y americanos. In: ÁMBITOS. 6. 1, 2001, S. 144.<br />

16 Vgl. Melanie Perreault: „To Fear and to Love Us“: Intercultural Violence in<br />

the English Atlantic. In: Journal of World History. 17.1, 2006, S. 71-93.<br />

17 Vgl. Renate Pieper/Iris Luetjens: Die Entwicklung der Indianergemeinden.<br />

In: Horst Pietschman (Hg.): Handbuch der Geschichte Lateinamerikas. Bd.1:<br />

Mittel-Südamerika und die Karibik bis 1760. Stuttgart<br />

1994, S. 585f.<br />

18 Horst Pietschmann: Die Eroberung des Aztekenreiches durch Hernán Cortés<br />

oder besiegte Sieger und siegreiche Besiegte. In: Otto Kraus (Hg.): Vae victis!<br />

Über den Umgang mit Besiegten. Göttingen 1998. (Veröffentlichungen der<br />

Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften, 86), S. 16.<br />

19 Vgl. James Muldoon: John Marshall and the Rights of Indians. In: Renate<br />

Pieper/Peer Schmidt (Hg.): Latin America and the Atlantic World. Essays in<br />

honor of Horst Pietschmann. Köln/Weimar/Wien 2005, (=Lateinamerikanische<br />

Forschungen 33), S. 67f.<br />

20 Vgl. Bruno Rech: Las Casas und das Alte Testament. In: Günter Kahle/<br />

Hermann Kellenbenz u.a (Hg.): Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft<br />

und Gesellschaft Lateinamerikas. Bd. 18. Köln/Wien 1981, S. 3.<br />

21 Papst Paul III: Sublimis Deus. Zitiert nach: Mariano Delgado: Gott in<br />

Lateinamerika: Texte aus fünf<br />

Jahrhunderten. Ein Lesebuch zur Geschichte. Düsseldorf 1991, S. 68-71.<br />

22 Vgl. Ernst Walter Zeeden: Frühe Neuzeit. In: Reinhard Elze/Konrad Repgen<br />

(Hg.): Studienbuch Geschichte. Eine Europäische Weltgeschichte. Bd. 2:<br />

Frühe Neuzeit 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 2003, S. 41.<br />

23 Vgl. Rech: Las Casas, S. 4.<br />

Antihispanismus gestern und heute<br />

107<br />

24 Vgl. Karl Kohut (Hg.): Der eroberte Kontinent. Historische Realität,<br />

Rechtfertigung und literarische Darstellung der Kolonisation Amerikas.<br />

Frankfurt am Main: Vervuert 1991, S 191.<br />

25 Juan Carlos Hernández Cuevas: La Brevísima Relación de la Destrucción<br />

de las Indias y la leyenda negra americana. In: Espéculo. Revista de estudios<br />

literarios. Madrid 2006. URL: http://www.ucm.es/info/<br />

especulo/numero34/fraybar.html. (am 10.07.2007).<br />

26 Vgl. Brian Sandberg: Beyond Encounters: Religion, Ethnicity and Violence<br />

in the Early Modern Atlantic World, 1492-1700. In: Journal of World History


17.1, 2006, S. 1-25.<br />

27 Cromwells „Western Design“ sah vor zuerst die Großen Antillen zu erobern,<br />

die dann Ausgangspunkt für<br />

weitere Vorstöße sein sollten. Vgl. Günter Kahle: Lateinamerika in der Politik<br />

der europäischen Mächte:<br />

1492-1810. Köln-Weimar-Wien 1993, S. 47.<br />

28 Vgl. Louis Kelly: Translators, chocolate and war. In: Bastin Georges: HISTAL<br />

- Historia de la Traducción en América Latina. Montreal 2004, S. 6. URL:<br />

http://www.histal.umontreal.ca/pdfs/<br />

Translators%20chocolate%20and%20war.pdf (am 25.05.2007)<br />

29 Vgl. Schmidt: Spanische Universalmonarchie, S. 294.<br />

30 The <strong>Pro</strong>tector´s Speech at opening of Parliament (17th September 1656).<br />

In: Guibon Goddard´s Journal:<br />

Diary of Thomas Burton esq, volume 1: July 1653 - April 1657 (1828), S. CXLVIII-<br />

CLXXIV. URL:<br />

http://www.british-history.ac.uk/report.asp?compid=36734. (30. Mai 2007).<br />

31 Vgl. Melanie Perreault: Intercultural Violenc, S. 71-93.<br />

32 Vgl. dazu: Gregory Cerio: Were the Spaniards That Cruel? In: Newsweek,<br />

Special Issue, Herbst/Winter 1991, S. 48-51.<br />

33 Vgl. Gert Raeithel: Geschichte der nordamerikanischen Kultur. Bd. 1 Vom<br />

Puritanismus zum<br />

Bürgerkrieg. Weinheim-Berlin 1987, S 69.<br />

34 Iris Engstrand: How Cruel Were the Spaniards? In: OAH Magazine of History.<br />

14, 2000.<br />

<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />

URL: http://www.oah.org/pubs/magazine/spanishfrontier/engstrand.html.<br />

(am 25.04.2008).<br />

35 Ebd.<br />

36 Scheipl/Scheucher/Wald: Zeitbilder 6, S. 72f.<br />

37 Vgl. Horst Pietschmann: Die iberische Expansion im Atlantik und die kastilischspanische<br />

Entdeckung und Eroberung Amerikas. In: Walter Bernecker u.a.<br />

(Hg.): Handbuch der Geschichte Lateinamerikas. Bd. 1. Stuttgart 1997, S. 207.<br />

38 Vgl. Horst Pietschmann: Sprache, Mission und Kolonisation oder die<br />

Entstehung neuer kultureller Identität: das Beispiel Mexiko. In: Internationale<br />

Schulbuchforschung. Zeitschrift des Georg Eckert Instituts 15, 1993, 4, S. 444.<br />

39 Pietschmann: Entstehung neuer kultureller Identität, S. 448.<br />

40 Pietschmann: Iberische Expansion, S. 207.<br />

41 Vgl. Horst Pietschmann: Amerika 1992. Zeitgeist und politische<br />

Instrumentalisierung eines Zeitenwende-Jubiläums. In: Hermann Joseph Hiery<br />

u.a. (Hg.): Der Zeitgeist und die Historie (Bayreuther Historische Kolloquien<br />

15), Dettelbach 2001, S. 195.<br />

42 Horst Pietschmann: Dokument zum Thema. In: Periplus. Jahrbuch für<br />

außereuropäische Geschichte Bd. 9, 1999, S. 88.<br />

43 Die folgenden sechs Punkte sind entnommen aus: Pietschmann: Eroberung<br />

des Aztekenreiches S. 26f.<br />

44 Pietschmann: Eroberung des Aztekenreiches, S. 29.<br />

Roland BERNHARD, geb. 1980, studiert Theologie, Geschichte und Lehramt Spanisch an der Karl-Franzens Universität<br />

Graz. Er ist hier seit 2006 Studienassistent am Institut für Romanistik und arbeitet seit 2007 am Institut für Wirtschafts- und<br />

Sozialgeschichte. Sein Interesse gilt in besonderem Maße der Wirtschafts- und Sozialgeschichte und der<br />

spanischsprachigen Welt. Er wird seit 2008 durch PRO SCIENTIA gefördert.<br />

Antihispanismus gestern und heute<br />

108


VORBEMERKUNG<br />

Der Titel dieser Arbeit ist zugleich deren These, welche ein<br />

populäres Vorurteil dem Islam gegenüber verneint: Das<br />

Fundament des politischen Islam 1 ist nicht unbedingt in<br />

dessen Wesen begründet, sondern bildet sich in der<br />

Auseinandersetzung der muslimischen Intellektualität mit<br />

einem hegemonialen Abendland in der Kolonialzeit.<br />

Dieser Gedanke mag zwar einleuchten, doch ist eine<br />

wissenschaftliche Ausarbeitung dieser Tatsache aufgrund<br />

der Unzahl an kursierenden Vorurteilen, die dem Islam ein<br />

gewisses Gewaltpotential zuschreiben, unumgänglich, da<br />

jene darlegen kann, dass eine Ideologie wie beispielsweise<br />

jene von Osama bin Laden, welche mit Waffengewalt<br />

darauf drängt, islamische Staaten nach den Prinzipien<br />

islamischer Orthodoxie einzurichten, weder dessen<br />

Erfindung, noch die seines Mentors Aiman al-Zawahiri sind,<br />

noch dem Koran entstammen. Nichtsdestotrotz liegt ein<br />

Körnchen Wahrheit in der Behauptung, dass einer<br />

islamischen Orthodoxie eine gewisse Dynamik immanent<br />

sei, welche darauf drängt, Politik zu strukturieren. Um dem<br />

nachzugehen, müssen die Fundamente des islamischen<br />

Glaubens, also Koran, Sunna und Recht, nach ihrem<br />

Zusammenhang mit etwaigen politischen Vorgaben bzw.<br />

politischen Modellen untersucht werden.<br />

GRÜNDE<br />

Nach islamischem Glauben stellt der Koran das<br />

ungeschaffene Wort Gottes dar, wie es dem Kaufmann<br />

Muhammad ab dem Jahre 610 n. Chr. offenbart wurde.<br />

Um den Wundercharakter der von Muhammad realisierten<br />

Verschriftlichung des Korans zu unterstreichen, wurde<br />

dabei immer wieder die Schreibunkundigkeit des<br />

<strong>Pro</strong>pheten unterstrichen. Folglich haftet dem Koran und<br />

dessen exaktem Wortlaut der Glaube an, den<br />

unverfälschten Willen Gottes zu verkörpern.<br />

Zusammengenommen bedeutet das, dass dem Koran als<br />

heiliger Schrift, eine Tendenz zu dessen<br />

fundamentalistischer Lesart innewohnt. Angaben über<br />

Ausrichtungen von Politik finden sich jedoch keine im Koran<br />

2 .<br />

Die zweite autoritative Quelle für Muslime ist die Sunna<br />

des <strong>Pro</strong>pheten. Die Sunna, das Verhalten des <strong>Pro</strong>pheten,<br />

ist in so genannten Hadith-Sammlungen aufgezeichnet.<br />

Der normative Charakter des Verhaltens Muhammads<br />

begründet sich aus der Sichtweise, er stehe als<br />

herausragender <strong>Pro</strong>phet Gottes in einem besonderen<br />

Nahverhältnis zu Allah. Zwar existieren sehr viele als<br />

autoritativ anerkannte Hadithe, welche jedoch allesamt<br />

sehr der Konkretheit verhaftet sind und von denen sich<br />

erstaunlich wenige Prinzipien für Politik gewinnen lassen. 3<br />

Um nun dennoch aus konkreten Sachverhalten auf der<br />

Basis normativer Quellen allgemeine Gesetze<br />

herauszudestillieren, wurde zu Beginn des 9. Jhdts die<br />

Scharia als Methode der Rechtsfindung entwickelt, welche<br />

neben dem Koran und der Sunna, auch die Analogie und<br />

der Konsens als deren Wurzel anerkennt. Dabei solle bei<br />

jeder Urteilsfindung auf die Erkennung und Durchsetzung<br />

rechtmäßiger, schützenswerter Interessen und das<br />

Allgemeinwohl geachtet werden. Nun ist nicht nur<br />

uneindeutig, welche Interessen etwa schützenswert sind<br />

oder wie Allgemeinwohl zu definieren ist, sondern auch<br />

auf welchem Gebiet und über welchen Zeitraum ein<br />

neues Gesetz oder Urteil den Konsens der<br />

Rechtsgelehrsamkeit erfordert. Zur Heterogenität der<br />

Kalküle von Scharia kommt weiters das Faktum der Existenz<br />

<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />

Maximilian Lakitsch<br />

Die Kolonialzeit als zentrale Achse des politischen Islam<br />

von vier verschiedenen Rechtsschulen hinzu, welche sich<br />

zwar gegenseitig anerkennen, jedoch ihre je eigenen<br />

zusätzlichen Prinzipien zur Rechtsfindung haben. Daraus<br />

folgt, dass es die Scharia nicht gibt und daher auch nicht<br />

ein politisches Modell, das jene vorgeben könnte. Diese<br />

Flexibilität von Scharia als Strukturprinzip des islamischen<br />

Weltreichs ermöglichte es jenem, in seiner Größe über<br />

eine derart lange Periode zu bestehen. Andererseits muss<br />

aber auch gesagt werden, dass aufgrund der<br />

Heterogenität, der mithilfe der Scharia ableitbaren<br />

Rechtsgrundsätze, die Dogmatizität des Rechts der<br />

historischen und politischen Pragmatik nur nachgeordnet<br />

sein kann. 4<br />

Islamische Fundamentalisten erkennen größtenteils<br />

ausschließlich die Umma als politisches<br />

Strukturierungsprinzip an, da jener Gedanke in einer Schrift<br />

ihre Grundlage hat, welche auf Muhammad<br />

zurückgehen soll. Doch wie schon in den bereits<br />

geschilderten Fällen der normativen Quellen des Islam,<br />

enthält die Umma außer der Erwähnung einer obersten<br />

Autorität, die Muhammad ist und die Aufforderung zur<br />

Achtung der Juden, weder vermehrt konkrete<br />

Informationen über Politik, noch allgemeine Leitprinzipien<br />

eines orthodoxen Gemeinwesens. 5<br />

Der Islam gebietet es dem Muslim, in allen Lebenslagen<br />

gemäß dem Wort Gottes, sowie nach dem Vorbild des<br />

<strong>Pro</strong>pheten zu handeln. Zu diesem totalen Charakter von<br />

religiöser Orthopraxie kommt durch das Selbstverständnis<br />

des Korans ein konservatives Moment hinzu, da jener als<br />

verschriftlichter Wille Gottes eine gewisse Tendenz zur<br />

Ahistorisierung und Dekontextualisierung von Schrift-,<br />

Glaubens- und Rechtsverständnis erzeugt. Von genau hier<br />

aus begründet sich die Meinung, der Islam sei eine<br />

politische Religion, dessen politische Prinzipien in seinem<br />

Wesen festgeschrieben seien. Jedoch können all diese<br />

Vorgaben sich nicht auf das Feld der Politik ausbreiten,<br />

geschweige denn einen Kalkül generieren, da sich aus<br />

den normativen Quellen des Islam keine Informationen<br />

zur Politik und schon gar nicht ein islamisches Modell zur<br />

Einrichtung eines Gemeinwesens gewinnen lassen. Das<br />

bedeutet, auch wenn der Islam von seinem<br />

Selbstverständnis ausgehend, Politik nach ahistorischen<br />

Grundsätzen bestimmen muss, so kann er das nicht.<br />

Folglich kann die Politisierung des islamischen Glaubens<br />

auch nicht dem islamischen Recht oder etwaigen<br />

Glaubensprinzipien gefolgt sein, welche stets nur eine<br />

sekundäre Rolle spielen können. Somit wird ersichtlich,<br />

weshalb die Gründe für die Art und Weise des politischen<br />

Islam, mit dem die Welt sich heutzutage konfrontiert sieht,<br />

in den historischen Umständen liegen müssen.<br />

GESCHICHTLICHER ABRISS<br />

In nur 400 Jahren eroberte der Islam ein gewaltiges<br />

Territorium, das sich von Spanien bis nach Zentralasien<br />

erstreckt. Das politische und religiöse Symbol dieser Einheit<br />

ist das Kalifat, welches beide Aspekte in einem göttlich<br />

legitimierten Souverän vereint. Mit ein Grund für die<br />

rasante Expansion mag in der Toleranz der Eroberer<br />

anderen Völkern und Religionen gegenüber gelegen<br />

haben, welche mitunter als religiös indifferent gesehen<br />

wurden. Als Kronzeuge hierfür sei ein koptischer Christ aus<br />

Ägypten zitiert, welcher die neue Unabhängigkeit vom<br />

Oströmischen Reich folgendermaßen begrüßt: “Es war für<br />

uns nicht nur ein kleiner Vorteil, von der Grausamkeit der<br />

Byzantiner befreit zu werden, von ihrer Bösartigkeit, ihrer<br />

Wut, ihrem grausamen Eifern gegen uns, und endlich<br />

Die Kolonialzeit als zentrale Achse des politischen Islam<br />

109


Ruhe zu haben.” 6<br />

Die wirtschaftlichen und kulturellen Folgen dieser<br />

weitreichenden territorialen Vernetzung waren enorm,<br />

denn mit der Vereinigung eines großen Teils des römischbyzantischen<br />

Gebiets und des parthisch-sassanidischen<br />

Territoriums wurde aus zwei, seit der Antike getrennten<br />

wirtschaftlichen Großräumen, ein gewaltig florierender<br />

Wirtschaftsraum, dem der Okzident nichts Vergleichbares<br />

entgegen zu setzen hatte: “Die Antriebszentren des<br />

wirtschaftlichen und kulturellen Lebens liegen jetzt im<br />

islamischen Orient; das Abendland ist eine Öde, die auf<br />

Wiederbelebung wartet, nachdem sich das kommerzielle<br />

und intellektuelle Leben seit dem Niedergang Roms und<br />

den Einfällen der Barbaren aus diesem Raum<br />

zurückgezogen haben.” 7<br />

Als Ausdruck dieser neuen explosiven Dynamik sei das<br />

Wachstums Bagdads erwähnt, das zur Zeit seiner<br />

Gründung als Hauptstadt der Abbasidendynastie 1000<br />

Einwohner beherbergte und nur 40 Jahre später einen<br />

stolzen Einwohnerzuwachs von mindestens 1,5 Mio.<br />

verzeichnen konnte. 8 Der wirtschaftlichen Blüte folgte die<br />

kulturelle, welche durch Übersetzung und kreativer<br />

Rezeption des antiken griechischen Wissens zu<br />

großartigen Leistungen in Philosophie, Architektur,<br />

Astronomie, Medizin, Literatur und Theologie führte. 9<br />

Als der Theologe Al-Ghazali im 12. Jhdt. mit seiner Kritik<br />

an der gottlosen Philosophie große Rezeption fand, erfuhr<br />

jegliche wissenschaftliche Kreativität, mit Ausnahme der<br />

Schriften von Averroes und dem Geschichtsphilosophen<br />

Ibn Khaldun im 15. Jhdt., ein jähes Ende. Diese kulturelle<br />

Stagnation fällt in die Zeit der Mongoleneinfälle, mit der<br />

das islamische Reich schwer zu kämpfen hatte. Man war<br />

wohl eher damit beschäftigt, die Reichseinheit durch<br />

Stärkung der Orthodoxie mittels des Rechts zu festigen,<br />

denn den fruchtbaren wissenschaftlichen Disputen den<br />

nötigen intellektuellen Freiraum zu gewähren. In jener Zeit<br />

findet durch die lateinische Eroberung des muslimischen<br />

Spaniens und von Sizilien der Eingang des Wissens aus<br />

dem Orient in den westlichen Kulturkreis statt, wodurch<br />

dem Okzident die Mittel in die Hand gegeben werden,<br />

mit der islamischen Welt auf kulturellen Gebiet<br />

gleichzuziehen. Zwar hat der Islam trotz der Mongolen<br />

sein eigenständiges Bild bewahren können, die Einheit<br />

des islamischen Großreichs wurde jedoch auf Dauer<br />

zerbrochen, denn in jener Zeit der Unsicherheit erkämpfte<br />

sich nicht nur Marokko und Ägypten einen quasi<br />

unabhängigen Status, sondern es wird auch die Dynastie<br />

der Osmanen ab dem 13. Jhdt. immer stärker. Durch diese<br />

Fragmentierung findet zwar nicht gerade eine Stagnation<br />

im islamischen Reich statt, jedoch hat das<br />

wirtschaftliche Wachstum ein Ende und erlaubt es dem<br />

Westen, im Verlauf des 15. Jhdt. mit dem Orient gleich zu<br />

ziehen. Die Renaissance und schließlich die industrielle<br />

Revolution katapultieren die westliche Welt in die Rolle<br />

des kulturellen und wirtschaftlichen Hegemons.<br />

Symptomatisch für diese rasante Umordnung des<br />

Kräfteverhältnisses ist ein Beispiel, welches der Orientalist<br />

Albert Hourani anführt: Trug die feine Gesellschaft<br />

Englands zu Beginn des 18. Jhdts noch Kleidung aus Wolle,<br />

welche wohl hauptsächlich noch von syrischen Beduinen<br />

auf den alten Karawanenstraßen transportiert worden<br />

war, so trugen etwa 50 Jahre später ebenjene syrischen<br />

Beduinen Kleidung aus Lancashire Wolle aus London. 10<br />

Der Beginn der Kolonialzeit im islamischen Raum kann,<br />

wenn man will, mit dem Mai 1798 symbolisch markiert<br />

werden. Zu jener Zeit kommt Napoleon mit einer<br />

Expeditionstruppe nach Ägypten. Das Frappierende<br />

daran ist der Schock, der sich ob der militärischen,<br />

technischen und kulturellen Überlegenheit der Franzosen<br />

wie ein Lauffeuer im Großteil der islamischen Welt<br />

ausbreitet. Die Reaktion fällt deshalb so überraschend<br />

<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />

aus, weil man sich der westlichen Welt gegenüber als<br />

überlegen empfunden hatte. Der letzte größere Austausch<br />

zwischen Okzident und Orient fand während der Zeit der<br />

Kreuzzüge statt, in welcher man die westliche Kultur als<br />

barbarisch und unterentwickelt empfunden hatte. Seit<br />

jener Zeit bestand trotz des durchaus stattfindenden<br />

diplomatischen Kontakts des osmanischen Kalifats mit den<br />

westlichen Mächten geringes Interesse an Neuerungen<br />

im Westen. Ein ägyptischer Gelehrte schreibt nun unter<br />

dem Eindruck des “Besuchs” der Franzosen: “Die Fremden<br />

haben Geräte und Techniken, für die unser Verstand<br />

einfach zu klein ist.” 11 Die Erschütterung ging durch das<br />

gesamte islamische Reich, da man sich trotz der<br />

unzähligen Machtkämpfe und regionalen Unterschiede<br />

so etwas wie ein Einheitsbewusstsein durch die im Großen<br />

und Ganzen homogene Kultur bewahrt hatte. Hatte der<br />

Islam die kulturelle Erschütterung durch die Horden der<br />

Mongolen überstanden, so war dessen Welt seit jenem<br />

Zeitpunkt auf der Suche nach einem neuen<br />

Selbstverständnis.<br />

Dem kulturellen Schock folgte bald der politische, als man<br />

am Balkan Österreich-Ungarn und Russland weichen<br />

musste und in Indien den Briten. Der Sultan von Marokko<br />

musste zuerst noch hilflos mit ansehen, wie sein<br />

Nachbarland Algerien unter französische Herrschaft fiel,<br />

bis mit Marokko und Tunesien das Gleiche geschah.<br />

Obwohl Ägypten und in etwas geringerem Ausmaß die<br />

Türken, zumindest auf türkischem Territorium, umgehend<br />

weitreichende Reformen in die Wege leiteten und eine<br />

gewisse Zeit damit erfolgreich waren, musste man sich im<br />

gleichen Zug in so hohem Ausmaß bei britischen Banken<br />

verschulden, dass man einen guten Teil der politischen<br />

Souveränität an die Briten abtreten musste. 12<br />

Es ist genau diese Zeit, in etwa von 1800 bis 1950, in der<br />

die muslimische Welt nach einem neuen Selbstverständnis<br />

sucht, zahlreiche Reformen initiiert werden, teilweise<br />

erfolgreich, aber selbst nach der Befreiung von den<br />

Kolonialmächten den Rückstand den westlichen Mächten<br />

gegenüber nicht aufholen kann und islamische Reformer<br />

auf den Plan treten.<br />

MUSLIMISCHE REFORMER<br />

Die muslimischen Reformer berufen sich zu einem großen<br />

Teil auf zwei Rechtsgelehrte, zum einen auf den<br />

Damaszener Ibn Taimiyya aus dem 14. Jhdt, dessen<br />

Standpunkt im Großen und Ganzen als Ablehnung<br />

jedweder religiöser und kultureller Entwicklung<br />

charakterisiert werden kann, zum anderen auf<br />

Muhammad ibn Abd al-Wahhab, der im 18. Jhdt. seinen<br />

intellektuellen Kampf gegen die Mystik und den Volksislam<br />

ausfocht und das einzig legitime Verständnis von Islam auf<br />

die Zeit der vier rechtgeleiteten Kalifen eingegrenzt sieht.<br />

Die in seinem Denken gründende Ideologie des<br />

Wahhabismus gelangt durch Banu Saud, den Begründer<br />

der Saud-Dynastie, zu weitreichendem Einfluss. 13<br />

Zwei frühere innerislamische Reformer, deren Wirken eine<br />

breite Strahlkraft erreichen konnte, sind der wahrscheinlich<br />

aus dem Iran stammende Rechtsgelehrte Jamal al-Din Al-<br />

Afghani (1839-1897) und sein Schüler Muhammad Abduh<br />

(1849-1905). Sie seien hier gemeinsam genannt, da ihre<br />

Positionen als liberal und einigermaßen progressiv gelten<br />

können, jedoch vor allem bei Al-Afghani schon eine<br />

Richtung einschlagen wird, in welcher ihm bald mit<br />

radikaleren Gedanken gefolgt werden soll. Al-Afghani war<br />

erschüttert über die Situation der Muslime Indiens, die von<br />

den christlichen Briten beherrscht und nach nichtislamischem<br />

Recht gerichtet wurden. Seiner Meinung nach<br />

sei diese Situation entweder darauf zurück zu führen, dass<br />

das Christentum die wahre Religion sei, was er aber sofort<br />

verwirft, oder aber der Grund liege im sündigen Verhalten<br />

der Muslime, da jenes sich, sowohl religiös als auch<br />

Die Kolonialzeit als zentrale Achse des politischen Islam<br />

110


politisch, von den Geboten Gottes entfernt habe.<br />

Mitschuld daran trage die Art der Beschäftigung der<br />

Gelehrten mit der göttlichen Offenbarung, die verfälscht<br />

worden und zu einem Selbstzweck verkommen sei. Seine<br />

progressive Aufforderung lautet, den Koran unter dem<br />

Eindruck der modernen westlichen Technologien neu zu<br />

lesen, um kreative Veränderungen auf Basis des Koran<br />

initiieren zu können. Ein weiteres Übel sei die Spaltung der<br />

muslimischen Umma in Sunna und Schia, welche aber<br />

durch Vereinigung von Religion und Politik wieder<br />

behoben werden könne. Muhammad Abduh war etwas<br />

direkter mit seinen progressiven Gedanken, wenn er den<br />

Islam sowohl auf Glaube, als auf Vernunft gestützt sieht,<br />

und von dem her kein Hindernis für den Islam sieht, sich<br />

der Moderne zu öffnen.<br />

Eine ungeheure ideologische Strahlkraft hatte die<br />

Gründung der Muslimbruderschaft in Ägypten unter<br />

Hassan al-Banna im Jahre 1928. Al-Bannas Bestreben war<br />

die strikte Trennung von Islam und Moderne. Seiner<br />

Meinung nach stelle der Islam ein vollkommenes<br />

Orientierungssystem für alle Lebenssituationen aller<br />

Menschen dar und sei für alle Zeiten und an jedem Ort<br />

gültig. Europa sei dekadent und gewinnsüchtig,<br />

materialistisch und militant. Seine Forderung war, dass der<br />

Islam alle Bereiche menschlichen Lebens beherrschen<br />

müsse, vor allem die Politik.<br />

Die ideologische Leitfigur des politischen Islam ist der<br />

Muslimbruder Sayyid Qutb (1906-1966). Seinen Schriften<br />

nach müsse die Seele im Einklang mit ihrer wahren Natur<br />

sein, damit ein menschenwürdiges Leben möglich sei.<br />

Dieses sei nun in der westlichen Zivilisation nicht möglich,<br />

weil jene nicht nach religiösen Prinzipien strukturiert ist.<br />

Folglich ist der westliche Mensch entfremdet, schizophren<br />

und in einem pathologisch-krankhaften Zustand. Echte<br />

Freiheit besteht erst im Zustand der Unterwerfung unter den<br />

Willen Gotte, was im islamischen Raum aber von den<br />

degenerierten religiösen und politischen Institutionen<br />

verhindert werde, da jene die Botschaft Gottes nicht wie<br />

in der Zeit der vier rechtgeleiteten Kalifen rezipiert haben<br />

und weitergeben.<br />

Der Inder Abu l-Ala al Maududi (1903-1979) kämpfte Zeit<br />

seines Lebens theoretisch und agitatorisch für die<br />

Errichtung einer Theokratie oder eines demokratischen<br />

Kalifats, welches den islamischen Idealstaat errichten solle.<br />

Der Weg um jenes Ziel zu erreichen sei der Dschihad. Im<br />

neu gegründeten Staat Pakistan fanden Maududis<br />

Schriften großen Anklang und wurden mit anderen<br />

radikalen Theoretikern in den so genannten Deobandi<br />

gelehrt. Die Deobandi sind religiöse Schulen, in welchen<br />

eine rigorose Sicht von Islam gelehrt wird und die<br />

kämpferische Lehre von Dschihad 14 verbreitet wird. Da sich<br />

jene Schulen an der afghanischen Grenze befanden<br />

rekrutierten sich viele Schüler aus paschtunischen<br />

Stämmen. So gewannen diese Institutionen einen<br />

enormen Einfluss auf die Taliban des ersten<br />

Afghanistankrieges. 15<br />

Dieses reformistische Gedankengut wurde zwar bereits<br />

nach dessen Aufkommen rezipiert, jedoch noch nicht in<br />

einer ausreichend bedeutenden Breite. Wichtiger ist an<br />

diesem Punkt zu erwähnen, dass diese, noch sehr<br />

heterogenen radikalen Gedanken, eine zentrale Achse<br />

an Antworten auf das Ressentiment der westlichen Welt<br />

gegenüber bilden, das sich in dieser Phase der<br />

Unterordnung und Verwirrung angesichts der westlichen<br />

Dominanz bildet. Genau dieses Gedankengut wird es sein,<br />

dem die großflächige Islamisierung des islamischen Raums<br />

zu verdanken ist, welche jene Gedanken des politischen<br />

Islam, von dem man erst ab hier sprechen kann, in den<br />

Alltagsjargon eindringen lassen. Dieses Gedankengut stellt<br />

den Nährboden des politischen Islam dar, der aufgrund<br />

seines im Ressentiment liegenden Ursprungs, bei jeder<br />

<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />

politischen Irritation, welche die islamische Welt erfährt,<br />

eine Dynamik entfalten kann, die sich in der<br />

Popularisierung der Lehre des politischen Islam<br />

manifestiert.<br />

POLITISCHE WEGMARKEN ZUM POLITISCHEN ISLAM<br />

Eine erste kollektive politische Irritation stellt die Gründung<br />

des Staates Israel dar. Für viele Muslime gilt Israel als<br />

jüdischer Staat, nicht als Staat der Juden. Dieser Akt<br />

wurde als Affront allen Muslimen gegenüber<br />

wahrgenommen, weil diese Staatengründung innerhalb<br />

des dar al-islam, eines Gebietes, welches seit über<br />

tausend Jahren unter muslimischer Herrschaft stand, unter<br />

religiöser Legitimation geschah. Das nächste<br />

weitreichende Ereignis war die Niederlage einer<br />

verbündeten islamischen Streitmacht gegen israelische<br />

Kampfverbände im 6-Tage-Krieg von 1967. Anstatt<br />

wirtschaftliche und politische Gründe als Ursache diese<br />

Niederlage zu sehen, fand in weiten Teilen der islamischen<br />

Welt die in der Kolonialzeit entstandene Deutung des<br />

Abfalls von einem authentischen Islam als Erklärung für<br />

die Niederlage breite Rezeption. Eine entscheidende<br />

Wegmarke der Islamisierung bildet der erste<br />

Afghanistankrieg der Mudschaheddin gegen die<br />

Weltmacht Sowjetunion. Erstmals kamen Muslime aus<br />

sämtlichen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens<br />

zusammen, um im Zeichen des Dschihad die Großmacht<br />

Sowjetunion mit Unterstützung der USA zu Fall zu bringen.<br />

So wurde jene Krisenregion zum ideologischen<br />

Kristallisationspunkt des Islamismus und des<br />

Dschihadismus. Das bis dato inhomogene Gedankengut<br />

über den Dschihad als Pflicht aller Muslime zur<br />

Durchsetzung einer islamischen Ordnung der Politik<br />

konnte unter dem Einfluss von Osama bin Laden, einem<br />

aus äußerst wohlhabender Familie aus Saudi Arabien<br />

stammenden Muslim, und seinem ideologischen Mentor<br />

Aiman al-Zawahiri zu einer einheitlichen Ideologie, als<br />

Dschihad-Pflicht für jeden männlichen Muslim,<br />

vereinheitlicht werden. So wurde aus dem zunächst noch<br />

heterogenen Gedankengut der innerislamischen Reformer<br />

eine einheitliche Ideologie, deren<br />

Wahrheitskriterium durch den Sieg über die Sowjetunion<br />

erfüllt wurde. In jene Zeit fällt die Islamisierung des zuvor<br />

noch säkular motivierten palästinensischen<br />

Befreiungskampfs in Israel.<br />

Aus Sicht vieler Muslime werden die Anschläge der Al-<br />

Quaida vom 11. September 2001 in New York und Washington<br />

ebenso als Sieg des Islam über den dekadenten<br />

Westen verbucht. Die symbolische Kraft die 9/11<br />

innewohnt und Osama bin Ladens Terrororganisation im<br />

Zeichen der islamischen Durchsetzung politischer Ziele<br />

anhaftet war enorm und wuchs mit dem zweiten Krieg in<br />

Afghanistan und dem Bürgerkrieg im Irak. Vor allem im<br />

Gefolge der Gotteskrieger von Al-Quaida, deren Kampf<br />

als wirksamer Widerstand gegen die westlichen Besatzer<br />

gesehen wird, da die Wirkung in Form von globalem<br />

Chaos und menschenrechtlich fragwürdige<br />

Sicherheitsgesetzgebungen um sich greift, erlangen die<br />

Gedanken der muslimischen Reformer aus der Kolonialzeit<br />

große Bedeutung und Breitenwirkung.<br />

Der politische Islam ist gegenwärtig weit verbreitet. Das<br />

so genannte”State buildung” 16 in Afghanistan und die<br />

militärische Präsenz westlicher Militärs halten eine antiwestlich<br />

Dynamik in Gang, die radikale islamische<br />

Gedanken selbst bis in aufgeklärte muslimische Kreise<br />

hineintragen. 17<br />

Es wurde ausgeführt, dass die Entwicklung des politischen<br />

Islam nicht einer unbedingten Entwicklung aus dem<br />

Wesen des Islam heraus geschehen ist und ebenso wenig<br />

dort seine Wurzel hat, wo Denker eines politischen Islam<br />

jenen begründet sehen. Zugleich muss gesagt werden,<br />

Die Kolonialzeit als zentrale Achse des politischen Islam<br />

111


dass diese radikale Deutung des Islam nicht unbedingt<br />

unorthodox ist und durchaus Scharia-konforme Urteile<br />

erlassen werden können, welche sowohl ein islamisches<br />

Paradigma von Regierungsausübung erlaubt, als auch<br />

dessen gewaltvolle Durchsetzung mittels<br />

Selbstmordanschlägen gegen Zivilisten. Um dieser<br />

definitiv vorhandenen Bedrohung durch die Islamisierung<br />

Herr zu werden, wäre viel gewonnen, würde man explizit<br />

herausstreichen, dass diese gewalttätige Fratze des Islam<br />

aus dem Ressentiment entstanden ist und von jenem<br />

genährt wird.<br />

Fußnoten:<br />

1 Der Terminus “politischer Islam” meint jene Lesart von Islam,<br />

nach welcher jener ein Paradigma von Politik und der<br />

Einrichtung eines Gemeinwesens vorgebe. Es gibt eine ganze<br />

Bandbreite von konkreten Ausformungen an Ideologien des<br />

politischen Islam, die seine Art der Durchsetzung betreffen.<br />

2 Vgl. Heine, Peter: Der Islam, Düsseldorf: Patmos 2007, 45-60;<br />

Antes, Peter: Ethik und Politik im Islam, Stuttgart: Kohlhammer<br />

1982, 40-43.<br />

3 Vgl. Watt, W. Montgomery: Der Islam, Stuttgart: Kohlhammer<br />

1980 (= Die Religionen der Menschheit 25,1), 235-239.<br />

4 Vgl. Dilger, Konrad: Das Rechtsverständnis im Islam und seine<br />

politische Dimension, in: Schwarz, Jürgen (Hg.): Der politische<br />

Islam. Intentionen und Wirkungen, Paderborn: Ferdinand<br />

Schöningh 1993 (= Politik- und kommunikationswissenschaftliche<br />

Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft 8), 55-60; Heine, Der<br />

Islam, 185-194.<br />

5 Vgl. Antes, Politik und Ethik im Islam, 29-31.<br />

6 Lombard, Maurice: Blütezeit des Islam. Eine Wirtschafts- und<br />

Kulturgeschichte 8.-11. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Fischer 1991<br />

(= Fischer Geschichte 10773), 37.<br />

7 Ebd. 19<br />

8 Vgl. Ebd. 19-49.<br />

9 Vgl. Grabner-Haider, Anton/Prenner, Karl (Hg.): Religionen und<br />

<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />

Kulturen der Erde. Ein Handbuch, Darmstadt: Wissenschaftlich<br />

Buchgesellschaft 2004, 126-131.<br />

10 Vgl. Hourani, Albert: A History oft the Arab People, London: Faber<br />

and Faber 2005, 267; Miquel, André: Der Islam. Von Mohammed<br />

bis Nasser, Essen: Magnus 1975, 86-450.<br />

11 Heine, Der Islam, 333.<br />

12 Vgl. Ebd. 327-335<br />

13 Vgl. Ebd. 328<br />

14 Die kämpferische Sicht von Dschihad, als Verbreitung des Islam<br />

mit Waffengewalt, ist eine mehrerer im Laufe der Geschichte<br />

entstandener legitimer Deutungen von Dschihad. Eine weitere<br />

Deutung entstand im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als sich der<br />

Kontakt mit dem Abendland intensivierte und gerade das Konzept<br />

von Dschihad große Kritik seitens westlicher Intellektueller als aggressive<br />

Ausformung von religiöser Orthopraxie erfuhr. Darauf<br />

antwortete die islamische Rechtsgelehrsamkeit mit der Zweiteilung<br />

des Dschihad. Die defensive Variante des bewaffneten Glaubens,<br />

zur Verteidigung von Muslimen gegen äußere Aggressoren<br />

bezeichnete man als “kleinen dschihad”, und die persönliche<br />

innere Anstrengung als den “großen dschihad”, wobei dessen<br />

Anwendungsbereich vom Lernen eines Studenten bis hin zur<br />

existenziellen Anstrengung reichen kann. Vgl. Khoury, Adel<br />

Theodor: Was sagt der Koran zum Heiligen Krieg?, Gütersloh:<br />

Güterloher Verlagshaus Mohn 1991 (= GTB 789), 13-27<br />

15 Vgl. Heine, Peter: Terror in Allahs Namen. Extremistische Kräfte<br />

im Islam, Freiburg i.Br.: Herder 2001 (= Herder Spektrum 5240), 86-<br />

116.<br />

16 Das “State building” ist ein wichtiges Moment der<br />

neokonservativen Doktrin internationaler Politik, wie sie in diesem<br />

Fall von Fukuyama expliziert wurde und in der US-Regierung unter<br />

George W. Bush in Afghanistan und im Irak zum Zwecke der<br />

Stärkung der Infrastruktur dieser “failed States” in der Praxis erprobt<br />

wurde. Dabei muss klar sein, dass eine derartige Bevormundung<br />

seitens der Hegemoniemacht USA im arabischen Raum jegliche<br />

Ressentiments dem Westen gegenüber wiederbelebt und<br />

verbreitet. Vgl. Fukuyama, Francis: Staaten bauen. Die neue<br />

Herausforderung internationaler Politik, Berlin: Ullstein 2006.<br />

17 Vgl. Musharbash, Yassin: Die neue Al-Quaida. Innenansichten<br />

eines lernenden Terrornetzwerks, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006,<br />

31-45.<br />

Mag. Maximilian Lakitsch, geboren 1982 in Linz, studiert Fachtheologie und Philosophie an der Universität Graz. In seiner<br />

philosophischen Diplomarbeit entwarf er unter unter dem Titel “Gefahr und Sicherheit” eine “philosophische Kritik der Politik<br />

im Zeichen des 11. September 2001 nach Mchel Foucault”, seine theologische Diplomarbeit widmet sich dem “Politischen<br />

Islam”. Er ist seit 2007 in der Grazer Gruppe von PRO SCIENTIA engagiert.<br />

Die Kolonialzeit als zentrale Achse des politischen Islam<br />

112


Wenn einer es weiß,<br />

weiß es keiner.<br />

Ludwig Wittgenstein<br />

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www.proscientia.at

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