ZEIT - Pro Scientia
ZEIT - Pro Scientia
ZEIT - Pro Scientia
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>ZEIT</strong><br />
Reader zur<br />
Sommerakademie 2008<br />
in Matrei am Brenner
Cover: Iris Aue und Esther Strauss
<strong>ZEIT</strong> IN DER TECHNIK: MESSUNG UND SIMULATION<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Borislav Tadic: Alternative Konzepte der Zeitmessung 6<br />
Harald Paulitsch: Time in Time-Triggered Real-Time Computer Systems 11<br />
NATURWISSENSCHAFT UND MEDIZIN: ERDGESCHICHTE, EVOLUTION, LEBENS<strong>ZEIT</strong><br />
Karolina Harasztos: Zeit in der Erdgeschichte 16<br />
Dominic Zöhrer: Zeit und Evolution - Was ist Leben? 22<br />
Peter Siska: Altern aus biologischer Sicht 27<br />
<strong>ZEIT</strong> IN THEOLOGIE UND PHILOSOPHIE: VON DER ALLTÄGLICHKEIT ZUR APOKALYPSE<br />
Katharina Zimmerbauer: Die Entdeckung der Alltäglichkeit.<br />
Das Phänomen der Zeit in der Theologie Karl Rahners 34<br />
Esther Jauk: Ist unsere Zeit irreal? 38<br />
McTaggarts Argumente, Einwände und Erwiderungen<br />
Martin Dürnberger: Leguane, Schachspieler, Bundeskanzler<br />
Zu einigen <strong>Pro</strong>blemen von Gottes Verhältnis zur Zeit 44<br />
Stefan Rois: Gewordenheit und Geltung.Oder: Die Zeit heilt alle Wunder.<br />
Oder: Blitzlicht auf Nietzsches „Zur Genealogie der Moral“ 50<br />
Karin Peter: Ein ‚Bruch’ in der Zeit“<br />
Annäherung an Bedeutung und Funktion apokalyptischer Vorstellungen 56<br />
MEDIALE <strong>ZEIT</strong>(EN)<br />
Clemens Tonsern: Ein Held unserer Zeit<br />
Über die Zeitlosigkeit eines Unzeitgemäßen in der russischen Literaturgeschichte 64<br />
Petre Puskasu: Reinterpretation der Zeitgeschichte als politischer Sprengstoff im Kino:<br />
Der Fall Octobre (1994) 68<br />
Niku Dorostkar, Alexander Preisinger : Zeitungsforen und Forenzeit 75<br />
<strong>ZEIT</strong> IN GESELLSCHAFT<br />
Karin Rainer: Zeit als Spende<br />
Grundlagen, Hintergründe und Motivation für Freiwilligenarbeit heute 86<br />
Paula Aschauer: Geraubte Zeit? Schubhaft im Lichte der Menschenrechte 91<br />
David Wineroither: Was fängt die Demokratie mit der Zeit an?<br />
Überlegungen zu Repräsentation und “political leadership” 96<br />
<strong>ZEIT</strong> GESCHICHTE<br />
Roland BERNHARD: Antihispanismus gestern und heute -<br />
Die „Schwarze Legende” seit Beginn der Neuzeit bis zu „Zeitbilder 2000" 102<br />
Maximilian Lakitsch: Die Kolonialzeit als zentrale Achse des politischen Islam 109<br />
3
Zeit in der Technik:<br />
Messung und Simulation
Borislav Tadic<br />
„Wir sehen uns beim Fußballstadion um 300 NET Grad“<br />
oder „Ich komme aus München in 1500 .beats zurück“.<br />
Klingt verwirrend?<br />
Die Menschen haben keinen Sinn für Zeit. Alle Arten, die<br />
Zeit zu messen, sind daher völlig arbiträr. Albert Einstein<br />
sagte: „Zeit ist das, was man an der Uhr abliest“. Sie ist<br />
ein kulturelles Konstrukt, wobei ein Ereignis mit einer Reihe<br />
von Zahlen assoziiert werden kann. Websters Lexikon<br />
definiert die Zeit als „der Zeitraum zwischen zwei<br />
Terminen oder während dem etwas vorhanden ist,<br />
passiert oder Handlungen; gemessenes oder messbares<br />
Intervall“.<br />
Alle, sogar die primitiven Kulturen, haben das natürliche<br />
und inkrementierende Konzept von einem Zyklus, der aus<br />
dem Tag als die Periode des Sonnenlichts und der Nacht<br />
besteht, angenommen. Wir sind an das mehr als 5000<br />
Jahre alte, sexagesimale Zeitmessungssystem mit 24<br />
Stunden, 60 Minuten pro Stunde und 60 Sekunden pro<br />
Minute ganz gut gewöhnt. Obwohl ein Tag 86400<br />
Sekunden hat und diese Basiseinheit offiziell als<br />
9192631770 Schwingungen eines Cäsium-133-Atom in<br />
einer Atomuhr definiert ist.<br />
Die Zeitmessungssystementwicklung ist aus historischer<br />
Perspektive und im Hinblick auf die Geschwindigkeit der<br />
Veränderungen seit der Neuzeit bemerkenswert. Dieser<br />
Text stellt fünf alte und neue, nichtsexagesimalen<br />
Alternativen zum gängigen Konzept der Zeitmessung<br />
vor.<br />
Alternativen Zeitmessungssystemen in der Geschichte<br />
Die Geschichte kennt viele Alternativen zu dem<br />
sexagesimalen Zeitmessungssystem. Einige wurden für<br />
Jahrhunderte verwendet, wie das duodezimale System<br />
in China, anderen wie in Frankreich und Thailand nur für<br />
einige Jahre. Sie beeinflussten die modernen Gedanken<br />
über die Zeitmessung und werden informell teilweise<br />
noch heute verwendet: Chinesische Duodezimalzeit,<br />
Französische Dezimalzeit und Thai 6-Stunden Zeit.<br />
Chinesische Duodezimalzeit<br />
In China wurde seit dreitausend Jahren die Dezimalzeit<br />
verwendet, oft parallel zur duodezimalen Zeitmessung.<br />
Ein Tag wurde in 100 Ke Untereinheiten und 12 Shi<br />
Doppelstunden unterteilt. Die beiden Systeme<br />
unterscheiden sich von der Standardzeitberechung stark<br />
und sind außerhalb Asiens wenig bekannt.<br />
Zeit in der Technik<br />
Alternative Konzepte der Zeitmessung<br />
Die Dezimalzeit ist ein wichtiges Teil der chinesischen<br />
Geschichte. Über Jahrtausende haben Chinesen<br />
Dezimalzeit neben der sexagesimalen Zeit verwendet.<br />
Die Einheit “Ke” teilte einen Tag in 100 gleich lange<br />
Intervalle von 14,4 Minuten, d.h. 14 Minuten und 24<br />
Sekunden. Diese Einheit entstand aus der Verwendung<br />
einer Wasseruhr. Ein kleines Loch ermöglichte es Wasser<br />
aus dem Boden eines Topfs abzufließen und die Zeit<br />
wurde mittels Markierungen auf einem vertikal<br />
schwimmenden Stock gemessen. Der Stock wurde in der<br />
gleichen Weise wie ein gewöhnliches Lineal unterteilt -<br />
10 cun je 10 fen, was 100 Einheiten ergibt. Ke wörtlich<br />
übersetzt heißt “ätzen/radieren” oder “schneiden” und<br />
es ist der Teil des Substantivs Kedu, der sich auf drei<br />
Etagen-Markierungen auf den Messgeräten bezieht.<br />
Es hat verschiedene Versuche gegeben, das Ke-System<br />
so anzupassen, dass es mit einem 12-Stunden System<br />
kompatibel ist. Die 100 Einheiten wurden aus diesem<br />
Grund durch 96, 108 oder 120 ersetzt. Es waren Jesuiten-<br />
Missionare, die nach Ihrer Ankunft in China, im Jahr 1670<br />
die Dauer eines “Ke” schließlich mit dem<br />
Sechsundneunzigstel eines Tages oder genau einem<br />
Viertel der westlichen Stunde definierten. Obwohl das<br />
Dezimalsystem noch in 19. Jahrhundert endgültig<br />
abgeschafft wurde, ist “Ke” noch heute der chinesische,<br />
auf einer Viertelstunde bezogenen Begriff.<br />
Das Doppelstundenprinzip unterteilt den 24-Stunden-Tag<br />
in 12 gleich große Einheiten. Jede dieser Doppelstunden<br />
hatte den Namen einer der “12 irdischen Zweige”<br />
(Sternzeichen in der chinesischen Astrologie). Die Begriffe<br />
gehen auf vermutlich bis auf das Jahr 1700 vor Christus<br />
zurück. Sie bilden auch einen Teil der Namen der Tage<br />
und Jahre. Die erste Stunde, Zi-Stunde fängt um 23 Uhr<br />
des vorigen Tages an und endet um 1 Uhr. Zum Beispiel<br />
Exekutionen von zum Tod verurteilten Gefangenen,<br />
wurden um die Stunde “Wu” (Pferd), d.h. Mittag<br />
durchgeführt. Diese Einteilung des Tages wurde in der<br />
Kalenderreform im Jahr 104 vor Christus standardisiert.<br />
Die Tabelle 1 im Anhang zeigt die Namen und die<br />
Bedeutungen der Stunden.<br />
Französische Dezimalzeit<br />
Alternative Konzepte der Zeitmessung<br />
6<br />
In einer kurzen Periode seiner<br />
Geschichte, hatte Frankreich ein<br />
dezimales System für die Zeitmessung<br />
in offiziellen Gebrauch, gemeinsam<br />
mit dem französischen republikanischen<br />
Kalender, der den Monat in<br />
drei décade von 10 Tagen teilte. Im<br />
Dekret vom 5. Oktober 1793 führten<br />
die französischen revolutionären<br />
Behörden die Dezimalzeit ein. Das Dekret beinhaltete<br />
folgende Konstruktion: „Der Tag, von Mitternacht bis<br />
Mitternacht, wurde in zehn Teile oder Stunden geteilt,<br />
jeder Teil in zehn andere, bis die kleinste messbare Einheit<br />
erreicht ist. Das Hundertste einer Stunde soll<br />
Dezimalminute genannt werden. Das Hundertste einer<br />
Minute soll Dezimalsekunde genannt werden“. Ein Tag<br />
hat 100.000 dezimale Sekunden. Eine Dezimalstunde ist<br />
2,4, d.h. 2 Stunden und 24 Minuten lang und eine<br />
„normale“ Stunde ist 4.166,67 Dezimalsekunden ggf. 41<br />
Dezimalminuten und 67 Dezimalsekunden. Damalige<br />
Uhren wurden mit Ziffern 1 bis 10 nummeriert: der kleine<br />
Uhrzeiger zeigte um Mitternacht auf 10 und um Mittag<br />
auf 5 Uhr.
Einer der stärksten Befürworter der Dezimalzeit war der<br />
Mathematiker Pierre-Simon Laplace - er war begeistert<br />
von der Idee und kaufte sich sogar die neue Uhr mit 10<br />
Stunden. Anderen Wissenschaftler dieser Epoche waren<br />
weniger begeistert: Motive hierfür waren ein als unnötig<br />
empfundener Systemwechsel und das vermutete<br />
Vorantreiben der Säkularisierung im revolutionären<br />
Frankreich durch den Bruch mit den alten (auch kirchlich<br />
tradierten) Messsystemen.<br />
Das System war zwar eine logische Vereinfachung der<br />
Zeitmessung, aber die Gewohnheiten der Bevölkerung<br />
waren schwer zu ändern. Zusätzlich war das neue System<br />
schlecht für den französischen Export - die neuen „10<br />
Stunden-Uhren“ ließen sich nicht außerhalb Frankreichs<br />
verkaufen.<br />
Obwohl dieses System schon im April 1795 abgeschafft<br />
wurde, vertreten viele französische Wissenschaftler noch<br />
heute die Ansicht, dass Frankreich und die ganze Welt,<br />
neue, rationellere Formen der Zeitmessung akzeptieren<br />
sollten.<br />
Zeit in der Technik<br />
Schon im Jahr 1897 versuchten die Franzosen ein<br />
weiteres Mal, die Zeitmessung auf ein Dezimalsystem<br />
umzustellen. So wurde eine Kommission für die<br />
Dezimalisierung gegründet, mit dem Mathematiker Jules<br />
Henry Poincaré als Sekretär. Der Kommission schlug einen<br />
Kompromiss über die Beibehaltung der 24-Stunden-Tag,<br />
geteilt in jeder Stunde 100 dezimal Minuten und jede<br />
Minute in 100 Sekunden vor. Der Plan musste jedoch im<br />
Jahr 1900 mangels öffentlicher Unterstützung<br />
aufgegeben werden. Noch in heute basieren viele<br />
Reformvorschläge für die Zeitmessung auf der<br />
französischen Dezimalzeit.<br />
Thai 6-Stunden Zeit<br />
Die sechs Stunden Zeit ist ein in ländlichen Teilen und in<br />
der umgangssprachlichen Rede des Thailands<br />
verwendetes Zeitmessungssystem. Parallel zur 12/24-<br />
Stunden-Uhr verwenden die Thai eine 6-Stunden Zeit, die<br />
ihre Wurzeln im mittelalterlichen Königreich Ayutthaya<br />
hat. Sie ist in ihrer aktuellen Form im Jahr 1901 durch eine<br />
Verordnung des Königs Chulalongkorn geschaffen<br />
worden.<br />
So wird der Tag in vier gleiche Teile geteilt, wobei jeder<br />
Teil aus sechs Stunden zu 60 Minuten besteht. Die<br />
Bewohner Thailands haben dadurch zusätzliche<br />
Ausdrücke für die Nacht, den Morgen, den Nachmittag<br />
und den Abend. Alle Stundennamen sind in der Tabelle<br />
2 (im Anhang) angeführt.<br />
Die thailändischen Zeitangaben sind mit Vorsicht zu<br />
genießen. Die österreichische Zeitvorstellung teilt die 24<br />
Stunden in zwei Blöcke. Umgangssprachlich gibt es hier<br />
somit z.B. zweimal 4 Uhr – einmal morgens, einmal<br />
nachmittags um 16 Uhr. Da die Thais den Tag in 4 Blöcke<br />
strukturieren, haben sie viermal 5 Uhr. Die einfache<br />
Vereinbarung für “4 Uhr” kann daher bedeuten 4, 10, 16<br />
oder 22 Uhr.<br />
Moderne Zeitmessungssystemen<br />
Alternative Konzepte der Zeitmessung<br />
7<br />
Der rapide Technologiewandel und ein „schnelles<br />
Leben“, die unser etabliertes Zeitmessungssystem als<br />
unpräzise erscheinen lassen, haben neuerlich<br />
Diskussionen über eine Zeitmessungsystemreform<br />
entfacht.<br />
Das Cyberspace, die Wirtschaft, die Bereiche<br />
Ausbildung und Sport – sie alle brauchen ein einfacheres<br />
und der Zeit angepasstes System. Die bekannteste<br />
Initiative hierzu geht u.a. auf die Unternehmen Swatch<br />
und Degree NET zurück und hat zur Swatch Internetzeit<br />
und zur Neuen Erdzeit geführt.
Swatch Internetzeit<br />
Die Swatch Internetzeit ist ein alternatives Konzept der<br />
Zeitmessung, entwickelt vom Unternehmen Swatch,<br />
einem Schweizer Uhrenkonzern mit Sitz in Biel, der unter<br />
dem gleichen Markennamen eine allseits bekannte Uhr<br />
vertreibt. Sie wurde am 23. Oktober 1998 in einer<br />
Zeremonie während des Junior Gipfels von Nicolas<br />
Hayek, Präsident und CEO der Swatch Group, und<br />
Nicholas Negroponte, Gründer und damaligen Direktor<br />
des MIT Media Lab, erstmals präsentiert. Internetzeit<br />
wurde gleich zur offiziellen Zeit des Online-Landes<br />
Nation1, errichtet und betrieben von Kindern aus der<br />
ganzen Welt. Zur offiziellen virtuellen <strong>Pro</strong>moterin wurde<br />
die Computerfigur Lara Croft, Heldin des Spieles Tomb<br />
Raider ernannt.<br />
Die Swatch Internetzeit bringt eine wesentliche<br />
Änderung im Vergleich zu bestehenden<br />
Zeitmessungskonzepten. Anstatt den Tag wie üblich in<br />
24 Stunden à 60 Minuten à 60 Sekunden zu unterteilen,<br />
wird der Tag in 1000 Einheiten, so genannte .beats<br />
eingeteilt. Ein .beat dauert 0,024 Stunden oder eine<br />
Minute und 26,4 Sekunden oder 86,4 Sekunden. Auch<br />
die Notation sieht ganz anders aus: So wird die Zeit durch<br />
ein @-Symbol und einen Wert zwischen 0 und 999 notiert.<br />
Die Swatch Internetzeit wird nicht in unterschiedlichen<br />
Zeitzonen gemessen – sie ist weltweit gleich. Swatch ist<br />
sogar so weit gegangen, einen neuen Meridian, Biel<br />
Mean Time oder BMT, der durch den Firmensitz des<br />
Unternehmens verläuft, zu erklären. Lokale Zeit wird als<br />
ein Zeitabstand von BMT berechnet. Die Swatch<br />
Internetzeit kennt auch keine Umstellung zur Sommerzeit.<br />
Wie sieht es in der Praxis aus? Zeit @000 ist gleich<br />
Mitternacht und @500 Mittag nach mitteleuropäischer<br />
Winterzeit (UTC+1). Die Zeit @248 bedeutet: 248<br />
„Schläge“ nach Mitternacht und wird auf den Uhren in<br />
z.B. Wien, Tokio und New York gleich gezeigt. Swatch<br />
hat kleinere Einheiten als ein Beat nicht festgelegt. Es<br />
gibt aber Drittimplementierungen, die die Swatch-Norm<br />
durch Hinfügung von “centibeats” oder “sub-beats” als<br />
Dezimalbruch für die bessere Präzision erweitern (z.B.<br />
@248,35).<br />
Die einfache Kalkulation zwischen normalen und Swatch<br />
Zeitsystemen sieht wie folgt aus:<br />
@875 = 875 / 1000 .beats = 0,875 x 24 Stunden = 21:00<br />
BMT = 21:00 UTC+1 (Wien)<br />
21:15 UTC+1 = 21,25 / 24 Stunden = 0,885 x 1000 .beats =<br />
@885<br />
Für Swatch Internet-Zeit gibt es viele <strong>Pro</strong> und Contra<br />
Argumente.<br />
Für die <strong>Pro</strong>-Gruppe, am lautesten treten jene auf, die<br />
von der Universalität des Konzept begeistert sind: keine<br />
Zeitzonen, keine geografische Unterschiede und keine<br />
Sommer/Winterzeit Umstellung. Die Zeit kann einfacher<br />
gelesen werden und auch Kalkulationen werden in<br />
.beats Einheiten deutlich einfacher. Es ist leichter zu<br />
sagen dass man sich nach @5500 trifft als nach 132<br />
Stunden (oder fünfeinhalb Tagen), oder dass man zur<br />
aktuellen Zeit 3:45:20 schnell 9 Stunden, 27 Minuten und<br />
42 Sekunden addiert. Die Zentraleuropäer sind auch<br />
zufrieden, weil die Zeit auf Mitteleuropäische Zeit (MEZ)<br />
kalibriert ist und daher für sie auch am “natürlichsten”<br />
ist.<br />
Zeit in der Technik<br />
Alternative Konzepte der Zeitmessung<br />
8<br />
Aber auch Gegenargumente, gibt es viele. Die<br />
komplizierte Umrechnung in die „Normalzeit“, ein neuer<br />
Startmeridian, warum die Unterteilung nicht gleich Miliday<br />
anstelle von .beat genannt wurde oder die mangelnde<br />
Unterstützung durch das Internationale Einheitensystem<br />
sind Beispiele hierfür.<br />
Auch der Datumwechsel wird diskutiert, weil für<br />
jemanden aus z.B. Washington nicht so logisch ist, sich<br />
@000 also um Mitternacht BMT (18 Uhr in Washington)<br />
umzustellen.<br />
Die Swatch Internetzeit wird oft mit der Koordinierten<br />
Weltzeit (UTC), der tatsächlichen Zeitrechnung im Internet<br />
oder mit dem Network Time <strong>Pro</strong>tocol (NTP), über das im<br />
Internet die Rechner-Uhren gestellt werden, verwechselt.<br />
Die wichtigsten Anwendungen befinden sich natürlich<br />
im Bereich der Uhrherstellung; Swatch produzierte 17<br />
digitale Armbanduhrmodelle, die in mehr als 1 Million<br />
Exemplaren verkauft wurden. Für Microsoft Windows und<br />
Linux gibt es kostenlose Werkzeuge zum Messen der<br />
Internetzeit, und Anwendungen wie GNOME, ICQ oder<br />
PHP haben sie auch integriert, einige Multispieler- und<br />
Online-Spiele wie Phantasy Star Online für Sega<br />
Dreamcast ebenso.<br />
Die Websites von CNN und Apple, und viele andere<br />
haben die Swatch Internetzeit nur in den ersten Monaten<br />
nach der <strong>Pro</strong>motion verwendet. Auch der<br />
Handyhersteller Ericsson hat lediglich das Modell T20 mit<br />
der eingebauten Swatch Internetzeit geliefert.<br />
Heute ist die Verwendung dieses Systems aber sehr selten<br />
und in der Öffentlichkeit fast nicht mehr bemerkbar. Als<br />
Grund hierfür gilt, neben den genannten Vor- und<br />
Nachteilen in der Sache, ein als zu aggressiv<br />
empfundenes Marketing, eine restriktive Handhabung<br />
des Urheberrechts seitens Swatch sowie die aufwändige<br />
Umstellungs- und Anpassungsprozedur.
Mehr Informationen über die Internetzeit könnten auf der<br />
Swatch Webseite [LSwatch] gefunden werden.<br />
Neue Erdezeit<br />
Neue Erdezeit, New Earth Time oder NET ist ein<br />
vorgeschlagener globaler Standard oder Internet Zeit,<br />
die den globalen Tag in 360 Grad dividiert. NET wurde<br />
am 15. September 1999. erfunden. Die Rechte auf den<br />
Namen New Earth Time und der Slogan “360 Grad der<br />
Zeit” sind im Besitz von Degree NET, die Neuseelandische<br />
Firma mit dem Sitz in Auckland. Offizielles Marketing<br />
Kampagne hat den folgenden Schlagsatz promoviert:<br />
„NET läuft neben Ihrer lokalen Zeit. Jetzt können Sie lokal<br />
in eigener Zeit und weltweit mit der Neuen Erdzeit<br />
handeln“.<br />
Neue Erdzeit ist weltweit gleich. Es ist 170° NET in Rio de<br />
Janeiro, New Delhi und Berlin. Der NET-Tag (0°) beginnt<br />
auf geographische Länge 0° in Greenwich, England. Dies<br />
ist voll kompatibel mit der Greenwich Mean Time,<br />
Universal Time und unseren bestehenden Kalender. 12:00<br />
UTC ist 180° NET. NET ist ein System 360/60/60: ein Tag teilt<br />
sich auf 360 Grad, 60 NET-Minuten und 60 NET-Sekunden.<br />
Die NET-Minuten und Sekunden dürfen mit „normalen“<br />
Minuten und Sekunden nicht verwechselt werden.<br />
Stundenzeiger auf dem NET Uhr um Mittag zeigt nach<br />
unten, ein genauer 180 °-Winkel gemessen von der Spitze<br />
(Mitternacht). Vollkreis ist 360° und ein NET-Tag. Jeder NET<br />
Grad ist genau 4 „normalen“ Minuten lang. Es gibt genau<br />
15 Grad zu jeder vollen Stunde.<br />
Wenn man die aktuelle Zeit aus dem NET-System in die<br />
normale Zeit und umgekehrt umrechnen will, tut man<br />
folgendes:<br />
300° 00‘ 00“ = 300,00 / 15 = 20:00 UTC = 21:00 UTC+1 (Wien)<br />
21:15 UTC+1 = 20:15 UTC = 20,25 * 15 = 303,75 = 303° 45‘<br />
00“<br />
Tabelle 1<br />
Standard Uhrzeit Doppelstunden Uhrzeit Assoziertes Tier Assozierte Richtung<br />
23 – 1 Uhr zi (tzu) Rate N<br />
1 – 3 chou Rind NNO<br />
3 – 5 yin Tiger ONO<br />
5 – 7 mao Hase O<br />
7 – 9 chen Drache OSO<br />
9 – 11 si (szu) Schlange SSO<br />
11 – 13 wu Pferd S<br />
1 – 3 wei Schaf SSW<br />
3 – 5 shen Affe WSW<br />
5 – 7 you Huhn W<br />
7 – 9 xu (hsü) Hund WNW<br />
9 – 11 hai Schwein NNW<br />
Zeit in der Technik<br />
Neue Erdzeit ist universal, zirkular, wiederholbar, natürlich<br />
und teilbar, genau wie Standardzeit. Es bietet kleinere<br />
Einheiten als Standardzeit. Einige Sportschiedsrichter<br />
haben schon die Vorteile der NET Sekunde erkannt - 1/<br />
15 der „normalen“ Sekunde könnte z.B. bei der<br />
olympischen Zeitmessung eine wichtige Rolle spielen.<br />
Ein symbolischer positiver Aspekt wäre die Vereinigung<br />
der letzten zwei nicht dezimalen Systemen,<br />
sexagesimalen Grade der Bogen und Zeiteinheiten. Die<br />
Gegner sind auch vereinigt wenn es um die Kritik geht.<br />
Neue Erdzeit bringt viel kompliziertere und verwirrendere<br />
Berechnungen und die Begriffverwirrung, wenn man die<br />
normale und NET Minuten und Sekunden in Gespräch<br />
verwendet. Das Hauptargument der Gegner des<br />
Standards ist die niedrige Akzeptanz – es gibt praktisch<br />
kein Anwendungsbeispiel. Obwohl 24-Stunden Uhren<br />
nicht so selten sind, die Hersteller der Uhren haben keine<br />
NET Uhr auf den Markt gebracht, und außer einigen<br />
Softwareuhren, die auf dem PC und Macintosh laufen,<br />
gibt es überhaupt keine NET Anwendungen im realen<br />
Leben zu sehen.<br />
Die NET Erklärung und Philosophie ist unter der Webseite<br />
des Besitzers [LNET] verfügbar.<br />
Fazit<br />
Menschen nehmen die Änderungen schwer und<br />
langsam an, insbesonders wenn es sich um so eine große<br />
und aufwändige Anpassung wie die Anpassung des<br />
Zeitmessungssystems handelt. Obwohl französische<br />
Dezimalzeit, Swatch Internetzeit und Neue Erdezeit<br />
vielleicht einen Schritt in diese Richtung bedeuten,<br />
haben sie sich nicht durchgesetzt. Es ist ein Faktum, dass<br />
das sexagesimales System der Zeitmessung nicht<br />
logischer als die hier beschriebenen Alternativen ist.<br />
Unabhängig davon, welche Vorteile ein neues,<br />
nichtsexagesimales System bringt, ein Unternehmen<br />
oder ein Staat kann es allein nicht durchsetzen. Nur eine<br />
koordinierte, offizielle und internationale Initiative kann<br />
ein neues, dem drittem Millennium entsprechendes<br />
Zeitmessungssystem zum Leben bringen.<br />
Referenzen<br />
Alternative Konzepte der Zeitmessung<br />
9<br />
[Alder 2002] K. Alder: The measure of all things, Little Brown, 2002<br />
[Carlyle 1867] T. Carlyle: The French Revolution, A History, 1867<br />
[Galiso 2004] P. Galiso: Einstein’s clocks, Poincaré’s maps, W. W. Norton &<br />
Co, 2004<br />
[Dtime 2008] J. O’Connor, E. Robertson: Decimal time and angles, http://<br />
www-groups.dcs.st-and.ac.uk/~history/HistTopics/Decimal_time.html,<br />
heruntergeladen 21.07.2008<br />
[Ftime 2008] O.A.: Dials & Symbols of the French revolution. The Republican<br />
Calendar and Decimal time, http://www.antique-horology.org/_Editorial/<br />
RepublicanCalendar, heruntergeladen 21.07.2008<br />
[HSW 2008] M. Brain: How Time Works, http://science.howstuffworks.com/<br />
time1.htm, heruntergeladen 28.07.2008<br />
[LSwatch] Swatch Webseite: http://swatch.com/at_de/internettime,<br />
heruntergeladen 02.07.2008<br />
[LNET] NET Ltd. Webseite: http://newearthtime.net, heruntergeladen<br />
07.07.2008<br />
[Sizes 2008] O.A.: Chinese day: double hours, http://www.sizes.com/time/<br />
daychinese.htm, heruntergeladen 11.07.2008<br />
[Wtime 2008] O.A.: World Time Zones, An introduction to decimal time,<br />
http://www.world-time-zones.org/cgi-bin/articles/decimal-time.cgi,<br />
heruntergeladen 11.07.2008<br />
[Wikipedia 2008] O.A.: Wikipedia Enzyklopädie in Deutscher, Englischer,<br />
Serbischer und Kroatischer Sprache, http://wikipedia.com, Wikimedia<br />
Foundation, 2008
Tabelle 2<br />
Standard<br />
Uhrzeit<br />
Thai 6-Stunden Uhrzeit Bedeutung<br />
1 ti nueng (Glöckel)Klingel eins<br />
2 ti song Klingel zwei<br />
3 ti sam Klingel drei<br />
4 ti si Klingel vier<br />
5 ti ha Klingel fünf<br />
6 hok mong chao Sechs Gong Töne in der Früh<br />
7 (nueng) mong chao (Ein) Gong Ton am Vormittag<br />
8 song mong chao Zwei Gong Töne am Vormittag<br />
9 sam mong chao Drei Gong Töne am Vormittag<br />
10 si mong chao Vier Gong Töne am Vormittag<br />
11 ha mong chao Fünf Gong Töne am Vormittag<br />
12 thiang wan Mittag<br />
13 bai mong (Ein) Gong Ton am Nachmittag<br />
14 bai song (mong) Zwei Gong Töne am<br />
Nachmittag<br />
15 bai sam (mong) Drei Gong Töne am Nachmittag<br />
16 bai si (mong) Vier Gong Töne am Nachmittag<br />
17 bai ha (mong) Fünf Gong Töne am<br />
Nachmittag<br />
18 hok mong yen Sechs Gong Töne am Abend<br />
19 nueng thum Ein Trommelschlag<br />
20 song thum Zwei Trommelschläge<br />
21 sam thum Drei Trommelschläge<br />
22 si thum Vier Trommelschläge<br />
23 ha thum Fünf Trommelschläge<br />
24 / 0 thiang khuen / song<br />
yaam<br />
Zeit in der Technik<br />
Mitternacht<br />
Borislav Tadic, Bakk.rer.soc.oec; geb. 1982. in Banja Luka, Bosnien-Herzegowina. Im letzten Semester des Masterstudiums<br />
Softwareentwicklung und Wirtschaft an der TU Graz; auch <strong>Pro</strong>jektmitarbeiter/Studienassistent. Arbeitet(e) bei Siemens,<br />
United Nations, IREX, BBC Consulting etc. Autor der ICT-Radiosendungen und des E-Buchs; schrieb für 10 Zeitschriften aus<br />
Zentral- und Südosteuropa. Geförderter von <strong>Pro</strong> <strong>Scientia</strong> und Mitglied des Circle of Excellence in Graz sowie Stipendiat<br />
des Präsidenten der Serbischen Republik. Präsident des Tesla Zentrums.<br />
Alternative Konzepte der Zeitmessung<br />
10
Harald Paulitsch<br />
A real-time computer system is a computer system in<br />
which the correctness of the system behavior depends<br />
not only on the logical results of the computations, but<br />
also on the physical instant at which these results are<br />
produced. In a time-triggered system, all activities are<br />
initiated by the progression of time. There is only one<br />
interrupt in each node of a distributed time-triggered<br />
system, the periodic clock interrupt. In a distributed timetriggered<br />
real-time system, it is assumed that the clocks<br />
of all nodes are synchronized to form a global notion of<br />
time, and that every observation of the controlled object<br />
is timestamped with this synchronized time. In particular,<br />
the message transmissions are triggered by the clock<br />
interrupt based on a schedule determined during system<br />
development, which enables the collision-free message<br />
transmission over shared communication links. (Kopetz,<br />
Real-Time Systems, Design Principles for Distributed<br />
Embedded Applications, 1997)<br />
Introduction<br />
The first section on ‘The atomic definition of the second’<br />
presents how physics grasps time. The second section<br />
‘Time and Order’ discusses the understanding of time and<br />
causality in time-triggered systems and how time is used<br />
to establish order. The third section on ‘State’ points out<br />
that a precise concept of time is a prerequisite for a<br />
precise concept of state. The fourth section on ‘Sparse<br />
Time’ explains how a temporal order among events – as<br />
presented in the second section on ‘Time and Order’ –<br />
can be established as the basis of a time-triggered<br />
system. The last section on ‘International Time Scales’<br />
explains how the international time scales, that is the<br />
International Atomic Time (TAI) and the Coordinated<br />
Universal Time (UTC), realize the atomic definition of the<br />
second.<br />
The atomic definition of the second<br />
In physics, there is no definition on what time actually is.<br />
However, time can be measured precisely (and that is<br />
all what physicists really care about). The basic unit of<br />
time is a second. According to the International System<br />
of Units (SI, from the French name Système international<br />
d’unités), the second is defined to be “the duration of<br />
9,192,631,770 periods of the radiation corresponding to<br />
the transition between the two hyperfine levels of the<br />
ground state of the caesium 133 atom” (Bureau<br />
international des poids et measures. Organisation<br />
intergouvernmentale de la Convention du Metre, 2006).<br />
In 1997, this definition was refined with the addition: “This<br />
definition refers to a caesium atom at rest at a<br />
temperature of 0 K.” The ground state (i.e., lowest possible<br />
energy level of an atom) is defined at zero magnetic<br />
field. In 1967 with the development of the atomic clock<br />
this atomic definition refined the former definition based<br />
on the movement of celestial bodies (Leschiutta, 2005).<br />
Note that 0 K is a theoretical limit and cannot be<br />
achieved. Thus, it is practically impossible to build<br />
perfectly accurate clocks.<br />
Time and Order<br />
In accordance with the laws of classical physics of Isaac<br />
Newton we treat time as an independent variable<br />
extending arbitrarily from the past into the future<br />
assuming that time is absolute and relativistic effects can<br />
be neglected. Thus, the continuum of time can be<br />
modeled by a directed timeline consisting of an infinite<br />
set of instants T that are ordered and dense (Whithrow,<br />
1990): the infinite set of instants T is ordered, since given<br />
Zeit in der Technik<br />
Time in Time-Triggered Real-Time Computer Systems<br />
Time in Time-Triggered Real-Time Computer Systems<br />
11<br />
any two instants p, q, p ‘•q, one precedes the other;<br />
the set T is dense, which means that if p and q are not<br />
the identical instant p ‘•q, there is at least another instant<br />
r, r ‘•p and r ‘•q, between them. This is a recursive<br />
definition, which means that there are actually an infinite<br />
number of instants between any two non-identical<br />
instants. Hence, an instant is a cut in the timeline. The<br />
order of instants on the timeline is called the temporal<br />
order. A section of the timeline is called duration. An<br />
event is a short, relevant happening at an instant of time.<br />
When two events occur at the identical instant, then the<br />
two events are said to occur simultaneously. Instants are<br />
ordered totally, while events are only partially ordered,<br />
since simultaneous events are not in the order relation.<br />
In many applications, the causal dependencies among<br />
events are of interest. Reichenbach (Reichenbach,<br />
1957) defined causality by a mark method without<br />
reference to time: “If event e1 is a cause of event e2,<br />
then a small variation (a mark) in e1 is associated with<br />
small variation in e2, whereas small variations in e2 are<br />
not necessarily associated with small variations in e1.”<br />
Of course, this is not true in case of discontinuities.<br />
From the causal order, the temporal order can be<br />
deducted, but not vice versa. Therefore, the causal<br />
order among events is stronger than their temporal order.<br />
Imagine a technical system where a single fault can<br />
cause several failures, which trigger several alarms. A<br />
temporal order among all alarms helps to restrict the<br />
causal dependencies among these failures, since the<br />
temporal order of events is necessary, but not sufficient,<br />
for their causal order.<br />
A weaker order relation often provided by<br />
communication systems is consistent delivery order. The<br />
communication system guarantees that all events<br />
communicated over the communication medium are<br />
seen in the same order by all receiving nodes. Note that<br />
this order can be different from the sending order.<br />
State<br />
A precise concept of time is a prerequisite for a precise<br />
concept of state. In abstract system theory Mesarovic<br />
introduced the notion of state to separate the past from<br />
the future (Mesarovic & Takahara, 1989): “The state<br />
enables the determination of a future output solely on<br />
the basis of the future input and the state the system is<br />
in. In other word, the state enables a ‘decoupling’ of<br />
the past from the present and future. The state embodies<br />
all past history of a system. Knowing the state ‘supplants’<br />
knowledge of the past. Apparently, for this role to be<br />
meaningful, the notion of past and future must be<br />
relevant for the system considered.”<br />
Sparse Time<br />
A digital clock, or clock for short, is a device for the<br />
measurement of time. It comprises a counter and an<br />
oscillation mechanism that periodically produces a tick<br />
to increment this counter. The duration between two<br />
consecutive ticks is called the granularity of the clock.<br />
The granularity of any digital clock leads to a digitizing<br />
error in the measurement of time. Given a clock and an<br />
event, the local timestamp of an event is the counter<br />
value of the clock immediately after the event occurred.<br />
An ensemble of clocks is a set of two or more clocks.<br />
The clocks of an ensemble show different clock rates,<br />
that is, their counters values will eventually diverge from<br />
each other due to differences in the physical oscillation<br />
mechanisms. The two local timestamps of a single event<br />
from two different clocks in the same ensemble can
differ, because, practically, no two clocks have the<br />
same clock rate and over time the counters of two<br />
clocks inevitable diverge, even if those two clocks are<br />
perfectly synchronized at the beginning.<br />
With periodic internal clock synchronization (i.e., clock<br />
synchronization among the clocks in the ensemble) the<br />
duration between the respective ticks of any two clocks<br />
can be bound. The bound on this maximum duration<br />
between any two respective ticks on any two clocks of<br />
an ensemble is the precision of an ensemble of clocks<br />
(Kopetz & Ochsenreiter, Clock synchronization in<br />
distributed real-time systems, 1987).<br />
Since clocks inevitably diverge, the precision of an<br />
ensemble is always larger than zero. Hence, it is generally<br />
not possible to order events consistently on the basis of<br />
their local timestamps. There is always the chance of a<br />
single event being timestamped differently by two<br />
clocks, because of the denseness of time, defined in<br />
the second section, and the impossibility of perfect clock<br />
synchronization. In this respect, Lundelius and Lynch<br />
provided an impossibility result (Lundelius & Lynch, 1984).<br />
Figure 1: Sparse Time Base<br />
The concept of a sparse time, as depicted in Figure 1,<br />
circumvents this impossibility of perfect clock<br />
synchronization (Kopetz, Why do we need a Sparse<br />
Global Time-Base in Dependable Real-Time Systems?,<br />
2007). In the sparse time the continuum of time is<br />
partitioned into an infinite sequence of activity intervals<br />
µ, where events are allowed to occur, alternating with<br />
intervals of silence of a duration of at least ”, where<br />
events must not occur. The events restricted to the<br />
activity intervals are denoted sparse events and the time<br />
base is called ”/µ-sparse.<br />
The activity intervals are numbered chronologically with<br />
the positive integers. The global timestamp of a sparse<br />
event is the integer assigned to the activity interval in<br />
which it has occurred. Sparse events happening in the<br />
same activity interval are considered as having<br />
happened simultaneously. Thus, a system-wide,<br />
consistent temporal order can be established given the<br />
following two properties: first, the interval of activity is<br />
smaller or equal to the precision of the clock<br />
synchronization; second, the interval of silence is at least<br />
four times larger than the activity interval (Kopetz, Sparse<br />
time versus dense time in distributed real-time systems,<br />
1992) (Kopetz & Obermaisser, Temporal composability,<br />
2002) (Kopetz, Real-Time Systems, Design Principles for<br />
Distributed Embedded Applications, 1997).<br />
In time-triggered systems events that are in the sphere<br />
of control of the system (e.g., the sending of messages)<br />
are assumed to be restricted to occur in the activity<br />
intervals, while events outside the sphere of control of<br />
the system (i.e., events that can occur outside the<br />
activity intervals) must be assigned to an activity interval<br />
by an agreement protocol.<br />
Replica determinism requires that all correct replicas<br />
produce exactly the same output messages at most a<br />
duration of d time units apart. In a time-triggered system<br />
replicas are considered to be replica-deterministic, if<br />
they produce the same output message at the same<br />
global ticks of their local clocks (Kopetz, Real-Time<br />
Systems, Design Principles for Distributed Embedded<br />
Applications, 1997). The consistent temporal order is<br />
essential to achieve replica determinism (Poledna, 1994)<br />
that is required for active redundancy based on voting<br />
of the computation result.<br />
Zeit in der Technik<br />
A time-triggered system can be synchronized with<br />
international time scales by means of external clock<br />
synchronization (i.e., clock synchronization with clocks not<br />
part of the ensemble).<br />
International Time Scales<br />
The realization and dissemination of the international time<br />
scales is the responsibility of the Time, Frequency and<br />
Gravimetry Section of the Bureau International des Poids<br />
et Mesures (BIPM).<br />
The International Atomic Time (TAI, from the French name<br />
Temps Atomique International) is the uniform, atomic<br />
time scale and kept as close as possible to the second<br />
defined by the SI. It is calculated at the BIPM using data<br />
from some two hundred atomic clocks in over fifty<br />
national laboratories, depicted in Figure 2, which<br />
maintain caesium standards with an accuracy up to 10-<br />
15 s. The long-term stability of the TAI is assured by a<br />
judicious way of weighting the participating clocks. New<br />
developments in clocks using trapped or cooled atoms<br />
or ions, going closer to the physical limits such as 0 K, are<br />
leading to improvements well beyond this.<br />
Figure 2: Geographical distribution of the laboratories<br />
that contribute to TAI, and the means by which their data<br />
are sent to the BIPM (taken from www.bipm.com)<br />
The Coordinated Universal Time (UTC, a compromise<br />
between the English name and the French name that is<br />
Temps Universel Coordonné) (Terrien, 1975) is an atomic<br />
time scale identical with TAI, except for leap seconds<br />
added to days ensuring that, when averaged over a<br />
year, the sun crosses the Greenwich meridian at noon<br />
UTC to within ±0.9 s. The dates of application of leap<br />
seconds are decided by the International Earth Rotation<br />
and Reference Systems Service (IERS). Unlike the TAI the<br />
UTC will in the long run according to its current definition<br />
keep in step with the slightly irregular rotation of the earth.<br />
As of 2007, 23 leap seconds have been added, putting<br />
the UTC 33 seconds behind the TAI, because of the initial<br />
offset of 10 seconds. Note that there is an ongoing<br />
debate to discontinue the insertion of leap seconds. The<br />
Earth’s rotational deceleration due to tidal friction is the<br />
main contributor to this difference. The acceleration of<br />
the Earth’s crust has led to the longest-ever period without<br />
a leap second from New Year’s Day 1999 to New Year’s<br />
Eve 2005, giving some confidence to the small chance<br />
of a negative leap second. The discontinuity of the UTC<br />
makes the accurate measurement of durations between<br />
two UTC timestamps impossible; at least not without<br />
reference to a lookup table telling the number of leap<br />
seconds in between the two UTC timestamps.<br />
Figure 3 shows the difference between the UT1, the<br />
principal form of the Universal Time, and the UTC. Both,<br />
UT1 and UTC, are Universal Time, but the UTC requires<br />
adjustment by leap second, because it is based on the<br />
atomic definition of the second realized by the TAI. Notice<br />
the vertical segments in Figure 3, which correspond to<br />
leap seconds and constitute discontinuities in the UTC.<br />
Figure 3: Difference between the UT1 and the UTC<br />
Of these two standard time scales only the TAI is<br />
chronoscopic, i.e. without any discontinuities. Therefore,<br />
Kopetz advocates the TAI as source for external<br />
synchronization of time-triggered systems. (Kopetz, Why<br />
do we need a Sparse Global Time-Base in Dependable<br />
Real-Time Systems?, 2007)<br />
Acknowledgements<br />
Thanks to Georg Rieckh, Albrecht Kadlec, and Vaclav<br />
Mikolasek for their valuable comments.<br />
Time in Time-Triggered Real-Time Computer Systems<br />
12
Zeit in der Technik<br />
Figure 1: Sparse Time Base<br />
Figure 2: Geographical distribution of the laboratories that contribute to TAI,<br />
and the means by which their data are sent to the BIPM (taken from<br />
www.bipm.com)<br />
Figure 3: Difference between the UT1 and the UTC<br />
Time in Time-Triggered Real-Time Computer Systems<br />
13
Bibliography<br />
Bureau international des poids et measures. Organisation<br />
intergouvernmentale de la Convention du Metre. (2006).<br />
The International System of Units (SI), 8th edition.<br />
Kopetz, H. (1997). Real-Time Systems, Design Principles<br />
for Distributed Embedded Applications. Boston,<br />
Dordrecht, London: Kluwer Academic Publishers.<br />
Kopetz, H. (1992). Sparse time versus dense time in<br />
distributed real-time systems. <strong>Pro</strong>ceedings of the 12th<br />
International Conference on Distributed Computing<br />
Systems, (pp. 460-467).<br />
Kopetz, H. (2007). Why do we need a Sparse Global Time-<br />
Base in Dependable Real-Time Systems? International<br />
IEEE Symposium on Precision Clock Synchronization for<br />
Measurement, Control and Communication (ISPCS), (pp.<br />
13-17).<br />
Kopetz, H., & Obermaisser, R. (2002). Temporal<br />
composability. Computing & control Engineering Journal<br />
, 13, 156-162.<br />
Kopetz, H., & Ochsenreiter, W. (1987). Clock<br />
synchronization in distributed real-time systems. IEE Trans.<br />
Comp., 36, pp. 933-940.<br />
Zeit in der Technik<br />
Leschiutta, S. (2005). The definition of the atomic second.<br />
Metrologia (42), 10-19.<br />
Lundelius, J., & Lynch, N. (1984). An upper and lower<br />
bound for clock synchronization. Information and<br />
Control, 62, pp. 190-204.<br />
Mesarovic, M. C., & Takahara, Y. (1989). Abstract System<br />
Theory. Springer.<br />
Poledna, S. (1994). Replica determinism in distributed realtime<br />
systems: A brief survey. Real-Time Systems , 6, 289-<br />
316.<br />
Reichenbach, H. (1957). The Philosophy of Space and<br />
Time. New York: Dover.<br />
Whithrow, G. J. (1990). The Natural Philosophy of Time.<br />
Oxford: Clarendon Press.<br />
Harald Paulitsch has been a research assistant at the Institute of Computer Engineering, Real-Time System Group at the<br />
Vienna University of Techology since November 2004. He studied Computer Science at the Vienna University of Technology<br />
and received his diploma degree in 2005. During his course of study Harald Paultisch visited the University of Illinois at<br />
Urbana-Champaign (UIUC) for one semester. He has commenced his doctoral studies with <strong>Pro</strong>f. Hermann Kopetz as<br />
research advisor. During his doctoral studies he visited the Institute for Software Integrated Systems directed by <strong>Pro</strong>f.<br />
Janos Sztipanovits at the Vanderbilt University. His main research interest is diagnosis in distributed embedded real-time<br />
systems. He takes part in our program already for several years and is actually one of two elected speakers of our students.<br />
Time in Time-Triggered Real-Time Computer Systems<br />
14
Naturwissenschaft und<br />
Medizin:<br />
Erdgeschichte, Evolution,<br />
Lebenszeit
Karolina Harasztos<br />
„Die Zeit, die stirbt in sich und zeugt sich auch aus sich,<br />
Dies kömmt aus mir und dir, von dem du bist und ich…<br />
Die Zeit ist, was ihr seid, und ihr seid, was die Zeit,<br />
Nur dass ihr enger noch als, was die Zeit ist, seid“<br />
I. DAS WESEN DER <strong>ZEIT</strong><br />
(Paul Flemming – „Gedanken über die Zeit“) 1<br />
In jedem Augenblick “verlässt” uns Zeit. Das „Fließen der<br />
Zeit“ zeigt den Eindruck der Bewegung, Veränderung.<br />
Sie ist das Verhältnis der Dinge in ihrer Folge. Sie ist nichts<br />
Greifbares.<br />
Ein zeitloses Dasein ist uns undenkbar. Daher „der<br />
Schrecken vor der Ewigkeit“. Die Zeit ist stetig, sie ist das<br />
Band der Erscheinungen, macht aus den Einzelheiten<br />
eine Kette. Sie ruht nicht. Sie ist unendlich. Die<br />
Unendlichkeit hat keine Grenzen, keine zeitlichen<br />
Bestimmungen.<br />
Die Zeit ist einsinnig. Es gibt in ihr nur ein Nacheinander;<br />
was vergangen kommt nicht wieder, alles, was<br />
geschieht, geht in einer bestimmten Richtung.<br />
Man muss zwischen Lage und Dauer eines<br />
Zeitabschnittes unterscheiden. Ein Zeitabschnitt ist in<br />
Bezug auf einen andern „früher“ oder „später“. Zeitfolge<br />
und Zeitdauer sind zwei verschiedene Elemente. Messen<br />
können wir nur die Zeitdauer.<br />
Vom Zeitbegriff sollte man nicht sprechen. Die Zeit ist<br />
kein Begriff, sondern eine Anschauung. Dem Begriff<br />
„Mensch“ kann ich Attribute wie weiß, schwarz, groß und<br />
klein zuschreiben. Die Zeit aber ist weder jung noch alt,<br />
weder klein noch groß.<br />
Jeder Vorgang hängt mit einem anderen zusammen.<br />
Die Zeit ist allumfassend, und die Einheitlichkeit der Zeit<br />
erfordert einheitliche, zusammenfassende Behandlung<br />
aller wissenschaftlichen <strong>Pro</strong>bleme. 2<br />
Am Anfang aller Begriffe von Zeit stand wohl die<br />
Unterscheidung in Tag und Nacht. Augenscheinlich<br />
bestimmt diese Folge den Rhythmus des Lebens von<br />
Pflanzen, Tieren und Menschen.<br />
Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />
Zeit in der Erdgeschichte<br />
Eine geographisch-geologische Betrachtung<br />
Zeit in der Erdgeschichte<br />
16<br />
Zu praktischen Zwecken machten sich die Menschen<br />
daran, die Eigenschaften des Raumes zu untersuchen.<br />
Daraus entstand im vierten Jahrtausend v. Ch. in Babylon<br />
und Ägypten die Geometrie. In Zusammenhang mit dem<br />
aufkommenden Ackerbau begann man, Zeiteinheiten<br />
zu zählen.<br />
Regelmäßigkeiten und Gesetze wurden als Erstes von der<br />
Astronomie entdeckt. Als sich die Wissenschaft weiter<br />
entwickelte, fand man immer mehr Gesetze in der Natur,<br />
konnte die eine oder die andere Entwicklung<br />
vorhersehen, bis schließlich gegen Ende des<br />
18. Jahrhunderts die Angesicht entstand, überhaupt alles<br />
laufe nach unveränderlichen Gesetzen ab. Nur was man<br />
darüber hinaus nicht verstand, wurde weiterhin mit dem<br />
Wirken Gottes erklärt: Er habe diese Gesetze bestimmt<br />
und über den Anfang von Zeit und Raum entschieden.<br />
Zeit und Raum sind bündig definiert: als nicht voneinander<br />
zu trennende Eigenschaften des Universums. Jegliche<br />
Materie, ob als Teilchen oder als Welle auftretend kann<br />
nur in Raum und Zeit existieren. Aber subjektiv erscheint<br />
uns Zeit höchst vielfältig.<br />
Vertraut und selbstverständlich erscheint uns das Wort<br />
„Zeit“. Und doch haftet dem Begriff etwas Rätselhaftes<br />
an, und immer wieder wird die Frage diskutiert, was denn<br />
Zeit eigentlich sei. 1984 hat der Kultursoziologe Norbert<br />
Elias (1897-1990) Zeit als eine große menschliche<br />
Syntheseleistung erklärt „mit deren Hilfe Positionen im<br />
Nacheinander des physikalischen Naturgeschehens, des<br />
Gesellschaftsgeschehens und des individuellen<br />
Lebenslaufs in Beziehung gebracht werden können“.<br />
Meist wird Zeit als natürliche Ordnungsstruktur zur Reihung<br />
von Vorgängen angesehen, manche Autoren<br />
bezeichnen Zeit als willkürlich.<br />
Einigkeit besteht darin, Zeit sei die allgemeinste Form, in<br />
der sich alles Geschehen aneinander reiht. Offen bleibt,<br />
wie denn alles begonnen habe und ob es ewig so<br />
weitergebe. Die Frage nach dem Anfang von Zeit und<br />
Raum scheint den Wissenschaftlern durch die<br />
Urknalltheorie vorläufig beantwortet. Dann aber wird die<br />
Frage bleiben, warum es uns und das Universum gibt.<br />
Der Physiker Stephen Hawking meint: „Wenn wir die<br />
Antwort auf diese Frage fänden, wäre das der endgültige<br />
Triumph der menschlichen Vernunft – denn dann würden<br />
wir Gottes Plan kennen.“ 3<br />
II. <strong>ZEIT</strong> IN DER ERDGESCHICHTE<br />
Dass hier von der Wissenschaft der Erdoberfläche aus die<br />
Zeitfrage aufgeworfen wird, kann auf den ersten Blick<br />
überraschen. Denn hat die Geographie anderes zu tun<br />
als zu beschreiben? Allerdings ist die Beschreibung der<br />
Raum- und Lageverhältnisse in der Erdoberfläche ihre<br />
erste Aufgabe. Aber hier zeigt sich sofort die notwendige<br />
Beziehung zur Zeit, denn alles was man geographische<br />
Erscheinung nennt, ist durch Bewegung im Raum der<br />
Erdoberfläche entstanden, und diese Bewegung hat<br />
irgend einen Zeitabschnitt beansprucht.<br />
Erdgeschichte, reduziert auf einen 12-Stunden-Tag<br />
Quelle: Hartmut Leser: DIERECKE – Wörterbuch<br />
Allgemeine Geographie, Deutscher<br />
Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,<br />
München, 12. Auflage Juni 2001, S. 257
Wo anders aber misst sich diese Zeit als im Raum der<br />
Erdoberfläche, die wie ein ungeheueres Zifferblatt die<br />
Bewegungen über sich hinschreiten lässt, dass man dann<br />
ihre Aufeinanderfolge und im günstigen Fall sogar ihre<br />
Zeitdauer an den Spuren abmessen kann, die sie<br />
hinterlassen haben? Die Strandlinien am Gestade eines<br />
sich hebenden Landes, die Terrassen an den Wänden<br />
eines Tales, das einen Fluss einschneidet, die Grenzen in<br />
denen ein Staat oder das Verbreitungsgebiet eines<br />
Volkes, einer Tier- oder Pflanzenart in verschiedenen<br />
Epochen sich befand, alle sind Zeitmarken. 4<br />
Alles, was ist, entwickelt sich; die Evolution begann mit<br />
dem Urknall und umfasst auch das anscheinend<br />
Unbelebte. Dabei spielen zyklische und rhythmische<br />
<strong>Pro</strong>zesse eine entscheidende Rolle. Sie erfassen die<br />
kleinsten wie die größten existierenden Gebilde. Etwas<br />
war plötzlich da, auf vielfältige Weise rhythmisch<br />
schwingend, und formierte sich zu Strings. Aus den<br />
Rhythmen der Strings entwickelten sich vielleicht Quarks<br />
und kurz danach erste Elementarteilchen, die sich binnen<br />
weniger Minuten zu Wasserstoff und Helium vereinten.<br />
Auch die Atome bilden Charakteristische und sehr<br />
konstante Schwingungsmuster. So entstanden zugleich<br />
mit der Natur ihre Zyklen, Messgrößen der Zeit.<br />
Das griechische Wort kýklos („Kreis, Kreislauf, Ring“)<br />
bezeichnete zunächst lediglich eine Reihe inhaltlich<br />
zusammengehörende Dinge. Heute meint es meist einen<br />
Kreislauf regelmäßig wiederkehrender Ereignisse, ein<br />
periodisch ablaufendes Geschehen. Rhythmus stammt<br />
vom griechischen rhythmós („Gleichmaß“). Das<br />
bedeutet eigentlich „das Fließen“. Seine übertragene<br />
Bedeutung verdankt es wohl dem gleichmäßigen Auf<br />
und Ab der Meereswogen. Dann benannte es den<br />
regelmäßig schwankenden Fortgang überhaupt und<br />
schließlich jede gleichmäßig gegliederte Bewegung. Das<br />
Wort Periode geht auf dem griechischen Wort peri-odos<br />
(„Kreislauf“) zurück. Heute bezeichnet es einerseits etwas<br />
regelmäßig Wiederkehrendes und andererseits den<br />
dazwischenliegenden Zeitabschnitt.<br />
Grundlegend wichtige Dinge geschahen in den ersten<br />
drei Minuten nach dem Urknall. Kräfte ordneten sich zu<br />
Gravitation, starker und schwacher Wechselwirkung,<br />
elektromagnetischer Kraft. Materie zog sich infolge der<br />
Gravitation dicht zusammen, und nach einer Milliarde<br />
Jahren bildeten sich die ersten Sterne. Man vermutet<br />
heute im All 10 21 Sterne, die sich zu 10 10 Galaxien<br />
gruppieren. Ihre Lebenszyklen umfassen Jahrmilliarde,<br />
ihre räumlichen Umläufe Jahre bis Jahrmillionen, ihre<br />
Rotationen nur Stunden bis Tage.<br />
Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />
Zeit in der Erdgeschichte<br />
17<br />
Der Lebenszyklus eines Sterns beginnt, wenn immer mehr<br />
Atome zusammenstoßen. Dann erhitzt sich das Gas, es<br />
kommt zur Kernfusion, und der Stern leuchtet. Der Druck<br />
in seinem Innern steigt, bis er der Gravitation das<br />
Gleichgewicht hält. Diese Zustand bleibt so lande stabil,<br />
bis der Stern seinen Kernbrennstoff verbraucht hat; dann<br />
kühlt er ab und zieht sich zusammen. Liegt seine Masse<br />
jetzt unter einem bestimmten Grenzwert, dann bleibt er<br />
durch Abstoßungskräfte zwischen den Elektronen seiner<br />
Materie stabil und heißt Weißer Zwerg. Ist sie größer, so<br />
fällt er in sich zusammen und wird ein schwarzes Loch.<br />
Falls ein Weißer Zwerg zu einem Doppelsternsystem<br />
gehört, kann Materie seines Partners auf ihm<br />
einschlagen. Dadurch wird gewaltige Fusionsenergie<br />
frei, und man sieht ihn von der Erde aus aufleuchten –<br />
eine Nova. Einige Sterne werden im Verlauf der<br />
Kernfusion zu heiß und explodieren, das sind die<br />
Supernovae. Dabei werden komplexer<br />
zusammengesetzte Atome, die höheren Elemente, in<br />
den Raum geschleudert. Sie gliedern sich anderen<br />
Systemen an oder sammeln sich zu neuen „Sternen der<br />
zweiten Generation“. Das ist der Kreislauf der Materie<br />
im All.<br />
Unser Sonnensystem entstand, als sich schwere Elemente<br />
in der Umgebung der Sonne zu Planeten<br />
zusammenschlossen. Vor etwa 4,5 Milliarden Jahren<br />
bildete sich so die Erde. In diesen glutflüssigen,<br />
gasdurchsetzten Körper schlug wenig später ein großer<br />
Asteroid ein. Dabei ausgelöste Schockwellen bewirkten<br />
eine Trennung der chaotisch durchmischten Elemente.<br />
Die schweren sanken in den Erdkern ab, die Gase<br />
bildeten eine Ur-Atmosphäre, und ein Teil der<br />
umherspritzenden Materie fügte sich zum Mond. Im Lauf<br />
der Zeit kühlte die Erde ab, ihre Oberfläche erstarrte in<br />
großen Schollen. Damit begann ihr geologischer<br />
Lebenszyklus. Auf 3,9 Milliarden Jahre datiert man das<br />
älteste bekannteste Gestein.<br />
Die Gesteinschollen verdichteten sich zu Uhrkontinenten,<br />
die vor rund 700 Millionen Jahren im Superkontinent<br />
Rodinia vereint waren. Nach wiederholter Teilung und<br />
Verschiebung bildete sich vor 250 Millionen Jahren die<br />
zusammenhängende Landmasse Pangäa. Auch diese<br />
zerbrach, und seit 200 Millionen Jahren treiben ihre Teile<br />
auf dem zähflüssigen Untergrund auseinander. Eine erste<br />
Bruchlinie trennte das südliche Gondwana vom Nordteil,<br />
der das heutige Asien, Europa und Nordamerika<br />
umfasste und Laurasia genannt wird. Vor etwa 200<br />
Millionen Jahren, in der Blütezeit der Dinosaurier, begann<br />
Nordamerika sich von Eurasien zu lösen. Südamerika<br />
wurde vor 150 Millionen Jahren von Gondwana<br />
abgespalten und bewegte sich westwärts, es lagerte<br />
sich irgendwann später mit einer schmalen Landbrücke<br />
an Nordamerika an. Im Zeitraum vor vielleicht 110 bis<br />
vor 40 Millionen Jahren löste sich Indien von Gondwana.<br />
Machtvoll wurde es gegen Asien gepresst, wo es das<br />
Himalayagebirge auftürmte. Australien und Antarktika<br />
trennten sich erst im Ganzen von Afrika, dann<br />
voneinander.<br />
1912 hatte der deutsche Meteorologe Alfred Wegener<br />
die These von der Drift der Kontinente aufgestellt.<br />
Inzwischen kann man die von ihm vermuteten Vorgänge<br />
umfassender erklären, und weiß, dass die heutigen<br />
Kontinente auf großen Platten sitzen. An ihren<br />
Bruchkanten dringt geschmolzenes Magma aus dem<br />
Erdinneren zwischen die Platten und drückt sie<br />
auseinander. Gegenwärtig wird die Atlantik pro Jahr um<br />
25 mm breiter. Die anhaltende Plattentektonik<br />
beeinflusst die Zeitmessung, indem sie die<br />
geographische Länge der Observatorien nationaler<br />
Zeitdienste verändert. Dadurch verschieben sich die<br />
Zeiten des Meridiandurchgangs der Gestirne. Das
Internationale Zeitbüro kontrolliert und registriert diese<br />
Abweichungen der Ortszeiten.<br />
Bald nach dem Erstarren der Erdoberfläche kondensierte<br />
Wasserdampf und füllte ihre tiefer liegenden Teile. Jetzt<br />
war sie genügend abgekühlt, um eine biologische<br />
Evolution hervorzubringen. Von nun an waren<br />
geologische und biologische Entwicklung wechselseitig<br />
voneinander abhängig. Das Leben auf die Erde<br />
verändert die Erde selbst.<br />
Grundlegend für die geologische Entwicklung ist der<br />
Zyklus der Mineralien. Diese kombinieren sich zu Gesteine<br />
und nehmen an deren Kreislauf teil. Älteste Gesteine<br />
bildeten sich aus der erstarrende Schmelze. Vor 3,5<br />
Milliarden Jahren begann die Ablagerung von<br />
Sedimenten. Verwitterungsprodukte älterer Gesteine<br />
und abgestorbene Organismen bilden kilometerdicke<br />
Schichten, die sich zu Sedimentgestein verdichten. Im<br />
Laufe von Jahrmillionen verwandeln sie sich in<br />
metamorphes Gestein, werden hinabgezogen und<br />
schmelzen in großer Tiefe. Gleichzeitig wachsen an<br />
anderen Plätzen magmatische Gesteine wieder empor<br />
und beginnen ab dem Augenblick ihres Entstehens zu<br />
verwittern. Dieser große „Kreislauf“ der Gesteine ist mit<br />
vielfältigen Abkürzungen und Umwegen in Neben-<br />
Kreisläufen verbunden.<br />
Wo Gesteine, Wasser und Lufthülle aneinander grenzen,<br />
entstand die Biosphäre als Teil der Geosphäre. In diesem<br />
Raum entfaltet sich das Leben, und alle Stoffe darin<br />
durchlaufen mehrfach ineinander verwobene Kreisläufe.<br />
Besondere Bedeutung erlangte jener des Wassers, der<br />
das Gesicht unseres „Blauen Planeten“ prägt. Seine<br />
zeitlichen Zyklen sind – wie die räumlichen Sphären –<br />
ineinander eingebettet. Im Regenwald vollzieht sich der<br />
Kreislauf des Wassers binnen weniger Sekunden, die<br />
Durchmischung der Ozeane braucht Jahrhunderte.<br />
Im Laufe der ersten Milliarde Erdenjahre hatten sich<br />
Atome zu größeren Strukturen verbunden. Darunter<br />
fanden sich zufällig gebildete Makromoleküle, die selbst<br />
wieder Atome zu Strukturen zusammensetzen konnten.<br />
Das setzte Zyklen von Reproduktion und Vermehrung in<br />
Gang; Leben war entstanden. Hin und wieder traten<br />
dabei Abweichungen vom Vorbild auf, anders<br />
strukturierte Moleküle, von denen einige zu besserer<br />
Reproduktion fähig waren. So wurde Ungenauigkeit zu<br />
entscheidenden Triebkraft der Evolution. Sie schuf<br />
Vielfalt, und aus Vielfalt ergab sich Anpassungsfähigkeit.<br />
3,5 Milliarden Jahre alt sind die ältesten nachgewiesenen<br />
Reste von Organismen. Primitive Bakterien existierten in<br />
der sauerstoffarmen Ur-Atmosphäre, nahmen<br />
Schwefelwasserstoff auf, bezogen Energie durch<br />
Photosynthese und setzten Sauerstoff frei. Nach und<br />
nach, sehr langsam, wurde die Erdatmosphäre für ihre<br />
frühesten Bewohner giftig. Vor ungefähr einer Milliarde<br />
Jahren begann in dem neuen Sauerstoffmilieu die<br />
Entwicklung höherer Lebensformen. Bakterien<br />
entwickelten sich, dann Pilzen, Pflanzen, Tiere. 5<br />
III. GEOLOGISCHE <strong>ZEIT</strong>-SCHICHTEN<br />
Der dänische Arzt Niels Steensen (Nicolaus Steno) stellte<br />
um 1670 erstmals einen eindeutigen Zusammenhang<br />
zwischen Gesteinsschichten und der Vorstellung von<br />
„Zeit in der Erdgeschichte“ her. Er erkannte Sandstein,<br />
Kalkstein und Schiefer als Verdichtungen von Sand, Kalk<br />
und Ton, die vom Wasser transportiert und in zeitlicher<br />
Folge als Schichten übereinander abgelagert wurden.<br />
Erdzeitalter und Perioden der Erdgeschichte (siehe<br />
Tabelle 1 im Anhang)<br />
Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />
Zeit in der Erdgeschichte<br />
18<br />
Als Johann Christian Füchsel und der preußische Bergrat<br />
Johann Lehmann um 1760 die geologische Struktur<br />
thüringischer Bergbaugebirge erforschten, sahen auch<br />
sie die Aufeinanderfolge verschiedener<br />
Gesteinsschichten als Ergebnis eines historischen<br />
<strong>Pro</strong>zesses an. Sie unterscheiden drei Haupttypen von<br />
Gesteinen nach ihrem vermuteten Alter und fanden<br />
einen Zusammenhang mit darin eingeschlossenen<br />
versteinerten Organismen, den Fossilien. Zuunterst lagen<br />
die Primärgesteine, die keinerlei Spuren des Lebens<br />
enthielten. Dann folgten Sekundäre Schichten mit den<br />
Fossilien niederer Meerestiere und schließlich die<br />
Tertiärgesteine, in denen Landtiere und Pflanzen<br />
eingeschlossen sind. Der italienische Geologe Giovanni<br />
Arduino teilte die Erdgeschichtliche Zeit in Abschnitte,<br />
die er von „erster“ bis „vierter“ nummerierte. Daran<br />
erinnern „Tertiär“ und „Quartär“ als Namen von Perioden<br />
des heutigen Systems.<br />
Die französischen Paläontologen Georges Cuvier und<br />
Alexandre Brogniart erkannten, dass die verschiedenen<br />
Arten von Fossilien gewöhnlich in derselben Reihenfolge<br />
auftreten. Gleichartige Fossilien signalisieren gleiches<br />
Alter der Gesteinsschichten. Dieses Prinzip der Leitfossilien<br />
wurde von dem englischen Landmesser Williams Smith<br />
weiter ausgearbeitet.<br />
Im 19. Jahrhundert, als die geologischen Perioden<br />
erstmals als eigenständige Zeitabschnitte erkannt worden<br />
waren, konnten die Geologen nicht einmal annähernd<br />
sagen, wie viele Jahre der Beginn oder das Ende einer<br />
solchen Periode zurückliegt. Jede wurde einfach als eine<br />
unbestimmte Zeiteinheit definiert, die durch eine<br />
Gesteinseinheit, ein geologisches System verkörpert<br />
wurde.<br />
Das Studium der ältesten paläozoischen Gesteine<br />
verdeutlicht wie neue Systeme benannt wurden, um die<br />
Lücken zwischen den bereits bekannten zu schließen. Im<br />
Jahre 1835 veröffentlichten Adam Sedgwick und<br />
Roderick Marchinson gemeinsam eine Arbeit, in der sie<br />
das kambrische und silurische System einführten, und<br />
zwar hauptsächlich auf der Grundlage geologischer<br />
Untersuchungen in Wales.<br />
Die Bezeichnung Kambrium leitet sich vom lateinischen<br />
Namen für Wales (Cambria) ab, während das Silur nach<br />
den Silurern benannt war, einem alten, einstmals in Wales<br />
lebenden keltischen Stamm.<br />
Für die dazwischen liegenden Gesteine mit ihrem<br />
eigenständigen Fossilinhalt schlug Charles Lapworth den<br />
Namen Ordovicium vor, benannt nach den Ordovicern,<br />
einem alten walisischen Stamm, der sich in Britannien als<br />
letzter der römischen Herrschaft ergab. Die Dreiteilung<br />
des unteren Teils des Paläozoikums von Lapworth ist noch<br />
immer gültig, obgleich wir heute die echten Grenzen<br />
zwischen den drei Systemen Kambrium, Ordivicium und<br />
Silur sehr viel genauer kennen.<br />
Die Untergliederung der Gesteinsabfolgen und der<br />
geologischen Zeiträume endete nicht mit der Benennung<br />
von Systemen und Perioden. Mit zunehmendem Wissen<br />
über die Systeme und die zeitlichen Perioden konnten<br />
die Geologen des 19. Jahrhunderts eine immer genauere<br />
Unterteilung in noch kleinere Einheiten vornehmen. 6<br />
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren die westlichen<br />
Einheiten des „Fossilienkalenders“ festgelegt. Die damals<br />
geprägten Bezeichnungen der Erdzeitalter (Ären) und<br />
Perioden der Erdgeschichte benutzen wir noch heute.<br />
Häufig verändert hat sich dagegen ihre Datierung nach<br />
Jahren. Tabelle 1 (im Anhang) zeigt den gegen Ende des<br />
20. Jahrhunderts aktuellen Kenntnisstand.
Wie man die Perioden weitergehend in Epochen<br />
(Abteilungen) gliedert, verdeutlicht Tabelle 2 (im<br />
Anhang) am Beispiel der Erdneuzeit.<br />
Die Gliederung der Erdneuzeit in Epochen<br />
Die Wissenschaft von den geologischen Schichten mit<br />
Leitfossilien als Zeitmarken heißt Biostratigraphie. Der<br />
Begriff geht auf lat. Stratum („Schicht“) zurück. Sie ist<br />
Teilgebiet der Stratigraphie, welche die Zeitliche<br />
Aufeinanderfolge der Schichtgesteine untersucht. Diese<br />
gehört ihrerseits zur Geochronologie, die sich allgemein<br />
mit der Einordnung von Ereignissen und Zeitabschnitten<br />
im Verlauf der Erdgeschichte befasst. Geologische<br />
„Kalender“ sind sehr vielgestaltig. Stratigraphische<br />
Objekte wurden zuerst und auf unterschiedliche Weise<br />
für die Forschung zugänglich. Im <strong>Pro</strong>zess des<br />
Aufschiebens und Senkens von Gebirgen entstanden<br />
Bruchstellen und offenbarten die Abfolge ihrer Schichten.<br />
Strömendes Wasser schliff zusammenhängende<br />
Querschnittsbilder frei, die viele Epochen der<br />
Erdgeschichte umfassen können. Ein berühmtes Beispiel<br />
dafür ist der Grand Canyon in Kalifornien. Weitrechende<br />
Kenntnisse gewann man schließlich in Zusammenhang<br />
mit dem Bergbau. Die im wörtlichen Sinn tiefsten Einblicke<br />
erlauben geologische Bohrungen.<br />
1912 untersuchte der Geologe Gerard de Geer in<br />
Schweden den Rückzug der Gletscher von der Südküste<br />
zum nördlichen Gebirge. Ihr Schmelzwasser hinterlässt in<br />
Seen geschichtete Ablagerungen. Bei stehendem Wasser<br />
im Sommer ergeben sich dunkle Tonschichten, bei der<br />
Schneeschmelze lagern sich helle Sandschichten ab.<br />
Eine solche Jahresschicht heißt Warve. De Geer benutzte<br />
die „Bänderung“ des Warventons und bestimmte die<br />
Zeitdauer des Vorgangs auf 10.000 Jahre. Seither sind<br />
solche ausgezählten Schichten für die letzten 20.000<br />
Jahre wiederholt verwendet worden.<br />
Der Engländer Flindern Petrie hat als Erster<br />
archäologische Schichten anhand der darin<br />
gefundenen Artefakte zeitlich identifiziert. Er sortierte in<br />
Ägypten Keramiken nach ihren Entwicklungsstadien „in<br />
sich selbst“. Ganz andere von Menschen geschaffene<br />
Schichte entdeckten die Archäologen in Tschatal Hüjük,<br />
der vielleicht ältesten Stadt der Welt. Für einige<br />
Jahrtausende war sie Hauptstadt der Hethiter.<br />
Der Brite James Mellaart grub sie zwischen 1951 und 1965<br />
aus. Er zählte die übereinander liegenden weißen<br />
Putzschichten der Lehmziegelhäuser, die ihre Bewohner<br />
jährlich erneuert hatten. Einen präziseren Kalender hat<br />
noch kein Archäologe gefunden. Mellaart konnte eine<br />
achthundertjährige Stadtgeschichte zuverlässig<br />
rekonstruieren, die selbst wieder acht Jahrtausende<br />
zurückliegt.<br />
Manchmal offenbaren geologische „Kalender“<br />
überraschende Einzelheiten aus ferner Vergangenheit.<br />
Der amerikanische Paläontologe John Wells zählte 1963<br />
an fossilen Korallen die feinen Streifen aus, die ähnlich<br />
den Jahresringen der Bäume das tägliche Wachstum<br />
dieser Kalkgehäuse erkennen lassen. Er fand<br />
durchschnittlich 400 Tagesstreifen innerhalb eines<br />
Jahresrings bei den 400 Millionen Jahre alten Exemplaren<br />
und 380 Tagesstreifen bei denjenigen, die nur 320<br />
Millionen Jahre alt waren. Diese Ergebnisse rechnete er<br />
auf die Zeit vor 570 Millionen Jahren zurück und schloss,<br />
dass damals der Tag etwa 20 Stunden und das Jahr 438<br />
Tage gehabt haben dürfte. Ursache der immer<br />
langsamer werdenden Erddrehung ist die vom Mond<br />
verursachte Gezeitenreibung. 7<br />
Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />
Zeit in der Erdgeschichte<br />
19<br />
IV. BEGRIFFSBESTIMMUNGEN: „<strong>ZEIT</strong>“ UND ALLGEMEINE GEOGRAPHIE<br />
Zeit<br />
wird als Grunddimension aller Vorgänge und<br />
Erscheinungen im Sinne einer Abfolge des Geschehens<br />
definiert. Die physikalische Z. bezieht sich auf periodisch<br />
gleichmäßig bewegte Körper, und ihre Grundeinheiten<br />
werden an die Drehung der Erde um die Sonne und um<br />
die eigene Achse angelehnt (’ Jahr, ’Tag). Die Basis<br />
unserer Z.-Messung ist der Mittlere ’Sonnentag mit der<br />
Sekunde als 86 400stem Teil davon. Der Kalender rechnet<br />
die Zeit seit Christi Geburt (n. Chr.), der<br />
Geowissenschaftler die Jahre vor heute (v.h.).<br />
Zeitausnutzung:<br />
in der Energiewirtschaft benützte Verhältniszahl, die<br />
angibt, inwieweit ein Kraftwerk innerhalb einer<br />
Betrachtungszeitspanne (z.B. einem Jahr) in Betrieb war.<br />
Die Z. errechnet sich als Quotient aus tatsächlicher<br />
Betriebszeit und der Nennzeit. Dabei ist unerheblich, mit<br />
welcher Leistung ein Kraftwerk in der Betriebszeit<br />
gearbeitet hat.<br />
Zeitbudget:<br />
die einem Individuum oder einer Gruppe zur Ausübung<br />
einer bestimmten Tätigkeit zur Verfügung stehende Zeit.<br />
Besonders in der ’ Aktionsraumforschung und bei<br />
Untersuchungen über ’ Aktionsreichweiten ’<br />
sozialgeographischer Gruppen spielt das Z. eine große<br />
Rolle. (’ Zeitgeographie)<br />
Zeitdistanz:<br />
in Grad angegebener Winkelabstand zwischen einem<br />
Gestirn und dem ’ Zenit.<br />
Zeitgeographie:<br />
Ausrichtung der neueren ’ Kultur-, insbesondere ’<br />
Sozialgeographie, die sich bemüht, bei der Erklärung<br />
räumlicher Verhaltens und raumwirksamer <strong>Pro</strong>zesse die<br />
zeitliche Dimension räumlicher Aktivitäten stärker zu<br />
berücksichtigen, z.B. durch ’ Zeitbudget–Studien für<br />
bestimmte ’ Sozialgeographische Gruppen.<br />
Zeithorizont:<br />
zeitliche Grenze für eine raumwirksame Aktivität. Man<br />
spricht z.B. in der ’ Raumplanung vom Z. einer<br />
Planungsmaßnahme.<br />
Zeitlohn:<br />
Vergütung einer Arbeitsleistung nach dem Umfang der<br />
aufgewandten Zeit. Im Gegensatz zum ’ Leistungslohn<br />
wir auf den Z. häufig dort zurückgegriffen, wo die<br />
Messung der Leistung schlecht möglich ist oder dadurch<br />
gegebenenfalls eine Qualitätsminderung zu befürchten<br />
wäre.<br />
Zeitsiedlung: ’ temporäre Siedlung:<br />
Siedlung, die nur für mehrere Wochen benützt wird. Sie<br />
findet sich vor allem bei höheren Jägern und<br />
Hirtennomaden. Die Wanderungen der eigenen bzw.<br />
Wildtierherden ist die Ursache der ständigen Verlegung<br />
der Behausungen. Die t. S. wird auch als Frist- oder<br />
Temporalsiedlung bezeichnet.<br />
Zeitzonen:<br />
24 festgelegte Meridianstreifen von je 15° Breite, in<br />
denen die international anerkannten, je um eine Stunde<br />
verschobenen ’ Ortszeiten gelten (z.B. die<br />
Mitteleuropäische Zeit). Im Interesse einheitlicher Zeit in<br />
bestimmten Ländern und Ländergruppen wurde bei der<br />
Festlegung der Z. in der Praxis vielfach von der<br />
Abgrenzung durch Meridiane abgewichen. 8
Tabelle 1<br />
Erdzeitalter und Perioden der Erdgeschichte<br />
vor…<br />
Millionen Jahren<br />
bis 4000 Erd-Urzeit<br />
LITERATUR<br />
Ära Periode Erdgeschichte Entwicklung des<br />
Lenz, Hans: „Universalgeschichte der Zeit“, Marix Verlag<br />
GmbH, Wiesbaden 2005<br />
Leser, Hartmut (Hrsg.): DIERECKE – Wörterbuch<br />
Allgemeine Geographie, Deutscher Taschenbuch<br />
Verlag GmbH & Co. KG, München, 12. Auflage Juni 2001<br />
Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />
Lebens<br />
4000 bis 2500 Archaikum Bildung der Beginn der<br />
Urkontinente Photosynthese<br />
2500 bis 570 Erd-Frühzeit<br />
Erste Gebirge Erste vielzellige<br />
(<strong>Pro</strong>terozoikum)<br />
Tiere<br />
570 bis 510 Kambrium Wirbellose im<br />
Meer<br />
510 bis 440 Ordovizium Kaledonische Ära Erste Wirbeltiere<br />
440 bis 410 Silur<br />
Muscheln, Fische<br />
410 bis 360 Erd-Altertum Devon Pflanzen mit<br />
(Paläozoikum)<br />
Farnlaub<br />
360 bis 290 Karbon Steinkohlenwälder Insekten<br />
290 bis 245<br />
Perm<br />
Rasche<br />
Entwicklung der<br />
Reptilien<br />
245 bis 210 Trias Pangäa zerbricht. Erste kleine<br />
Überflutung von<br />
Festland<br />
Säugetiere<br />
210 bis 145 Erd-Mittelalter Jura Fische, erste<br />
(Mesozoikum)<br />
Vögel<br />
145 bis 65<br />
Kreide Aussterben der<br />
Saurier<br />
65 bis 2,5 Tertiär Hebung der Entfaltung der<br />
europäischen Säugetiere<br />
Erdneuzeit<br />
Mittelgebirge<br />
2,5 bis zur (Känozoikum) Quartär Oberflächen- Entwicklung des<br />
Gegenwart<br />
änderung durch<br />
Eis<br />
Menschen<br />
Quelle: Hans Lenz: „Universalgeschichte der Zeit“, Marix Verlag GmbH, Wiesbaden 2005, S. 79<br />
Zeit in der Erdgeschichte<br />
20<br />
Ratzel, Friedrich: „Raum und Zeit in Geographie und<br />
Geologie. Naturphilosophische Betrachtung“, Verlag von<br />
Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1907<br />
Stanley, Steven M.: „Historische Geologie. Eine Einführung<br />
in die Geschichte der Erde und des Lebens“, Spektrum<br />
Akademischer Verlag, Heidelberg 1994
Tabelle 2<br />
Die Gliederung der Erdneuzeit in Epochen<br />
Vor…Millionen<br />
Jahren<br />
Periode Epoche Erdgeschichte Entwicklung des<br />
Lebens<br />
65 bis 55 Paläozän Braunkohle Erste Halbaffen,<br />
Raub- und<br />
Nagetiere<br />
55 bis 36 Eozän Steinsalz Huftiere, Meeressäuger<br />
(Wale)<br />
36 bis 25 Tertiär<br />
Oligozän Tektonische Erste<br />
Gliederung Menschenaffen,<br />
Mitteleuropas Schweine,<br />
Hirsche<br />
25 bis 5 Miozän<br />
Elefanten,<br />
Giraffen<br />
5 bis 2,5<br />
Pliozän Gletscher in<br />
Grönland<br />
Erste Hominiden<br />
2,5 bis 0,01 Pleistozän Eiszeit Entwicklung des<br />
Quartär<br />
Menschen<br />
0,01 bis<br />
Holozän Veränderung der natürlichen Umwelt<br />
Gegenwart<br />
durch den Menschen<br />
Quelle: Hans Lenz: „Universalgeschichte der Zeit“, Marix Verlag GmbH, Wiesbaden 2005, S. 81<br />
Fußnoten:<br />
1 Paul Flemming: „Gedanken über Zeit“ in: Ratzel, Friedrich: „Raum und<br />
Zeit in Geographie und Geologie. Naturphilosophische Betrachtung“,<br />
Verlag von Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1907, S. 34.<br />
2 Ratzel, Friedrich: „Raum und Zeit in Geographie und Geologie.<br />
Naturphilosophische Betrachtung“, Verlag von Johann Ambrosius Barth,<br />
Leipzig 1907, S. 33-34.<br />
3 Hans Lenz: „Universalgeschichte der Zeit“, Marix Verlag GmbH,<br />
Wiesbaden 2005, S. 11-12.<br />
4 Ratzel, Friedrich: „Raum und Zeit in Geographie und Geologie.<br />
Naturphilosophische Betrachtung“, Verlag von Johann Ambrosius Barth,<br />
Leipzig 1907, S. 36.<br />
Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />
5 Hans Lenz: „Universalgeschichte der Zeit“, Marix Verlag GmbH,<br />
Wiesbaden 2005, S. 75.<br />
6 Steven M. Stanley: „Historische Geologie. Eine Einführung in die<br />
Geschichte der Erde und des Lebens“, Spektrum Akademischer<br />
Verlag Heidelberg, 1994, S.21-22<br />
7 Hans Lenz: „Universalgeschichte der Zeit“, Marix Verlag GmbH,<br />
Wiesbaden 2005, S. 82<br />
8 Die Begriffe wurden aus (Hrsg.) Hartmut Leser: DIERECKE –<br />
„Wörterbuch Allgemeine Geographie“, Deutscher Taschenbuch<br />
Verlag GmbH & Co. KG, München, 12. Auflage Juni 2001, S. 1015<br />
zitiert.<br />
Mag. Karolina Harasztos, geb. 1979 in Livada (Rumänien), studierte Geographie an den Universitäten Klausenburg und<br />
Innsbruck. Derzeit arbeitet Sie an Ihrer Dissertation zum Thema “Transformationsprozesse seit 1989 und Persistenz historischer<br />
Strukturen im ländlichen Peripherraum des rumänischen Banats am Beispiels ausgewählter Siedlungen: Liebling, Tirol und<br />
Steierdorf.” Sie ist seit 2008 PRO SCIENTIA-Stipendiatin.<br />
Zeit in der Erdgeschichte<br />
21
Dominic Zoehrer<br />
„Denn tausend Jahre sind in deinen Augen wie der<br />
gestrige Tag, wenn er vergangen ist, und wie eine<br />
Wache in der Nacht.“<br />
– Psalm 90:4 [1]<br />
„Eine relativ zu einem Bezugssystem mit der<br />
Geschwindigkeit v gleichförmig bewegte Uhr geht von<br />
diesem Bezugssystem aus beurteilt im Verhältnis 1:√(1v<br />
2 /c 2 ) langsamer als nämliche Uhr, falls sie relativ zu<br />
jenem Bezugssystem ruht.“<br />
– Albert Einstein [2]<br />
Abstract: Folgender Text beschäftigt sich mit den<br />
Phänomenen Zeit, Leben und Evolution, basierend auf<br />
den Naturgesetzen, die uns die Thermodynamik und die<br />
Quantenmechanik liefern. Zunächst soll der<br />
physikalische Begriff der „Zeit“ erläutert werden. Die<br />
Frage „was ist Leben?“ soll kurz beleuchtet werden,<br />
bevor wir uns der Evolution zuwenden. Abschließend<br />
werden wir uns einen Überblick über einige<br />
interdisziplinäre Herausforderungen verschaffen, welche<br />
die Forschung des 21. Jahrhunderts beschäftigen<br />
könnten.<br />
Das Universum erschien nicht plötzlich und instantan in<br />
vollendeter Form. Jedes System, jede Struktur, jedes<br />
Wesen braucht für seine Entwicklung eine bestimmte<br />
Menge an Zeit [3]. Auch der Schöpfungsbericht der<br />
Genesis handelt in Übereinstimmung mit der modernen<br />
Kosmologie – abgesehen von kulturbedingten<br />
Unterschieden des Inhalts und Ausdrucks – von klar<br />
unterscheidbaren und graduellen Perioden in der<br />
Entstehung der Welt.<br />
Zu Beginn unserer Ausführungen, stellen wir uns also die<br />
Frage: Was ist denn Zeit überhaupt? Viele Menschen<br />
sagen, sie hätten keine Zeit und doch hat der Tag für<br />
jeden Menschen ausnahmslos 24 Stunden. Wir können<br />
einander Zeit schenken oder Zeit stehlen, aber letzten<br />
Endes geht jede Uhr – sofern sie mechanisch<br />
einigermaßen in Ordnung ist – gleichmäßig tick, tick, tick.<br />
Raum und Zeit sind Dinge, die es schon sehr sehr lange<br />
gibt. Sie entstanden damals zur „Stunde Null“, dem<br />
Geburtszeitpunkt des Universums. Was davor war, kann<br />
man sehr schwer sagen, denn ein „davor“ gab es nicht.<br />
Doch abgesehen von philosophischen Vertiefungen<br />
fragen wir einmal die Physik, was sie uns über das<br />
Phänomen Zeit erzählen kann.<br />
Zeit in der Physik<br />
Ganz vorwegnehmen können wir, dass uns selbst die oft<br />
so mächtig erscheinende und quasi fast alles erklärende<br />
Physik gar keine Definition über „Zeit“ an sich oder deren<br />
Ursache liefert. Ein Physiker gibt sich voll und ganz damit<br />
zufrieden, dass er Zeit messen kann. Das ist alles, was<br />
vorerst einmal zählt. (Dasselbe gilt für Materie, Energie,<br />
Wellen und alle anderen Werte, Parameter und<br />
Eigenschaften in der Physik: Das einzige, was wirklich<br />
essentiell ist um gute Physik betreiben zu können, ist die<br />
Fähigkeit eine Sache messen, vergleichen, berechnen<br />
und in Formeln, Modellen und Theorien einordnen zu<br />
können.)<br />
So wird „Zeit“ in Tipler’s Standardlehrwerk „Physik“ –<br />
neben der Länge und der Masse – als physikalische<br />
Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />
Zeit und Evolution<br />
Was ist Leben?<br />
Zeit und Evolution<br />
22<br />
Dimension bezeichnet, ohne sie in einer näheren<br />
Definition zu rechtfertigen. Viel zentraler als „was ist Zeit?“<br />
ist die Frage: „Wie misst man Zeit?“ Und da bekommen<br />
wir schon eine sehr genaue Antwort – und zwar: „Die<br />
Basiseinheit der Zeit, die Sekunde (s), […] ist so definiert,<br />
dass die beim Übergang zwischen den beiden so<br />
genannten Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes<br />
von Cäsium-133 ausgesandte Strahlung eine Frequenz<br />
von 9 192 631 770 Schwingungen pro Sekunde hat.“ [4]<br />
Die Zeit gehört also zu den grundlegenden Dimensionen<br />
der Physik und muss in der Physik zunächst gar nicht näher<br />
hinterfragt werden. (Philosophische Spekulation wird in<br />
der Physik weitgehend vermieden. Und es wäre sehr<br />
spekulativ darüber nachzudenken, wie viel Zeit vergeht,<br />
wenn die Zeit einmal stehen bleiben sollte. [5])<br />
Mit der Entwicklung der Relativitätstheorie und der<br />
Quantenmechanik zu Beginn des vorigen Jahrhunderts<br />
änderte sich das klassische physikalische Weltbild und<br />
damit unser Verständnis von Raum und Zeit grundlegend.<br />
Die erste, von Albert Einstein (1879-1955) eingeführte<br />
Theorie erklärt uns, warum Raum und Zeit ineinander<br />
überführen und gemeinsam ein Raum-Zeit-Kontinuum<br />
bilden, von dem unser Universum durchwoben ist. Als<br />
Konsequenz der absoluten Lichtgeschwindigkeit die Zeit<br />
relativ ist, d. h. abhängig vom jeweiligen Bezugssystem.<br />
(„Je schneller sie sich Uhren bewegen desto langsamer<br />
gehen sie.“)<br />
Die andere Theorie zeigt, dass es etwas in der Physik gibt,<br />
das unsere Alltagsbegriffe von Raum, Zeit und Materie<br />
komplett sprengt und Teilchen zu Wellen oder Wellen zu<br />
Teilchen macht. So fliegt zum Beispiel beim<br />
Doppeltspaltexperiment ein einziges Teilchen – sagen wir<br />
ein Photon oder ein Elektron – durch beide Spalte gleichzeitig<br />
(!) , interferiert mit seinem eigenen kontinuierlichen<br />
Wahrscheinlichkeits-Zustand, bevor es letzten Endes an<br />
einer einzigen Stelle als einzelnes diskretes Teilchen<br />
gemessen wird. (Einstein war diese neue Theorie ganz und<br />
gar nicht geheuer und er sprach in Bezug auf die<br />
Quantenmechanik von „Gespensterwellen“ oder<br />
„spukhafter Fernwirkung“. [6])<br />
Zur Illustration des Welle-Teilchen-Dualismus [aus A1]
Fazit ist, dass beide Theorien enorm zum Verständnis<br />
unseres Universums und dessen kleinsten Bauteilen, den<br />
Atomen bzw. Elementarteilchen (Leptonen und Quarks),<br />
beigetragen haben. Was dafür in Kauf genommen<br />
werden musste, war der Abschied vom Begriff einer so<br />
genannten absoluten Zeit oder eines absoluten Raums<br />
im klassischen bzw. Kant’schen Sinne der<br />
Vernunftkategorien [7]. Kurz gesagt: Die Welt ist verrückter<br />
als wir meinen.<br />
Um die Verwirrung über den Begriff der Zeit zu<br />
perfektionieren, lässt sich im zen-buddhistischen Sinne<br />
sagen, dass Zeit an sich eine Illusion ist. Das einzige, was<br />
relevant ist, ist der Moment, der Augenblick, der Zeit-<br />
„Punkt“, die Gegenwart. [8] Die Vergangenheit wird nie<br />
wieder kommen, die Zukunft wird nie eintreten. Und<br />
unsere gesamte physikalische Realität existiert nur im<br />
Jetzt.<br />
Trotzdem brauchen wir – bevor wir ganz im Nirwana<br />
verschwinden – die Zeit als Konzept um ein Maß für die<br />
Abfolge von Ereignissen und der Kausalität zu besitzen.<br />
Obwohl wir nicht sagen können, warum die Zeit „dahin<br />
fließt“, sie tut es dennoch – so wie die Uhren in Salvador<br />
Dali’s berühmtem Gemälde „The Persistence of Memory“<br />
(1931) dahin fließen.<br />
In der Physik spricht man von einem „Zeitpfeil“ um<br />
anzudeuten in welche „Richtung“ die Zeit eigentlich<br />
„fließt“. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den 3<br />
räumlichen Dimensionen und der Zeit ist, dass man in der<br />
Zeit (bislang) nicht beliebig hin und her reisen kann. Um<br />
diesen Zeitpfeil exakt zu bestimmen, betrachten wir einen<br />
fundamentalen Begriff der Thermodynamik etwas näher:<br />
Die Entropie, das Maß der Unordnung.<br />
„The Persistence of Memory“ [aus A2]<br />
Die Entropie und der Verlauf der Zeit<br />
Ein abgeschlossenes System geht stets irreversibel vom<br />
Zustand höherer Ordnung zum Zustand niedrigerer<br />
Ordnung über. Und zwar deshalb, weil der Zustand<br />
niedrigerer Ordnung sehr viel wahrscheinlicher ist als<br />
derjenige höherer Ordnung. Das Maß der Unordnung, die<br />
Entropie, bleibt entweder konstant oder nimmt zu. Das<br />
ist die Kernaussage des Zweiten Hauptsatzes der<br />
Thermodynamik.<br />
Zur Veranschaulichung betrachten wir das System<br />
„Kartenhaus“. Ein mehrstöckiges Kartenhaus zeichnet sich<br />
durch hohe Ordnung aus, d. h. ein exakter<br />
Informationsgehalt über die Position und den Winkel einer<br />
jeden Karte ist bekannt. (Selbstverständlich nehmen wir<br />
an, dass das Gebilde zuvor von einem mehr oder weniger<br />
intelligenten und geschickten Wesen konstruiert wurde.)<br />
Nun ist jener Zustand physikalisch sehr instabil und es ist<br />
Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />
Zeit und Evolution<br />
23<br />
sehr wahrscheinlich, dass die Karten früher oder später<br />
(aufgrund einer minimalen Störung) durch die Gegend<br />
fliegen, bis sie total zerstreut auf dem Tisch oder Boden<br />
landen und dort liegen bleiben. In der physikalischen<br />
Welt existieren ab -273,15°C (dem absoluten Nullpunkt)<br />
immer und überall „Störungen“ – und diese sind das, was<br />
wir als Temperatur bezeichnen: Je mehr Teilchengewusel<br />
es gibt, desto wärmer ist es. (Exakter formuliert: Die<br />
Temperatur steigt aufgrund der Zunahme der mittleren<br />
kinetischen Energie der Teilchen eines Systems an.)<br />
Genau so gut lassen sich ganz alltägliche Systeme wie<br />
„Schreibtisch“ oder „Kleiderschrank“ oder „Frisur“ oder<br />
„Gemüsesuppe“ etc. beschreiben. Ohne einen Input an<br />
Energie und/oder Information neigt sich ein System dem<br />
Zustand maximaler Unordnung zu. Denn es gibt weit<br />
mehr Zustände in Unordnung als Zustände mit hohem<br />
Informationsgehalt und damit höherer Ordnung.<br />
Und somit ist auch schon der Zeitpfeil definiert: Eine<br />
Abfolge von Ereignissen in einem System ordnet sich<br />
nach steigender Wahrscheinlichkeit seiner Zustände –<br />
vom geordneteren zum ungeordneteren. Zum Beispiel:<br />
System „Wohlstrukturierte Tafel Schokolade“ �<br />
„Geschmolzener Schokomatsch“. Oder: Eine Tasse, die<br />
auf dem Boden zerschellt, verläuft in einem exakt<br />
gerichteten <strong>Pro</strong>zess, vom geordneten System „ganze<br />
Tasse“ zum chaotischen Zustand „Scherben überall“. Die<br />
andere Richtung ist physikalisch nicht erlaubt und wird<br />
in unserer Alltagswelt prinzipiell nicht beobachtet. [9]<br />
Bedacht sei jedoch, dass wir von abgeschlossenen<br />
Systemen ausgegangen sind, bei denen also kein<br />
Informations- oder Energieaustausch mit äußeren<br />
Einflüssen stattfindet. (D. h. durch ein wenig geschickt<br />
und überlegt angewandte Energie und mit einem guten<br />
Kleber lässt sich die Tasse aus den Scherben wieder<br />
restaurieren.)<br />
Allgemein sagt man: Die Entropie des Universums als<br />
Gesamtsystem nimmt ständig zu. [10] (Getrost lässt sich<br />
sagen, wir brauchen uns nicht sonderlich zu wundern,<br />
warum unser Schreibtisch, unser Zimmer, unsere<br />
Gesellschaft, ja die gesamte Welt zunehmend im Chaos<br />
versinken…) Nun stellt sich die Frage, ob es in der Natur<br />
prinzipiell unmöglich ist, dass sich geordnete, ja<br />
hochkomplexe und reproduzierbare Strukturen<br />
entwickeln. Und die Antwort, nämlich ein<br />
Gegenargument, gibt uns die Natur selbst: Das<br />
Phänomen Leben. Die Existenz von Organismen – sowie<br />
unsereiner – basiert auf „toter“ Materie. Diese wurde<br />
ganzheitlich verflochten und vielschichtig miteinander<br />
vernetzt zu hoch-komplexen Strukturen angeordnet. Und<br />
das geschah alles „im Laufe der Zeit“.<br />
Was ist Leben?<br />
Diese Frage stellte sich auch der Mitbegründer der<br />
Quantenmechanik, der österreichische Nobelpreisträger<br />
Erwin Schrödinger (1887-1961). Seine Überlegungen<br />
legten das Grundkonzept für die Erforschung des Lebens<br />
auf molekularer Basis. Francis Crick (1917-2004), der<br />
gemeinsam mit James Watson (*1928) die Struktur der<br />
DNA entdeckte, bezeichnete Schrödingers Gedanken<br />
als maßgeblich für seine Entdeckung des molekularen<br />
Trägers der Erbinformation. [11]<br />
Schrödingers Bemühen das Leben auf rein chemische<br />
und physikalische Gesetze zurückzuführen ist<br />
charakteristisch für die wissenschaftliche Forschung und<br />
Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts. „Alles Leben<br />
ist Chemie“ soll bereits der französische Naturforscher<br />
Antoine Lavoisier (1743-1794) gewusst haben. Ein<br />
Physiker würde sagen: „Alle Chemie ist Physik“. Können<br />
wir nun aber zum logischen Schluss kommen „Alles Leben<br />
ist Physik“? Letzten Endes müssen alle „biologischen
Systeme“ nach den Prinzipien der Physik funktionieren,<br />
oder ihnen jedenfalls nicht widersprechen. Nur wird es<br />
problematisch, wenn man versucht das Phänomen<br />
Leben auf „bloße“ Chemie oder Physik zu reduzieren.<br />
Aristoteles (384-322 v. Chr.) erklärte bereits, dass das<br />
Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. [12] D.h. der<br />
Mensch beispielsweise ist sicher mehr als ein Haufen C-<br />
, O-, H- Atome, gewürzt mit einer Prise N, Ca, Ph und<br />
weiterer Spurenelemente. An dieser Stelle ist es hilfreich<br />
sich die hierarchische Struktur der Wissenschaften und<br />
ihrer Teilsysteme zu veranschaulichen, die auf den<br />
Philosophen Nicolai Hartmann (1882-1950)<br />
zurückzuführen ist. Tabelle 1 im Anhang [aus 13] dient<br />
als Modell zur Illustration der Idee (ohne Anspruch auf<br />
Vollständigkeit):<br />
Je nach Ebene und damit Wissenschaftsdisziplin<br />
unterscheiden sich die Elemente der Betrachtung einer<br />
bestimmten Wissenschaft und die Wechselwirkungen<br />
jener Elemente untereinander. Dieser Aspekt ist in der<br />
interdisziplinären Forschung und dem Dialog stets zu<br />
berücksichtigen, denn jede Ebene verwendet ihre<br />
eigene Sprache und Grundregeln oder –prinzipien.<br />
[Die Schichten sind nicht immer feinsäuberlich<br />
voneinander zu trennen: Es gibt zahllose Bereiche der<br />
Überschneidung oder der Kooperation (z.B. die<br />
physikalische Chemie, die Molekularbiologie oder die<br />
Biophysik). Der (synthetischen) Gesamtwirklichkeit wird<br />
man mit wissenschaftlichen Modellen bestenfalls<br />
näherungsweise gerecht - entsprechend dem jeweiligen<br />
Interessens-Brennpunkt. Der Mensch bedient sich der<br />
analytischen, wissenschaftlichen Methode um<br />
spezifische Eigenschaften seiner Umwelt und seiner selbst<br />
besser zu verstehen und eventuell beeinflussen oder<br />
kontrollieren zu können.]<br />
Jenem System der Wissenschaften bewusst, kehren wir<br />
zur Ausgangsfrage zurück. Aus biologischer Sichtweise<br />
lässt sich Leben durch folgende Charaktermerkmale<br />
definieren: Organisation, Metabolismus, Wachstum,<br />
Anpassung, Reaktion auf äußere Reize, Fortpflanzung.<br />
[14] Obwohl diese Eigenschaften nicht erklären können,<br />
was das Leben „an sich“ ist, geben sie uns konkrete,<br />
beobachtbare Hinweise darauf, wie sich Leben<br />
manifestiert.<br />
Bevor wir uns nun aber einigen sonderbaren<br />
physikalischen Merkmalen des Lebens zuwenden, muss<br />
ich einen kleinen „Crash-Kurs“ in Quantenmechanik<br />
voraussetzen: Der Begriff eines in Ort (x) und Impuls (p)<br />
exakt festgelegten Teilchens wird durch den<br />
Wellenbegriff aufgelöst („Welle-Teilchen-Dualismus“).<br />
Das ist die Konsequenz der Heisenberg’schen<br />
Unschärferelation: ∆ x ⋅ ∆p<br />
≥ h , wobei h das<br />
Planck’sche Wirkungsquantum bezeichnet (6.63 × 10-34 m2 kg/s, eine sehr, sehr kleine Zahl). Die Zustände der<br />
kleinsten Bestandteile unseres physikalischen Universums<br />
werden mittels einer komplexen Wellenfunktion ¨<br />
innerhalb der Schrödinger-Gleichung beschrieben.<br />
Dabei ist |¨| 2 die Wahrscheinlichkeitsverteilung des<br />
jeweiligen Teilchens (wie z. B. eines Elektrons oder<br />
Photons) in Raum und Zeit. Zum Zeitpunkt der Messung<br />
einer Teilchen-Welle verschwindet ihr Wellencharakter<br />
(siehe Doppelspaltexperiment).<br />
Um den Zusammenhang zu Biosystemen zu schaffen,<br />
könnte man ein Lebewesen quantenmechanisch<br />
folgendermaßen auffassen - unter der Voraussetzung,<br />
dass ein Lebewesen aus physikalischen Bauteilen<br />
zusammengesetzt ist: Als Superposition (=Überlagerung)<br />
all seiner Wellenfunktionen. Nur mathematisch gesehen<br />
wird das ein Wahnsinnsunterfangen, wenn man bedenkt,<br />
Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />
Zeit und Evolution<br />
24<br />
dass ein Mensch aus 10 27 Atomen besteht und daher<br />
mindestens 10 27 überlagernde Wellenfunktionen zur<br />
Berechnung liefern würde. (Das wäre eine 1 mit 27 Nullen:<br />
1 000 000 000 000 000 000 000 000 000, also eine sehr<br />
große Zahl. Abgesehen davon ist selbst die Berechnung<br />
von höheren Elementen ab dem Wasserstoffatom<br />
analytisch nicht mehr möglich. Man bedient sich<br />
komplizierter numerischer Verfahren.)<br />
Beschäftigen wir uns also lieber mit einer eher qualitativen<br />
Untersuchung des <strong>Pro</strong>blems. Der deutsche<br />
Quantenphysiker Hans-Peter Dürr (*1929), Freund und<br />
Schüler von Werner Heisenberg (1901-1976), beschreibt<br />
in seinem Büchlein „Auch die Wissenschaft spricht nur in<br />
Gleichnissen“ das Phänomen Leben aus<br />
quantenmechanisch-philosophischer Sichtweise. Er führt<br />
den Gedanken ein, dass „die ‚lebendige’ Grundstruktur<br />
des Mikrokosmos unter geeigneten Umständen bis zur<br />
Mesoebene unserer Lebenswelt durchstoßen kann“ [15].<br />
Er deutet darauf hin, dass uns die moderne Physik helfen<br />
könnte tiefere Einsichten in die lebendige Struktur der<br />
Wirklichkeit und unseres Selbst zu gewinnen.<br />
Leben als Spiegel des „lebendigen“ Mikrokosmos<br />
Aufgrund der Komplexität biologischer Systeme versagt<br />
der methodisch notwendige Reduktionismus der Physik.<br />
Biologische Gesamtsysteme lassen sich nicht ohne Verlust<br />
von Korrelationen in kleinere Untersysteme zerlegen. [16]<br />
Im Lichte der Quantenmechanik und besonders des<br />
Welle-Teilchen-Dualismus können wir allerdings auf einige<br />
Analogien zwischen dem „lebendigen“ Mikrokosmos und<br />
einem (makroskopischen) Lebewesen an sich stoßen.<br />
Zum einen wird der Mikrokosmos durch die „lebendige“<br />
Freiheit, die prinzipielle Instabilität und Unvorhersehbarkeit<br />
des Lebenden reflektiert. Zum anderen scheint die<br />
quantenmechanische Basis eine Erklärung für eine<br />
grundsätzliche „Kommunion“ [16], eine dynamische<br />
Vernetzung der Materie untereinander in biologischen<br />
Systemen, zu liefern.<br />
Die so genannte „Verschränkung“ ist die Eigenschaft von<br />
zwei oder mehreren Teilchen, die transzendent der Raum-<br />
Zeit miteinander in Verbindung stehen. Die Messung eines<br />
Teilchens beeinflusst instantan (!), d. h. ohne<br />
Signalübertragung, die Eigenschaften eines anderen<br />
Teilchens, das auch viele Kilometer entfernt sein kann.<br />
(Einstein bezeichnete diese Vorhersage der<br />
Quantenmechanik als „spukhafte Fernwirkung“.) Der<br />
Kommunikationsmechanismus der Zellen untereinander<br />
und damit auch die „Einheitlichkeit“ des Organismus ist<br />
auch heute ein schwieriges <strong>Pro</strong>blem und lässt viele<br />
Fragen offen. (Siehe auch [17]: Die Biophotonik<br />
beschäftigt sich mit der schwachen Lichtemission aus<br />
Lebewesen und ist seit einigen Jahrzehnten dabei einen<br />
neuen quantenmechanischen Feldbegriff für biologische<br />
Systeme einzuführen, der den höchst effizienten<br />
Informationsaustausch zwischen Zellen ermöglichen soll<br />
und den holistischen Charakter der Biosysteme erklären<br />
könnte.)<br />
Zeit, Leben, Evolution<br />
Um zurück zum eigentlichen Thema zu kommen,<br />
betrachten wir die zentrale Frage: Wie konnte sich Leben<br />
über viele Jahrhunderte hinweg zu immer höheren<br />
Strukturen entwickeln?<br />
Zunächst soll der Evolutionsbegriff in zwei<br />
unterschiedlichen Zusammenhängen verstanden<br />
werden [18]:<br />
a) Evolution im paläontologischen Sinne ist<br />
Tatsache. Man findet eine diskrete Abstufung
von niederen zu höheren (=komplexeren)<br />
Lebewesen in zeitlicher Abfolge der<br />
geologischen Schichten.<br />
b) Evolution im Sinne der (neo-) darwinistischen<br />
Theorie. ist ein wissenschaftliches Modell, wovon<br />
es bisweilen - wie bei jeder anderen Theorie -<br />
Varianten gibt. Eine wissenschaftliche Theorie<br />
kann für sich niemals einen absoluten<br />
Wahrheitsanspruch erheben. Sie muss sich einer<br />
ständigen Prüfung stellen (Verifikation –<br />
Falsifikation). Aufgrund geänderter Hypothesen<br />
und neuer Grundsätze nähert sich eine Theorie<br />
– durch ständige „Evolution“ – asymptotisch<br />
einem Modell, das die Wirklichkeit getreu<br />
reproduzieren soll. (Anmerkung: Lehrsätze, die<br />
nicht in Frage gestellt werden dürfen, auch<br />
wenn sie offensichtlich nicht durch<br />
Beobachtungen gestützt bzw. anhand von<br />
Gegenbeispielen widerlegt werden, nennt man<br />
Dogmen.)<br />
Der Evolutionsbegriff muss je nach Zusammenhang<br />
unterschieden werden, um Missverständnisse zu<br />
vermeiden. Zur Bedeutung dieser Unterscheidung siehe<br />
später.<br />
Aus Sicht der Thermodynamik verläuft die Evolution des<br />
Lebens scheinbar gegen den Strom der Irreversibilität<br />
(=Entropieverlauf). D. h. die Natur scheint höhere<br />
Ordnungen anstatt die absolute Unordnung, nämlich das<br />
thermische Gleichgewicht, anzustreben. Das widerspricht<br />
dem Zeitpfeil der Physik.<br />
Eine Aussage, die häufig zu finden ist, lautet: Die<br />
Wahrscheinlichkeit für das Auftreten neuer, aber<br />
überlebensfähiger Arten ist zwar gering, doch muss<br />
Evolution über viele Jahrtausende hinweg und in kleinen<br />
kontinuierlichen Schritten betrachtet werden. Bei dieser<br />
Betrachtung treten zunächst mindestens zwei<br />
Schwierigkeiten auf:<br />
1) Statistisch gesehen wird die Wahrscheinlichkeit eines<br />
Ereignisses nicht durch die Häufigkeit des „Würfelns“ (der<br />
Messung) beeinflusst. Wenn ein Ereignis heute sehr<br />
unwahrscheinlich ist (z.B. 20x hintereinander eine „5“ zu<br />
würfeln), wird es auch nach einem Millennium sehr<br />
unwahrscheinlich sein. Ein beliebtes Beispiel - in Analogie<br />
zum Informationsgehalt des DNA-Codes - beschreibt<br />
einen 24 Stunden täglich Schreibmaschine tippenden<br />
Schimpansen (als Zufallsgenerator). Auch nach<br />
Jahrmillionen wird weder ein Vers von Shakespeare noch<br />
von Goethe zu erwarten sein.<br />
2) In der Betrachtung der tatsächlichen<br />
Fossildokumentation, fasst der Biologe Stephan Jay Gould<br />
[19] folgende zwei Merkmale der Paläoontologie<br />
zusammen:<br />
� Stillstand (Stasis): Nach Auftreten einer neuen Art sind<br />
morphologische Veränderungen für gewöhnlich<br />
beschränkt und richtungslos.<br />
� Plötzliches Auftreten: Neue Arten treten sprunghaft<br />
und „voll gestaltet“ auf. Das prominenteste Beispiel ist<br />
wohl die so genannte „Kambrische Explosion“ (vor rund<br />
540 Mil. Jahren), gerne auch als biologischer „Big Bang“<br />
bezeichnet. [20] Siehe Abbildung A3.<br />
Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />
Zeit und Evolution<br />
25<br />
Fossildokumentation schematisch [aus A3]<br />
Diese empirischen Merkmale stimmen nur ungenügend<br />
mit der theoretischen Voraussage einer „glatten“<br />
kontinuierlichen Evolution mit fließendem Übergang<br />
zwischen den Arten überein.<br />
Es stellt sich die Frage, ob die Biologie ohne eine<br />
grundlegende Bezugnahme auf mikroskopische Physik<br />
das Phänomen des Lebens und damit der Evolution in<br />
vollem Umfang erklären kann. Laut Dürr [15] könnte die<br />
Quantenphysik durch ihr prinzipielles Merkmal der<br />
holistischen Beziehungen neue Möglichkeiten im<br />
Verständnis der Evolution eröffnen.<br />
Interdisziplinäre Herausforderungen im 21. Jahrhundert<br />
Weitere offene Fragen im Zusammenhang zwischen<br />
Naturgesetz und Evolution stellen Herausforderungen an<br />
die heutige interdisziplinäre Forschung:<br />
�Lässt sich die Verletzung der Entropie in der Entstehung<br />
des Lebens und dessen Evolution durch Theorien der<br />
„Selbstorganisation“ [21] ausreichend erklären?<br />
�Verliert das Pasteur’sche Prinzip „Omne vivum ex vivo“<br />
(Leben kommt von Leben) zum Zeitpunkt der Entstehung<br />
des ersten Lebens seine Gültigkeit? [22] Oder: Wie lässt<br />
sich der Sprung vom Anorganischen zum Organischen,<br />
vom Toten zum Lebendigen erklären?<br />
�Lassen sich Eigenschaften des Lebens wie „der Wille<br />
zum Leben“, Instinkt oder gar Bewusstsein auf materieller/<br />
molekularer Grundlage erklären? Oder: Wo liegen die<br />
Grenzen des „physikalischen Reduktionismus“?<br />
�Bilden die Arten „quantisierte Zustände“, gleich wie die<br />
diskreten Energienieveaus der Elektronen? Wäre das ein<br />
Grund, warum Evolution in diskreten Schritten statt einem<br />
kontinuierlichen Fluss auftritt?<br />
� Muss der Energieerhaltungssatz mit einen<br />
Informationserhaltungssatz ergänzt werden um damit<br />
den sogenannten gefürchteten „Maxwellschen Dämon“<br />
[23] zu vermeiden?<br />
�Ist die Theorie der Selbstorganisation ausreichend um<br />
irreduzierbar komplexe [24] Systeme wie den DNA-RNA<br />
Zyklus [25] zu „kreieren“ und ist der Mensch daher<br />
befähigt aus toter Materie Leben zu schaffen?
Epilog<br />
Verwenden wir die Quantenphysik als Grundlage<br />
unseres Weltverständnisses, so stehen wir ab einer<br />
wohlbekannten Grenze einer prinzipiellen<br />
Unbestimmtheit gegenüber. Eine komplexe Welle ist<br />
nicht länger auf einen einzigen Punkt in der Raumzeit zu<br />
fixieren. Im Kant’schen Sinne bleibt das „Ding an sich“<br />
unerkannt. Die „spukhafte“, „transzendente“<br />
Wellenfunktion lässt eine prinzipielle Offenheit für etwas<br />
Unbegreifbares, Ungreifbares zu. Und das, obwohl sie<br />
einen logisch konsistenten und widerspruchsfreien<br />
Formalismus besitzt.<br />
Sofern wir alles Leben letzten Endes auf<br />
naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten von Raum<br />
und Zeit zurückführen müssten, stellt sich die Frage: Sollte<br />
das Leben nicht mindestens so mysteriös sein wie die<br />
Quantenphysik selbst?<br />
Die Fähigkeit eines Wissenschaftlers sich zu „wundern“<br />
gibt ihm Antrieb zu forschen. Und die Existenz unseres<br />
Universums und seiner Bauteile, das Phänomen des<br />
Lebens und unser selbst schenken uns Anlass uns zu<br />
wundern, denn sie sind ein Wunder. Und sie werden wohl<br />
immer ein Wunder bleiben.<br />
Literaturverzeichnis<br />
[1] Die Elberfelder Bibel, R. Brockhaus Verlag (1985), Psalmen 90:4<br />
[2] „Über das Relativitätsprinzip und die aus ihm gezogenen Folgerungen“,<br />
Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik, Band 4, 1907, S. 411-462<br />
[3] “The Divine Principle”, Sung Hwa Publishing (1996), S. 40<br />
Tabelle 1<br />
[4] Tipler: „Physik”, Spektrum (1994), S. 2<br />
[5] Wikipedia: Zeit; http://de.wikipedia.org/wiki/Zeit (27.04.07)<br />
[6] Anton Zeilinger: „Einsteins Schleier“, Goldmann (2005), S. 72, S. 153<br />
[7] Immanuel Kant: „Kritik der reinen Vernunft“, Suhrkamp (Frankfurt am<br />
Main 1974), Erster Theil. Die transscendentale Ästhetik<br />
[8] Wikipedia: Zen http://de.wikipedia.org/wiki/Zen-Buddhismus<br />
(27.04.07)<br />
[9] Stephen W. Hawking: ”A Brief History of Time“, Bantam Press (1989), S.<br />
151 ff.<br />
[10] Paul A. Tipler: „Physik”, Spektrum (1994), S. 599 ff.<br />
[11] Wikipedia: Crick; http://en.wikipedia.org/wiki/<br />
What_is_Life%3F_(Schr%C3%B6dinger) (27.04.07)<br />
[12] Metaphysik des Aristoteles (Buch VII) bzw. Georgi Schischkoff:<br />
„Philosophisches Wörterbuch“, Stuttgart: Kröner1(1982), 21. Auflage, S.<br />
211<br />
[13] Ernst Peter Fischer: „Die Andere Bildung“, Ullstein Verlag (2003), 1.<br />
Auflage, S. 216 f.<br />
[14] Wikipedia: Life; http://en.wikipedia.org/wiki/Life (27.04.07)<br />
[15] Hans-Peter Dürr: „Auch die Wissenschaft spricht nur in Gleichnissen”,<br />
Herder (2004), 4. Auflage, S. 45 ff.<br />
[16] Ebenda, S. 59 f.<br />
[17] Lev V. Beloussov et al.: ”Integrative Biophysics. Biophotonics”,<br />
Klawer Academic Publishers (2003), S. 149<br />
[18] Jonathan Wells: ”The Politically Incorrect Guide to Darwinism and<br />
Intelligent Design“, Regnery Publishing (2006), S. 61 f.<br />
[19] John Lennox: „Hat die Wissenschaft Gott begraben?“, R. Brockhaus<br />
Verlag (2006), 5. Auflage, S. 116<br />
[20] Jonathan Wells: ”The Politically Incorrect Guide to Darwinism and<br />
Intelligent Design“, Regnery Publishing (2006), S. 16 f.<br />
[21] Knodel, Bayrhuber et al.: „Linder Biologie“, Dorner (2001), 20. neu<br />
bearbeitete Auflage, S. 107<br />
[22] Ebenda, S. 105<br />
[23] Tipler: „Physik”, Spektrum (1994), S. 1015<br />
[24] Jonathan Wells: ”The Politically Incorrect Guide to Darwinism and<br />
Intelligent Design“, Regnery Publishing (2006), S. 108 f.<br />
[25] Ernst Peter Fischer: „Die Andere Bildung“, Ullstein Verlag (2003), 1.<br />
Auflage, S.288 f.<br />
Abbildungsverzeichnis<br />
[A1] http://www.blacklightpower.com/theory/DoubleSlit.shtml (27.04.07)<br />
[A2] http://www.asset-one.at/html/en/too-interaktion.html (27.04.07)<br />
[A3] http://www.veritas-ucsb.org/library/battson/stasis/2.html (27.04.07)<br />
Ebene Repräsentant [Beispiel] Wissenschaft[-sdisziplin]<br />
Elementarteilchen<br />
Atom<br />
Molekül<br />
Makromolekül<br />
Zellstruktur (Organell)<br />
Zelle<br />
Gewebe<br />
Organ<br />
Organsystem<br />
Organismus<br />
Gemeinschaft<br />
Gesellschaft<br />
…<br />
Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />
Elektron<br />
Kohlenstoff<br />
Wasser<br />
Gen<br />
Chromosom<br />
Blutzelle<br />
Muskel<br />
Kleinhirn<br />
Immunsystem<br />
Mensch<br />
Schulklasse<br />
[Österreich]<br />
…<br />
Zeit und Evolution<br />
Hochenergiephysik<br />
Atomphysik<br />
Physikalische Chemie<br />
Biochemie<br />
Molekulare Biophysik<br />
Zellbiologie<br />
Physiologie<br />
Neurobiologie<br />
Immunologie<br />
Anthropologie<br />
Mikrosoziologie<br />
Makrosoziologie<br />
…<br />
Dominic Zöhrer, geboren 1983, studiert Physik an der Universität Wien. Sein derzeitiger Fokus liegt auf den Bereichen Biophysik<br />
und Biophotonik. Er ist seit 2008 Angehöriger der Wiener Gruppe im Förderwerk PRO SCIENTIA<br />
26
Peter Siska<br />
1. EINFÜHRUNG<br />
1.1 Demographie<br />
Die stete Zunahme der Lebenserwartung in unserer<br />
Bevölkerung hat das Phänomen Altern immer stärker in<br />
den Blickpunkt des Interesses gerückt. Konnte ein um das<br />
Jahr 1900 geborenes Mädchen erwarten, im Schnitt 45<br />
Jahre zu leben, muss man für einen großen Teil der heute<br />
geborenen Mädchen davon ausgehen, dass diese ein<br />
Alter von 100 Jahren erreichen.[1]<br />
Während nichtnatürliche Todesursachen wie<br />
Naturkatastrophen (z.B. Dürreperioden, Unfälle, Seuchen<br />
und Infektionskrankheiten) bereits seit längerem<br />
weitgehend reduziert worden sind, hat das letzte<br />
Jahrhundert vor allem zu einer Verbesserung der<br />
hygienischen Bedingungen, des medizinischen Standards<br />
und zu einer allgemeinen Verbesserung der<br />
Lebensbedingungen (z.B. Ernährung) beigetragen. Die<br />
Gesamtlebenszeit des Individuums hat sich dadurch<br />
erheblich gesteigert. [2]<br />
Die Zunahme der absoluten Zahl und des Anteils von<br />
alten Leuten führt zwangsläufig zu einer dramatischen<br />
Änderung der Bevölkerungsstruktur. Diese<br />
demografischen Veränderungen stellen eine der großen<br />
Herausforderungen für die Zukunft dar und<br />
Wissenschaftler vieler Disziplinen wie Biogerontologen 1 ,<br />
Geriater, Mediziner sind aufgefordert, sich gemeinsam<br />
diesem <strong>Pro</strong>blem zu stellen und nach neuen Lösungen zu<br />
suchen. [1]<br />
1.2 Symptome des Alterns<br />
Fest steht, dass die Zellalterung in der Wildnis eine viel<br />
geringere Rolle als beim Menschen spielt, da dort die<br />
meisten Lebewesen sterben, lange bevor ein<br />
nennenswerter Teil ihrer Zellen gealtert ist. Beim Menschen<br />
ist der <strong>Pro</strong>zess der Zellalterung dagegen ein äußerst<br />
relevantes <strong>Pro</strong>blem, da es mit einer zunehmenden<br />
Lebenserwartung zur Zunahme alterstypischer<br />
Krankheiten und Todesursachen kommt. Geriatrische<br />
Erkrankungen mit Verbindung zur zellulären Seneszenz 2,3<br />
basieren auf der Degeneration der funktionellen<br />
Kapazität des Organismus und umschließen alle Ebenen<br />
seiner Organisation – von Alterungsprozessen<br />
unterworfenen Molekülen bis hin zu kompletten<br />
Organsystemen. [3]<br />
Während des Alterungsprozesses kommt es zu einem<br />
langsamen Verlust verschiedener Körperfunktionen, wobei<br />
alle Organsysteme betroffen sind. Veränderungen der<br />
Lungenfunktion mit Abnahme der Vitalkapazität, ein<br />
Absinken des Atemzugvolumens und der<br />
Sauerstoffaufnahmekapazität, eine Reduktion des<br />
zerebralen Blutflusses und der Durchblutung der Leber, des<br />
Herzschlagvolumens und der glomerulären Filtrationsrate<br />
sind relevante Phänomene des Alterungsprozesses in der<br />
Inneren Medizin. Auch im zentralen Nervensystem kommt<br />
es zu Funktionsverlusten, die sich am deutlichsten in einem<br />
Nachlassen von Gedächtnisfunktionen bemerkbar<br />
machen. Im endokrinen System sind Veränderungen bei<br />
der Hormonproduktion beschrieben. Der<br />
Gastrointestinaltrakt ist durch eine verminderte Sekretion<br />
von Verdauungsenzymen, eine verminderte Absorption<br />
und eine reduzierte Motilität betroffen. Diese Phänomene<br />
sind von einem allgemeinen Verlust an Strukturproteinen<br />
(Reduktion von Muskelmasse, Osteoporose, Verlust von<br />
Bindegewebe, Unterhautfettgewebe) begleitet. [2]<br />
Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />
Altern aus biologischer Sicht<br />
Die Folgen des Alterungsprozesses sind für jedermann<br />
unübersehbar. Die Haut wird faltig, die Muskelmasse<br />
nimmt ab, das Haar wird grau. Die Wissenschaftler<br />
beschäftigen sich dabei im Wesentlichen mit der Frage,<br />
die zugrunde liegenden <strong>Pro</strong>zesse zu verstehen und zu<br />
verlangsamen. Dabei geht es aber keinesfalls darum,<br />
den Alterungsprozess komplett zu stoppen (Suche nach<br />
dem ewigen Leben), sondern darum, die gesunden<br />
Jahre zu verlängern bzw. die Zeit mit Krankheit und<br />
Pflegebedürftigkeit zu reduzieren. [1]<br />
2. MECHANISMEN DES ALTERNS<br />
Altern ist ein sehr komplexer Vorgang und es wäre<br />
illusorisch anzunehmen, dass es für die Gesamtheit der<br />
Veränderungen eine einzelne kausale Ursache gibt.<br />
Vielmehr handelt es sich um eine Ansammlung von<br />
zufälligen Ereignissen entlang der Zeitachse des Lebens.<br />
Um dieses Phänomen zu erklären, wurden viele<br />
verschiedene Theorien aufgestellt.<br />
Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts galt das Dogma<br />
von Carrell, dass einzelne Zellen unsterblich sind und nur<br />
der gesamte multizelluläre 4 Organismus altern kann. 1965<br />
konnte dann gezeigt werden, dass sich menschliche<br />
Zellen außerhalb des Körpers nur weniger als 100-mal<br />
teilen können und der sog. Replikativen Seneszenz 5<br />
unterliegen (sog. Hayflick-Limit). Alle Zellen im<br />
menschlichen Organismus (mit wenigen Ausnahmen)<br />
teilen sich mitotisch 6 – das heißt, eine Zelle teilt sich in<br />
zwei Tochterzellen, die sich wiederum in zwei teilen. Dies<br />
geht aber nicht bis unendlich: Das Hayflick-Limit<br />
beschreibt die Anzahl der Generationen von dieser<br />
ersten Zelle ausgehend (siehe Abbildung 1). [1]<br />
Die Experimente zeigen, dass das Alter einer Zelle nicht<br />
von ihrem chronologischen Alter bestimmt wird, sondern<br />
sich vielmehr danach richtet, wie viele Zellteilungszyklen<br />
sie bisher durchlaufen hat: In Flüssigstickstoff konservierte<br />
Zellen, durchliefen nach Langzeitlagerung die gleiche<br />
Anzahl von Zellteilungen, wie solche, die nicht<br />
eingefroren worden waren.<br />
Während des Alterungsprozesses kommt es zu einer<br />
Verminderung der maximal noch erzielbaren<br />
Zellproliferationsrate 7 . Während fetale<br />
Fibroblastenkulturen sich etwa 70–80mal teilen, teilen<br />
sich Fibroblasten von alten Individuen nur noch wenige<br />
Male. Dieses Phänomen wird auch bei Patienten<br />
beobachtet, die an Erkrankungen, wie zum Beispiel<br />
<strong>Pro</strong>geria infantium (Hutchinson-Gilford-Syndrom) leiden,<br />
das sich durch einen verfrüht einsetzenden<br />
Alterungsprozess auszeichnet (siehe Abbildung 2). [2]<br />
2.1 Telomerverkürzung<br />
Altern aus biologischer Sicht<br />
27<br />
Die meisten Zellen des Menschen zeigen eine<br />
verblüffende Abneigung dagegen, sich durch<br />
fortlaufende Zellteilung unbegrenzt zu vermehren.<br />
Beispielsweise durchlaufen aus einem Embryo<br />
entnommene Fibroblasten 12 in einer Standardzellkultur<br />
etwa 50 Zellteilungen (Siehe Abbildung 1). Dann kommt<br />
es zunächst zu einer Verlangsamung der Vermehrung,<br />
bis sie schließlich ganz zum Stillstand kommt und die<br />
Zellen langsam absterben. Die programmierte Serie von<br />
Zellteilungen, an deren Ende die Differenzierung der Zelle<br />
innerhalb eines Gewebes steht, ist aus der<br />
Embryonalentwicklung gut bekannt. Führt man ein<br />
entsprechendes Experiment jedoch mit Fibroblasten
eines 40-Jährigen durch, so tritt dieses Phänomen bereits<br />
nach 40 Zellteilungen auf, bei Zellen eines 80-Jährigen<br />
bereits nach 30 Mitosen. Bei Organismen mit kurzer<br />
Lebenserwartung (z. B. Maus oder Kaninchen) kommt<br />
es bereits nach sehr wenigen Zyklen zum Ende der<br />
<strong>Pro</strong>liferation und anschließend zum Zelltod.<br />
Offensichtlich besteht also ein Zusammenhang zwischen<br />
der Alterung des Gesamtorganismus und der Fähigkeit<br />
seiner Zellen sich zu vermehren. Dieses Phänomen wurde<br />
als Zellalterung („cellular senescence“) bezeichnet. [3]<br />
Nach der Entdeckung der replikativen Seneszenz<br />
dauerte es noch fast 25 Jahre bis dieses Phänomen<br />
erklärt werden konnte. Der Beitrag von Hong et al. Stellt<br />
diese <strong>Pro</strong>grammtheorie umfassend dar, nach der die<br />
so genannten Telomere an den Enden der<br />
Chromosomen mit jeder Zellteilung verkürzt werden, bis<br />
diese völlig aufgebraucht sind und ein<br />
Alterungsprogramm gestartet wird d. h. sich die Zelle<br />
nicht mehr teilen kann. [1]<br />
Die chromosomalen Enden, die Telomeren, bestehen<br />
aus langen Aneinanderreihungen von simplen,<br />
repetitiven, G/C- reichen Sequenzen 13 (10–15 kb der<br />
TTAGGG 14 -Wiederholungseinheit),die an<br />
Kernmembranproteine binden. Telomere sind<br />
bedeutend für die Wahrung der Integrität der<br />
Chromosomen, schützen sie gegen irreguläre<br />
Rekombination und Degradation und sichern ihre<br />
komplette Replikation 15 bei jeder Zellteilung. [5]<br />
Chromosomen mit beschädigten Telomerenden<br />
fusionieren leichter mit anderen Chromosomen oder<br />
gehen während der Zellteilung verloren. [6] Sie spielen<br />
eine Rolle für die Lokalisation der Chromosomen im<br />
Nukleus, für die korrekte Teilung der<br />
Schwesterchromatiden 16 während der Replikation, bei<br />
der Steuerung der Genexpression und bei der<br />
Zellalterung. [5]<br />
Nach der Theorie des Telomerverlustes werden also die<br />
Telomere bei jeder Zellteilung kürzer, d.h. jede<br />
Tochterzelle (siehe Abbildung 3) „erbt“ Chromosomen,<br />
die kürzere Telomere besitzen, als es bei den mütterlichen<br />
Chromosomen der Fall war. Dies geht, bis die Telomere<br />
„ausgeschöpft“ sind (z.B. in der achtzigsten Generation,<br />
siehe Abbildung 1). Wenn keine bzw. zu wenige Telomere<br />
vorhanden sind, können sie ihre Funktionen nicht<br />
ausüben (siehe oben), vor allem können sie nicht die<br />
Chromosomen und somit die ganze Zelle vor<br />
Degradation und Zelltod schützen. Somit dienen sie als<br />
eine „mitotische Uhr“ und sorgen dafür, dass sich die<br />
Zellen nur so viel teilen, wie es nötig ist.<br />
Von großem Interesse war eine amerikanische Studie, in<br />
der die Autoren zeigen konnten, dass die aktuell<br />
verfügbare Telomerlänge unmittelbar mit der<br />
Lebenserwartung zusammenhängt. Die Autoren haben<br />
dabei 143 Blutspender aus Utah mit einem Alter von 60–<br />
97 Jahren untersucht, die zwischen 1982 und 1986 Blut<br />
gespendet hatten. Die Geburts- und ggfs. Sterbedaten<br />
der Blutspender wurden ermittelt und mit der<br />
Telomerlänge der DNA der Blutzellen zum Zeitpunkt der<br />
Spende korreliert. Die Spender wurden dabei in sechs<br />
Altersgruppen eingeteilt. Die Untersuchungen konnten<br />
eine statistisch relevante umgekehrte Korrelation<br />
zwischen Telomerlänge und Alter des Individuums<br />
zeigen. Ältere Spender hatten also nachweisbar kürzere<br />
Telomere. [2]<br />
Nicht jede menschliche Zelle ist jedoch samt ihrer<br />
Tochterzellen zum Altern und Sterben verurteilt. Zellen<br />
verschiedener adulter Gewebe, wie die Stammzellen<br />
der Haut oder die Keimzellen, aber auch Tumorzellen<br />
können mit maximaler Geschwindigkeit proliferieren,<br />
Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />
ohne diese kritische Telomerlänge zu erreichen. Es muss<br />
also ein Mechanismus existieren, der der<br />
Telomerverkürzung entgegenwirkt. Dieser findet sich in<br />
einem Enzym, der so genannten Telomerase, die die<br />
Chromosomenenden verlängern kann. Diese spezifische<br />
reverse Transkriptase ist in der Lage, die Länge der<br />
Telomeren konstant zu halten und ist damit Voraussetzung<br />
für die unbegrenzte Teilungsfähigkeit immortaler Zellen.<br />
Telomeraseaktivität konnte in immortalisierten Zelllinien<br />
und in 85% maligner Tumoren (!) nachgewiesen werden.<br />
Somit scheint die Reaktivierung der Telomerase ein<br />
wichtiger Schritt bei der Immortalisierung von Zellen und<br />
bei der malignen Entartung zu sein. Es ist wahrscheinlich,<br />
dass der Nachweis der Telomeraseaktivität in einem<br />
Tumor eine diagnostische Relevanz als Tumormarker<br />
erlangen könnte. [5][6]<br />
2.2 Sauerstoffradikale<br />
Altern aus biologischer Sicht<br />
28<br />
Nach Abschluss der Zellteilungsphase gehen die Zellen<br />
in einen postmitotischen 18 Zustand über. Sie dienen dann<br />
der Organerhaltung und führen die ihnen vom<br />
Organismus zugedachte Aufgabe aus. Dieser Zustand<br />
kann viele Jahre andauern. In dieser Zeit wirken eine<br />
Vielzahl exogener und endogener Reize und Noxen auf<br />
die Zelle ein. Diese werden gegenwärtig als<br />
Mechanismen der postreplikativen Seneszenz 19 (als<br />
Unterschied zu der oben besprochenen replikativen<br />
Seneszenz) diskutiert. Hierbei kommen neben genetisch<br />
determinierten (erblichen) Faktoren v.a. körpereigene<br />
Substanzen und Umwelteinflüsse in Betracht. In diesem<br />
Zusammenhang kommen chemische, physikalische und<br />
biologische Substanzen in Frage. [3]<br />
Die bekannteste Theorie, die der Zelle zugeführten Reize<br />
berücksichtigt ist die Theorie der freien<br />
Sauerstoffradikalen. Sie besagt, dass die meisten<br />
altersbedingten Veränderungen in Zellen auf<br />
molekularen Schäden beruhen, die durch freie Radikale<br />
verursacht werden. Freie Radikale oder<br />
Sauerstoffradikale (ROS) sind Moleküle, die ein<br />
unpaariges Elektron in ihrer äußeren Schale aufweisen.<br />
Kleine Mengen an ROS werden spontan bei<br />
Redoxprozessen wie der Phosphorylierung in<br />
Mitochondrien und der Oxidation von Fettsäuren<br />
freigesetzt. Durch Strahleneinwirkungen, bestimmte<br />
Chemikalien oder bei schweren Infekten kann die<br />
<strong>Pro</strong>duktion von ROS signifikant erhöht sein. Da freie<br />
Radikale aufgrund der singulären Elektronen extrem<br />
reaktiv sind, können durch eine vermehrte Bildung von<br />
ROS unkontrollierte Kettenreaktionen ausgelöst werden,<br />
die zu schweren strukturellen Schäden des jeweiligen<br />
Reaktionspartners führen können. Besonders sensibel für<br />
ROS- vermittelte Schäden sind dabei Nukleinsäuren,<br />
Phospholipide und <strong>Pro</strong>teine. Die Oxidation nukleärer und<br />
mitochondrialer DNA (siehe unten) kann daher zu<br />
Mutationen und Störungen der <strong>Pro</strong>teinsynthese und so<br />
letztlich zum Zelltod führen. Die Kapazität der<br />
Reparaturenzyme (die sich um die ROS kümmern und<br />
sie beseitigen) ist allerdings begrenzt und nimmt mit<br />
zunehmendem Alter ab. Die <strong>Pro</strong>duktion freier Radikale<br />
in verschiedenen Organgeweben, wie Herz, Niere und<br />
Leber, in einigen Säugetieren ist umgekehrt proportional<br />
zur maximalen Lebenserwartung, wobei die individuelle<br />
Aktivität der antioxidativen Enzyme unterschiedlich sein<br />
kann.<br />
Im Menschen finden sich in epidemiologische Studien, die<br />
eine Zuführung von Antioxidanzien untersucht haben,<br />
Hinweise, dass diese möglicherweise zu einem verminderten<br />
Auftreten bestimmter altersbedingter Krankheiten wie<br />
kardiovaskuläre Erkrankungen, vaskuläre Demenz und dem<br />
Auftreten von Neoplasien führt. [2]
2.3 Mitochondrien<br />
Mitochondrien sind Bestandteile der Zellen, ihre Aufgabe<br />
liegt vor allem in Energieerzeugung für alle Vorgänge,<br />
die Energie verbrauchen. Sie „verbrennen“ Sauerstoff<br />
und Glukose, wobei das energiereiche Endprodukt, das<br />
ATP 20 , dann das Mitochondrium verlässt. Die<br />
Mitochondrien besitzen ein eigenes Genom (die<br />
mitochondriale DNA – sie ist abzugrenzen von der<br />
„großen“ DNA, die sich im Zellkern, in Chromosomen<br />
verpackt, befindet), wo die mitochondriale Bestandteile<br />
kodiert sind.<br />
Die Integrität der Mitochondrien, scheint im Alter reduziert<br />
zu sein. Hierbei können bei zellulärer Seneszenz im<br />
Mitochondriengenom zunehmende Verluste genetischen<br />
Materials sowie Strangbrüche beobachtet werden. Als<br />
Ursache wird vornehmlich oxidativer Stress<br />
angenommen. [3]<br />
Die mitochondriale Alterungstheorie fußt auf der<br />
Annahme, das reaktive Sauerstoffverbindungen und freie<br />
Radikale (siehe oben), die in der unmittelbaren<br />
Umgebung der Atmungskette 21 während des Lebens<br />
eines Organismus in den Mitochondrien gebildet werden<br />
die mitochondriale DNA schädigen.<br />
Der Alterungsprozess der Mitochondrien führt zu einer<br />
steten Abnahme der Zell-, Gewebe und Organfunktion<br />
und betrifft besonders energieabhängige postmitotische<br />
Gewebe wie Skelettmuskel, Gehirn und Herz. [7][1]<br />
2.4 <strong>Pro</strong>teine<br />
<strong>Pro</strong>teine werden mit ihrer Synthese „geboren“, sie<br />
„sterben“ durch <strong>Pro</strong>teolyse 22 bzw. Degradation. Während<br />
ihrer Lebensspanne können diverse molekulare<br />
Veränderungen auftreten. Mindestens 140 verschiedene<br />
post-translationale 23 <strong>Pro</strong>teinmodifikationen wurden<br />
bereits beschrieben.<br />
Die meisten der <strong>Pro</strong>teinveränderungen sind biologische<br />
Werkzeuge zur Regulation der <strong>Pro</strong>teinfunktion. Posttranslationale<br />
<strong>Pro</strong>teinveränderungen können aber auch<br />
Manifestationen einer <strong>Pro</strong>teinalterung mit<br />
pathophysiologisch relevanten Folgen sein. Sie können<br />
zu einer Akkumulation „abnormer“ <strong>Pro</strong>teine mit<br />
zunehmendem Alter führen, möglicherweise auch mit der<br />
Folge von Funktionsstörungen und Krankheit. Die in<br />
diesem Zusammenhang am häufigsten diskutierten<br />
<strong>Pro</strong>teinveränderungen sind Oxidation, Glykosylierung,<br />
Deamidierung, Razemisierung und Isomerisierung. Alle<br />
diese Modifikationen sind das Ergebnis spontaner, nichtenzymatischer<br />
<strong>Pro</strong>zesse, die zu einer Akkumulation<br />
veränderter <strong>Pro</strong>teine mit dem Alter führen. [8]<br />
Dabei scheint die nicht enzymatische Reaktion von<br />
Zuckern mit <strong>Pro</strong>teinen, und die entstehenden sog.<br />
„Advanced Glycation Endproducts – AGEs“ eine zentrale<br />
Rolle zu spielen. AGEs reichern sich im Laufe des Lebens<br />
an und ihre <strong>Pro</strong>duktion kann die Funktionalität der<br />
<strong>Pro</strong>teine und letztendlich der Gewebe stören. AGEs<br />
können <strong>Pro</strong>teine quervernetzen und so zur<br />
Gewebeversteifung, z.B. der Aorta, im Alter ursächlich<br />
beitragen. Es sind jetzt Medikamente entwickelt worden,<br />
die diese Quervernetzungen brechen (AGE-Crosslinkbreaker)<br />
und die auf diese Weise die Herz- und<br />
Gefäßfunktion verbessern konnten – d.h. man konnte das<br />
Herz sozusagen verjüngen. [1]<br />
Die meisten, wenn nicht gar alle, Reparatursysteme sind<br />
abhängig von intrazellulären 24 Enzymen; Modifikationen<br />
extrazellulärer 25 <strong>Pro</strong>teine können durch sie nicht korrigiert<br />
werden. Wenn kein Reparatursystem zur Verfügung steht,<br />
hängt die Bedeutung der <strong>Pro</strong>teinveränderungen im<br />
Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />
Wesentlichen von der <strong>Pro</strong>teinumsatzrate ab. <strong>Pro</strong>teine mit<br />
hohem Umsatz werden ausgetauscht, bevor posttranslationale<br />
Modifikationen relevant werden können.<br />
Mit zunehmender Halbwertszeit 26 steigt das Risiko einer<br />
<strong>Pro</strong>teinschädigung durch Alterung. Die am meisten<br />
betroffenen <strong>Pro</strong>teine sind permanente <strong>Pro</strong>teine, die früh<br />
synthetisiert und dann nicht mehr ausgetauscht werden.<br />
Die Daten wurden aber auch für diverse andere<br />
Gewebe erhoben, wie beispielsweise für die Media 27<br />
verschiedener Arterien für Organkapseln und<br />
Lungenparenchym. Ein Nachweis relevanter<br />
Konzentrationen permanenter <strong>Pro</strong>teine wurde in<br />
zahlreichen weiteren Geweben festgestellt,<br />
beispielsweise in Zahnschmelz und -zement, in Knorpel,<br />
Knochen und der weißen Hirnsubstanz. Diese Daten<br />
beweisen, dass verschiedenste Gewebe signifikante<br />
Konzentrationen permanenter, alternder <strong>Pro</strong>teine<br />
enthalten. [8]<br />
2.5 Andere Mechanismen<br />
Viele Studien zeigen einen Anstieg von<br />
proinflammatorischen Zytokinen mit dem Alter. Diese<br />
sind chemische Botenstoffe, die im Körper zirkulieren und<br />
eine Entzündung fördern und aufrechterhalten können.<br />
Man findet eine Aktivierung des unspezifischen<br />
Immunsystems (z.B. der Monozyten) und eine Reduktion<br />
der Funktionalität des spezifischen Immunsystems (z.B.<br />
der T-Zellen). Diese Veränderungen wichtiger Zellen der<br />
Immunabwehr mit dem Alter ist schon oft beschrieben<br />
worden. Interessanterweise ist das Immunsystem direkt<br />
über das autonome Nervensystem mit der Regulation<br />
der Herzfrequenzvariabilität mit dem kardiovaskulären<br />
System verbunden. Damit ergibt sich die neue<br />
Möglichkeit, durch direkte Intervention in die<br />
Inflammationslast, z.B. durch regelmäßige Impfung,<br />
Einfluss auf das Altern des Herzens zu nehmen. [1]<br />
Bei wechselwarmen Tieren ist bekannt, dass eine<br />
Verringerung der Umgebungstemperatur und Reduktion<br />
der körperlichen Aktivität zu einer längeren<br />
Lebenserwartung beitragen. Dies lässt sich auch bei<br />
Insekten beobachten. Eine Erniedrigung der<br />
Umgebungstemperatur um 10% oder eine künstliche<br />
Herabsetzung der Flugfähigkeit von Drosophila<br />
melanogaster kann zu einer Lebensverlängerung von<br />
bis zu 250% führen. Es wird angenommen, dass<br />
entscheidende Faktoren die Reduktion des<br />
Grundumsatzes und dadurch auch eine<br />
Aktivitätserniedrigung freier Radikale sind, welche eine<br />
Reduzierung an DNA- und <strong>Pro</strong>teinschäden zur Folge<br />
haben. [2]<br />
Neue Studien belegen, dass asketische Lebensweise bei<br />
ständiger Schmalkost die durchschnittliche<br />
Lebenserwartung verlängern, bei der Fliege Drosophila<br />
und der Maus ebenso wie beim Menschen. Anders als<br />
erwartet, bewirkt viel anstrengende körperliche Aktivität<br />
nicht ein Hinauszögern des Alterns, sonder dessen<br />
Beschleunigung. Gegenwärtige Hypothesen bringen<br />
dies alles mit mitochondrialen Funktionen in Verbindung.<br />
Wenn die mitochondriale Atmungskette bei hoher<br />
Nahrungszufuhr und hohem ATP-Bedarf auf Hochtouren<br />
läuft, entstehen als unvermeidliche Nebenprodukte<br />
auch mehr aktive Sauerstoffverbindungen, und diese<br />
wirken schädigend auf die Zelle. [9]<br />
3. TOD<br />
Altern aus biologischer Sicht<br />
29<br />
Alterung führt zum Tod. Nicht nur zum Tod der Zelle<br />
sonder auch eines Zellenverbandes oder eines<br />
mehrzelligen Organismus.<br />
Ein Einzeller, eine Amöbe zum Beispiel, nimmt bei gutem<br />
Nahrungsangebot an Masse zu und teilt sich in zwei
Zellen (eine Vorstellung von dem <strong>Pro</strong>zess der Mitose<br />
bietet die Abbildung 1). Bedeutet die Teilung aber das<br />
Ende des individuellen Lebens? Kann man sagen, dass<br />
es sich um Tod handelt? Eine Leiche bleibt jedenfalls<br />
nicht zurück. Üblicherweise spricht man in diesem Fall<br />
von einer potentiellen Immortalität – nur<br />
Gefressenwerden, Befall durch Parasiten oder Schaden<br />
von der Außenwelt setzten dem Leben des Einzellers ein<br />
Ende, nicht aber natürliches Altern.<br />
Tod ist eine Phänomen, das die Zellen eines Vielzeller<br />
(wie z.B. Menschen) erfasst. Aber auch hier gibt es<br />
Ausnahmen: In Zellkultur gehaltene Zellen vom<br />
Menschen sind oftmals potentiell immortal<br />
(Telomeraseaktivität in Stamm- oder Tumorzellen: siehe<br />
oben). Nur deshalb lassen sich solche Zellen über<br />
Jahrzehnte am Leben erhalten und vermehren. Und der<br />
Süßwasser Polyp Hydra ist als Ganzes potentiell immortal<br />
– seine Zellen sterben sehr wohl alle ab, aber jede<br />
sterbende Zelle wird durch eine neu geborene ersetzt.<br />
Die Lebensspanne der Säuger ist augenscheinlich mit<br />
ihrer Körpergröße korreliert. Kleine Lebewesen, die viel<br />
Energie umsetzen, deren Stoffwechsel mit hoher<br />
Geschwindigkeit abläuft und deren Herz entsprechend<br />
schnell schlägt, erreichen früher ihr Lebensende als<br />
große Tiere. Unter den Primaten ist der Homo sapiens<br />
mit 95 Jahren (Artspezifische maximale Lebensspanne)<br />
der Rekordhalter und gehört zu den langlebigsten<br />
Lebewesen überhaupt.<br />
Das Altern und der Tod hat eine wichtige biologische<br />
Bedeutung – Lebewesen sollen ihren Nachfahren,<br />
Menschen ihren Kindern Platz machen. Zwar ist der<br />
Süßwasser Polyp Hydra potentiell immortal, kennt aber<br />
die verblüffende Vorteile der sexuellen Fortpflanzung<br />
nicht. Sie ermöglicht nämlich vielfältige Rekombination<br />
der allelischen Varianten. Sexuelle Fortpflanzung<br />
ermöglicht es den Lebewesen, der Natur immer neue<br />
Varianten zur Selektion anzubieten, fördert Anpassung<br />
an veränderte Umweltgegebenheiten (Teilaspekt der<br />
Evolution). Der Tod schafft somit Raum für neues Leben,<br />
neu nicht nur im Sinne von erneut, sondern auch im Sinn<br />
von neuartig. Eine unaufhörliche Sequenz von Tod und<br />
Geburt hat in der Evolution den Menschen<br />
hervorgebracht. [9]<br />
4. BEGRIFFSERKLÄRUNG<br />
1 Die Biogerontologie (gr. bios „Leben“, gerMn „Greis“,<br />
logos „Lehre“) ist das Teilgebiet der Entwicklungsbiologie,<br />
das sich mit der Erforschung der Ursachen biologischen<br />
Alterns und deren Folgen, der Seneszenz (lat. senescere<br />
„alt werden“) von Einzelzellen und Organismen<br />
beschäftigt.<br />
2 Seneszenz v. lat. Altwerden, Altern.<br />
3 Zellulären Seneszenz ist ein genetisch festgelegtes<br />
<strong>Pro</strong>gramm, welches in nahezu allen Körperzellen<br />
(ausgenommen Keimbahn- und Stammzellen) nach<br />
Ablauf einer begrenzten Zellteilungkapazität oder nach<br />
irreparablen Erbgutschäden aktiviert wird und weitere<br />
Zellteilungen verhindert.<br />
4 Multizellulär - aus vielen Zellen bestehend<br />
5 Replikativen Seneszenz - Alterung und schließlich<br />
Zelltod nach Verlust der Kapazität für Zellteilung; bei<br />
menschlichen Fibroblasten in Zellkultur nach ca. 50<br />
Teilungszyklen; nach Entdecker auch Hayflicksches Limit<br />
genannt<br />
6 Mitose - Kernteilungsvorgang, bei dem aus einem<br />
Zellkern zwei Tochterkerne gebildet werden, die gleiches<br />
Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />
(mit dem Ausgangsmaterial identisches) Genmaterial<br />
und die gleiche Chromosomenzahl haben.<br />
7 Unter Zellproliferation versteht man die Zellteilung, wobei<br />
die Zellproliferationsrate ein Maß für die<br />
Teilungsgeschwindigkeit der Zellen ist. Deren<br />
Veränderung kann als Indiz für eine schädliche<br />
Beeinflussung gelten, z. B. in Richtung einer<br />
Tumorentstehung bzw. –entwicklung<br />
8 Kernlamina, die auf der Innenseite der Kernhülle<br />
befindliche 20 - 50 nm dicke <strong>Pro</strong>teinschicht, die mit dem<br />
Chromatin interagiert. Die K. ist aus zu den<br />
Intermediärfilamenten gehörenden Lamininen<br />
aufgebaut. Während der Mitose ist die K. am Auf- und<br />
Abbau der Kernhülle beteiligt.<br />
9 Alopezie - Haarverlust<br />
Altern aus biologischer Sicht<br />
30<br />
10 Unter Arteriosklerose versteht man eine<br />
Systemerkrankung der Schlagadern (Arterien), die zu<br />
Ablagerungen von Blutfetten, Thromben, Bindegewebe<br />
und Kalk in den Gefäßwänden führt. Wörtlich übersetzt<br />
heißt Arteriosklerose bindegewebige Verhärtung der<br />
Schlagadern. Der ansonsten synonym gebrauchte Begriff<br />
Atherosklerose betont die histologischen<br />
Veränderungen, die der Arteriosklerose zugrunde liegen,<br />
d.h. die sich chronisch entwickelnden herdförmigen<br />
Veränderungen der mesenchymalen Zellen der inneren<br />
Gefäßwand (Intima) und der inneren Schichten der<br />
mittleren Gefäßwand (Media). Sie werden häufig auch<br />
als Plaques bezeichnet.<br />
11 Hypogonadismus - Unterfunktion der Keimdrüsen<br />
(Gonaden). Hierbei kann sowohl die Hormonfunktion als<br />
auch die Fortpflanzungsfunktion betroffen sein.<br />
12 Fibroblasten sind die Hauptzellen des Bindegewebes.<br />
13 G/C- reichen Sequenzen – Abschnitte der DNA, die<br />
reich an Nukleinbasen Guanin und Cytosin sind.<br />
14 TTAGGG – Kurz DNA-Abschnit, der Thymin, Adenin und<br />
Guanin beinhaltet.<br />
15 Replikation - Verdopplung der DNA in der S-Phase des<br />
Zellzyklus (Interphase)<br />
16 Schwesterchromatiden - die während der Replikation<br />
in der S-Phase des Zellzyklus entstandenen identischen<br />
Kopien der Chromatiden. Sie garantieren, dass während<br />
der Zellteilung normalerweise beide Tochterzellen eine<br />
Chromatide eines jeden Chromosoms enthält.<br />
17 Metaphasenchromosome – Chromosome, die sich in<br />
der Metaphase (Phase der Mitose) befinden. In der<br />
Metaphase sind sie kompakt und leicht mikroskopisch<br />
darstellbar. Metaphasenchromosome sind verdoppelt<br />
und formen ein „X“<br />
18 Postmitotisch – der Mitose folgend.<br />
19 Postreplikative Seneszenz – Seneszenz, die nach der<br />
replikativen Phase eintritt.<br />
20 Adenosintriphosphat (ATP) ist ein Nucleotid, bestehend<br />
aus dem Triphosphat des Nucleosids Adenosin ATP ist<br />
auch die universelle Form unmittelbar verfügbarer<br />
Energie in jeder Zelle und gleichzeitig ein wichtiger<br />
Regulator energieliefernder <strong>Pro</strong>zesse. ATP kann aus<br />
Energiespeichern (Glykogen, Kreatin-Phosphat) bei<br />
Bedarf freigesetzt werden.<br />
21 Die Atmungskette ist der letzte Schritt des Glucose-<br />
Abbaus. In der Glycolyse wird die Glucose in zwei
Moleküle Pyruvat zerlegt, dabei werden 2 ATP pro<br />
Glucose-Molekül gewonnen. Im Anschluss daran findet<br />
der Citratzyklus statt. Hier frei werdende Energie wird zur<br />
Gewinnung von ATP eingesetzt, welches dann das<br />
eigentliche Endprodukt des Glucose-Abbaus ist.<br />
22 <strong>Pro</strong>teolyse - von griechisch: lysis – Auflösung. Als<br />
<strong>Pro</strong>teolyse bezeichnet man den Abbau von <strong>Pro</strong>teinen.<br />
23 Posttranslationale <strong>Pro</strong>teinmodifikationen sind<br />
Veränderungen von <strong>Pro</strong>teinen, die nach der Translation,<br />
also nach der definitiven <strong>Pro</strong>teinsynthese stattfinden.<br />
24 Intrazellulär – innerhalb der Zelle sich befindend<br />
25 Extrazellulärer – außerhalb der Zelle sich befindend<br />
26 Als Halbwertszeit wird diejenige Zeitspanne bezeichnet,<br />
in der die Konzentrateion eines in einem System<br />
vorkommenden Stoffes auf die Hälfte abgesunken ist.<br />
27 Die Tunica media ist eine Schicht aus glatten<br />
Muskelzellen, die das Blut- und in geringem Maße auch<br />
das Lymphgefäßsystem umgibt.<br />
Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />
Literatur<br />
[1] Meißner C, Simm A. Mechanismen des Alterns aus biogerontologischer<br />
Sicht. Z Gerontol Geriat 2007; 40:311-313.<br />
[2] Nikolaus S, Schreiber S. Molekulare Mechanismen für die Kontrolle der<br />
Lebenserwartung. Dtsch Med Wochenschr 2004;129:903–907<br />
[3] Battmann A, Schulz A, Stahl U. Zelluläre Seneszenz – ein Mechanismus<br />
der Osteoporoseentstehung? Orthopäde 2001; 30:405-411<br />
[4] Brinckmann J. Hereditäre Erkrankungen. Dermatologie und<br />
Venerologie. Springer Berlin Heidelberg 2005: p 655.<br />
[5] Schneider-Stock R, Boltze C, Roessner A. Telomerase und neue Aspekte<br />
in der Tumorbiologie. Pathologe 2002; 23:177-182.<br />
[6] Dahse R, Fiedler W, Ernst G. Telomere und Telomerase. Pathologe 1997;<br />
18:425-429.<br />
[7] Meißner C. Mutations of mitochondrial DNA – cause or consequence<br />
of the ageing process? Z Gerontol Geriat 2007; 40:325-333.<br />
[8] Ritz-Timme S. Altern auf molekularer Ebene am Beispiel der <strong>Pro</strong>teine. Z<br />
Gerontol Geriat 2001; 34:452-456.<br />
[9] Entwicklungsbiologie und Reproduktionsbiologie von Mensch und<br />
Tieren. Springer Berlin Heidelberg 2006: pp 647-656.<br />
Abbildung 1. Mitotische Zellteilung.<br />
Die meisten menschlichen Zellen unterliegen einer<br />
replikativen Seneszenz. In dieser Abbildung wird ein<br />
Modell der mitotischen Zellteilung dargestellt, wobei<br />
die letzte, achtzigste Generation die Letzte ist. Nach<br />
dieser kommt es zu keiner Zellteilung mehr, die<br />
Zellpopulation stirbt ab.<br />
Altern aus biologischer Sicht<br />
31
Erdgeschichte, Evolution und Lebenszeit<br />
Abbildung 2. <strong>Pro</strong>geria infantium (Hutchinson-Gilford-Syndrom)<br />
Die Erkrankung ist sehr selten. Die Inzidenz wird auf 1:4–1:8 Millionen<br />
Geburten geschätzt. Der Erbgang ist unklar, da die Patienten kinderlos<br />
bleiben.<br />
Es konnte eine De-novo-Mutation im Gen für Lamin-A auf Chromosom<br />
1q21.2 nachgewiesen werden, einem <strong>Pro</strong>tein der Kernlamina 8, die sich<br />
an der Innenseite der Kernmembran befindet. In Zellkultur zeigen<br />
Fibroblasten von <strong>Pro</strong>geriepatienten eine verminderte Mitoserate und<br />
DNA-Synthese.<br />
Schon in den ersten Lebensmonaten setzt hochgradige Vergreisung ein.<br />
Es besteht ein proportionierter Zwergwuchs. Typisch ist das greisenhafte<br />
Aussehen durch stark atrophische Altershaut mit verstärkter<br />
Venenzeichnung. Die Haut wird dünn, glänzend und ist straff gespannt.<br />
Im Verlauf tritt eine generalisierte Alopezie 9 auf. Zu den systemischen<br />
Zeichen gehören Osteoporose mit gehäuften Frakturen,<br />
Skelettanomalien, progressive Atherosklerose 10 und Hypogonadismus 11.<br />
Die geistige Entwicklung ist häufig normal.<br />
Die Patienten versterben in der Regel in der 2. Lebensdekade, 90% an<br />
den Folgen einer progressiven Atherosklerose der Koronarien und der<br />
Zerebralarterien.<br />
Eine spezifische Behandlung existiert nicht, das Hauptaugenmerk liegt<br />
auf der symptomatischen Therapie. [4]<br />
Quelle: http://www.mactonnies.com/progtyp.jpg<br />
Abbildung 3. Theorie des Telomerverlustes.<br />
Die Abbildung stellt drei Metaphasenchromosome 17 drei<br />
aufeinender folgenden Generationen dar. Die Anzahl der<br />
Telomere wird nummeriert.<br />
Telomere setzen sich aus einer DNA-Komponente und<br />
verschiedenen <strong>Pro</strong>teinen zusammen. Die DNA der Telomere<br />
besteht aus sich wiederholenden Nukleotidbaseneinheiten,<br />
wobei die exakte Sequenz dieser „repeats“ und ihre Länge<br />
von Spezies zu Spezies variieren. Während jeder Zellteilung<br />
geht an allen Chromo-somenenden eine geringe Menge an<br />
DNA-Sequenzen verloren. Dieses Phänomen ist auf die<br />
Eigenschaften der DNA-Replikationsmaschinerie<br />
zurückzuführen und wird auch als Endreplikationsproblem<br />
bezeichnet.<br />
Humane Fibroblasten verlieren in vitro ca. 50–200 bp ihrer Telomersequenzen pro Verdopplung der Zellpopulation.<br />
Dies entspricht einem Invivo- Verlust von 15–50 bp pro Jahr. [6]<br />
Peter Siska, geb. am 08. September 1983 in Bratislava studiert Humanmedizin an der Medizinischen Universität Wien. Seine<br />
Diplomarbeit beschäftigt sich mit der Erforschung der Wirkung neuer Krebsmedikamente alleine oder in Kombination mit<br />
konventionellen Zytostatika. Er ist seit 2007 im Förderprogramm von PRO SCIENTIA.<br />
Altern aus biologischer Sicht<br />
32
Zeit in Theologie und<br />
Philosophie:<br />
Von der Alltäglichkeit<br />
zur Apokalypse
In diesem Aufsatz möchte ich das Denken Karl Rahners,<br />
eines der wichtigsten Theologen des 20. Jahrhunderts,<br />
auf das Thema Zeit hin untersuchen. Nach einem kurzen<br />
Blick auf seine Biographie und auf einige Charakteristika<br />
seines Denkens greife ich ein Grundthema seiner<br />
Theologie auf: Ich versuche, sein Modell der<br />
transzendentalen Erfahrung Gottes nachzuzeichnen.<br />
Mit diesem Modell wird eine Erfahrbarkeit Gottes mitten<br />
in der Welt, in Geschichte, in der Kategorie von Zeit<br />
postuliert (auch wenn die ungeschichtliche Begrifflichkeit<br />
dieser transzendentalen Methodik genau das Gegenteil<br />
vermuten lässt). Ein abschließender Punkt ist dem<br />
Verhältnis von Zeit und Ewigkeit bzw. der Erfahrbarkeit<br />
von Ewigkeit in Zeit gewidmet.<br />
1. BIOGRAPHIE: EIN ALLTÄGLICHES LEBEN<br />
An Karl Rahners Biographie fällt auf, dass sie trotz seiner<br />
Berühmtheit nur wenig von einschneidenden Ereignissen<br />
geprägt ist. Herausragend erscheint zwar vor allem seine<br />
Teilnahme am Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965)<br />
– sieht man genau hin, merkt man aber an seinen<br />
späteren Berichten über diese Erfahrung, dass selbst<br />
solch ein außergewöhnliches Ereignis nur ein kurzer<br />
Moment in einem Leben war, das allerdings für den<br />
Menschen Karl Rahner durchaus ‚gewöhnlich und<br />
alltäglich’ verlief. Und so kann man etwa in dem Buch<br />
Karl Rahner begegnen folgendes Urteil lesen: „Den Stoff<br />
für einen packenden Spielfilm scheint Karl Rahners<br />
Lebensverlauf nicht herzugeben; zu gewöhnlich und<br />
alltäglich verstrichen die Jahre dieses Jesuiten.“ 1<br />
Dem entspricht auch eine Aussage Rahners, die er 1978<br />
als 75-jähriger im Rückblick auf sein Leben tätigte: „Ich<br />
weiß nicht, ob ich große Wendepunkte in meinem Leben<br />
gehabt habe oder ob der Bach oder der Fluß dieses<br />
Lebens mehr oder minder immer in der gleichen<br />
Richtung geflossen ist“ 2 .<br />
Geboren wurde Karl Erich Rahner – so sein voller Name<br />
– am 5. März 1904 in Freiburg im Breisgau, wo er „in einer<br />
normalen, auch christlich frommen, an harte Arbeit<br />
gewöhnten Familie“ 3 aufwuchs. Gleich nach dem<br />
Abitur, im Alter von 18 Jahren, entschied er sich dazu,<br />
ins Noviziat der Jesuiten in Vorarlberg einzutreten. Nach<br />
dem Studium der Theologie und der Philosophie startete<br />
er seine universitäre Laufbahn zunächst in Innsbruck als<br />
Dozent für Dogmatik, doch ließen es die Zeitumstände<br />
nicht zu, dass er besonders vertraut mit dem Lehrbetrieb<br />
werden konnte: Als Österreich 1938 an das Deutsche<br />
Reich angeschlossen wurde, begann die Demontage<br />
der Theologischen Fakultät in Innsbruck, die in einem<br />
‚Gauverbot’ für die Jesuiten gipfelte. Karl Rahner musste<br />
Tirol verlassen und wirkte während der Kriegsjahre als<br />
Seelsorger in Wien.<br />
In den wissenschaftlichen Lehrbetrieb konnte er sich erst<br />
ab 1945 wieder einbringen, und mit seiner Berufung an<br />
die wiedererrichtete Innsbrucker Fakultät im Jahre 1949<br />
begann schließlich die schaffensreichste Zeit in seinem<br />
Leben, in der er „mit einer kaum vorstellbaren<br />
Arbeitsintensität und einer großen Beweglichkeit in<br />
Europa Impulse gab, Initiativen ergriff und sein<br />
bescheidenes Arbeits- und Schlafzimmer in der<br />
Innsbrucker Sillgasse in eine <strong>Pro</strong>duktionsstätte<br />
ohnegleichen verwandelte.“ 4<br />
Der Höhepunkt dieser theologischen Schaffensphase ist<br />
wohl in der schon erwähnten Teilnahme Rahners am<br />
Zweiten Vatikanischen Konzil zu sehen. Als Konzilsberater<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Katharina Zimmerbauer<br />
Die Entdeckung der Alltäglichkeit.<br />
Das Phänomen der Zeit in der Theologie Karl Rahners<br />
Die Entdeckung der Alltäglichkeit<br />
34<br />
Kardinal Franz Königs und ‚Peritus’ (Konzilssachverständiger)<br />
konnte er direkt an entscheidender Stelle<br />
mitarbeiten. 5<br />
Die Bibliographie des unermüdlich für Theologie und<br />
Kirche im Einsatz stehenden Theologen wuchs im Lauf<br />
der Jahre auf über 4000 Veröffentlichungen zu den<br />
unterschiedlichsten Themen an. Als <strong>Pro</strong>fessor war er<br />
später in München und Münster tätig, nach seiner<br />
Emeritierung im Jahr 1971 zog es ihn zurück nach<br />
Innsbruck, wo er seinen Ruhestand (der eigentlich ein<br />
„Unruhestand“ 6 blieb) verbrachte, und wo er am 30. März<br />
1984 im Alter von 80 Jahren verstarb.<br />
2. THEOLOGIE: LEBENSGESCHICHTLICHE DOGMATIK DER<br />
EINFACHEN RELIGIÖSEN ERFAHRUNGEN DES ALLTAGS<br />
Über Karl Rahners Art, Theologie zu treiben, lässt sich viel<br />
Wichtiges sagen. Im Rahmen dieses Aufsatzes sind zwei<br />
Aspekte besonders wichtig:<br />
Zum einen, dass er nicht abgehobene theologische<br />
Denkgebäude errichtete, sondern meist von konkreten<br />
Fragen ausging, die das Leben, die Menschen um ihn<br />
herum an ihn herantrugen. Ganz einfache,<br />
„kinderschwere“ 7 Fragen waren dies, die er an die oftmals<br />
begrifflich erstarrte Schultheologie seiner Zeit herantrug,<br />
so dass er deren verkrustete Denkmuster aufsprengen<br />
konnte.<br />
Diese Methode beherrschte er so meisterhaft, dass<br />
Johann Baptist Metz, ein Schüler Rahners, von dessen<br />
besonderer Fähigkeit schreibt, „Traditionen auf eine<br />
nichttraditionalistische Art zu retten“ 8 – dies sei seine<br />
besondere „Kunst zu erben“ 9 .<br />
Metz stellt weiters fest, dass Rahner, indem er von solchen<br />
alltäglichen Fragen ausging, die religiösen Bedürfnisse<br />
vieler Menschen erraten habe, die sich sonst selten oder<br />
nie in der offiziellen Lehre direkt angesprochen fühlen.<br />
Rahner habe so den Menschen das Gefühl gegeben, in<br />
seiner Theologie „buchstabiert und in seiner [= des<br />
jeweiligen Menschen] ihm selbst zumeist verborgenen<br />
Mystik erraten zu sein“ 10 .<br />
Warum sich viele Menschen so sehr in seinen Texten<br />
wiederfinden konnten, trotz der oft sperrigen Sprache,<br />
das mag an einer weiteren Eigenart der Rahnerschen<br />
Theologie liegen: Metz bezeichnet diese als „die<br />
lebensgeschichtlich angelegte Dogmatik des einfachen,<br />
ich wage zu sagen: des durchschnittlichen<br />
Christenmenschen – die mystische Biographie eines<br />
undramatischen Lebens, ohne große Wandlungen und<br />
Wendungen, ohne besondere Erleuchtungen und<br />
Konversionen.“ 11<br />
Rahner nahm den hier anklingenden Umstand der<br />
Monotonie seines Lebens und seines Glaubensweges<br />
nicht etwa einfach traurig zur Kenntnis, sondern<br />
entwickelte gerade aus dieser Gewöhnlichkeit seines<br />
Gebetslebens heraus eine tiefe Spiritualität des Gebetes<br />
im Alltag – und er ließ diese Alltäglichkeit, wenn auch<br />
implizit, in seine Theologie einfließen. Er trieb Theologie<br />
„ohne Vulgarisierungsangst, ohne Berührungsangst<br />
gegenüber dem alltäglichen, langweiligen, fast<br />
monomanen Leben und seinen kaum entzifferbaren<br />
religiösen Erfahrungen und Aufschwüngen. Rahners<br />
leidenschaftlicher Versuch, Schultheologie, gewöhnliche<br />
Theologie für alle zu treiben – ‚und sonst nichts’, hat seine<br />
genaue Entsprechung in der Absicht, die religiöse
Lebensgeschichte des Alltagschristen, gewissermaßen<br />
des Volkes dogmatisch ins Spiel zu bringen.“ 12<br />
3. TRANSZENDENTALE GOTTESERFAHRUNG:<br />
DIE ENTDECKUNG DER ALLTÄGLICHKEIT<br />
Im letzten Zitat war die Rede von den „religiösen<br />
Erfahrungen“ des Alltaglebens – und damit sind wir bei<br />
einem Herzensanliegen Karl Rahners angelangt. Er<br />
versuchte zu zeigen, wie man die Entdeckbarkeit Gottes<br />
in allen Dingen, mitten im Alltag, also mitten in der Zeit<br />
denken kann.<br />
Hier zeigt sich, wie auch in vielen anderen seiner<br />
Gedankengängen, wie Rahner die Spiritualität seines<br />
Ordens, in der er zutiefst verwurzelt war, in sein<br />
theologisches Denken eintrug und durchbuchstabierte,<br />
wenn auch meist nicht explizit. Diese ignatianische<br />
Spiritualität 13 hat Rahner selbst mit dem Buchtitel<br />
„Glaube, der die Erde liebt“ 14 zum Ausdruck gebracht;<br />
auch das zentrale jesuitische Wort „Gott suchen in allen<br />
Dingen“ 15 bringt es auf den Punkt: Keine abgehobene<br />
Spiritualität wird hier vertreten, sondern eine zutiefst<br />
geerdete Gottesbeziehung.<br />
Dem folgend sucht Karl Rahner also zu zeigen, wie man<br />
die Entdeckbarkeit Gottes in allen Dingen, mitten im<br />
Alltag, denken kann. Dies ist philosophisch gesehen zum<br />
einen aufgrund der Struktur von Erfahrung und zum<br />
anderen aufgrund dessen, wie Gott philosophisch<br />
gedacht wird, eine Schwierigkeit:<br />
Menschliche Erfahrung geschieht immer in den<br />
Kategorien von Zeit und Raum. Gott aber, der über diese<br />
Kategorien erhaben ist, ist nicht wie ein Gegenstand oder<br />
ein Einzelseienendes zu ‚be-greifen’, daher ist auch eine<br />
Gotteserkenntnis im herkömmlichen Sinne keine<br />
kategoriale Erfahrung oder Erkenntnis, sondern die in<br />
Sprache gefasste Reflexion auf eine ursprüngliche<br />
Erfahrung, die mit dieser Reflexion nie eingeholt werden<br />
kann. Diese ursprüngliche Erfahrung nennt Rahner auch<br />
transzendentale Erfahrung, oder Erfahrung der<br />
Transzendenz. Sie ist eine Erfahrung, die er offen legt,<br />
indem er sozusagen hinter die Struktur der kategorialen<br />
Erfahrung zurückfragt und ihre Grundlagen aufdeckt.<br />
Was damit gemeint wird, wird verständlich, wenn man<br />
folgende Überlegungen Rahners liest: „In Erkenntnis und<br />
Freiheit ist der Mensch immer zugleich beim einzelnen<br />
benennbaren und von anderen abgrenzbaren<br />
Einzelgegenstand seiner Alltagserfahrung und seiner<br />
einzelnen Wissenschaften und immer auch gleichzeitig<br />
darüber hinaus, auch wenn er dieses immer schon<br />
mitgegebene Darüberhinaus unbeachtet und<br />
unbenannt läßt. Die Bewegung des Geistes auf den<br />
einzelnen Gegenstand, mit dem er sich beschäftigt, geht<br />
immer auf den jeweiligen Gegenstand hin, indem er ihn<br />
überschreitet. Das einzelne gegenständlich und genannt<br />
Gewußte wird immer erfaßt in einem weiteren<br />
unbenannten, schweigend gegenwärtigen Horizont<br />
möglichen Wissens und möglicher Freiheit überhaupt,<br />
auch wenn es der Reflexion nur schwer und immer nur<br />
nachträglich gelingt, diese schweigend anwesende<br />
Bewußtheit noch einmal zu einem gewissermaßen<br />
einzelnen Gegenstand des Bewußtseins zu machen und<br />
verbalisierend zu objektivieren.“ 16<br />
An anderer Stelle schreibt Rahner über diesen Horizont<br />
des menschlichen Wissens, dass er „immer weiter<br />
zurückweicht, je mehr Antworten der Mensch sich zu<br />
geben vermag“ 17 ; er ist genauso grenzenlos wie der<br />
Bewegung des menschlichen Geistes. „Jeder<br />
Gegenstand unseres Bewußtseins, der uns in unserer<br />
Mitwelt und Umwelt, sich von sich aus meldend,<br />
begegnet, ist nur eine Etappe, ein immer neuer<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Die Entdeckung der Alltäglichkeit<br />
35<br />
Ausgangspunkt dieser Bewegung, die ins Unendliche<br />
und Namenlose geht. Was in unserem Alltags- und<br />
Wissenschaftsbewußtsein gegeben ist, ist nur eine kleine<br />
Insel [...] in einem grenzenlosen Meer des namenlosen<br />
Geheimnisses, das wächst und deutlicher wird, je mehr<br />
und je genauer wir im einzelnen erkennen und wollen.<br />
Und wenn wir diesem, wie leer erscheinenden Horizont<br />
unseres Bewußtseins eine Grenze setzen wollen, hätten<br />
wir ihn gerade durch diese Grenze schon wieder<br />
überschritten.“ 18<br />
In diesem unendlichen Geheimnis gründen wir, und<br />
dieses Geheimnis schickt sich uns immerfort implizit zu,<br />
als „geheimne Ingredienz“ 19 . Die Verwiesenheit in dieses<br />
Geheimnis hinein ist ein Wesensmerkmal des Menschen,<br />
den Rahner das „Wesen der Transzendenz“ 20 nennt; und<br />
sie wird uns manchmal, ganz plötzlich, mitten im Alltag,<br />
bewusst:<br />
„Mitten in unserem Alltagsbewußtsein sind wir die auf<br />
namenlose, unumgreifbare Unendlichkeit hin Beseligten<br />
oder Verdammten (wie man will). Die Begriffe und die<br />
Worte, die wir nachträglich von dieser Unendlichkeit, in<br />
die wir dauernd verwiesen sind, machen, sind nicht die<br />
ursprüngliche Weise solcher Erfahrung des namenlosen<br />
Geheimnisses, das die Insel unseres Alltagsbewußtseins<br />
umgibt, sondern die kleinen Zeichen und Idole, die wir<br />
errichten und errichten müssen, damit sie uns aufs neue<br />
erinnern an die ursprüngliche, unthematische,<br />
schweigend sich gebende und gebend sich<br />
verschweigende Erfahrung der Unheimlichkeit des<br />
Geheimnisses, in dem wir bei aller Helle des alltäglichen<br />
Bewußtseins wie in einer Nacht und weiselosen Wüste<br />
beheimatet sind; die uns erinnern an den Abgrund, in<br />
dem wir unauslotbar gründen.“ 21<br />
Von dieser ursprünglichen Erfahrung sagt Rahner, sie<br />
dürfe „nicht mit der objektivierenden, wenn auch<br />
notwendigen Reflexion auf die transzendentale<br />
Verwiesenheit des Menschen in das Geheimnis hinein<br />
verwechselt werden. Sie hebt den Charakter der<br />
Aposteriorität der Gotteserkenntnis nicht auf, aber diese<br />
Aposteriorität darf auch nicht in dem Sinne<br />
mißverstanden werden, als ob Gott einfach nur als<br />
Gegenstand unserer Erkenntnis von außen indoktriniert<br />
werden könnte.“ 22<br />
Dieser Erfahrung geschieht nämlich nie rein an sich,<br />
daher ist sie keine unzeitliche, übergeschichtliche<br />
Erfahrung, auch wenn sie über die Erfahrung von Zeit<br />
und Raum hinausgeht – denn sie passiert immer<br />
vermittelt durch gegenständliche bzw. kategoriale<br />
Erfahrung, und „darum kann diese transzendentale<br />
Erfahrung leicht übersehen werden. Sie ist<br />
gewissermaßen als geheime Ingredienz gegeben. Aber<br />
der Mensch ist und bleibt das Wesen der Transzendenz,<br />
d.h. jenes Seiende, dem sich die unverfügbare und<br />
schweigende Unendlichkeit der Wirklichkeit als<br />
Geheimnis dauernd zuschickt. Dadurch wird der Mensch<br />
zur reinen Offenheit für dieses Geheimnis gemacht und<br />
gerade so als Person und Subjekt vor sich selbst<br />
gebracht.“ 23<br />
Wichtig ist an dieser Stelle noch der Hinweis, dass der<br />
Ausdruck transzendentale Erfahrung streng genommen<br />
ein Widerspruch ist, denn das Transzendentale ist<br />
eigentlich immer Bedingung für Wahrnehmung und<br />
Erfahrung und nicht selbst Gegenstand der<br />
Wahrnehmung. Und so geht es bei dieser Erfahrung auch<br />
nicht darum, dass „das Transzendentale in sich selbst<br />
erfahren würde, sondern indem es in der gesamten<br />
Erfahrung, vor allem der eigenen Selbsterfahrung,<br />
unthematisch mit-erfahren wird, aber durch Reflexion<br />
thematisch gemacht und begrifflich ausgelegt werden<br />
kann.“ 24
Das Besondere an Rahners Denken lässt sich<br />
zusammenfassend so formulieren, dass hier eine<br />
Erfahrung Gottes konstatiert wird, die nicht abgehoben<br />
von der Welt passiert, sondern mitten im Leben, im Alltag,<br />
in der Zeit. Es ist eine ungeschichtliche Erfahrung, eine<br />
Erfahrung, die in jeder Einzelerfahrung mitschwingt, sie<br />
bedingt, ihre Grundlage ist. Und zugleich ist sie zutiefst<br />
geschichtlich, da sie immer aposteriori geschieht, immer<br />
vermittelt wird durch Geschichte.<br />
4. ERFAHRUNG VON EWIGKEIT IN <strong>ZEIT</strong><br />
Nun möchte ich auf einen weiteren interessanten<br />
Gedankengang Rahners eingehen, dem er in dem<br />
Aufsatz „Ewigkeit aus Zeit“ nachgeht. Er stellt hier die<br />
Frage, wie es für unser menschliches Denken überhaupt<br />
möglich sein kann, sich Ewigkeit vorzustellen.<br />
Weil der Mensch nicht anders kann, als in Kategorien<br />
von Zeit und Raum zu denken, wird Ewigkeit meistens<br />
als „eine nie aufhörende, ins Unbegrenzte<br />
weiterlaufende Zeit“ 25 gedacht. Geht man aber so an<br />
den Begriff der Ewigkeit heran, sie „als Weiterlaufen einer<br />
Zeit mit immer neuen und neu auszufüllenden und<br />
voneinander verschiedenen Zeitabschnitten“ 26 zu<br />
verstehen, dann wird Ewigkeit unter der „Tyrannei dieses<br />
Zeitbegriffes“ 27 eine ewige Hölle – eine nie enden<br />
wollende Öde, Wiederkehr des stets Gleichen, in der der<br />
Mensch zum Nie-Ankommen verdammt ist: er bleibt der<br />
ewige Wanderer.<br />
Rahner versucht nun, sich Ewigkeit vorzustellen als etwas<br />
Bleibendes, das keine zeitliche Abfolge in sich trägt. Dies<br />
ist für unser Denken aber schwierig, weil wir in unserer<br />
Lebenswelt keine Entsprechung für eine solche<br />
Vorstellung haben, denn auf Erden ist alles durch das<br />
„Hintereinander“ gekennzeichnet, das allem, was uns<br />
umgibt, eingeschrieben ist.<br />
Die Existenz von Bleibendem ohne ein Hintereinander<br />
kann Rahner dennoch behaupten, indem er den Spieß<br />
einfach umdreht und versucht, mitten in unserer<br />
Erfahrung der Zeit die Erfahrung von Ewigkeit zu<br />
entdecken. Er konstatiert eine „Paradoxie der Zeit selber,<br />
die im geheimen von der Ewigkeit lebt“ 28 , und spricht<br />
davon, dass wir „in einer seltsamen und unserer Reflexion<br />
immer wieder entgehenden Weise Ewigkeit schon in<br />
unserer Zeit erfahren“ 29 .<br />
Diese Erfahrung von Ewigkeit in der Zeit macht er nun<br />
an drei verschiedenen Apekten menschlichen Daseins<br />
fest:<br />
a) Die Erfahrung der Einheit von geschichtlichen<br />
Subjekten<br />
Auf den ersten Blick erscheint uns Zeit „als eine nach<br />
vorne und nach hinten hin sich ins Unbegrenzte<br />
erstreckende Kette von Einzelvorkommnissen, von denen<br />
jede die vorangehende ablöst, um sich zugunsten der<br />
nächsten wieder selber aufzulösen.“ 30 Zugleich, so<br />
behauptet Rahner, sind wir aber davon überzeugt, dass<br />
hinter diese Kette von unzusammenhängenden<br />
Einzelereignissen etwas steht, ein Bleibendes, das sich<br />
„als dasselbe durchhält, die wechselnden<br />
Erscheinungen trägt, sie zusammenhält zu einem<br />
Ganzen, zu einer Geschichte, die eben doch eine ist<br />
und nicht pulverisiert zerfällt in einen Staub von bloßen<br />
Einzelmomenten.“ 31<br />
Zur Illustration erzählt er das Beispiel die Entwicklung einer<br />
Blume. Wir sehen zunächst ein Samenkorn, das in die<br />
Erde gelegt wird. Aus dem Samenkorn wächst ein<br />
Pflänzlein, das immer größer wird und schließlich erblüht,<br />
um nach einiger Zeit zu welken und zu verrotten. Lauter<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Die Entdeckung der Alltäglichkeit<br />
36<br />
einzelne Ereignisse, die man als unzusammenhängend<br />
deuten könnte – wir behaupten aber aufgrund unserer<br />
Alltagserfahrung, hinter diesen Einzelstadien der Blume<br />
einen Träger der Eigenschaften der Blume zu erblicken.<br />
Wir behaupten ein Wesen „Blume“, könnte man<br />
formulieren, das bleibt und als solches erkennbar ist – und<br />
dieses kann nicht von der selben Qualität wie die Zeit<br />
sein, da es hinter der Zeit wirkt und so die Einheit der Blume<br />
erkennbar macht. In der Zeit ist also etwas erkennbar,<br />
das etwas anderes ist als diese Zeit – „ein Bleibendes<br />
mindestens, das Zeit zu geschichtlichen Zeitgestalten<br />
eint.“ 32<br />
b) Die geistige Erfahrung des Menschen, durch die die<br />
drei Größen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als<br />
Einheit erlebbar werden<br />
Dieses in der Zeit versteckte Überzeitliche lässt sich noch<br />
deutlicher erkennen, wenn man den Blick auf die<br />
menschliche Wahrnehmung von Zeit richtet. „Zeit ist nicht<br />
nur, sondern sie wird von uns so erfahren, daß wir ihrem<br />
Ablauf nicht nur schweigend untertan sind, sondern ihr<br />
gegenübertreten, Vergangenheit, Gegenwart und<br />
Zukunft zusammennehmen und geistig zu einer Einheit<br />
und Gestalt binden, die dem reinen Hintereinander der<br />
Zeit überlegen ist, in welchem immer der nächste<br />
Augenblick durch Vernichtung des vorhergehenden<br />
über ihn triumphiert.“ 33<br />
Gegen den möglichen Einwand, diese Erfahrung einer<br />
Einheit von Zeit spiele sich nur im Denken des Menschen<br />
ab und entspreche nicht der Zeit, wie sie an sich ist, bringt<br />
Rahner zwei Gedanken vor: Erstens, dass ein solches<br />
Denken nur möglich ist, wenn es ihm entsprechend in<br />
der Zeit etwas gibt, das mehr ist „als das bloß<br />
Zerrinnende“ 34 . Und zweitens, dass ein denkendes Subjekt<br />
eine einheitliche Zeit nicht denken könnte, auch als bloß<br />
gedachte, „wenn es völlig der rinnenden Zeit als dem in<br />
Wahrheit Wesensgebenden untertan wäre“ 35 .<br />
Denken ist also für Rahner zwar etwas, das immer in der<br />
laufenden Zeit passiert, aber es ist zugleich „ein Ereignis,<br />
das eine eigetümliche Überlegenheit über die Zeit hat,<br />
Ewigkeit ankündigt, weil solches Denken, das Zeit denkt,<br />
ihr nicht einfach untertan ist.“ 36<br />
c) Die Entscheidungsfähigkeit des Menschen, die<br />
Wirklichkeit schafft, die nicht einfachhin rückgängig<br />
machbar ist<br />
In diesem dritten Punkt ist von Entscheidungen die Rede,<br />
in denen ein Mensch „über sich selbst als Ganzes<br />
verfügt“ 37 , für die er im letzten ganz und gar selbst<br />
verantwortlich ist, die er nicht mit Ausreden auf sein<br />
soziales Umfeld, seine psychologische Prägung etc. von<br />
sich schieben kann.<br />
Ganz plakativ gesagt und stark vereinfacht geht es hier<br />
um so grundlegende Fragen wie die, ob ich mich im<br />
letzten für Gott entscheide oder gegen Gott, ob für die<br />
Liebe oder gegen sie – und wie ich diesen<br />
Grundsatzentscheidungen in meinem Leben Ausdruck<br />
verleihe, in vielen kleinen, alltäglichen Entscheidungen.<br />
Solche Grundsatzentscheidungen, Rahner nennt sie auch<br />
„letzte personale Entscheidungen“ 38 , sind, „mindestens<br />
wo sie das Ganze eines Lebens betreffen und durch den<br />
Tod endgültig werden, unwiderruflich, sind wahre<br />
Ewigkeit, die in der Zeit wird.“ 39<br />
Das meint: Der Mensch will in seiner Freiheit<br />
ernstgenommen sein, die Freiheitstaten seines Lebens,<br />
das im Moment des Todes an sein Ende gelangt, diese<br />
Freiheitstaten sind unwiderrufbar, wollen Geltung in<br />
Ewigkeit haben.
Anhand dieser Erfahrung, dass die Freiheit des Menschen<br />
Endgültigkeit beansprucht, wird deutlich, „daß unser<br />
ewiges Leben […] die Endgültigkeit unserer sittlichen und<br />
freien Lebenstat sein wird, in der wir uns als eine und<br />
ganze über alle Zerstückeltheit der Zeit hinweg zu<br />
denjenigen machen die wir endgültig sein wollten. Wenn<br />
aber so unsere Ewigkeit nichts anderes ist als die endgültig<br />
gewordene Geschichte, die wir in unserer Freiheit selbst<br />
getan haben, dann zeigt sich für uns erschreckend und<br />
beseligend zugleich, welche ungeheure Größe, Tiefe,<br />
Dichte unsere eigentlichen Lebenstaten haben.“ 40<br />
Und auch wenn Karl Rahner kurz darauf von der<br />
„unauslotbare[n] Tiefe und Kostbarkeit unserer Existenz“<br />
spricht, „die oft den Anschein macht, nur aus lauter<br />
Banalitäten zu bestehen“ 41 , wird deutlich, welch große<br />
Bedeutung er den kleinen Taten unseres Alltags zumaß:<br />
Welche Taten diejenigen sind, die Bedeutung für den<br />
endgültigen Ausgang unseres Lebens haben, das ist nicht<br />
von vorneherein ausgemacht. Oft sind es nicht die ganz<br />
großen Entscheidungen des Lebens, sondern kleine,<br />
unscheinbare Entscheidungen, die uns selber vielleicht<br />
gar nicht so bewusst sind, im letzten aber unser Verhältnis<br />
zu Gott und zu unserer Vergänglichkeit widerspiegeln und<br />
bestimmen.<br />
Diese Entscheidungen, die im Fluss unseres Lebens kaum<br />
herausragen, können die Gesamtsumme unserer<br />
Lebenszeit entscheidend prägen.<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Fußnoten<br />
1 Schulz, Michael: Karl Rahner begegnen, Augsburg: Sankt Ulrich<br />
1999, 12.<br />
2 Rahner, Karl: Man soll nicht zu früh aufhören zu denken.<br />
Gespräch mit Leo O’Donovan, in: Ders.: Im Gespräch 2,<br />
München: Kösel 1983, 47-59, 47f.<br />
3 Ders.: Der Werdegang eines Theologen. Gespräch mit Peter<br />
Pawlowsky, in: Ebd., 146-153, 146f.<br />
4 Vorgrimler, Herbert: Karl Rahner verstehen. Eine Einführung in<br />
sein Leben und Denken, Freiburg i. Br.: Herder 1985, 93.<br />
5 So entwarf Rahner gemeinsam mit Joseph Ratzinger ein<br />
Schema über die göttliche Offenbarung, dessen<br />
Gedankengang für die Offenbarungskonstitution Dei Verbum<br />
maßgeblich sein sollte.<br />
6 Vorgrimler, Karl Rahner verstehen, 163.<br />
7 Ebd., 46.<br />
8 Metz, Johann Baptist: Vermächtnis. Karl Rahner zu vermissen,<br />
in: Imhof, Paul / Biallowons, Hubert (Hg.): Karl Rahner. Bilder eines<br />
Lebens, Freiburg i.Br.: Benziger 1985, 166-171, 166.<br />
9 Ebd.<br />
10 Ders.: Karl Rahner – ein theologisches Leben. Theologie als<br />
mystische Biographie eines Christenmenschen heute, in: StZ 192<br />
(1974) 305-316, 310.<br />
11 Ebd., 309.<br />
12 Ebd., 309f.<br />
13 Dieser Name geht zurück auf den Begründer der Jesuiten,<br />
Ignatius von Loyola.<br />
14 Rahner, Karl: Glaube, der die Erde liebt. Christliche<br />
Besinnung im Alltag der Welt, Freiburg i.Br.: Herder 1966.<br />
15 Vgl. hierzu etwa: Lambert, Willi: Aus Liebe zur Wirklichkeit.<br />
Grundworte ignatianischer Spiritualität, Mainz: Grünewald 62003, 23. Dieses Buch ist eine sehr gute Einführung in die ignatianische<br />
Spiritualität.<br />
16 Rahner, Karl: Erfahrung des Heiligen Geistes, in: Ders.: Schriften<br />
zur Theologie XIII, Zürich: Benziger 1978, 226-251, 233f.<br />
17 Ders.: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des<br />
Christentums, Freiburg i. Br.: Herder 91984, 43.<br />
18 Ders., Erfahrung, 234.<br />
19 Ders., Grundkurs, 46.<br />
20 Ebd.<br />
21 Ders., Erfahrung, 234f.<br />
22 Ders., Grundkurs, 62.<br />
23 Ebd., 46.<br />
24 Ebd., 35.<br />
25 Ders.: Ewigkeit aus Zeit, in: Ders.: Schriften zur Theologie XIV,<br />
Zürich: Benziger 1980, 422-432, 423.<br />
26 Ebd., 424.<br />
27 Ebd.<br />
28 Ebd., 425.<br />
29 Ebd.<br />
30 Ebd., 426.<br />
31 Ebd.<br />
32 Ebd., 427.<br />
33 Ebd.<br />
34 Ebd., 428.<br />
35 Ebd.<br />
36 Ebd.<br />
37 Ebd.<br />
38 Ebd., 429.<br />
39 Ebd.<br />
40 Ebd., 431.<br />
MMag. Katharina Zimmerbauer, geb. 1979, studierte Fachtheologie und Religionspädagogik an der Karl-Franzens-Universität<br />
Graz und ist ebendort als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Moraltheologie und Dogmatik tätig. In ihrer Dissertation<br />
beschäftigt sie sich mit “Kreuzestheologie”. Sie wird seit 2007 durch PRO SCIENTIA gefördert.<br />
41 Ebd.<br />
Die Entdeckung der Alltäglichkeit<br />
37
Esther Jauk<br />
McTaggarts Versuch, die Irrealität der Zeit zu<br />
beweisen, ist ein eindeutig sprachanalytischer. Dabei<br />
sollen die Begriffe, mit denen wir Zeit beschreiben als<br />
widersprüchlich erwiesen werden, um so auf die<br />
Irrealität der Zeit selbst zu schließen. Das Anliegen ist<br />
es also, (1) unser herkömmliches Zeitverständnis so<br />
genau wie möglich zu beschreiben, um (2) seine<br />
theoretische Unzulänglichkeit, in diesem Fall seine<br />
Widersprüchlichkeit zu beweisen. Mit anderen Worten<br />
wäre dann dargestellt, dass das, was wir unter Zeit<br />
verstehen, ja dass Zeit so wie sie uns erscheint, nicht<br />
real ist. Im Grunde ist das ein ähnlicher Denkvorgang<br />
wie der der Einsteinschen Relativitätstheorie. Auch hier<br />
wird der Raum, so wie wir ihn sehen, also der<br />
euklidische Raum zu Gunsten einer diskursiv<br />
hervorgebrachten Raumkonzeption verworfen.<br />
Zunächst stellt McTaggart die Frage, welche<br />
sprachlichen Mittel uns überhaupt zur Beschreibung<br />
der Zeit zur Verfügung stehen. Hier unterscheidet er<br />
zwei grundlegend verschiedene Ordnungen von<br />
Zeitpositionen. Zum einen können ihnen die Prädikate<br />
“vergangen”, “gegenwärtig” und “zukünftig”<br />
zugeschrieben werden. Zum anderen können sie<br />
früher oder später sein als andere Momente in der<br />
Zeitreihe. Der Einfachheit halber werden erstere Aund<br />
zweitere B- Reihe genannt. Diese Feststellung<br />
schließt McTaggart mit den Worten, “Und es ist<br />
zunächst einmal klar, dass wir Zeit niemals anders als<br />
diese Reihen bildend betrachten können.”<br />
(McTaggart 1993, 68), womit er die Unvollständigkeit<br />
dieses Inventars ausschließt.<br />
Nun muss er zur Analyse der Charakteristika und<br />
Beziehungen zwischen diesen Zeitreihen übergehen.<br />
Im Bezug auf die B-Reihe kann man leicht erkennen,<br />
dass sie eine Relation zwischen zwei Punkten der<br />
Zeitserie darstellt, und zwar eine objektive und<br />
permanente. Ihre Sätze verändern ihren<br />
Wahrheitswert nicht mit dem Fortschreiten der Zeit.<br />
Der erste Weltkrieg wird immer früher gewesen sein<br />
als der zweite, egal welche zeitliche Position der<br />
Betrachter einnimmt, egal ob er heute, morgen oder<br />
im Jahr 1900 darüber spricht. Dem steht die A-Serie<br />
gegenüber, deren Mitglieder meistens indexikalisch<br />
oder auch zeichenreflexiv genannt werden. Dummett<br />
charakterisiert wie folgt, “Ein zeichenreflexiver<br />
Ausdruck ist ein Ausdruck wie “ich”, “hier” und “jetzt”,<br />
dessen wesentliches Vorkommen in einem Satz diesen<br />
Satz dazu befähigt, je nach den Umständen seiner<br />
Äußerung verschiedene Wahrheitswerte<br />
einzunehmen. Solche Umstände sind beispielsweise:<br />
vom wem, wann und wo er geäußert, an wen er<br />
gerichtet [...] wird.” (Dummett 1993, 122).<br />
Mit diesen Feststellungen im Hinterkopf steigt<br />
McTaggart in das eigentliche Argument ein, das wie<br />
folgt thesenartig zusammengefasst werden kann.<br />
(1) Zeit schließt Veränderung ein. Dieser Punkt wird<br />
nicht weiter diskutiert.<br />
(2) Nur die A-Reihe schließt Veränderung mit ein, bzw.<br />
kann diese erklären.<br />
(3) Die A-Reihe enthält einen Widerspruch und kann<br />
daher die Realität nicht zureichend erklären.<br />
(4) Zeit ist daher irreal. (vgl. Lowe 1987).<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Ist unsere Zeit irreal?<br />
McTaggarts Argumente, Einwände und Erwiderungen<br />
Ist unsere Zeit irreal?<br />
38<br />
Schauen wir uns genauer an, wie McTaggart diese<br />
Thesen entwickelt. Wenn wir (1), McTaggart<br />
folgend, als Grundüberzeugung annehmen, stellt<br />
sich die Frage wie die A-Reihe diese für Zeit<br />
notwendige Veränderung zu Stande bringt. Und<br />
weswegen sollte die B-Reihe von dieser<br />
Veränderung ausgeschlossen sein? Andernfalls, wie<br />
könnte die statische B-Reihe Veränderung erklären?<br />
Nehmen wir ein Beispiel zur Hand, während eines<br />
Sturmes werden die Äste eines Baumes heftig<br />
bewegt. Intuitiv wird man geneigt sein, zum einen<br />
die Veränderung in der Tatsache zu sehen, dass<br />
sich der Baum einmal bewegt und einmal nicht,<br />
dass also die Bewegung zu einem bestimmten<br />
Zeitpunkt beginnt und hernach wieder aufhört. Für<br />
McTaggart allerdings kann es niemals der Fall sein,<br />
dass ein Ereignis, dass einmal in der Zeit war, später<br />
aus der Zeitreihe heraustritt. Dadurch würde es<br />
aufhören in der Zeit zu sein, und solche Ereignisse<br />
sind nicht Teil der Dinge, die uns erscheinen. Ein<br />
Ereignis in der B-Reihe steht zu allen andern<br />
Ereignissen in einer Relation, die entweder als<br />
gleichzeitig, früher oder später zu charakterisieren<br />
ist. Egal, wie die Zeit fortschreitet, dieses Netz an<br />
Relationen bleibt immer gleich. Selbst wenn der<br />
Erste Weltkrieg heute vergangen ist, wird er immer<br />
früher als der Zweite Weltkrieg gewesen sein. Es ist<br />
also für McTaggart unmöglich zu behaupten, der<br />
Erste Weltkrieg habe aufgehört zu sein.<br />
Wenn also der Unterscheid zwischen Existenz und<br />
Nichtexistenz nicht als Veränderung bezeichnet<br />
werden kann, so würde man sie doch zumindest<br />
an Qualitäten der Dinge feststellen wollen. Einmal<br />
ist der Baum heftig bewegt, einmal ist er in Ruhe.<br />
Auch das allerdings kann die B-Reihe nicht<br />
dynamisieren, “But this makes no change in the<br />
qualities of the poker. It is always a quality of the<br />
that poker that it is one which is hot on that particular<br />
Monday. And it is always a quality of that<br />
poker that it is not hot at any other time. Both these<br />
qualities are true of it at any time- the time when it<br />
is hot and the time when it is cold. And therefore it<br />
seems to be erroneous to say that there is any<br />
change in the poker.” (McTaggart 1993a, 28). Laut<br />
McTaggart sind also die Zeitpunkte ihres Auftretens<br />
den Qualitäten der Dinge bereits definitorisch<br />
beigeordnet. Sein Vorhaben ist es, in der B-Reihe<br />
Veränderung zu suchen, um zu sehen, ob sie alleine<br />
Zeit konstituieren kann. Würde er also Veränderung<br />
finden, wäre die B-Reihe zeitlich. Diese wäre<br />
gegeben, wenn man sagen könnte, der<br />
Feuerharken wird heißt, denn das impliziert, dass er<br />
zuvor eine andere Eigenschaft gehabt haben muss.<br />
Ansonsten könnte er nicht “werden”. Außerdem ist<br />
er, wenn er heiß ist, definitiv nicht kalt. Wenn man<br />
aber - wie McTaggart - die Eigenschaften temporal<br />
einschränkt, ist es beim Anblick des kalten<br />
Feuerharkens noch immer wahr zu sagen, an<br />
einem bestimmten Montag sei er heiß gewesen.<br />
Daher kann man jetzt sagen, der Feuerharken hat<br />
immer die Eigenschaft an dem besagten Montag<br />
heiß und sonst kalt zu sein. Damit haben wir genau
dasselbe Ergebnis erlangt wie bei dem<br />
vorhergehenden Versuch, wir haben eine<br />
Veränderung angenommen, zuvor die Existenz, jetzt<br />
die Qualität und sind zu dem Ergebnis gekommen,<br />
dass sie den Dingen entlang der gesamten Zeitreihe<br />
zukommen.<br />
Wenn die B-Reihe also tatsächlich keine Veränderung<br />
beinhaltet, dann kann sie alleine die Zeit nicht<br />
konstituieren. Nun ist sie aber trotzdem, wie eingangs<br />
festgestellt, einer der beiden Möglichkeiten Zeit zu<br />
beschreiben. McTaggart formuliert das so, “Die B-Reihe<br />
kann jedoch nicht anders als zeitlich existieren, da<br />
“früher” und “später”, die Unterscheidungen, aus<br />
denen sie bestehet, offensichtlich Zeitbestimmungen<br />
sind.” (McTaggart 1993, 69), Aus diesem Befund<br />
schließt McTaggart, dass die A-Reihe die<br />
fundamentalere der beiden Zeitreihen sei, und die B-<br />
Reihe einschließt. Offensichtlich ist, dass man die B-<br />
Reihe aus der A-Reihe rekonstruieren kann, denn<br />
schließlich lassen die Aussagen “Gestern war ich<br />
schwimmen” und “Vorgestern war ich laufen” auch<br />
die Möglichkeit zu, zu sagen, “Ich war früher laufen<br />
als schwimmen.” Folglich, wenn keine A-Reihe existiert,<br />
existiert auch keine Zeit.<br />
Doch im Gegensatz zur B-Reihe verändern sich die<br />
Prädikate der A-Reihe mit dem Forschreiten der Zeit.<br />
In McTaggarts Worten,<br />
“Und in jeder Hinsicht außer einer bliebt es [Ereignis:<br />
hier Tod der englischen Königin] gleichermaßen frei<br />
von Veränderungen. Aber in dieser einen Hinsicht<br />
verändert es sich sicher wohl. Es fing als zukünftiges<br />
Ereignis an. Mit jedem Zeitpunkt wurde es ein Ereignis<br />
näherer Zukunft. Schließlich war es gegenwärtig.<br />
Dadurch wurde es vergangen, und es wir immer<br />
vergangen bleiben, obgleich es mit jedem Zeitpunkt<br />
weiter und weiter vergangen sein wird.” (McTaggart<br />
199, 70f.).<br />
Es scheint dann also so zu sein, dass Veränderung<br />
einzig dadurch stattfindet, dass man Attribute der A-<br />
Reihe auf die Ereignisse anwendet. Wenn wir uns jetzt<br />
die Charakteristika der A-Reihe genauer anschauen,<br />
wird auffallen, dass es sich hier nicht um die Relation<br />
zweier Punkte der Zeitserie handeln kann, weil “relations<br />
exclusively between members of the time series<br />
[...] can never change.” (Gotshalk 1930, 31). Dennoch,<br />
wenn man sich die Beispielsätze nochmals ansieht,<br />
“Gestern war ich schwimmen”, wird klar, dass auch<br />
die A- <strong>Pro</strong>positionen eines zweiten Bezugspunktes<br />
bedürfen. Intuitiv würde man sagen, ja sicher, der<br />
zweite Punkt ist der Standpunkt des Betrachters, was<br />
auch der Grund ist, weswegen wir diesen Punkt<br />
sprachlich nicht ausdrücken müssen. Schließlich hat<br />
der Betrachter keine Wahl darüber, von welchem<br />
zeitlichen Punkt aus er sprechen möchte, er spricht<br />
immer von dem aus, der präsent ist und den er<br />
gleichzeitig mit seinen Zuhörern erlebt. Hierbei kann<br />
man auch ganz gut erkennen, was das Wort<br />
“indexikalisch” bedeutet. Selbstverständlich, so könnte<br />
ein Opponent einwenden, kann jemand auch von<br />
einem anderen zeitlichen Punkt aus sprechen als dem<br />
gegenwärtigen. Zum Beispiel so, “Morgen wird das<br />
Ereignis E jetzt sein.” Das Prädikat “jetzt” bezieht sich<br />
normalerweise auf den gegenwärtigen Zeitpunkt, hier<br />
aber auf den, von dem man morgen dasselbe wird<br />
sagen können. Inwiefern das berechtigter Weise<br />
gesagt werden kann, darauf kommt ich später noch<br />
zurück.<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Ist unsere Zeit irreal?<br />
39<br />
Mit diesem Argument aber verstrickt sich der intuitive<br />
Philosoph in einen Widerspruch, denn der Standpunkt<br />
des Betrachters kann sich niemals außerhalb der<br />
Zeitserie, ja nicht einmal außerhalb der A-Serie<br />
befinden, denn auch er unterliegt genau derselben<br />
zeitlichen Veränderung wie alle anderen Punkte. Was<br />
wir aber gesucht haben war ein Punkt außerhalb der<br />
Zeitreihe, der den dynamischen Charakter der A-Serie<br />
erklären könnte. McTaggart sagt folgendes zu diesem<br />
<strong>Pro</strong>blem.<br />
“Past, present and future, then, are relations in which<br />
events stand to something outside the time series. Are<br />
these relations simple, or can they be defined? I think<br />
that they are clearly simple and indefinable. [...] We<br />
must begin with the A series rather than with past,<br />
present, and future as separate terms. And we must<br />
say that a series is an A series when each of its terms<br />
has, to an entitiy x outside the series, one, and only<br />
one, of three indefinable relations, pastness,<br />
prsentness and futurity, which are such that all the<br />
terms which have the relation of presentness to X fall<br />
between all the terms which have the relation of<br />
pastness to X, on the one hand, and all the terms,<br />
which have the relation of futurity to X, on the other<br />
hand.” (Taggart, 31f.).<br />
Das bedeutet also, dass die Realität der A-Serie von<br />
der Existenz dieses zeitlosen, undefinierbaren X<br />
abhängt, dessen Auffindung unmöglich ist. Aber, so<br />
könnte man fragen, warum sollte es dieses X nicht<br />
geben, wenn wir gesehen haben, dass es von<br />
theoretischer Notwendigkeit ist? Im Grunde wäre es<br />
genauso unplausibel, dass dieses zeitlose X nicht<br />
durch seine Beziehung zu einem A-Prädikat auch in<br />
die Zeit gelangte. Die Unbestimmtheit dieser<br />
Konklusion legt nahe, nochmals die schon eingangs<br />
gestellte Frage zu stellen. Wie lässt sich Veränderung<br />
aus der A-Serie erklären?<br />
Gotshalk fasst das <strong>Pro</strong>blem der beiden Bezugspunkte<br />
aus der Zeitreihe wie folgt zusammen, “In a sense the<br />
relations of the A series do not change. Thus, the<br />
death of Queen Victoria is future in respect to the<br />
death of Queen Anne, and the death of Queen Anne<br />
is past in respect to the death of Queen Victoria. And<br />
each is permanently so.” (Gotshalk, 32). Wäre das<br />
bereits der Endpunkt der Argumentation, müssten wir<br />
Veränderung und damit Realität der Zeit schon hier<br />
aufgeben. Doch McTaggart postuliert, dass die<br />
einzige Veränderung, die stattfinden kann, die in der<br />
Zuschreibung der Prädikate “vergangen”,<br />
“gegenwärtig”, “zukünftig” ist. Das heißt, wenn ich von<br />
einem Gegenstand nicht sagen kann, welches dieser<br />
Prädikate auf ihn zutreffen, kann er keiner anderen<br />
Veränderung unterliegen und ist damit nicht in der<br />
Zeit. Die A-Prädikate sind laut McTaggart also die<br />
einzigen Prädikate, die einem Gegenstand nicht<br />
zeitlos zugesprochen werden können. Ich kann von<br />
dem Feuerharken jederzeit sagen, dass er an diesem<br />
bestimmten Montag heiß war, aber ich kann nicht<br />
jederzeit sagen, dass der heiße Feuerharken jetzt<br />
präsent ist. Der oben beschriebene Satz, “The death<br />
of Queen Victoria is future in respect to the death of<br />
Queen Anne, “ beinhaltet noch zwei statische Punkte,<br />
doch wenn diese einem Wechsel der A-Prädikate<br />
unterliegen werden sie dynamisch. Zwar bleibt die Relation<br />
immer die gleiche, also der Tod Victorias wird<br />
niemals früher sein als der Annes, doch werden beide<br />
entlang der A-Serie laufen und so sukzessive durch
die A-Prädikate charakterisiert sein.<br />
An dieser Stelle können wir eine interessante<br />
Beobachtung einschieben, die bei Dahm 2007 genau<br />
dargelegt ist. Für McTaggart sind zwar beide Reihen<br />
Zeitreihen, da sie zeitbeschreibende Funktion haben,<br />
doch identifiziert er die B-Reihe strikt mit Statik und die<br />
A-Reihe mit Dynamik. Wichtig ist also festzuhalten, dass<br />
McTaggart die Statik der B-Reihe nicht an der Existenz<br />
der A-Reihe festmacht. Ob die A-Reihe also<br />
vorhanden ist oder nicht, die B-Reihe bleibt statisch.<br />
Genau das haben wir aber in den Beispielsätzen von<br />
den englischen Königinnen widerlegt, wonach die A-<br />
Reihe die B-Reihe dynamisiert hat. Dahm behauptet<br />
jetzt, dass die B-Reihe der A-Reihe nicht irgendwie<br />
beigeordnet sei, sondern dass sie ihre früher-später<br />
Relationen nur aufgrund ihrer Verbindung mit der<br />
dynamischen A-Reihe hat. Das leuchtet auch ein,<br />
denn statisch kann eine Zeitreihe bei McTaggart ja<br />
per definitionem nicht sein. Dahm schreibt, “Bedenkt<br />
man also, dass die B-Reihe nur durch die A-Reihe zu<br />
einer zeitlichen wird, dass B-Reihenereignisse ihre<br />
früher-später-Positionen aufgrund einer sukzessiven<br />
Gegenwärtigkeit innehaben, dann kann man auch<br />
im Falle der B-Reihe mit gutem Recht von<br />
Veränderung sprechen. Ohne A-Reihen-Dynamik<br />
haben wir also eine statische Reihe, doch mit der A-<br />
Reihe im Hintergrund ist die B-Reihe dynamisch zu<br />
interpretieren.” (Dahm 2007, 6f.) Obwohl dem<br />
zuzustimmen ist, bleiben zwei Fragen zurück. Zum<br />
einen: (1) Was ist dann die B-Reihe, wie sie McTaggart<br />
beschriebt, wenn sie nun nicht die korrekte ist? Zum<br />
anderen: (2) Was bliebe von der B-Reihe, nach Dahms<br />
Beschreibung, unter Abzug der A-Reihe? Schließlich<br />
wollte McTaggart die B-Reihe ja genau unter der<br />
Prämisse untersuchen, dass die A-Reihe nicht<br />
beigeordnet wäre. Zunächst zu (1): Hier müssen wir<br />
einen Blick auf McTaggarts C-Reihe werfen. Wenn<br />
man die A-Prädikate von der Zeitserie abzieht, so<br />
bleibt immer noch eine geordnete Reihe übrig, wie<br />
das etwa auch bei den Zahlen oder bei einer<br />
Menschenschlange der Fall ist, doch trotzdem findet,<br />
wie auch im Fall der beiden Beispiele, keine<br />
Veränderung statt. Zudem kann die C-Reihe keine<br />
Richtung ihrer Elemente darstellen, das heißt, ob die<br />
Zahlen jetzt von eins hinauf oder von 100 herunter<br />
gezählt werden. Dahm postuliert jetzt, dass die C-<br />
Reihe eigentlich das ist, was McTaggart als B-Reihe<br />
beschreibt. Und zu Recht, denn die C-Reihe löst mit<br />
ihrer definitorischen Unzeitlichkeit, den Widerspruch<br />
der B-Reihe zeitlich und gleichzeitig unveränderlich<br />
zu sein. In der Tat ist zum Beispiel die Zahlenreihe radikal<br />
gleichzeitig, also koexistent, 2 ist immer niedriger als 7<br />
und 3 immer zwischen 2 und 4. Nun zu (2): Wir haben<br />
bereits gesehen, dass es keine B-Reihe gibt ohne A-<br />
Reihe, weil sie nicht in der Zeit sein könnte. Umgekehrt<br />
gibt es aber auch keine A-Reihe ohne B-Reihe, weil<br />
man kaum Sätze mit A-Prädikaten sagen kann (z.B.<br />
“Schwimmen war ich gestern.”, “Turnen war ich<br />
vorgestern”) ohne B-Relationen zu implizieren (“Ich<br />
war früher turnen als schwimmen.”). Wenn die beiden<br />
Reihen einander bedingen, die eine nicht ohne die<br />
andere sein kann und die andere nicht ohne die eine,<br />
dann macht es keinen Sinn zu fragen, was B ohne A<br />
wäre. Die B-Reihe wäre schlicht nicht existent. Das<br />
heißt, McTaggarts Gedankenexperiment ist<br />
unangemessen, es kann nirgends hin führen.<br />
Dieser Einwand von Dahm ist ein Versuch, McTaggarts<br />
zweite Prämisse zu widerlegen, die besagt, dass nur<br />
die A-Reihe Veränderung einschließt.<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Ist unsere Zeit irreal?<br />
40<br />
Nun zur dritten Prämisse. Der Widerspruch der Prädikate<br />
der A-Reihe. Nachdem McTaggart davon ausgeht,<br />
dass Widersprüchlichkeit ein Beweis dafür ist, dass eine<br />
Sache in der Realität nicht existiert, könnte er mit<br />
diesem Argument zeigen, dass die Zeit, so wie wir sie<br />
sehen, eben nicht real ist. Die A-Prädikate sind<br />
miteinander inkompatibel, denn es kann nicht sein,<br />
dass ein Ereignis mehrere dieser Prädikate trägt. Der<br />
Satz wäre sinnlos. Aber andererseits sind sie auch<br />
kompatibel, denn sie werden jedem Ereignis<br />
notwendig zu teil, denn schließlich gibt es keine<br />
Ereignisse, die nur zukünftig und nie gegenwärtig oder<br />
vergangen sind. Insofern sind sie auch kompatibel, also<br />
koexistent. Laut McTaggart führt das in einen<br />
Widerspruch, denn A-Prädikate können nicht<br />
kompatibel und inkompatibel sein. Er schreibt dazu<br />
folgendes, “ Es ist nie wahr, so wird der Einwand lauten,<br />
dass M gegenwärtig, vergangen und zukünftig ist. Es<br />
ist gegenwärtig, wird vergangen sein und ist zukünftig<br />
gewesen. Oder es ist vergangen und ist zukünftig und<br />
gegenwärtig gewesen, [...] Die Charakteristika sind nur<br />
dann inkompatibel, wenn sie gleichzeitig sind, und<br />
dem widerspricht die Tatsache nicht, dass jeder Term<br />
sukzessive alle drei Charakteristika hat.” (McTaggart<br />
1993, 76). Es ist also offensichtlich, dass die<br />
beschriebene Koexistenz der Prädikate spezifiziert<br />
werden muss, denn ohne Spezifizierung ist es<br />
widersprüchlich zu behaupten, dass jedem Ereignis alle<br />
drei Prädikate zukommen. Intuitiv wird man sagen,<br />
jedes Prädikat trifft zu einer bestimmten Zeit zu, aber<br />
nicht zwei oder mehrere gleichzeitig. Hierbei sagt man<br />
das, was McTaggarts Zitat zum Ausdruck bringt,<br />
nämlich etwas “ist gegenwärtig, wird vergangen sein<br />
und war zukünftig.” McTaggart geht jetzt davon aus,<br />
dass die Zeit ausdrückenden Verben nichts anderes<br />
als A-Prädikate sind. Das hätte zur Folge, dass wir mit<br />
demselben Element spezifizierten, das wir ursprünglich<br />
spezifizieren wollten. Wir kommen also nicht weiter,<br />
denn das einzige, was wir erreicht haben, ist auf eine<br />
höher gelegene Zeitebene hinaufzusteigen und dort<br />
denselben Widerspruch vorzufinden.<br />
Selbstverständlich gibt es in der Grammatik auch eine<br />
zeitlose Variante des Verb “sein”, das einfach nur<br />
Attribuierung einer Eigenschaft ausdrückt. Schließlich<br />
gibt es auch Sprachen, die dieses Auxiliarverb<br />
überhaupt nicht ausdrücken, (z.B. das Russische). Aus<br />
diesem Grund versucht McTaggart jetzt die Sätze so<br />
umzuformulieren, dass sie nur mehr eine zeitlose Kopula<br />
und ein weiteres A-Prädikat enthalten, anstatt “E wird<br />
vergangen sein,” sagt er, “E ist vergangen in einem<br />
zukünftigen Moment,” das heißt also “E ist vergangen<br />
in der Zukunft.” Dadurch erhalten wir - laut Dummett -<br />
neun “second order tenses”, von denen drei mit den<br />
“first order tenses” übereinstimmen, nämlich<br />
“vergangen/gegenwärtig/zukünftig in der<br />
Gegenwart”.<br />
Vergangen Vergangenheit Vergangenheit<br />
Gegenwärtig in der Gegenwart in der Gegenwart<br />
Zukünftig Zukunft Zukunft etc.<br />
Bei den Fällen, die sich jetzt noch immer als<br />
widersprüchlich erweisen kann man eine weitere<br />
Zeitebene hinzufügen und so immer weiter. Damit ist<br />
klar, dass der spontane Vorschlag, an den man bei<br />
diesem <strong>Pro</strong>blem sofort denkt, zwar nicht unbedingt ein<br />
Widerspruch bleibt, dafür aber ein regressus ad infinitum.<br />
Die zweite Möglichkeit McTaggarts Argument zu
widerlegen - neben der die B-Reihe als veränderlich<br />
zu bezeichnen - ist es, diesen Widerspruch nicht als<br />
solchen gelten zu lassen.<br />
Damit ein Widerspruch überhaupt zustande kommt,<br />
müssen kontradiktorische oder konträre Prädikate auf<br />
denselben Gegenstand in derselben Hinsicht<br />
angewendet werden. Kein Zweifel, jemand kann<br />
gleichzeitig glücklich über das Überleben seiner Kinder,<br />
aber unglücklich über den Tod seiner Frau sein.<br />
Jetzt kann man behaupten, die A-Reihe beinhalte nur<br />
einen vermeintlichen Widerspruch, denn sie ist<br />
kompatibel im Bezug auf ihre Sukzessivität, aber<br />
inkompatibel im Bezug auf ihre Simultanität, nicht also<br />
im Bezug auf dasselbe. Dieser Einwand scheint<br />
gerechtfertigt. Genauso gut kann jemand die<br />
Verrichtung zweier Tätigkeiten im Bezug auf ihre<br />
Simultanität für inkompatibel (unvereinbar) halten, im<br />
Bezug auf ihre Sukzessivität aber für kompatibel<br />
(vereinbar). Kurz jemand kann Tätigkeiten nicht<br />
simultan, aber trotzdem sukzessive verrichten können.<br />
Das ist kein Widerspruch, denn durch die Adverbien<br />
kann der Widerspruch (etwas verrichten können und<br />
nicht verrichten können) ausgeräumt werden. Die<br />
Hinsicht - ausgedrückt durch Adverbien - spezifiziert<br />
hier und räumt den Widerspruch aus.<br />
Jetzt sollte man sich fragen, welches Verhältnis die<br />
Bezugspunkt (Hinsichten) bei Ereignissen haben. Die<br />
Prädikate “simultan” und “sukzessive” können weder<br />
gleichzeitig wahr noch gleichzeitig falsch sein, zweien<br />
Ereignissen muss notwendig entweder das eine oder<br />
das andere zugeschrieben werden können. Wir sehen<br />
also die Bezugspunkte sind ebenfalls kontradiktorisch.<br />
Jetzt ist die Frage, ob ein Widerspruch auch dann gültig<br />
ist, wenn er sich zwar nicht auf dieselbe Hinsicht<br />
bezieht, aber auf zwei kontradiktorische Hinsichten.<br />
<strong>Pro</strong>bieren wir es zunächst einmal bei einem konträren<br />
Widerspruch:<br />
Ein Gegenstand ist<br />
eckig/mehr Ecken habend im Bezug auf runde Dinge<br />
nicht eckig/weniger Ecken habend im<br />
Bezug auf quadratische Dinge<br />
Hier wurde eindeutig kein Widerspruch produziert,<br />
denn es gibt diesen Gegenstand, es muss einer sein,<br />
der ein, zwei oder drei Ecken hat (ob und wie erstere<br />
geometrisch möglich sind, ist hier irrelevant).<br />
Jetzt mit dem kontradiktorischen Widerspruch in den<br />
Hinsichten.<br />
A-Prädikate sind<br />
kompatibel im Bezug auf ihre Sukzessivität und<br />
inkompatibel im Bezug auf ihre Simultanität.<br />
Versuchen wir einmal die Bezüge hier zu klären. Die<br />
beiden Adjektive “kompatibel/inkompatibel”<br />
beziehen sich kontradiktorisch auf die A-Prädikate, also<br />
nur auf einen Gegenstand, damit entsteht ein<br />
Widerspruch. Die Präpositionalgruppen “im Bezug auf<br />
...” produzierten ebenfalls einen Widerspruch, sofern<br />
sie sich direkt auf den einen Gegenstand bezögen.<br />
Das tun sie aber nicht, sie beschreiben die Adjektive<br />
genauer, und beziehen sich jeweils auf eines von ihnen<br />
und spezifizieren sie damit. Es ist klar, dass hier zwar<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Ist unsere Zeit irreal?<br />
41<br />
zwei kontradiktorische Hinsichten vorliegen, sich diese<br />
aber auf zwei kontradiktorische Adjektive beziehen<br />
und somit nicht auf einen Gegenstand. Dieses Argument<br />
kann man auch daran überprüfen, dass die<br />
Adjektive lediglich mit den Hinsichten permutierbar<br />
sind, so ist es nicht möglich “kompatibel im Bezug auf<br />
ihre Simultanität und inkompatibel im Bezug auf ihre<br />
Sukzessivität” zu sagen. Folglich ist es nicht möglich,<br />
die Bezüge zwischen Hinsichten und Adjektiven zu<br />
missachten. Die oben angeführten Bedingungen für<br />
Widersprüche also nicht mehr vorhanden, denn es<br />
existiert kein Bezug zweier kontradiktorischer<br />
Eigenschaften auf eine Sache.<br />
Es gibt allerdings noch ein überzeugenderes Argument,<br />
den Widerspruch in dem Satz zu widerlegen.<br />
Schauen wir uns ein analoges aber alltagstauglicheres<br />
Beispiel an.<br />
Das Medikament ist<br />
kompatibel mit dem Tod und<br />
Inkompatibel mit dem Leben.<br />
Hier sieht man, dass die kontradiktorischen Elemente<br />
beider Spalten sich neutralisieren. Kompatibel mit dem<br />
Tod zu sein impliziert inkompatibel mit dem Leben zu<br />
sein, die beiden Ausdrücke haben dieselbe<br />
Bedeutung. Sie sind redundant.<br />
Bei den A-Prädikaten ist dasselbe der Fall. Wir haben<br />
festgestellt, dass zwei A-Prädikate - wenn sie<br />
Ereignissen zugeschrieben werden - zwar sukzessiv<br />
kompatibel, aber simultan inkompatibel sind. Es kann<br />
nicht sein, dass ich einem Ereignis zwei A-Prädikate<br />
gleichzeitig zuschreiben kann, sehr wohl aber kann<br />
ich sie nacheinander zuschreiben. Ereignisse können<br />
jetzt aber nicht gleichzeitig simultan und sukzessive<br />
stattfinden, wohl aber eines von beiden. Das heißt,<br />
wenn Ereignisse nicht simultan stattfinden, ist es<br />
impliziert, dass sie sukzessive stattfinden müssen (oder<br />
gar nicht). Daraus folgt, wenn ich diesen Ereignissen<br />
zwei A-Prädikate nicht gleichzeitig zuschreiben kann,<br />
dann ist es automatisch impliziert, dass ich sie ihnen<br />
nacheinander zuschreiben muss. Die Prämisse hierfür<br />
ist, (1) dass “sukzessiv inkompatibel” und “simultan<br />
kompatibel” tatsächlich nicht nur in ihren einzelnen<br />
Teilen kontradiktorisch sind, sondern auch als ganzer<br />
Ausdruck und dass (2) die A-Prädikate simultan<br />
inkompatibel sind. (1) haben wir gezeigt, im Bezug<br />
auf Ereignisse, denen die A-Prädikate zugeschrieben<br />
werden und die entweder simultan oder sukzessiv<br />
kompatibel sind. (2) haben wir schon eingangs aus<br />
der Analyse der zeitbeschreibenden Sprachelemente<br />
festgestellt. In der Tat, anders entwertete es den Sinn<br />
des Satzes. Abschließend kann man sagen, dass der<br />
Widerspruch hier mit der einfachen Frage nach den<br />
Hinsichten der beiden Adjektive gehörig in Zweifel<br />
gezogen werden kann.<br />
Ein anderes <strong>Pro</strong>blemfeld dieses Beweises ist die<br />
indexikalische Natur der A-Prädikate. Lowe<br />
behauptet, dass “McTaggart´s argument simply turn<br />
on a blunder in the logic of indexicals” (Lowe 1987,<br />
65). Wie meint er das? Nun, was meint man, wenn<br />
man “second order tenses” benutzt? Wenn man sagt,<br />
“Das Ereignis E wird gegenwärtig sein”, meint man<br />
korrekter Weise, “Wenn E existieren wird, wird es<br />
möglich sein den dann wahren Satz `E ist<br />
gegenwärtig´ zu äußern.” Lowe schreibt, “The mistake<br />
consists in forgetting the uneliminably indexical na-
ture of A-series expressions, at least while they are<br />
being used as opposed to being mentined.” (Lowe<br />
1987, 67). Es war oben schon einmal die Rede von<br />
der Tatsache, dass ein Individuum an seine zeitliche<br />
Perspektive gebunden ist. Aus diesem Grund kann<br />
man Ausdrücke wie etwa “jetzt” oder “gegenwärtig”<br />
genauso wenig aus einer anderen Perspektive<br />
anwenden wie “ich” im Bezug auf eine andere Person.<br />
Zwar ist es uns möglich, auch von anderen<br />
Perspektiven aus zu sprechen, doch erfordert das<br />
imaginative <strong>Pro</strong>jektion, oder wie man in der<br />
Grammatik sagt, indirekte Rede, nach dem Muster<br />
“Wenn ich “du” wäre, wäre es mir möglich zu dir `ich´<br />
zu sagen.” Dieses Muster scheint man auf alle<br />
möglichen indexikalischen Ausdrücke anwenden zu<br />
können, sowohl auf diejenigen der Zeit und des<br />
Raumes, als auch auf diejenigen der Person. Warum<br />
aber ist es dann für McTaggart scheinbar nicht<br />
interessant, sein Argument auch auf Person und Raum<br />
anzuwenden? Dummett zum Beispiel nimmt diese<br />
Gefahr nicht ernst, er schreibt, “Jeder Ort kann sowohl<br />
“hier” als auch “dort, “nah” und “fern” genannt<br />
werden, und jede Person kann sowohl “ich” und “du”<br />
genannt werden. Doch sind “hier” und “dort”, “nah”<br />
und “fern”, “ich” und “du” inkompatibel.” (Dummett<br />
1993, 122). Wenn unser intuitiver Opponent von vorher<br />
hier genauso wie bei den temporalen A-Prädikaten<br />
versuchen würde, sie ebenfalls mit Hilfe von<br />
zeichenreflexiven Ausdrücken zu spezifizieren, kommt<br />
er vermeintlich zu demselben Resultat. Dummett<br />
schreibt weiter, “Es würde nichts nützen, wenn ein Opponent<br />
sagen würde, dass London nahe daran weit<br />
weg, aber weit weg nahe dran ist oder dass es dort<br />
“hier”, aber hier “dort” ist, da es auch “`nah´ nah”<br />
und “`hier´ hier” und so weiter genannt werden<br />
könnte.” (ebd.). Dummett kontert also genau Lowes<br />
Hinweis bezüglich des indexikalischen Fehlschlusses,<br />
doch ist es interessant, dass auch Dummett mehrer<br />
Formen von Anführungszeichen benutzt, um<br />
anzudeuten, dass sich die zusätzlich einfach<br />
eingeklammerten Ausdrücke auf einem anderen<br />
Niveau befinden. Und genau diese indirekte Natur des<br />
Ausdrucks kann auch hier nicht widerlegt werden.<br />
Aber wie rechtfertigt er aus seiner Perspektive, dass<br />
McTaggart keine analogen Argumente für Raum und<br />
Person findet? Für Dummett sind hierbei die Thesen<br />
(1) und (2) nicht gegeben, dass also Zeit Veränderung<br />
einschließt und die A- Reihe diese Veränderung<br />
wesentlich erklärt. Selbst wenn man nämlich<br />
indexikalische Ausdrücke wie “dort” benutzt, so sind<br />
diese nicht konstitutiv für das Vorhandensein des<br />
Raumes. Das hat damit zu tun, dass es keine zur<br />
zwingenden zeitlichen Perspektive analoge<br />
Raumperspektive gibt. Der, der über den Raum spricht<br />
muss nicht Teil dieses Raumes sein, denn dieser ist nicht<br />
monodimensional wie die Zeit. In Dummetts Worten,<br />
“Im Gegensatz dazu [Zeit] ist die Verwendung<br />
räumlich zeichenreflexiver Ausdrücke nicht wesentlich<br />
für die Beschreibung von Objekten, insofern sie in<br />
einem Raum sind.” (ebd.) Das heißt also, die Prämisse<br />
(2) von McTaggarts Argument trifft beim Raum nicht<br />
zu. Raum gibt es nicht nur dann, wenn auf jeden<br />
Gegenstand im Raum bestimmte A-Prädikate<br />
beziehen kann, wie bei der Zeit “gegenwärtig”,<br />
“zukünftig” und “vergangen”.<br />
Christensen weißt auf ein anderes <strong>Pro</strong>blem hin. Seiner<br />
Meinung nach ist es nichts anderes als eine<br />
grammatikalische Notwendigkeit, dass die A-<br />
Prädikate zeitbestimmende Kopulae bei sich führen.<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Ist unsere Zeit irreal?<br />
42<br />
Die tensed verbs, wie “ist”, “war” oder “wird sein” sind<br />
also nicht - wie McTaggart behauptet - selbst A-<br />
Prädikate, da sie in Präpositionalgruppen transformiert<br />
werden können, die mit jenen semantisch<br />
übereinstimmen. In der Tat aber ist zu Fragen, ob “E<br />
wird gegenwärtig sein” dasselbe bedeutet wie “E ist<br />
gegenwärtig in der Zukunft,” ob es also korrekt ist,<br />
tensed verbs mit Präpositionlphrasen gleichzusetzen.<br />
Die Sprachpragmatik untermauert diesen Einwand,<br />
denn in der Tat verwenden wir letztere immer nur zum<br />
Zweck der Verstärkung der tensed verbs, niemals aber<br />
als ihr Ersatz. Nun ist aber klar, dass diese tensed verbs<br />
doch irgendeinen semantischen Gehalt bei sich führen<br />
müssen, denn würde man ausschließlich zeitlose<br />
Verben (“ist”) verwenden, wäre der Widerspruch<br />
überhaupt unvermeidbar. Um die Natur von tensed<br />
verbs genauer zu analysieren, schreibt Christensen,<br />
“The answer is that it is one kind of adverb - an adverb,<br />
because it modifies the verb. The formal difference<br />
between it an other adverbs is that it is incorporated<br />
physically into the verb, or, as we say, the verb<br />
is inflected.” (Christensen, 203). Er geht nämlich davon<br />
aus, dass es sowohl ein Irrtum ist, tensed verbs, genauer<br />
die zu ihnen gehörigen Adverbien und<br />
Präpositionalgruppen gleichzusetzen als auch letztere<br />
für strukturell einfacher zu halten. McTaggart produziert<br />
den Widerspruch, weil er meint in einem Satz mit einem<br />
tensed Verb und einen A-Prädikat eigentlich zwei von<br />
letzteren aufzufinden, die Zeitmomente verschiedener<br />
Ordnung sind (vgl. “second order tense”). Da das eine<br />
aber zu Spezifizierung des anderen eingesetzt wurde,<br />
löst er damit zwar den Widerspruch, führt ihn aber in<br />
einen Regress. Jede zur vermeintlich spezifizierende<br />
Ebene, erfordert wieder eine Erklärung derselben Art<br />
wie die vorhergehende. Christensen sieht aber die<br />
temporalen Adverbien für basaler und logisch<br />
fundamentaler an als die Präpositionalgruppe,<br />
dadurch könnte er McTaggarts Widerspruch als<br />
eigentlich gar nicht widersprüchlich entlarven. Er<br />
schreibt, “But it is then discovered that the latter expression<br />
[prepositional phrase] involves yet a further<br />
tensed copula: `at a past time´ means `at a time which<br />
is now past´. Again McTaggart who must push the regress<br />
another step further in the attempt to de-tense<br />
the A-predicate in the added prepositional phrase,<br />
by adding yet another prepositional phrase of similar<br />
form.” (Christensen 1974, 291). Aus dem Versuch der<br />
Vereinfachung von “E wird gegenwärtig sein” zu “E ist<br />
gegenwärtig an einem Moment, der jetzt zukünftig ist”<br />
wird “E ist gegenwärtig an einem Moment, der<br />
zukünftig ist an einem Moment, der jetzt gegenwärtig<br />
ist”. McTaggart hat versucht durch die<br />
Präpositionalgruppe den temporalen Gehalt des<br />
Verbs loszuwerden (“de-tense”), doch was er dadurch<br />
verursacht sind nur immer neue tensed verbs. Er hat<br />
also einen Lösungsansatz, der sich als falsch<br />
herausstellt, da er immer dorthin zurückführt, von wo<br />
er ausgegangen ist. Hier wird also klar, dass gerade<br />
indem McTaggart versucht den temporalen Gehalt<br />
der Verben, also die “inflected adverbs”, als<br />
Präpositionalgruppe darzustellen, kreiert er den Regress,<br />
dem er eigentlich durch genaue Analyse der<br />
tensed verbs hätte aus dem Weg gehen können.
Nach der Darstellung der beiden<br />
Argumentationsschritte McTaggarts und ihrer<br />
möglichen Angriffspunkte, lässt sich sagen, dass das<br />
Thema seines Gedankens zwar sehr anziehend ist, ja<br />
fast sofort neugierig macht, dass sein Versuch aber so<br />
viele Schwachpunkte enthält, dass er nur durch<br />
Ausarbeitung von Hilfstheoremen heute vertreten<br />
werden kann.<br />
Literatur<br />
Christensen, Ferrel: McTaggart´s Paradox and the<br />
Natur of Time. In: The Phylosophical Quarterly, Vol.24,<br />
No. 97, (Oct., 1974). 289-299.<br />
Dahm, Günter: McTaggarts Beweis der Irrealität der<br />
Zeit - ein Versuch seiner Widerlegung. Studienarbeit.<br />
München/Ravensbrück: Grin Verlag 2007.<br />
Dummett, Michael: McTaggarts Beweis für die Irrealität<br />
der Zeit: Eine Verteidigung. In: Klassiker der<br />
Zeitphilosophie. Hg. Von Zimmerli, Walter, Sandbothe,<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Mike. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft<br />
1993.<br />
Gotshalk, W.D.: McTaggart on Time. In: Mind, New Series,<br />
Vol. 39, No. 153 (Jan., 1930). 26-42.<br />
Lowe, E. J.: The Indexical Fallacy in McTaggart´s <strong>Pro</strong>of<br />
of the Unreality of Time. In: Mind, New Series, Vol. 96,<br />
No. 381, (Jan., 1987), 62-70.<br />
McTaggart, John McTaggart Ellis: Die Irrealität der Zeit.<br />
In: Klassiker der Zeitphilosophie. Hg. Von Zimmerli,<br />
Walter, Sandbothe, Mike. Darmstadt:<br />
Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993.<br />
McTaggart, John McTaggart Ellis: The Unreality of Time.<br />
In: The Philosophy of Time. Hg. von R. Le Poidevin/M.<br />
Mac Beath. Oxford: University Press 1993a. 23-32.<br />
Esther Jauk studiert Philosophie und Germanistik an der Universität Tübingen und der Universität Wien. Sie nimmt als Gast an<br />
der Sommerakademie 2008 teil.<br />
Ist unsere Zeit irreal?<br />
43
Cuthberts Leguan-<strong>Pro</strong>blem<br />
<strong>Pro</strong>tagonisten in philosophischen Gedankenexperimenten<br />
sind in der Regel ein wenig tragische<br />
Figuren – sie werden in Terrarien gestellt, aus denen es<br />
kaum heiles Entkommen gibt, und durch Szenarien<br />
gehetzt, die man schwerlich unbescholten bestehen<br />
kann. Ähnliches gilt, horribile dictu, in bestimmter Hinsicht<br />
auch für theologische Gedankenspiele, etwa jenem von<br />
Cuthberts versuchten Kauf eines Leguans: 1 Cuthbert, so<br />
wird hier angenommen, ist ein netter, tierlieber Student<br />
mit einem Faible für exotische Tiere; regelmäßig überlegt<br />
er montags auf seinem Weg ins zoologische Institut, ob<br />
er sich einen Leguan anschaffen soll. Aus göttlicher<br />
Perspektive ist die Sache gewissermaßen klar: Qua<br />
Allwissenheit weiß Gott immer schon, dass Cuthbert sich<br />
eben diesen Mittwoch einen Leguan kaufen wird – was<br />
vor die heikle Frage stellt: Kann Cuthbert sich mittwochs<br />
nun überhaupt noch gegen den Leguankauf<br />
entscheiden? In diesem Fall, horribilius dictu, hätte Gott<br />
eine falsche Vorhersage getroffen, was qua göttlicher<br />
Unfehlbarkeit nicht denkbar ist. Wenn Gott aber nicht<br />
irren kann, ist Cuthbert wohl kaum als frei zu bezeichnen,<br />
ganz gleich, wie frei er sich beim Kauf auch gefühlt<br />
haben mag – entscheidend ist schließlich nicht das<br />
subjektive Erleben, sondern sind objektive Fakten.<br />
Cuthbert steht also vor dem <strong>Pro</strong>blem, den Leguan aus<br />
freien Stücken kaufen oder nicht kaufen zu wollen, ohne<br />
Gottes Gottsein im klassischen Sinn bestreiten zu müssen.<br />
Das etwas triviale Szenario reißt, global gesprochen, hier<br />
vom göttlichen Attribut der Allwissenheit ausgehend das<br />
nicht-triviale <strong>Pro</strong>blem auf, Gott und Zeit<br />
zusammenzudenken; wiewohl die <strong>Pro</strong>blemfelder<br />
ineinanderspielen, scheint es sinnvoll, gegenwärtig<br />
(zumindest in der analytisch geprägten Tradition<br />
theologischer und religionsphilosophischer Reflexion)<br />
drei diskutierte Fragekomplexe zu unterscheiden: 2 erstens<br />
die gleichsam metaphysische Frage danach, wie<br />
Ewigkeit und Zeitlichkeit allgemein ins Verhältnis zu setzen<br />
sind: Ist Gott omnitemporal, wie das Bibel und patristische<br />
Traditionen favorisieren, oder atemporal, wie seit<br />
Augustinus und Boethius gelehrt wird? Welche<br />
ontologischen und theologischen commitments geht<br />
man damit ein? 3 Und grundlegender gefragt: Welcher<br />
Begriff von Zeit ist in den gegenwärtigen Diskursen, zumal<br />
mit den Naturwissenschaften nach Einstein, überhaupt<br />
angemessen? Zweitens die quasi epistemologische<br />
Frage danach, was Gott über die Zukunft weiß bzw.<br />
wissen kann – ob er etwa (sofern es solche gibt)<br />
irreduzibel indexikalische Überzeugungen haben könne,<br />
wobei zeitliche Indexikalität eine wesentliche<br />
Reflexionshinsicht darstellt: Kann Gott wissen, dass<br />
Cuthbert übermorgen einen Leguan kauft, wenn es sub<br />
specie aeternitatis keinen Begriff von übermorgen gibt?<br />
Oder deutet sich hier eine indexikalisch markierte Grenze<br />
des für Gott Wissbaren an? Und drittens die nicht zuletzt<br />
existentiell relevante Frage danach, ob der Glaube an<br />
einen allwissenden Gott einen theologischen Fatalismus<br />
impliziert, d.h. ob und wie es denkbar ist, dass Cuthbert<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Martin Dürnberger<br />
Leguane, Schachspieler, Bundeskanzler<br />
Zu einigen <strong>Pro</strong>blemen von Gottes Verhältnis zur Zeit<br />
wirklich frei entscheidet und agiert, obwohl Gott immer<br />
schon weiß, wie er entscheiden und agieren wird.<br />
Die umrissenen <strong>Pro</strong>bleme verquicken sich natürlich; das<br />
existentielle Primat der letztgenannten Frage scheint<br />
dabei evident zu sein, nicht bloß vor dem Hintergrund<br />
eines theologisch abgeleiteten Determinismus, sondern<br />
auch und besonders im Blick auf die Theodizee: Man<br />
kann etwa an Mackies bekannten Einwurf gegen die<br />
free-will-defense erinnern, ein allwissender Gott, der die<br />
Zukunft kenne, könnte (den hohen Wert der Freiheit und<br />
die logische Notwendigkeit der Möglichkeit des malum<br />
morale im Rahmen dieser Freiheit vorausgesetzt)<br />
aufgrund seiner Allwissenheit nur solche Menschen<br />
erschaffen, von denen er im voraus weiß, dass sie sich<br />
faktisch aus freien Stücken immer zum Guten entscheiden<br />
werden 4 – eine luzide Kritik, die nicht zuletzt das Verhältnis<br />
von Gott und Zeit und die Frage, wie es adäquat zu<br />
denken sei, betrifft.<br />
Die folgenden Zeilen können und wollen dabei nur in<br />
eingeschränkter Hinsicht aufschlussreich sein: Sie liefern<br />
keinen erschöpfenden Überblick, sondern präsentieren<br />
nur Schlaglichter; sie stellen keinen repräsentativen<br />
Querschnitt durch die Diskurse (etwa den theologischen<br />
Diskurs mit Naturwissenschaften nach der<br />
Relativitätstheorie) dar, sondern haben einen<br />
analytischen Einschlag, mit den Konsequenzen die sich<br />
daraus ergeben, etwa der rationalistischen Färbung; und<br />
sie erheben nicht den Anspruch auf Lösungen, sondern<br />
referieren nur vorhandene Überlegungen – in diesem<br />
Sinne eher einer bescheidenen Einführungs- als einer<br />
ambitionierten Antrittsvorlesung vergleichbar, so diese<br />
Analogie überhaupt erlaubt sein kann.<br />
Die Zeitlosigkeit Gottes<br />
Neuplatonistische Berge<br />
Leguane, Schachspieler, Bundeskanzler<br />
44<br />
Entscheidende Anstöße, Gottes Verhältnis zur Zeit zu<br />
denken, kommen über Augustinus und Boethius von der<br />
neuplatonistischen Tradition; im (philosophischen)<br />
Hintergrund steht hier die ‚philosophische Entdeckung<br />
der Transzendenz’ (Schmidinger) durch Plotin, die auch<br />
die Zeitlichkeit betrifft. Der spekulative Grundgedanke<br />
Plotins ist die logische und ontologische Vorrangigkeit der<br />
Einheit vor der Pluralität:<br />
Alles, was ist, ist durch das Eine: das, was im primären<br />
Sinne ist, ebenso wie alles, was sonst irgendwie unter<br />
das gerechnet wird, was ist. Was wäre es denn schon,<br />
wenn es nicht eins wäre? … Ein Heer ist nicht, wenn<br />
es nicht eins ist; ein Chor, eine Herde ist nicht, ohne<br />
eins zu sein. Und ebensowenig ist ein Haus oder ein<br />
Schiff, wenn sie das Eine nicht haben 5<br />
Ohne Einheit keine Herde, kein Heer, kein Haus – es<br />
braucht ein Prinzip, das aus Vielem etwas Bestimmtes<br />
macht: Ein Haufen von Baumaterialen würde für sich kein<br />
Haus machen – ist es der Zweck, der seine Einheit<br />
ausmacht. Wenn etwas ist, dann muss es eins sein – sonst<br />
wäre es nicht, sondern es gäbe nur seine Bestandteile.
Plotin schließt in dieser Logik bekanntlich auf das Eine, to<br />
hen, als Grundprinzip der Wirklichkeit: Dieses Grundprinzip<br />
kann nicht eine Pluralität sein, weil eine Pluralität ihre<br />
Einheit (ihr Zusammenspiel, die sie überhaupt erst<br />
Pluralität einzelner Elemente sein lässt – denn Pluralität<br />
setzt einen Horizont voraus, vor dem sie Pluralität ist)<br />
wieder von einem anderen empfangen müsste; nur<br />
Einheit verdankt sich selbst keinem anderen Prinzip und<br />
steht unter keinen Bedingungen. Genau das schließt<br />
allerdings Zeitlichkeit aus: Wenn Einssein nur in der Zeit<br />
sein könnte, wäre Zeit eine Art Formalprinzip der Einheit<br />
selbst, i.e. Einheit würde ihr Idion von einem anderen her<br />
empfangen oder nur innerhalb eines anderen Horizonts<br />
sein können. Zeit ist vielmehr, wie man auch täglich<br />
erlebt, ein Differenzfaktor: Zeit ist das Biotop der Pluralität.<br />
Einssein, so auch im Christentum die wirkmächtige<br />
(neu)platonische Tradition, geschieht in diesem Sinne<br />
gegen die Zeit durch die Zeit hindurch – sodass<br />
Geschichte eine Art Bedrohung transzendenter Wahrheit<br />
ist. Die Applikation dieser Überlegungen in theologische<br />
Theoriebildung markiert den Übergang eines omni- zu<br />
einem atemporalen Gottesverständnis. Eine erste,<br />
biblisch vertretene und patristisch weiterentwickelte<br />
Konzeption war davon ausgegangen, „daß Gott<br />
immerwährend [everlasting] ist. Er bestimmt zu allen<br />
zeitlichen Momenten, was geschieht, ‚während es<br />
geschieht’, weil er zu allen zeitlichen Momenten<br />
existiert.“ 6 Das entscheidende <strong>Pro</strong>blem einer solchen<br />
Omnitemporalität ist, ganz im Sinne der<br />
neuplatonistischen Kritik, die Beschreibung Gottes sub<br />
specie temporis – Zeit ist ein übergeordneter<br />
Bezugsrahmen, um Gott zu beschreiben, während die<br />
Idee eines solchen Rahmens im Blick auf Gott nicht<br />
treffend sein kann: „Sie scheint zu implizieren, daß die<br />
Zeit außerhalb Gottes steht, der in ihrem Strom gefangen<br />
ist.“ 7 Gerade hier setzt Boethius an: „Denn alles, was in<br />
der Zeit lebt, ... erfasst das Morgige noch nicht, das<br />
Gestrige aber hat es schon verloren.“ 8 Das kann für Gott<br />
nicht der Fall sein – er steht vielmehr außerhalb der Zeit,<br />
ihm kommt Ewigkeit zu: „Ewigkeit also ist der vollständige<br />
und vollendete Besitz unbegrenzbaren Lebens auf<br />
einmal.“ 9 Von hier aus wird auch Allwissenheit gedacht:<br />
Gott ist alles, was ist, immer präsent – Gott ist wie ein<br />
Beobachter auf einem hohen Berg, der eine <strong>Pro</strong>zession<br />
am Fuße des Bergs beobachtet: Während ein<br />
Beobachter am Fuße des Bergs die <strong>Pro</strong>zessen auf sich<br />
zukommen, vorbei- und schließlich wegziehen sieht<br />
(sodass sich ein Vorher, Jetzt und Nachher ergibt), sieht<br />
Gott immer den ganzen Weg der <strong>Pro</strong>zession. Thomas hat<br />
dieses Bild präziser zu fassen versucht und den Vergleich<br />
mit einem Kreis angedacht:<br />
Da ... das Sein des Ewigen nie aufhört, so ist die<br />
Ewigkeit jeder Zeit und jedem Augenblick der Zeit<br />
gegenwärtig. Dafür kann man, wenn man will, als Bild<br />
den Kreis ansehen. Ein auf der Kreislinie gegebener<br />
Punkt ist nämlich, obwohl er unteilbar ist, dennoch<br />
der Lage nach nicht zugleich mit jedem anderen<br />
Punkte mit da; denn der Zusammenhang der Kreislinie<br />
wird durch die räumliche Anordnung bewirkt. Der<br />
Mittelpunkt aber, der außerhalb der Kreislinie liegt,<br />
steht jedem auf der Kreislinie gegebenen Punkt<br />
unmittelbar gegenüber. Alles also, was in<br />
irgendeinem Teile der Zeit ist, ist mit dem Ewigen mit<br />
da, gleichsam ihm gegenwärtig, obwohl es im<br />
Hinblick auf die einen anderen Teile der Zeit<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Leguane, Schachspieler, Bundeskanzler<br />
45<br />
vergangen oder zukünftig ist. ... Es ergibt sich also,<br />
dass Gott Kenntnis von dem hat, was dem Zeitablauf<br />
nach noch nicht da ist. 10<br />
Versöhnungsgesten<br />
Von diesen prägenden und bestechenden Bildern her<br />
kann man versuchen, auch Cuthberts <strong>Pro</strong>blem in den<br />
Griff zu bekommen. Ein klassischer, bereits auf Origenes<br />
zurückgehender Einwand gegen die Behauptung,<br />
Gottes Vorherwissen eines Handlung x zum Zeitpunkt t<br />
impliziere theologischen Fatalismus, führt die Differenz<br />
von Vorherwissen und Vorherbestimmung ein – Gottes<br />
Vorherwissen, dass p zu t1, steht in keiner kausalen Kette<br />
zu p zu t1. In diesem Fall ist man offensichtlich zwar nicht<br />
von Gottes Wissen vorherbestimmt, aber offensichtlich<br />
von anderen (von Gott überblickten und gewussten)<br />
Faktoren, was theologisch ebenfalls problematisch<br />
erscheint: Wenn etwa in Analogie dazu ein<br />
Neurowissenschaftler alle meine Handlungen während<br />
der <strong>Pro</strong><strong>Scientia</strong>-SoAk voraussagen könnte, könnte ich<br />
mich sowohl subjektiv frei fühlen als auch davon<br />
ausgehen, dass es nicht der Neurowissenschaftler ist, der<br />
meine Handlungen kausal verursacht – aber es bliebe<br />
bei einem ungustiösen Determinismus. Gleiches gilt im<br />
Blick auf Gott: Der Determinismus wäre dann nicht<br />
theologisch, sondern bspw. materialistisch zu etikettieren,<br />
aber man würde dies in theologischen Bilanzbüchern<br />
nicht ohne Scham als Gewinn vermerken wollen.<br />
In der Regel lässt sich angesichts dieses <strong>Pro</strong>blems der<br />
Begriff des Determinismus hinterfragen – und zwar im (vor<br />
dem skizzierten boethianischen Hintergrund)<br />
naheliegenden Hinweis darauf, dass der Begriff des<br />
Vorherwissens im Bezug auf Gott problematisch, mehr<br />
noch: inadäquat ist. Tatsächlich ist „Vorher“ im Bezug<br />
auf Gott, der mit Boethius und Thomas atemporal zu<br />
denken ist, ein philosophisch heikles Etikett. Es gilt<br />
vielmehr: „just as my seeing you sitting, in the present,<br />
does not necessiate your sitting, so neither does God’s<br />
knowledge, in the ‚eternal present’, of your actions<br />
necessiate those actions.“ 11 Thomas von Aquin geht<br />
demnach davon aus, dass Gott die Geschichte nicht<br />
im strengen Sinn voraus kennen könne, da menschliche<br />
Handlungen „in der Gleichzeitigkeit, aber nicht im voraus<br />
erkannt werden können.“ 12 Gottes Vorauswissen, wenn<br />
man den Begriff noch verwenden will, determiniert nicht.<br />
Christoph Jäger hat diesen Einwand (rudimentär)<br />
modallogisch reformuliert: „Es gilt ... zwar<br />
notwendigerweise: Wenn Gott weiß, daß p, dann p;<br />
doch hieraus folgt keineswegs daß p notwendigerweise<br />
der Fall ist.“ 13 Die hypothetische Notwendigkeit de dictu<br />
(die sich aus dem Gottesbegriff ergibt, so wie sich das<br />
Unverheiratsein aus de Begriff des Junggesellen ergibt)<br />
lässt sich nicht in eine absolute Notwendigkeit de re<br />
ummünzen: Wenn Gott etwas weiß, dann weiß er es (das<br />
ist Folge unseres Gottesbegriffs) notwendig und<br />
unfehlbar; aber das heißt nicht in einem einfachen Sinn,<br />
dass es notwendig geschieht – aus der Allwissenheit folgt,<br />
dass Gott im Fall eines donnerstäglichen Leguankaufs<br />
Cuthberts in der Tat eine falsche Meinung gehabt hätte,<br />
aber nicht, dass Gott in diesem Fall auch dieser Meinung<br />
gewesen wäre.<br />
Die Relation verläuft dabei also gewissermaßen in die<br />
Gegenrichtung: Gottes Wissen hängt von unseren<br />
Handlungen ab – das, was Gott (aus unserer Perspektive)
immer schon weiß, wird von dem verursacht, was<br />
Cuthbert (in unserer Perspektive) mittwochs tut, i.e.<br />
Gottes Wissen würde von unseren Handlungen<br />
gleichsam „rückwärts“ determiniert. Allerdings ist die<br />
Idee einer solchen (kausalen) Beeinflussung Gottes<br />
(einmal abgesehen vom <strong>Pro</strong>blem einer Kausalität gegen<br />
die Zeit, wenn man das so salopp formulieren darf) durch<br />
unsere Taten traditionell verdächtig, etwa für Thomas:<br />
„Gott weiß die zukünftigen Dinge ... nicht, weil sie [für<br />
ihn] schon sind, sondern diese sind, weil Gott sie in seinem<br />
schöpferischen Wissen kennt. Sein Erkennen und Wollen<br />
ist nicht abhängig von den Dingen, sondern<br />
voraussetzungslos und frei.“ 14 Während Cuthberts Kauf<br />
eines Leguans mein gegenwärtiges Wissen kausal<br />
beeinflusst (Ich weiß, dass er sich einen Leguan kauft,<br />
weil ich mit ihm unterwegs bin und den Kauf<br />
beobachte), kann das bei Gott nicht der Fall sein – denn<br />
dies, so Nelson Pike summarisch (und im Verweis zu<br />
entsprechenden Stellen bei Boethius), hielt man<br />
traditionell vielfach „unvereinbar mit einem Begriff von<br />
Gott, nach dem Er unabhängig ist und nicht von<br />
Ereignissen in der natürlichen Welt beeinflusst werden<br />
kann.“ 15 Hier zeichnet sich, auch und nicht zuletzt in der<br />
scholastischen Theologie selbst, bereits die<br />
Sollbruchstelle der Analogie ab; ein auch neuerdings<br />
wieder präsentierter Versuch, dem <strong>Pro</strong>blem Herr zu<br />
werden ist das molinistische Konzept der scientia media:<br />
das Wissen Gottes um kontrafaktische Zustände. Der<br />
Grundgedanke dabei ist, leger formuliert, die Relation<br />
zwischen unseren Taten und Gottes Wissen nicht kausal<br />
zu denken. Molina hält (am Beginn gegen die Intention<br />
Thomas’ gewandt, wie ein Vergleich mit dem obigen<br />
von Stosch-Zitat zeigt) demnach fest:<br />
Denn die Dinge, die aus unserer Wahl hervorgehen<br />
oder von ihr abhängen, werden nicht deshalb<br />
geschehen, weil Gott von ihnen im voraus weiß, dass<br />
sie geschehen werden; sondern im Gegenteil: Gott<br />
weiß von ihnen im voraus, dass sie auf die eine oder<br />
andere Weise geschehen werden, weil sie durch<br />
unsere freie Wahl so geschehen werden; und wenn<br />
sie auf eine gegenteilige Weise geschehen würden,<br />
wie sie es könnten, wüsste Er ... im voraus, dass sie<br />
auf eine gegenteilige Weise geschehen würden. 16<br />
Wir können Gottes Wissen also zwar nicht (rückwärts-<br />
)kausal beeinflussen, haben aber eine Art von<br />
„counterfactual power over God’s past beliefs“ 17 – eine<br />
Lösung, die allerdings wohl eher grammatisch als<br />
kategorial zu denken ist, wie Hasker festhält: „It is not<br />
clear, however, how this resolves the basic dilemma.“ 18<br />
Die Rede von einer scientia media legt keine Lösung im<br />
engeren Sinn vor, sondern gibt eine Grammatik an, wie<br />
man allgemein das Verhältnis göttlicher Allwissenheit zu<br />
menschlicher Freiheit zu denken hat – ohne Auflösung<br />
eines der beiden Pole in eine Richtung hin.<br />
Eine neuerdings diskutierte Möglichkeit, die hier noch kurz<br />
vorgestellt sein soll, bezieht sich auch ein<br />
Gedankenexperiment Harry Frankfurts 19 ; das<br />
entscheidende <strong>Pro</strong>blem des Cuthbert’schen<br />
Leguankaufs scheint ja zu sein, dass echte Freiheit eine<br />
Wahlmöglichkeit voraussetzt (Kauf des Leguans vs. Nicht-<br />
Kauf des Leguans), was durch die göttliche Allwissenheit<br />
ausgeschlossen wird. Ein neuerer Lösungsversuch stellt<br />
die Prämisse, dass Freiheit eine Wahlmöglichkeit<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
voraussetze, in Frage – Cuthbert könne sich auch frei zum<br />
Leguankauf entschließen, ohne jemals eine echte Alternative<br />
gehabt zu haben. In Frankfurts Beispiel kontrolliert<br />
ein controller, nennen wir ihn Werner, einen Menschen<br />
namens Alfred. Werner will sichergehen, dass Alfred eine<br />
bestimmte Handlung ausführt, nämlich sein Amt als<br />
Bundeskanzler zurückzulegen; in der Tat hat Werner auch<br />
die medialen und politischen Ressourcen, um Alfred im<br />
Fall des Falles dazu zu zwingen, zurückzutreten, favorisiert<br />
allerdings die Variante, dass Alfred das freiwillig macht.<br />
Aus diesem Grund setzt Werner Alfred strenger<br />
Überwachung aus – zeigt sich, dass Alfred sein Amt<br />
freiwillig zurücklegen wird, unternimmt er nichts, während<br />
er in dem Fall, dass Alfred Widerstand leistet, seine<br />
Kontakte spielen lässt und ihn zum Rücktritt zwingt. Es zeigt<br />
sich in diesem Fall, dass Alfred sich durchaus aus freien<br />
Stücken zum Rücktritt entschließen kann, ohne dass die<br />
Möglichkeit, das Amt zu behalten, jemals wirklich<br />
bestanden hätte. Selbiges kann man auf Cuthbert hin<br />
anwenden. Eine Rückfrage an diese Überlegungen<br />
betrifft die Indikatoren, die die Entscheidung Alfreds<br />
andeuten bzw. bestimmen und an denen sich Werner<br />
orientiert – denn unter Umständen kehrt hier unter der<br />
Hand ein Determinismus zurück, der zwar nicht von<br />
Werner ausgeht, aber gleichwohl Determinismus ist (vgl.<br />
den Einwand weiter oben im Blick auf Origines): „If there<br />
is no causal determination, what prevents the agent from<br />
choosing otherwise than the way God believes she will<br />
choose? ... Since Frankfurt libertarians cannot say this,<br />
we are left with a great mystery.“ 20 Zugleich stellt sich die<br />
Frage der Übertragbarkeit auf das theologische <strong>Pro</strong>blem:<br />
Werner respektiert die Entscheidung Alfreds letztlich nur,<br />
insofern sie in seinem eigenen Sinn ist. Gott hingegen<br />
respektiert die Entscheidung des Menschen offensichtlich<br />
auch dort, wo dies nicht der Fall ist – und verfügt zudem<br />
per definitionem nicht über die Alternative Werners, auf<br />
Menschen Zwang auszuüben. Gleichwohl bleibt die<br />
Diskussion dieser Position in ihrem Ausgang offen und<br />
bietet das Gedankenexperiment einen neueren,<br />
anspruchsvollen Versuch, Gottes Allwissenheit und<br />
menschliche Freiheit zusammenzudenken.<br />
Die Zeitpoligkeit Gottes<br />
Heikle Rückfragen<br />
Leguane, Schachspieler, Bundeskanzler<br />
46<br />
Die <strong>Pro</strong>bleme, die die skizzierten Antworten bei all ihren<br />
Vorteilen mit sich bringen, haben vor allem im 20.<br />
Jahrhundert zu neuen Rückfragen geführt. Die Skepsis<br />
am boethianisch-thomistischen Ewigkeitsverständnis<br />
Gottes scheint dabei vornehmlich zweifach begründet.<br />
Zum ersten rührt sie von den bereits skizzierten<br />
Inkonsistenzen her, die die rationale Formulierbarkeit<br />
eines atemporalen Gotteskonzepts von in Frage stellen.<br />
Dieser vor allem in der analytischen Tradition katalysierte<br />
Zweifel findet sich etwa prominent bei Richard Swinburne,<br />
der davon ausgeht, dass ein atemporales<br />
Gottesverständnis bereits in der Tradition widersprüchlich<br />
ist. In seiner Kritik daran (re-)konstru-iert er in einem<br />
bekannten Essay „Gott und Zeit“ vier Prinzipien, die in<br />
unlösbare Widersprüche führen 21 – sodass er das biblische<br />
omnitemporale Konzept favorisiert, „dass Gott<br />
immerwährend ist, welche wir so verstehen müssen, daß<br />
Gott über alle Zeitspannen hinweg existiert.“ 22 Die<br />
„Zeitlichkeit“ Gottes ist freilich keine Bedingung, die<br />
Gottes Wesen an sich bestimmen würde, sondern frei<br />
gewählt: „In dem Maß, in dem er Gefangener der Zeit
ist, hat er gewählt, dies zu sein. Gott, nicht die Zeit, gibt<br />
den Ton an.“ 23 Aus der analytischen Tradition stammt<br />
auch Nelson Pikes Reformulierung des Allwissenheits- und<br />
Freiheitsproblems „im Rückgriff auf zeitlich relativierte<br />
Modalitäten“ 24 – vorausgesetzt, es ist möglich, einem<br />
Wesen wie Gott Wissen zu bestimmten Zeitpunkten<br />
zuzuschreiben (was aus boethianisch-thomistischer Position<br />
durchaus fraglich, in unserer alltäglichen Perspektive<br />
aber üblich ist: Wir sagen nun mal, dass Gott heute weiß,<br />
was morgen geschieht) gerät man in eine Aporie der<br />
eingangs skizzierten Form: Wie ist es möglich, dass<br />
Cuthbert sich zu t2 frei gegen den Leguankauf<br />
entscheiden kann und Gott zu t1 unfehlbar weiß, dass<br />
Cuthbert zu t2 den Leguan kauft? Pikes (hier nur<br />
holzschnittartig präsentiertes) Argument „ist deduktiv<br />
korrekt. Als entscheidende Frage bleibt dann nur, ob sein<br />
Rekurs auf zeitabhängige Modalitäten legitim ist.“ 25 Die<br />
Legitimität zeitabhängiger Modalitäten wird allerdings<br />
etwa auch von modernen Theologen, die dem<br />
Thomismus verpflichtet sind, geteilt und damit gegen<br />
Thomas optiert: Will man Allwissenheit Gottes klassischthomistisch<br />
verstehen, dann lassen sich, so etwa<br />
Schockenhoff, „die ungewollten deterministischen<br />
Konsequenzen dieses Denkansatzes nicht mehr<br />
vermeiden.“ 26<br />
Zum zweiten und wohl entscheidender ist vor allem die<br />
Theodizee als Stachel dieses Ewigkeitskonzepts zu<br />
nennen: Wenn es für Gott keine Zeit gibt und Gottes<br />
Standpunkt, wie man annehmen muss, der letztlich<br />
objektive ist – ist dann Zeit und alles, was wir in der Zeit<br />
erleben und vor allem auch: erleiden, also auch die<br />
Dauer des Leidens bloße Illusion? Insofern schlechterdings<br />
kein menschliches Erleben ohne Zeit denkbar ist, muss<br />
dieses Erleben, wenn Zeit illusionär ist, selbst ebenfalls den<br />
Index der Täuschung tragen:<br />
Wenn die Zeit aus der Perspektive der göttlichen<br />
Ewigkeit quasi ein offenes Buch ist, dann existiert für<br />
Gott kein Unterschied zwischen unveränderlicher<br />
Vergangenheit und offener Zukunft. Und wenn für<br />
Gott kein solcher Unterschied existiert, dann ist wohl<br />
zu vermuten, daß er überhaupt nicht existiert, was<br />
bedeuten würde, daß die Zeit illusionär ist. 27<br />
Zeit scheint dann ebenso wie alles, was wir konsekutiv in<br />
der Zeit erleben, eine Art Täuschung zu sein – sodass auch<br />
Abschaffung des Leidens, dessen Dauer eine Täuschung<br />
ist, letztlich ebenfalls illusionär ist: Auch eine letzte,<br />
äußerste Verzweiflung, die wir zu einem bestimmten<br />
Zeitpunkt erleben mögen, ist sub specie aeternitatis<br />
immer gegenwärtig zu denken, weil Gott immer alles<br />
zugleich präsent ist, wie sich eben jeder Punkt eines<br />
Kreises in Äquidistanz zum Mittelpunkt befindet. Gottes<br />
forcierte Atemporalität, die nicht zuletzt soteriologische<br />
Intuitionen wahren wollte, da das Bekenntnis zur<br />
(eschatologischen) Erlösung von Mensch und Geschichte<br />
durch den Gott Jesu Christi eines Gottes bedarf, der nicht<br />
in zeitliche Entwicklungen verstrickt ist, sondern<br />
souveräner Herr von Zeit und Geschichte ist, führt hier in<br />
soteriologisch heikle Rückfragen: Ein Gott, der mit den<br />
Menschen mitlebt und -leidet, für den unser irreduzibel<br />
zeitlich strukturiertes Erleben aber illusionär ist, ist völlig<br />
unplausibel.<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Leguane, Schachspieler, Bundeskanzler<br />
47<br />
John Polkinghorne spricht angesichts dieser Einwände<br />
sowie im Verweis auf den theologischen Diskurs mit den<br />
Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert davon, dass es<br />
„in der Theologie mittlerweile weitgehend anerkannt“<br />
sei, dass „Gott sowohl einen ewigen als auch einen<br />
zeitlichen Pol habe“ 28 . Gleichwohl bleibt damit die<br />
Frage, wie Gottes Verhältnis zur Zeit mit seinem<br />
gleichzeitigen Herrsein über Zeit und Geschichte zu<br />
denken ist.<br />
Blutige Nasen an den Grenzen der Sprache<br />
Von der analytischen Tradition her scheint es<br />
naheliegend, die Rede von göttlicher Allwissenheit an<br />
die Rede von seiner Allmacht zurückzubinden –<br />
Allwissenheit „unterliegt“ gewissermaßen den<br />
Bedingungen und Prinzipien göttlicher Allmacht. Was<br />
meint der Begriff der Allmacht? In einem naiven<br />
Verständnis meint Allmacht die Fähigkeit,<br />
gewissermaßen alles tun zu können. Armin Kreiner<br />
definiert dieses Verständnis wie folgt:<br />
Für jeden Zustand Z gilt, dass Gott die Macht hat, Z<br />
auch zu aktualisieren.<br />
An derlei Definitionen setzen klassische Paradoxa an,<br />
etwa Fragen danach, ob Gott einen Stein schaffen kann,<br />
der schwerer ist als er heben kann. Beantwortet man<br />
diese Möglichkeit positiv, würde die Rede von Gott nicht<br />
unter das Nicht-Widerspruchsprinzip fallen – in diesem<br />
Sinne wäre es etwa ebenfalls legitim zu sagen, Gott<br />
könne einen Tisch erschaffen, den er zugleich (in der<br />
gleichen Hinsicht!) nicht erschaffen habe (vgl. Kenny).<br />
In diesem Fall könnte man Theologie kaum mehr gegen<br />
den Vorwurf der Irrationalität und den Verdacht der<br />
Sinnlosigkeit verteidigen. Deshalb legt sich eine<br />
Formulierung des Allmachtsbegriffs nahe, die die<br />
Forderung logischer Konsistenz berücksichtigt. Allmacht<br />
heißt in diesem Sinne, alles tun zu können, was logisch<br />
möglich ist – im Sinne von:<br />
Für jeden widerspruchsfrei beschreibbaren Zustand<br />
Z* gilt, dass Gott die Macht hat, Z* zu aktualisieren.<br />
Der Satz vom zu schweren Stein ist in diesem Sinne,<br />
obwohl er ungleich unverdächtiger daherkommt, in<br />
etwa so einzuschätzen wie der Satz „Gott kann keinen<br />
Morgen schaffen, der draußen grüner ist als kalt“ – als<br />
sinnlos. Hier holt man sich als Theologe gewissermaßen<br />
eine blutige Nase, allerdings nicht, weil man gegen Gott<br />
anrennen würde, sondern weil man gegen die Grenzen<br />
der Sprache läuft. 29<br />
Entsprechend legt es sich in analytischer Tradition nahe,<br />
den Begriff göttlicher Allwissenheit im Rahmen dieses<br />
Allmachtskonzepts zu rekonstruieren:<br />
a) Wir können nur sinnvoll von Gottes Allmacht<br />
sprechen, wenn von dieser Allmacht im Rahmen der<br />
Logik (etwa des Nicht-Widerspruchprinzips) gedacht<br />
wird – eine sprachlogische Formulierung, die freilich<br />
ontologisch in Gottes Wesen begründet ist: „Nicht<br />
vernunftgemäß handeln, ist dem Wesen Gottes<br />
zuwider.“ (Papst Benedikt XVI)
) Das gilt auch für Gottes Allwissenheit: Wir können<br />
Gott nur Wissen zuschreiben, das sinnvoll bzw. logisch<br />
nicht widersprüchlich formulierbar ist: Gott kann etwa<br />
nicht wissen, ob es morgens kälter ist als draußen vor<br />
oder wie ein eckiger Kreis aussieht.<br />
c) Entsprechend der Analysen Pikes u.a. ist es logisch<br />
widersprüchlich, dass Gott alle Entscheidungen von<br />
x unfehlbar und immer schon voraus weiß und dass<br />
x zugleich echte (i.e. objektive, nicht bloß subjektiv<br />
erlebte) Freiheit in seinen Entscheidungen besitzt.<br />
Deshalb ist es nicht rational oder sinnvoll, im Bezug<br />
auf Gott von einem solchen Wissen zu sprechen.<br />
In der Regel wird dem Argument der Hinweis beigestellt,<br />
dass Zukünftiges nicht wissbar sei: „Gott muß alles wissen,<br />
was man wissen kann. Aber wenn die Zukunft noch gar<br />
nicht da ist, kann man sie auch nicht kennen. Auch Gott<br />
kann die Zukunft dann noch nicht kennen.“ 30 Als<br />
Kronzeuge wird gerne Aristoteles (De Interpretatione 9)<br />
hinzugezogen: De futuris contingentibus non est<br />
determinata veritas (in der Formulierung Guicciardinis).<br />
Die skizzierte Position wird in der Zwischenzeit, wie oben<br />
bereits erwähnt, aus anderen Gründen (vor allem<br />
aufgrund des Theodizee-<strong>Pro</strong>blems) auch von Theologen<br />
vertreten, die nicht analytisch geprägt sind und bspw.<br />
dem Thomismus nahestehen, etwa Eberhard<br />
Schockenhoff; ganz im Sinne der Argumentation<br />
Swinburnes wird dabei davon ausgegangen, dass sich<br />
Gott durch die Schöpfung eine Grenze gesetzt hat, die<br />
von göttlicher Macht nicht mehr im Sinne einer potentia<br />
Dei absoluta, sondern entlang einer potentia Dei<br />
ordinata sprechen lässt: Gott bindet sich an seine<br />
Schöpfung – und damit, um des Menschen und seiner<br />
Freiheit willen, in bestimmter Weise auch an die Zeit.<br />
Echte Freiheit des Menschen, also ein Universum mit<br />
offener Zukunft,<br />
setzt allerdings voraus, dass Gott sein eigenes Wissen<br />
um die Zukunft begrenzt hat. Ebenso wie Gottes<br />
Allmacht ist auch seine Allwissenheit nicht durch eine<br />
äußere Grenze, sondern durch seine eigene<br />
Schöpfung begrenzt, weil er eine Welt schaffen<br />
wollte, die Raum für das freie Handeln seiner<br />
Geschöpfe lässt. 31<br />
Gott als Schachspieler<br />
Eine Möglichkeit, diese Reflexionslinie weiter auszuziehen,<br />
deutet sich ebenfalls bei Thomas an und setzt beim<br />
Begriff der Allwissenheit an. Thomas bezeichnet Gottes<br />
Wissen um die Zukunft als scientia practica, als<br />
schöpferisches Wissen, wie es ein etwa Künstler im Bezug<br />
auf ein gerade entstehendes Kunstwerk besitzt. In diesem<br />
Sinne ist es – wenn man das Metaphernfeld, dem Thomas<br />
den Begriff entnimmt, ernst nimmt – weniger einem<br />
propositionalen knowing-that als einem praktischen<br />
know-how vergleichbar: „Dadurch wird die Offenheit<br />
der Zukunft gesichert, weil ja auch der Handelnde trotz<br />
des praktischen Wissens um seine zukünftige Tat weiterhin<br />
frei ist und in eine offene Zukunft schaut.“ 32 In diesem<br />
Sinne mag man formulieren: „Gott weiß die Zukunft als<br />
Zukunft, nicht als Gegenwart oder Vergangenheit; er<br />
weiß das Mögliche als Mögliches, nicht als Wirkliches<br />
oder bereits Geschehenes.“ 33<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Man kann versuchen, dieses Verständnis mit dem “chess<br />
master model” Peter Geachs 34 zu illustrieren: Geach<br />
vergleicht Gott mit einem perfekten Schachspieler, der<br />
zwar in der Tat nicht weiß, welchen Zug sein Gegenüber<br />
als nächstes plant, der aber das Spiel und seine<br />
Möglichkeiten so gut kennt und internalisiert hat, das<br />
letztlich nichts passieren kann, was er nicht als Möglichkeit<br />
kennen würde. Gottes Souveränität zeitlichen Abläufen<br />
gegenüber ist also der eines idealen Schachspielers<br />
vergleichbar, der das Spiel, alle seine Möglichkeiten und<br />
Varianten grundsätzlich beherrscht – sodass die prinzipiell<br />
un-bekannten Entscheidungen des Gegners zwar<br />
tatsächlich de iure unbekannt sind, de facto aber im<br />
Rahmen der von ihm gekannten Möglichkeiten bleiben.<br />
In diesem Sinne weiß also tatsächlich nicht, was passieren<br />
wird, aber er kennt das Feld aller Möglichkeiten und ist<br />
immer Souverän der Lage. Gottes Allwissenheit ist eine<br />
Form von know-how, die im Fortgang des Spiels zu jeder<br />
Zeit präsent ist. 35 Auch wenn die Schachparabel<br />
problematische Bilder bedienen mag (Gott als kühle<br />
Rechenmaschine, Gott als Gegner im Spiel des Lebens<br />
u.a.) 36 , bringt sie dennoch wesentliche Anliegen des<br />
christlichen Gottesbekenntnisses zur Geltung – nicht<br />
zuletzt die eschatologische Souveränität Gottes, die eine<br />
forcierte Verzeitlichung Gottes gerade in Frage stellt und<br />
etwa in einer prozesstheologischen Interpretation, die<br />
ebenfalls einen zeitlichen Pol Gottes annimmt, kaum<br />
mehr behauptbar ist.<br />
Soteriologische Spannung<br />
Leguane, Schachspieler, Bundeskanzler<br />
48<br />
Ganz im Sinne der Einleitung bleibt summarisch<br />
festzuhalten, dass mit diesem kurzen Überblick kaum<br />
mehr als ein Spiel von Andeutungen zum Diskurs gegeben<br />
werden konnte – weniger captatio benevolentia als<br />
Wirklichkeitssinn. Das <strong>Pro</strong>blem bleibt zwischen zwei Polen<br />
aufgespannt, die soteriologisch bestimmt sind: Die<br />
boethianische Kritik an der Omnitemporalität verdankt<br />
sich wesentlich der soteriologischen Motivation, dass ein<br />
Gott, der unter den Bedingungen von Zeitlichkeit existiert,<br />
Erlösung von Schöpfung und Geschichte nicht<br />
garantieren kann. So ist bereits die biblische die<br />
„Transzendentalisierung Gottes“ (Vorgrimler), die im Zuge<br />
der exilischen Schöpfungstheologie durchbricht und die<br />
ihn über Zeit und Geschichte hebt, soteriologisch<br />
motiviert. Im Exil setzt die genuin soteriologische Frage<br />
nach der Möglichkeit eines neuen Exodus ein: Wie ist Heil<br />
jetzt – im religiösen worst-case – noch möglich? 37 Dieses<br />
Fragen weist ein transzendentales Moment auf, d.h. es<br />
reflektiert auf die Bedingung der Möglichkeit eines<br />
zweiten Exodus, i.e. Heils schlechthin;<br />
Schöpfungstheologie (und damit auch die<br />
angesprochene Transzendentalisierung Gottes) ist hier<br />
angesiedelt – also im Bereich der Soteriologie. Franz<br />
Schupp bezeichnet sie aus diesem Grund als<br />
„transzendentale Bundestheologie, als Reflexion auf die<br />
Bedingung der Möglichkeit, wie sich Jahwe sein eigenes<br />
Volk schafft.“ 38 Augustinus und Boethius reformulieren<br />
dieses Heilswissen angesichts des Untergangs des Imperium<br />
Romanum – in der Tat ist Gott davon nicht affiziert,<br />
da er strictu sensu transzendent ist (was auch<br />
geschichtsphilosophisch bzw. theo-logisch festgehalten<br />
wird, etwa in der De Civitate Dei). Gerade deshalb ist<br />
nichts von dem, was passiert, außerhalb der<br />
Erlösungsmacht Gottes – er kennt und weiß um alles. Die<br />
soteriologisch befeuerte und philosophisch katalyisierte
Atemporalität Gottes will damit nicht zuletzt auch die Intuition<br />
wahren, dass das Bekenntnis zur eschatologischen<br />
Erlösung von Schöpfung und Geschichte durch den Gott<br />
Jesu Christi in der Tat nur dann adäquat formulierbar ist,<br />
wenn dieser Gott radikal von dieser Welt verschieden ist<br />
und nicht in ihr aufgeht.<br />
Eben diese radikale Verschiedenheit führt aber zu neuen<br />
soteriologischen Rückfragen nach der göttlichen<br />
Bezogenheit auf eben diese Welt: Ein Gott, der mit den<br />
Menschen mitlebt und -leidet, für den unser irreduzibel<br />
zeitlich strukturiertes Erleben aber illusionär ist, ist<br />
unplausibel – und wertet, auch gegen die exilische<br />
Schöpfungstheologie, in der sich Geschöpflichkeit mit<br />
dem Konzept des Bundes verschränkt, Geschöpflichkeit<br />
ab. In diesem Sinn will auch die Rede von einem zeitlichen<br />
Pol in Gott soteriologische Intuitionen wahren und<br />
adäquat berücksichtigen - in beiden Fällen gründen die<br />
metaphysischen Optionen in soteriological commitments..<br />
Dabei widerspricht die Annahme eines zeitlichen<br />
Pols, dem sich Gott im Schöpfungshandeln aus freien<br />
Stücken um der echten Freiheit des Menschen willen<br />
aussetzt, keineswegs einfachhin dem traditionellen,<br />
scholastischen Gottesbegriff – im Rückgriff auf den<br />
formalen Gottesbegriff des „id quo maius cogitari non<br />
potest“, wie ihn Anselm von Canterbury vorgelegt hat<br />
und der eine Denk- und Sprachregel (Barth) jeder Rede<br />
von Gott darstellt, kann man auch den Gedanken, dass<br />
die Zukunft der Schöpfung für Gott echte<br />
Überraschungen bereithält, wohl durchaus integrieren.<br />
Gerade im Blick darauf und die theologisch gespannte<br />
Rede sowohl von einer Zeitlosigkeit als auch einer<br />
Zeitpoligkeit Gottes, die in der ratio cognoscendi in einer<br />
soteriologischen Spannung gründet, sei abschließend ein<br />
berühmte Tagebucheintragung Kierkegaards zitiert, die<br />
Allmacht und Transzendenz Gottes dialektisch mit der<br />
Freiheit des Menschen zusammenspannt:<br />
Das Höchste, das überhaupt für ein Wesen getan<br />
werden kann, ist, es frei zu machen. Eben dazu gehört<br />
Allmacht, um das tun zu können. Das scheint<br />
sonderbar, da gerade die Allmacht abhängig<br />
machen sollte. Aber wenn man die Allmacht denken<br />
will, wird man sehen, daß gerade in ihr die<br />
Bestimmung liegen muss, sich selber so wieder<br />
zurücknehmen zu können in der Äußerung der<br />
Allmacht, daß gerade deshalb, daß durch die<br />
Allmacht Gewordenes unabhängig sein kann. 39<br />
Literatur<br />
Flint, Thomas, Divine <strong>Pro</strong>vidence. The Molinist Account, Ithaca/NY: CUP 1998.<br />
Frankfurt, Harry G., Frankfurt, Alternate Possibilities and Moral Responsibility, in:<br />
JPh 66 (1969), 828-839.<br />
Geach, Peter, <strong>Pro</strong>vidence and Evil, The Stanton Lectures 1971/72, London CUP<br />
1977<br />
Hasker, William, The foreknowledge conundrum, in: IJPR 50 (2001), 97-114.<br />
Jäger, Christoph (Hg.), Analytische Religionsphilosophie, Paderborn u.a.:<br />
Schöningh 1998.<br />
Jäger, Christoph, Analytische Religionsphilosophie – eine Einführung, in: ders.<br />
(Hg.), Analytische Religionsphilosophie, 11-51.<br />
Mackie, John Leslie, Das Wunder des Theismus, Stuttgart 1985.<br />
Kreiner, Amin, Das Theodizee-<strong>Pro</strong>blem und Formen seiner argumentativen<br />
Bewältigung, in: Ethik und Sozialwissenschaften 12 (2001), 147-157.<br />
Kretzmann, Norman, Allwissenheit und Unveränderlichkeit, in: Jäger,<br />
Analytische Religionsphilosophie, 146-160.<br />
Pike, Nelson, Göttliche Allwissenheit und freies Handeln, in: Jäger, Analytische<br />
Religionsphilosophie, 125-145. Polkinghorne, John, Theologie und<br />
Naturwissenschaft. Eine Einführung, Gütersloh: Kaiser 2001.<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Schockenhoff, Eberhard, Theologie der Freiheit, Freiburg im Breisgau u.a.:<br />
Herder 2007.<br />
Schupp, Franz, Schöpfung und Sünde. Von der Verheißung einer wahren und<br />
gerechten Welt, vom Versagen der Menschen und vom Widerstand gegen<br />
die Zerstörung, Düsseldorf 1990.<br />
von Stosch, Einführung in die Systematische Theologie, Paderborn u.a.:<br />
Schöningh 2006.<br />
Stump, Eleonore/Kretzmann, Norman, Ewigkeit, in: Jäger, Analytische<br />
Religionsphilosophie, 161-195.<br />
Swinburne, Richard G., Gott und Zeit, in: Jäger, Analytische<br />
Religionsphilosophie, 196-217.<br />
Fußnoten<br />
1 Durchaus frei nach: Flint, Divine <strong>Pro</strong>vidence, 36-37.<br />
2 vgl. Jäger, Analytische Religionsphilosophie, 27.<br />
3 Vgl. den berühmten Aufsatz von Eleonore Stump/Norman Kretzmann,<br />
Ewigkeit; sowie: Norman Kretzmann, Allwissenheit und Unveränderlichkeit.<br />
Beide spielen in diesem paper kaum eine Rolle.<br />
4 Mackie, Das Wunder des Theismus, 260-264.<br />
5 Plotin, Über das Gute oder das Eine, VI 9 [9] 1.<br />
6 Swinburne, Gott und Zeit, 196.<br />
7 Swinburne, Gott und Zeit, 196.<br />
8 Boethius, Consolatio Philosophiae, V, 6.<br />
9 Boethius, Consolatio Philosophiae, V, 6.<br />
10 Thomas, ScG I, 66.<br />
11 Hasker, The foreknowledge conundrum, 100.<br />
12 Polkinghorne, Theologie und Naturwissenschaft, 124.<br />
13 Jäger, Analytische Religionsphilosophie, 28.<br />
14 von Stosch, Einführung, 212.<br />
15 Pike, Göttliche Allwissenheit und freies Handeln, 138.<br />
16 Luis De Molina, Liberi arbitrii cum gratiae donis, divina praescientia<br />
providentia, praedestinatione et reprobatione concordia, hg. von John<br />
Rabeneck, Ona, Madrid 1953, q. 14, art. 13, disp. 52, n. 29.<br />
17 Hasker, The foreknowledge conundrum, 103.<br />
18 Hasker, The foreknowledge conundrum, 103.<br />
19 Frankfurt, Alternate Possibilities and Moral Responsibility.<br />
20 Hasker, The foreknowledge conundrum, 109.<br />
21 In äußerst grober Rekonstruktion: a) Alles, was in der Zeit geschieht,<br />
geschieht in einer Zeitspanne, nicht zu einem Zeitpunkt. Der Begriff der<br />
Zeitspanne, der eine Relation beschreibt, ist logisch dem Begriff des<br />
Zeitpunkts vorgeordnet – wir wissen schlechterdings nicht, was es heißen<br />
könnte, dass etwas nur zu einem Zeitpunkt t1 eine bestimmte Farbe hat,<br />
ohne jede zeitliche Dauer. b) Zeit hat ohne Naturgesetze keine Metrik, weil<br />
ohne sie keine Dauer oder eine Zeitspanne feststellbar ist. c) Die Zukunft ist<br />
offen, die Vergangenheit abgeschlossen und (auch von Gott, wie Thomas<br />
von Aquin bereits festhält) nicht mehr beeinflussbar. d) Es gibt irreduzibel<br />
indexikalisches Wissen. In der Folge schließt Swinburne daraus u.a., dass<br />
Gott nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt allwissend sein kann (wir<br />
würden nicht wissen, was das überhaupt bedeuten könnte – der<br />
Wissensbegriff wäre gleichsam überhaupt verabschiedet, er wäre sinnlos)<br />
bzw. dass auch bei Gott sein Handeln den Wirkungen dieses Handelns<br />
vorausgehen muss.<br />
22 Swinburne, Gott und Zeit, 213.<br />
23 Swinburne, Gott und Zeit, 213.<br />
24 Jäger, Analytische Religionsphilosophie, 29.<br />
25 Jäger, Analytische Religionsphilosophie, 29. – Vgl. eine ähnliche<br />
Rekonstruktion mit 8 Teilaussagen bei: Hasker, The foreknowledge<br />
conundrum, 98.<br />
26 Schockenhoff, Freiheit, 326.<br />
27 Kreiner, Das Theodizee-<strong>Pro</strong>blem und Formen seiner argumentativen<br />
Bewältigung, 153.<br />
28 Polkinghorne, Theologie und Naturwissenschaft, 124.<br />
29 Es stellt sich hier auch die Frage, ob eine Macht, die die erwähnten Steinund<br />
Morgen-Beispiele „bewältigen“ könnte, tatsächlich „größer“ (maius)<br />
sei als eine Macht, die das nicht könne – weil hier ja der Begriff des<br />
„größer“ nirgends mehr sinnvoll verhaken könnte. Es ist jedenfalls nicht<br />
ausgemacht, dass man mit dieser Einschätzung dem Anselmschen<br />
Gottesbegriff „id quo maius cogitari non potest“ nicht gerecht wird.<br />
30 Polkinghorne, Theologie und Naturwissenschaft, 124.<br />
31 Schockenhoff, Freiheit, 326.<br />
32 von Stosch, Einführung, 213.<br />
33 Schockenhoff, Freiheit, 326.<br />
34 vgl. Geach, <strong>Pro</strong>vidence and Evil, 57 f.<br />
35 Hier bietet es sich an, die Integration eines aktualen Konzepts von<br />
Allmacht anzudenken: Allmacht Gottes bedeutet, dass nichts von dem,<br />
was passiert, ohne Gott passiert. Mit Peter Knauer gesprochen: Gott ist der,<br />
ohne wen nichts ist – und entsprechend ist seine Allmacht zu verstehen. In<br />
diesem Sinn wäre auch streng von aktualer Allwissenheit zu sprechen: Da<br />
nichts von dem, was passiert, ohne ihn passiert, geschieht auch nichts,<br />
ohne dass Gott weiß, dass es geschieht.<br />
36 Ein kurzer Popkultureller Einschub: Ein Bild, das diese Intuition ebenfalls<br />
bedient, verwendet (der bekennende Katholik) J.R.R. Tolkien: Bei der<br />
Erschaffung Ardas, das in die Existenz gesungen wird, sind bereits<br />
engelsgleiche Geschöpfe, die Ainur, beteiligt, die die Melodien mitprägen<br />
und entwickeln. Als der Ainu Melkor bewusst Mißtöne einfügt, kann der<br />
Schöpfergott Eru Ilúvatar diesen Part dennoch so integrieren, dass<br />
insgesamt wieder ein melodiöses Ganzes entsteht. Auch hier bleiben<br />
freilich Rückfragen.<br />
37 Vorexilisch beantwortete Israel die Frage nach dem eigenen Heil über<br />
die ‚geschichtliche’ Kategorie des Bundes: Der (monolatrisch verehrte)<br />
Gott Israels hatte – innerhalb der Geschichte – einen Bund mit Israel<br />
geschlossen; mit der Geschichtskatastrophe des Exils wird das Konzept<br />
fragwürdig, weil ein Gott, der sich angesichts Ägyptens als so<br />
geschichtsmächtig erwiesen hatte, diese geschichtliche Katastrophe<br />
niemals zulassen hätte dürfen.<br />
38 Schupp, Schöpfung und Sünde, 156.<br />
39 Kierkegaard, Tagebücher, 216; zitiert nach: Schockenhoff, Freiheit, 322.<br />
MMag. Martin Dürnberger, geb. 1980 in Steyr, studierte Kombinierte Religionspädagogik und Fachtheologie an der Universität<br />
Salzburg. Derzeit ist er am Institut für Katholische Theologie (Systematische Theologie) der Universität Köln tätig. Er ist seit 2003<br />
Angehöriger von PRO SCIENTIA und war 2007 einer von zwei gewählten Jahressprechern der StipendiatInnen.<br />
Leguane, Schachspieler, Bundeskanzler<br />
49
„Wenn diese Schrift irgend Jemandem<br />
unverständlich ist und schlecht zu Ohren geht,<br />
so liegt die Schuld, wie mich dünkt, nicht<br />
nothwendig an mir.”<br />
(Friedrich Nietzsche)<br />
„MEINE ELTERN LEHRTEN MICH ETWAS ANDERES ...<br />
ALS SIE AUF DER STRASSE LAGEN... IN IHREM<br />
BLUT...<br />
VÖLLIG SINNLOS ERMORDET...<br />
SIE ZEIGTEN MIR, DASS DIE WELT NUR SINN<br />
ERGIBT,<br />
WENN MAN SIE DAZU ZWINGT...”<br />
(Frank Millers Batman)<br />
„Man kann jede Wahrheit<br />
ertragen, sei sie noch so zerstörerisch,<br />
sofern sie für alles steht und<br />
soviel Vitalität in sich trägt<br />
wie die Hoffnung, die sie ersetzt<br />
hat.”<br />
(E.M. Cioran)<br />
„All my questions are answers to my sins.”<br />
(Slipknot)<br />
[Zitate werden kursiv wiedergegeben. Zitate aus<br />
Schriften Nietzsches erfolgen unter Einsatz der Kritischen<br />
Studienausgabe von Colli/Montinari (in Folge: KSA) 1<br />
und<br />
unter Übernahme der im Original vorfindlichen<br />
Hervorhebungen (Sperrung, Fettdruck). Die Titel, der von<br />
mir verwendeten Werke Nietzsches, kürze ich in weiterer<br />
Folge – in Übereinstimmung mit der einschlägigen<br />
Literatur – 2 derart ab: AC = Der Antichrist / FW = Die<br />
Fröhliche Wissenschaft / GD = Götzen-Dämmerung / GM<br />
= Zur Genealogie der Moral / GT = Die Geburt der<br />
Tragödie / JGB = Jenseits von Gut und Böse / M =<br />
Morgenröthe / MA = Menschliches, Allzumenschliches /<br />
UB = Unzeitgemäße Betrachtungen / Za = Also sprach<br />
Zarathustra.]<br />
0. Einleitung<br />
Nietzsches Œuvre zeigt sich mir als die Dokumentation<br />
einer titanisch angelegten Treibjagd auf Antworten auf<br />
die Frage, wie ein Leben gelingen kann. Auch aus all<br />
den Überlegungen vordergründig theoretischer Natur<br />
tönt – wenn man Ohren hat – der Kriegslärm einer Ethik.<br />
„Was soll ich tun?”, will Nietzsche wissen. Doch niemand<br />
antwortet. Gott und all seine kläglichen Substitute sind<br />
tot, die Erde treibt zwecklos durch den Raum, von allen<br />
Sonnen losgekettet. Auch die Stimmen in ihm selbst sind<br />
verstummt, zum Tinitus degeneriert, zum Gesäusel<br />
verkommen, weil sie durch radikale Kritik ihrer einstigen<br />
Dignität beraubt wurden. Es gibt keinen vorfindbaren<br />
Halt mehr, keine verpflichtende Instanz, keinen universal<br />
gültigen Imperativ. Weder in der je Einzelnen noch<br />
außerhalb derselben. Nichts ist geblieben. Alles ist im<br />
Fluss.<br />
Nietzsche wirkt bald schon mit vollem Bewusstsein um<br />
die heiße Leere des Seins. 3<br />
Wie soll ich existieren, im<br />
Angesicht des Umstands, dass das Alles ein Nichts ist? –<br />
Wo der Leserschaft dieses <strong>Pro</strong>blem nicht unter<br />
Hammerschlägen vorgestellt wird, spaziert es auf<br />
Taubenfüßen zwischen den Zeilen.<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Stefan Rois<br />
Gewordenheit und Geltung. Oder: Die Zeit heilt alle Wunder.<br />
Oder: Blitzlicht auf Nietzsches „Zur Genealogie der Moral”<br />
Die Zeit heilt alle Wunder<br />
50<br />
Wer in eine derartige Situation hineinspricht, dem bietet<br />
sich die Möglichkeit der Resignation geradezu an: Wenn<br />
nichts als Vergänglichkeit bleibt und das Leben keinen<br />
übergeordneten Zweck hat, dann will ich es nicht mehr<br />
leben oder es so leben als lebte ich nicht, also die Kräfte<br />
wissentlich versiegen lassen bzw. sie gegen mich selbst<br />
richten. Eine weitere Option ist der Versuch, die Flucht<br />
nach hinten anzutreten, und sich durch Rückgriff auf<br />
bereits enttarnte oder Erfindung neuer, vermeintlich<br />
allgemein gültiger Illusionen von der schmerzvollen<br />
Wahrheit abzulenken. 4<br />
Der erste (und selten beschrittene)<br />
Weg ist jener der vorsätzlichen Lebensverneinung. Der<br />
zweite jener der über sich selbst nicht aufgeklärten<br />
Lebensverneinung, denn jedes Ideal, das zur<br />
Verdrängung oder Ablehnung der Gedanken von der<br />
völligen Transzendenzfreiheit und objektiven Sinnlosigkeit<br />
der Welt dient, dient auch der Degradierung des Daseins.<br />
Solange die Welt nicht genug ist, deren lückenlose<br />
Immanenz und deren Freiheit von jeglicher Bedeutungan-sich<br />
nicht akzeptiert wird, findet das Leben in dieser<br />
Welt immer im Hinblick auf Kommendes, Abwesendes,<br />
Nichtvorhandenes statt. Solange der Welt ein<br />
nichtweltlicher Sinn übergestülpt wird, ist das Leben in<br />
dieser Welt nie bei sich selbst und entwertet sich<br />
zugunsten eines Seins in einer Über-, Hinter-, Nichtwelt. 5<br />
Der Sinn, den es objektiv nicht gibt, wird als objektiv<br />
gegeben behauptet und verhindert somit die Affirmation<br />
der einzig möglichen Form von Sinn, die kein Spuk ist,<br />
nämlich des je und je individuell erschaffenen und<br />
ausgeübten Sinns.<br />
Nietzsche weist jede Art von Lebensverneinung zurück<br />
und versucht das Ungeheuerliche: Wege und Gründe<br />
aufzuzeigen das Leben ohne Netz und doppelten Boden<br />
zu bejahen. Er gibt die zum Scheitern verurteilte Suche<br />
nach dem Sinn auf, um damit zu beginnen Sinn zu<br />
generieren. Es gibt nichts zu finden. Es gilt alles zu<br />
erfinden... Nein, nicht einmal das. Es muss gelebt werden<br />
und nichts außerdem.<br />
Nietzsche arbeitet von Anfang an, jedoch mit<br />
zunehmender Deutlichkeit, heraus, dass die Frage nach<br />
dem Existentialsinn letztlich immer schon ein Symptom<br />
des Niedergangs, des geschwächten, verunsicherten,<br />
indirekten Lebens ist. Für den Starken ist sie<br />
uneingeschränkt bedeutungslos, eine lächerliche Scham.<br />
Denn sie setzt eine Selbstzerteilung des Menschen voraus,<br />
die diesem souveränen Tier unbekannt ist. Ist der Mensch<br />
in-dividualisiert, schmettert pure Praxis den Zweifel am<br />
Leben nieder. Wessen Instinkte noch nicht verpestet sind,<br />
wer seine Impulse nicht umlügt, wer sich dem Leben als<br />
bloßem Leben hingibt, will nicht wissen, was es bedeutet.<br />
Das Werden ist. Und das ist gut so. Die stehende Ewigkeit<br />
hingegen ist eine Lüge, ein frommer Wunsch, ein<br />
Ablenkungsmanöver. Die Zeit heilt alle Wunder.<br />
Nietzsches Unternehmen, die heitere Hingabe an dieses<br />
Kommen und Vergehen ohne Fluchtweg zu<br />
proklamieren, benötigt Vorarbeiten. Um die Kräfte zu<br />
entwickeln, die für das Gelingen dieses <strong>Pro</strong>jekts der Furcht<br />
erregenden Lebensbejahung unabdingbar sind, muss<br />
zuallererst die Wahrheit des Nichts und das Nichts dieser<br />
Wahrheit angenommen und die gängige<br />
Lebensverneinung als solche erkannt werden. Hierzu ist<br />
es wiederum notwendig die herrschenden Sinnstiftungen<br />
einer radikalen Kritik zu unterziehen. Der große<br />
Gegenstand – nicht unbedingt ausschließlich Gegner –<br />
Nietzsches ist hierbei die Moral, insbesondere in jener<br />
Erscheinungsform, die den Okzident offen oder<br />
verborgen seit etwa 2000 Jahren mit Abstand am
intensivsten prägt, nämlich der jüdisch-christlichen. Nur<br />
wer die alten Tafeln zerbricht, kann eine „Umwertung aller<br />
Werte” durchführen.<br />
„Mit der »Morgenröthe« nahm ich zuerst den Kampf<br />
gegen die Entselbstungsmoral auf.” 6<br />
, schreibt Nietzsche<br />
kurz bevor er – so berichtet eine berühmte Anekdote –<br />
ein Pferd und den so genannten Wahnsinn in die Arme<br />
schloss. M (1881) und FW (1882) sind die ersten Feldzüge<br />
gegen den körperlosen Geist der „décadence” und in<br />
vielfacher Hinsicht Zeugnisse der Suche nach dem<br />
souveränen Standpunkt, der sich erst im Weitblick und<br />
Tiefgang der nachfolgenden Phase als gefunden erweist.<br />
Der Zenit des Nietzscheanischen Denkens – im<br />
Allgemeinen, aber besonders auf das Moralproblem<br />
bezogen – scheint mir zwischen 1883 und 1887 erreicht<br />
und mit der Werktrias Za (1883, 1884, 1885), JGB (1886),<br />
sowie GM (1887) zu Papier gebracht. Diese Schriften<br />
verrichten eine Dekonstruktion der ethischen Systeme<br />
und führen Feldzüge gegen jegliche Absolutheits-<br />
Ambition. Die Texte aus 1888 – dem letzten Schaffensjahr<br />
Nietzsches (1889 ist Nietzsche nur noch in den ersten<br />
Jännertagen arbeitsfähig) – sind Dynamit. Mit monströser<br />
Energie entfaltet Nietzsche die Erkenntnisse der Vorjahre,<br />
was jedoch nicht nur mit einer beeindruckenden<br />
Strahlkraft der Texte einhergeht, sondern auch mit einer<br />
weiteren Verflachung der vorgenommenen<br />
Darstellungen.<br />
Zwischen den von mir hervorgehobenen drei Arbeiten<br />
bestehen starke inhaltliche Bänder, während die Form<br />
recht unterschiedlich ausgefallen ist. Za ist die vorsätzliche<br />
Verschwendung sprachlicher Mittel. Das Ausufern und<br />
Überlaufen, das Schenken und Schaffen des<br />
Übermensch-<strong>Pro</strong>pheten Zarathustra findet seine<br />
Entsprechung in der Gestalt des Textes. Viele zentrale<br />
Gedanken, die dort in metaphorischen Verdichtungen<br />
und fabelhaften Ausbrüchen, durchwegs den Duktus<br />
religiöser Texte persiflierend, vermittelt werden, legt JGB<br />
über weite Strecken im bewährten Aphorismusstil, mit<br />
deutlich kühlerem Elan aus. GM schließlich verfährt bei<br />
der Präsentation des Anliegens der Vorgängerschriften<br />
so durchkomponiert und systematisch wie kein zweiter<br />
Text Nietzsches. Allen dreien ist gemeinsam, dass sie<br />
bemüht sind, Moral als eine abgeleitete Größe zu<br />
entlarven. Moral als eine Normativität, die aus den<br />
Behauptungen von Existenz und Kenntnis<br />
uneingeschränkt gültiger Handlungsanweisungen<br />
(inhaltlicher oder formaler Natur) geboren wird, ist nicht<br />
immer da gewesen, ist nicht vom Himmel gefallen, hat<br />
keinen einfachen Ursprung. Der Anspruch von Sittlichkeit<br />
überhaupt hat – ebenso wie die verschiedenen Sitten<br />
und untrennbar verbunden mit diesen – eine komplexe<br />
Geschichte, seine Gültigkeit ist eine sukzessiv<br />
entstandene und kann darum auch wieder vergehen.<br />
Die jeweilige Moral der Gegenwart ist ein Knotenpunkt,<br />
der sich aus unzähligen Fäden zusammensetzt, die alle<br />
in eine nie völlig greifbare, unendlich komplex vernetzte<br />
Vergangenheit weisen und sich erst allmählich gefunden<br />
haben. Sie besitzt also keine Herkunft, sondern viele<br />
Herkünfte. Moral tritt mit einer Maske der Geltung auf,<br />
die zwar oft – aus der Sicht derer, deren zweite Haut sie<br />
ist – erwünschte Effekte hervorbringt, die aber unter<br />
Attacken konsequenter Rationalität zerbrechen muss. Ein<br />
Blick auf die Genese der Moral schürt hierbei nur den<br />
Verdacht. Auf die historische Rekonstruktion folgt der<br />
Todesstoß. Beim Barte des <strong>Pro</strong>pheten gelangt das<br />
Ockham’sche Rasiermesser zum Einsatz und der Wert der<br />
Moral wird aus der Perspektive des Lebens heraus<br />
relativiert und letztlich völlig destruiert.<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Für Nietzsche ist klar: Das Ethos hat stets seine<br />
Geschichtlichkeit und Bedingtheit vergessen müssen, um<br />
als etwas Transhistorisches und Absolutes auftreten zu<br />
können. Um dies aufzuzeigen, versucht er eine<br />
skizzenhafte und fragmentarische Genealogie der<br />
Moral. Durch sie soll angedeutet und erwiesen werden,<br />
wie differenziert und polyphon sich die Entstehung der<br />
Moral vollzog, auf welche durchwegs amoralischen<br />
Bedürfniskonstellationen ihr Auftauchen eine Reaktion<br />
ist und – das ist das eigentlich Entscheidende – welche<br />
katastrophalen Auswirkungen Moral in Bezug auf den<br />
Grad der Vollkommenheit des Lebens zeitigt. Es sollen<br />
damit wirkmächtige Strategien zur Verdeckung des<br />
Nihilismus ans Tageslicht befördert werden, um unverhüllt<br />
ins Auge des Nichts blicken zu können und die<br />
narkotisierende, entkräftende Selbsttäuschung gegen<br />
das Wagnis des großen Ja einzutauschen.<br />
Die vorliegende Arbeit nimmt Nietzsches Text GM in den<br />
Blick. Sie präsentiert zuerst einige allgemein gehaltene<br />
Gedanken zu dieser Schrift und versucht danach den<br />
Inhalt der Vorrede zu rekonstruieren.<br />
1. Zu „Zur Genealogie der Moral”<br />
1.1. Eckdaten<br />
Nietzsche selbst gibt im April 1888 in einem Brief an Georg<br />
Brandes an, GM zwischen 10. und 30.7. 1887 erstellt zu<br />
haben. Nicht alle Kommentatoren schenken dieser<br />
Datierung (vollen) Glauben. 7<br />
Es gilt jedoch als<br />
unbestritten, dass Nietzsche GM in verhältnismäßig kurzer<br />
Zeit während eines Aufenthalts in Sils-Maria im Sommer<br />
1887 verfasst hat. Die Rasanz der Niederschrift wirkt<br />
weniger imposant, sobald man sich Nietzsches<br />
Arbeitsweise vor Augen hält. Es dürfte kein heroischer<br />
Kraftakt für ihn gewesen sein, „aus dem großen Schatz<br />
aphoristischen Materials, das sich unablässig erweiterte,<br />
jeweils in ganz wenigen Wochen Manuskripte für den<br />
Druck zusammenzustellen und abschließend zu<br />
bearbeiten.” 8<br />
Das Werk erscheint im November 1887 im Verlag von<br />
C.G. Naumann (Leipzig). Auf der Rückseite des<br />
Titelblattes der ersten Ausgabe findet sich die<br />
Bemerkung: „Dem letztveröffentlichten »Jenseits von Gut<br />
und Böse« zur Ergänzung und Verdeutlichung<br />
beigegeben” 9<br />
Die Zeit heilt alle Wunder<br />
51<br />
. JGB wiederum war bereits selbst eine Art<br />
Appendix und zwar zu den vier Büchern von Za: „So<br />
gewiß auch dies »Vorspiel einer Philosophie der Zukunft«<br />
keinen Commentar zu den Reden Zarathustra’s abgiebt<br />
und abgeben soll, so vielleicht doch eine Art vorläufiges<br />
Glossarium, in dem die wichtigsten Begriffs- und Werth-<br />
Neuerungen jenes Buchs [...] irgendwo einmal<br />
vorkommen und mit Namen genannt sind.” 10<br />
Somit ist<br />
GM die „Erläuterung einer Erläuterung” 11<br />
.<br />
Als eine solche beleuchtet dieser Text den Gegenstand<br />
der Moral in erster Linie betreffs dessen Vergangenheit,<br />
während die vorangegangene, von ihm zu erläuternde<br />
Schrift – die sich als ein Vorspiel zu einer Philosophie der<br />
Zukunft ausweist – den Schwerpunkt auf Kommendes<br />
oder zumindest Erhofftes legt. 12<br />
In GM zeigt sich ein neu erstarkter „Wille zum<br />
Zusammenhang” 13<br />
, der sich in JGB bereits dort und da<br />
angedeutet hat. Anstatt von monolithischen<br />
Aphorismen und Reden, finden sich in GM wieder<br />
geschlossene Formationen von Kurzessays, die einem<br />
größeren Gedankengang verpflichtet sind. Formal<br />
vollzieht sich in und mit GM also weniger ein Anschluss<br />
an die mittlere Schaffensperiode, als vielmehr ein<br />
Rückgriff ins Frühwerk (v. a. GT und UB). 14
1.2. Titelreflexionen, Begriffsklärungen<br />
1.2.1. „Zur Genealogie ...”<br />
„Genealogie” steht seit dem 17. Jahrhundert für die<br />
historische Untersuchung eines Phänomens durch<br />
Erforschung seiner Abstammung. 15<br />
Auch Nietzsche<br />
betreibt eine Form von Ahnenkunde. Er versucht den<br />
Familienstammbaum ausgesuchter moralischer Größen<br />
und der Moral selbst zu skizzieren. Seine Genealogie<br />
versucht das – letztlich unendlich komplexe – Netz der<br />
Vorfahren gewisser Handlungsmaximen und<br />
Wertvorstellungen aufzudecken und auszudeuten.<br />
Nietzsche glaubt dabei weder an einen monokausalen<br />
Ursprung, noch an göttlich provoziertes Beginnen. Beide<br />
Ideen werden durch eine plausible Genealogie von<br />
vornherein abgeschmettert. „Die Geschichte mit ihren<br />
Mächten und Ohnmachten, mit ihren geheimen<br />
Rasereien und ihren Fieberstürmen ist der Leib des<br />
Werdens. Nur ein Metaphysiker kann ihr eine Seele in<br />
der fernen Idealität des Ursprungs suchen wollen.” 16<br />
Diese Methode sieht sich des Weiteren auch keiner<br />
Geschichtsteleologie, keiner geschlossenen Historie<br />
verpflichtet. Die Ereignisse werden nicht gesammelt, um<br />
in Ablaufgesetze eingeschrieben, sondern um zuallererst<br />
in ihrer Kontingenz und Einzigartigkeit ernst genommen<br />
zu werden. Wo die großen Dialektiker große<br />
Versöhnungen sehen, liegt im Grunde nur ein Karneval<br />
von Brüchen, Verrückungen, Singularitäten vor.<br />
Im Gegensatz zu herkömmlicher Geschichtsschreibung<br />
gesteht sich Nietzsches Genealogie zumindest implizit<br />
ein, wie begrenzt ihre eigene Reichweite ist und wie<br />
willkürlich sie selbst agieren muss. Denn „sie verweist auf<br />
eine sich in der Vergangenheit verlierende<br />
Vielfältigkeit” 17<br />
und der Ausgangspunkt, den sie für ihren<br />
Rückblick wählt, unterliegt keinem Maßstab im Sinne<br />
einer objektiven Rangordnung von Ereignissen, sondern<br />
dem Interesse und Belieben des Genealogen / der<br />
Genealogin. Eine Genealogie kann prinzipiell niemals<br />
vollständig, niemals omniperspektivisch sein. Wohl auch<br />
deswegen schreibt Nietzsche nicht „Die Genealogie der<br />
Moral”, sondern „Zur Genealogie der Moral”. 18<br />
Genealogie meint eine „Rekonstruktion der Herkunft von<br />
heute »Geltendem« aus bestimmten historischen<br />
Situationen und psychischen Dispositionen. [...]<br />
Hauptzweck der Genealogien ist es [...] den<br />
Machtkampf ans Licht zu bringen, der hinter dem<br />
Vertrauten und Selbstverständlichen, hinter dem hoch<br />
Verehrten und selbst hinter scheinbar »rein geistigen«<br />
Phänomenen am Werk war und ist.” 19<br />
Hinter den Dingen<br />
lauert „nicht deren geheimes, zeitloses Wesen, sondern<br />
das Geheimnis, dass sie gar kein Wesen haben oder ihr<br />
Wesen Stück für Stück aus Figuren konstruiert wurde, die<br />
ihnen fremd waren.” 20<br />
Die „wirkliche Geschichte” birgt also keine<br />
Wunderursprünge und keine transhistorischen<br />
Konstanten, welche eine Legitimation der Moral<br />
unterstützen würden. Im Gegenteil: Auch wenn<br />
genealogische Arbeit alleine nie die Geltung<br />
moralischer Imperativer vernichtet, so befördert sie doch<br />
deren Gewordenheit, das Zufällige, das <strong>Pro</strong>fane und<br />
Banale an ihnen zu Tage und erhärtet somit zumindest<br />
die Skepsis gegen ihren Absolutheitsanspruch.<br />
„Erforschung der Herkunft liefert keine »Fundamente«,<br />
vielmehr beunruhigt und zerteilt sie.” 21<br />
1.2.2. „... der Moral”<br />
Der Terminus „Moral” findet bei Nietzsche keine<br />
eindeutige Verwendung. 22<br />
Eine präzise Begriffsanalyse<br />
würde eine Vielzahl von unterschiedlichen Facetten ans<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Tageslicht befördern. Eine derartige Untersuchung würde<br />
bezüglich Intention und Kapazität dieser Arbeit fehl<br />
gehen. Ich begnüge mich hier mit der Feststellung, dass<br />
es auf basalster Ebene in Nietzsches Werk zwei<br />
verschiedene Stoßrichtungen des Begriffes „Moral” gibt.<br />
Einmal ist Moral etwas, als dessen Vernichter Nietzsche<br />
sich präsentiert. Diese „Moral” ist es, der er ohne<br />
Einschränkung den Krieg erklärt hat. Ich will sie – bei aller<br />
gebotenen Vorsicht – als den Sammelbegriff für<br />
jedwedes Gebilde von Werten, Normen, Tugenden<br />
bezeichnen, das den Starken und Vornehmen bei der<br />
Auslebung ihrer Macht Riegel vorschiebt. Sie stellt dem<br />
„Ich will” derjenigen, die Werte aus sich selbst heraus<br />
schaffen dürfen und können, ein ihnen äußerliches und<br />
vermeintlich allgemein geltendes „Du sollst” entgegen.<br />
Sie versucht die Impulsivität durch normative Ideen wie<br />
Gleichheit, Gewaltlosigkeit, Mitleid, usw. einzudämmen.<br />
Von dieser Moral der Erniedrigung des Lebens durch<br />
Bändigung der vitalen Individuen spricht er stets im<br />
Singular.<br />
Andererseits kennt Nietzsche auch „Moralen”, also den<br />
Plural des Begriffs. In dieser Verwendungsweise ist die<br />
Bestimmung von „Moral” nun weiter gefasst und<br />
Nietzsches Kriegserklärung nur noch eine partielle.<br />
Berühmt und berüchtigt ist etwa seine Dualität von<br />
„Sklavenmoral” und „Herrenmoral”. Die Sklavenmoral ist<br />
gleich zu setzen mit der oben erläuterten Singular-Moral<br />
– der „Moral als Widernatur” 23<br />
–, deren Entmachtung er<br />
wünscht. Die Herrenmoral hingegen ist eine ethische<br />
Haltung, die er befürwortet. Allerdings ist die<br />
letztgenannte – Nietzsche nennt sie auch die „Moral der<br />
Herrschenden” oder „vornehme Moral” – weit davon<br />
entfernt unter den landläufigen Begriff von Moral<br />
subsumierbar zu sein. Kaum jemand hält es für moralisch,<br />
die Gleichheit der Menschen (hinsichtlich ihrer Würde,<br />
ihren Rechten) zu verleugnen, kein Mitleid zu zeigen, 24<br />
Gewalt als legitimes Mittel anzusehen, 25<br />
die Vernichtung<br />
der Schwachen zu wünschen, 26<br />
bloße Willkür walten zu<br />
lassen, 27<br />
usw. Es entbehrt also nicht jeder Grundlage aus<br />
der Position des herkömmlichen Moralverständnisses die<br />
Herrenmoral eine „immoralistische Moral” oder<br />
schlichtweg „amoralisch” zu nennen. Unter jener Plural-<br />
„Moral” versteht Nietzsche also im Grunde jegliches<br />
Modell zur Handlungsorientierung. Als ein solches ist<br />
„Moral” nicht notwendig diesseits von gut und böse,<br />
wenngleich diese Art von Moral spätestens seit dem<br />
Aufstieg des Christentums beinahe die Alleinherrschaft<br />
im Abendland innehat: „Moral ist heute in Europa<br />
Heerdenthier-Moral – also nur, wie wir die Dinge verstehn,<br />
Eine Art von menschlicher Moral, neben der, vor der,<br />
nach der viele andere, vor allem höhere Moralen<br />
möglich sind oder sein sollten. Gegen eine solche<br />
»Möglichkeit«, gegen ein solches »Sollte« wehrt sich aber<br />
diese Moral mit allen Kräften: sie sagt hartnäckig und<br />
unerbittlich »ich bin die Moral selbst, und Nichts<br />
ausserdem ist Moral!«” 28<br />
1.3 Die Vorrede: „[E]ine Kritik der moralischen Werte” 29<br />
oder „[D]er Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in<br />
Frage zu stellen” 30<br />
Nietzsche bringt im zweiten Paragraph der Vorrede auf<br />
den Punkt, worum es sich bei GM handelt, nämlich um<br />
seine „Gedanken über die Herkunft unserer moralischen<br />
Vorurtheile” 31<br />
Die Zeit heilt alle Wunder<br />
52<br />
. Er meint im Wesentlichen die gleichen<br />
Gedanken schon in MA präsentiert zu haben. Es gelte<br />
nun zu hoffen, dass die seither vergangene Zeit für diese<br />
– vormals mangelhaft zum Ausdruck gelangten –<br />
Überlegungen eine Zeit der Reifung war.<br />
Auf die Frage nach der Entstehung unseres Gut und Böse<br />
kann man unterschiedliche Antworten geben – nicht
zuletzt deshalb, weil man die Frage auf unterschiedliche<br />
Weise verstehen kann. Solche Antworten, die auf<br />
göttliches Wirken verweisen, lehnt Nietzsche strikt als<br />
„hinterweltlerisch” ab. Zurückgeworfen auf die Immanenz<br />
des Irdischen verhelfen etwas historisch-philologische<br />
Übung und psychologische Begabung dazu, das<br />
<strong>Pro</strong>blem präzisierend zu reformulieren: „[U]nter welchen<br />
Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werturtheile<br />
gut und böse?” 32<br />
Mit der Ablehnung theologischer bzw.<br />
klassisch metaphysischer Theoreme geht also für<br />
Nietzsche die Einsicht einher, dass der moralische<br />
Standpunkt kein Standpunkt sui generis ist, sondern zur<br />
Gänze aus Amoralischem herleitbar. Gut und Böse sind<br />
kontingente Machwerke des Menschen und universale<br />
Geltungsansprüche darum illusionär.<br />
Es gilt zu erforschen, wie sich die profane Entstehung<br />
dieser Elaborate vollzog. Doch für Nietzsche ist das<br />
Erstellen von Hypothesen über die Genese von Gut und<br />
Böse kein Selbstzweck. Letzten Endes will er gar nicht<br />
wissen, wie die moralische Wertungsweise und damit<br />
moralische Werte in die Welt kamen, sondern welchen<br />
Wert die Moral selbst besitzt. 33<br />
Um aber diese Bewertung<br />
durchführen zu können, ist es unabdinglich ein Wissen<br />
über die historischen Gestalten der Moral zu besitzen,<br />
insbesondere um die diversen Entstehungsfaktoren und<br />
Kontextualitäten ihres Auftretens. 34<br />
Eine Genealogie der<br />
Moral hat also die Aufgabe die kritische Masse zu sichten<br />
und Funktionen, sowie Effizienz der einzelnen Phänomene<br />
freizulegen. Erst wenn ich weiß, welche Motivik sich hinter<br />
dem Erscheinen eines moralischen Wertes verbirgt, auf<br />
welche Konstellationen von Kraft er reagiert und mit<br />
welchem Erfolg, kann ich eine sinnvolle Einschätzung<br />
desselben in Angriff nehmen. In Nietzsches eigenen<br />
Worten: „[W]ir haben eine Kritik der moralischen Werthe<br />
nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in<br />
Frage zu stellen – und dazu thut eine Kenntniss der<br />
Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie<br />
gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und<br />
verschoben haben [...].” 35<br />
.<br />
Doch neben einer solchen geschichtsarchäologischen<br />
Bestandsaufnahme ist mindestens noch etwas für eine<br />
Bewertung der Moral notwendig: ein Maßstab, eine<br />
Kriteriologie. Ich kann mit einem Sachverhalt in- und<br />
auswendig vertraut sein, ich werde diesen doch nicht<br />
sinnvoll bewerten können, wenn mir nicht klar ist, woran<br />
ich ihn überhaupt beurteilen will. Nietzsche spricht als<br />
Verteidiger des Lebens. 36<br />
„Nietzsches Ansatz intendiert<br />
nicht nur das Woher der Moral, sondern auch ihr Wofür,<br />
nicht nur ihre Genealogie, sondern auch ihre Funktion<br />
und deren Legitimation. Die Instanz, vor der sich die Moral<br />
zu verantworten hat, ist das, was Nietzsche »Leben«<br />
nennt.” 37<br />
Nur Phänomene, die eine Förderung des Lebens<br />
bewirken, befürwortet Nietzsche. Und die gängige Moral<br />
steht bei ihm unter dem Verdacht nicht der Bejahung<br />
und Steigerung des Lebens zu dienen, sondern dem<br />
Willen zum Nichts Ausdruck zu verleihen, einen kraftlosen,<br />
resignativen Nihilismus zu fördern. Nietzsche stellt die<br />
bisherigen Werte auf den Prüfstand: „Hemmten oder<br />
förderten sie bisher das menschliche Gedeihen? Sind sie<br />
ein Zeichen von Nothstand, von Verarmung, von<br />
Entartung des Lebens? Oder umgekehrt, verräth sich in<br />
ihnen die Fülle, die Kraft, der Wille des Lebens, sein Muth,<br />
seine Zuversicht, seine Zukunft?” 38<br />
Je nachdem, ob ein<br />
Phänomen die Verwirklichung der „höchste[n]<br />
Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch” 39<br />
begünstigt<br />
oder stört, heißt Nietzsche es gut oder schlecht.<br />
Nachlassfragmente Nietzsches eröffnen das zuletzt<br />
Erörterte in konziser Form und entzieht gleichzeitig dem<br />
Verdacht eines genetischen Fehlschlusses, der gegen<br />
Nietzsches Moralkritik gerne vorgebracht wird, die<br />
Grundlage: „Die Frage nach der Herkunft unsrer<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Die Zeit heilt alle Wunder<br />
53<br />
Werthschätzungen und Gütertafeln fällt ganz und gar<br />
nicht mit deren Kritik zusammen, wie so oft geglaubt wird:<br />
so gewiß auch die Einsicht in irgendeine pudenda origo<br />
für das Gefühl eine Werthverminderung der so<br />
entstandenen Sache mit sich bringt und gegen dieselbe<br />
eine kritische Stimmung und Haltung vorbereitet.” 40<br />
bzw.:<br />
„[W]as sind unsre Werthschätzungen und moralischen<br />
Gütertafeln selber wert? Was kommt bei ihrer Herrschaft<br />
heraus? Für wen? in Bezug worauf? – Antwort: für das<br />
Leben.” 41<br />
Nun ist „Leben” bei Nietzsche ein sehr vielfältiger Begriff,<br />
dessen Vektoren letztendlich zum komplexen Theorem<br />
vom „Willen zur Macht” hinführen: „Aber was ist Leben?<br />
Hier thut also eine neue, bestimmtere Fassung des<br />
Begriffs »Leben« noth: meine Formel dafür lautet: Leben<br />
ist Wille zur Macht.” 42<br />
Ob Nietzsche effiziente, konsistente Begriffe von „Leben”<br />
und „Wille zur Macht” herausarbeitet, ist eine<br />
entscheidende Frage, aber eine, die die Anlage der<br />
vorliegenden Arbeit sprengt. Sicher ist: In GM werden<br />
kaum explizite und – in Anbetracht weiterer Nietzsche-<br />
Schriften – keinerlei erschöpfenden Bestimmungen<br />
vorgenommen. Diese Begriffe werden also schattenhaft<br />
eingesetzt, wirken aber mit Emphase im Unterholz des<br />
Zeichenwaldes.<br />
Was „Leben” für ihn in vollem Umfang und voller Tiefe<br />
nun auch bedeuten mag, es ist die Waage für den<br />
Moralrichter Nietzsche. Allerdings wird diese Waage<br />
selbst nicht abgewogen, oder besser: sie gilt dem<br />
Wägmeister als unwägbar. Der Wert des Lebens tritt in<br />
GM kommentarlos als unantastbar auf. GD liefert<br />
schließlich zwei erläuternde Stellen, mit deren Haltbarkeit<br />
m. E. vieles steht und fällt. Dort thematisiert Nietzsche<br />
explizit die Position des Lebens als eine nicht weiter<br />
übersteigbare und betont, „dass der Werth des Lebens<br />
nicht abgeschätzt werden kann.” 43<br />
Lebens-Werturteile<br />
sind stumpfsinnig und „kommen nur als Symptome in<br />
Betracht” 44<br />
. Die Frage nach dem Rang des Lebens ist<br />
sinnlos, weil kein Standpunkt eingenommen werden<br />
kann, von dem aus eine Einschätzung des Lebens<br />
möglich wäre. Es gibt nämlich keinen Ort außerhalb des<br />
Lebens. „Wenn wir von Werthen reden, reden wir unter<br />
der Inspiration, unter der Optik des Lebens: das Leben<br />
selbst zwingt uns Werthe anzusetzen, das Leben selbst<br />
werthet durch uns, wenn wir Werthe ansetzen ...” 45<br />
Auch<br />
die lebensfeindlichen Wertsetzungen der Sklavenmoral<br />
sind solche des Lebens, jedoch „des niedergehenden,<br />
des geschwächten, des müden, des verurtheilten<br />
Lebens.” 46<br />
An dieser Argumentation zeigt sich, wie problematisch<br />
der Begriff „Leben” bei Nietzsche zum Einsatz kommt.<br />
Ich will diesbezüglich lediglich den Hinweis tätigen, dass<br />
Nietzsche hier mit verschleiernden Äquivokationen und<br />
unscharfen Begriffsopulenzen operiert. Dasjenige<br />
„Leben”, das sich gegen sich selbst wendet, kann nur<br />
um den Preis eines Widerspruchs demjenigen „Leben”<br />
angehören, das Nietzsche gegenüber der Moral<br />
verteidigen will. Nimmt man Nietzsches Ausführungen<br />
beim Wort, so lässt sich feststellen: In seiner Moralkritik<br />
wendet sich das Leben gegen das Leben, das sich<br />
gegen das Leben wendet und zwar vom Standpunkt<br />
des Lebens aus. Dieser Satz ist jedoch absurd, solange<br />
angenommen wird, dass das Wort „Leben” hier viermal<br />
dasselbe bezeichnet. Die Differenzierungen, die<br />
notwendig wären, um ihm sinnvolle Konturen zu
verleihen, trifft Nietzsche jedoch nicht. Womit jedoch<br />
noch nicht schon gesagt ist, dass diese Differenzierungen<br />
nicht erfolgreich vorgenommen werden könnten, quasi<br />
hinter dem Rücken Nietzsches bzw. auf dessen Schultern<br />
stehend.<br />
Fußnoten<br />
1<br />
NIETZSCHE, Friedrich, Sämtliche Werke. Kritische<br />
Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), hrsg. v. Giorgio Colli und<br />
Mazzino Montinari, München/Berlin/New York ²1988.<br />
2 Vgl. das Siglenverzeichnis in: Kommentar zu Band 1–13, KSA<br />
14, 22ff. Weiters: OTTMANN, Henning (Hrsg.), Nietzsche-<br />
Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2000, 535.;<br />
STEGMAIER, Werner, Nietzsches »Genealogie der Moral«,<br />
Darmstadt 1994 (Werkinterpretationen), 237.; HÖFFE, Otfried<br />
(Hrsg.), Friedrich Nietzsche. Zur Genealogie der Moral, Berlin 2004<br />
(Klassiker Auslegen Bd. 29), VII.<br />
3 Nietzsches Überlegungen zum Nihilismus gipfeln im Gedanken<br />
der Ewigen Wiederkehr: „<br />
Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das<br />
Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich<br />
wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: »die ewige<br />
Wiederkehr«. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts<br />
(das »Sinnlose«) ewig!” (Nachlaß 1885 – 1887, KSA 12, 213.)<br />
4 „Die Frage des Nihilismus »wozu?« geht von der bisherigen<br />
Gewöhnung aus, vermöge deren das Ziel von außen her<br />
gestellt, gegeben, gefordert schien - nämlich durch irgendeine<br />
übermenschliche Autorität. Nachdem man verlernt hat an diese<br />
zu glauben, sucht man doch nach alter Gewöhnung nach eine<br />
andere Autorität, welche unbedingt zu reden wüßte, Ziele und<br />
Aufgaben befehlen könnte.” (Nachlaß 1885 – 1887, KSA 12, 355.)<br />
Nietzsche führt Beispiele solcher neuer Autoritäten an:<br />
Gewissen/Moral, Vernunft, sozialer Instinkt/Herde, Historie.<br />
Manfred Frank kommentiert: „Hat man diese Ersatzantworten<br />
als bloße Ausflüchte durchschaut und also die antitheologische<br />
Kehre mit Nietzsche mitvollzogen, dann kann man auch die<br />
Verzweiflung des tollen Menschen korrigieren.” (FRANK,<br />
Manfred, Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie,<br />
Frankfurt/M. 1988, 25.)<br />
5<br />
„Bleibt mir der Erde treu, meine Brüder, mit der Macht eurer<br />
Tugend! Eure schenkende Liebe und eure Erkenntnis diene dem<br />
Sinne der Erde! Also bitte und beschwöre ich euch. Lasst sie<br />
nicht davonfliegen vom Irdischen und mit den Flügeln gegen<br />
ewige Wände schlagen! Ach, es gab immer so viel verflogene<br />
Tugend! Führt, gleich mir, die verflogene Tugend zur Erde zurück<br />
– ja, zurück zu Leib und Leben: dass sie der Erde ihren Sinn gebe,<br />
einen Menschen-Sinn! [...] Unerschöpft und unentdeckt ist<br />
immer noch Mensch und Menschen-Erde.” (Za I, KSA 4, 99f.)<br />
6 EH, KSA 6, 332.<br />
7<br />
Colli/Montinari und Janz akzeptieren Nietzsches Information<br />
stillschweigend (KSA 14, 377; JANZ, Curt Paul, Friedrich Nietzsche.<br />
Biographie, Bd.3, München/Wien 1979, 371). Stegmaier setzt die<br />
Entstehungszeit zwischen 10.7. und 28.8.1887 an (STEGMAIER,<br />
Nietzsches „Genealogie der Moral”, 34), Raffnsøes<br />
Ausführungen deuten – ohne eine Festlegung zu beinhalten<br />
– auf eine ähnliche Position hin (RAFFNSØE, Sverre, Nietzsches<br />
„Genealogie der Moral”, Paderborn 2007, 23f), Brusotti und<br />
Höffe sprechen vom Zeitraum 10.6. bis 3.7.1887 (BRUSOTTI,<br />
Marco, Vom Zarathustra bis zu Ecce homo (1882-1889) [Art.],<br />
in: OTTMANN (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch, 120-137, dort 125.;<br />
HÖFFE, Otfried, Einführung in Nietzsches „Genealogie der<br />
Moral”, in: DERS. (Hrsg.), Friedrich Nietzsche. Zur Genealogie der<br />
Moral, 7.)<br />
8<br />
FRENZEL, Ivo, Friedrich Nietzsche. Mit Selbstzeugnissen und<br />
Bilddokumenten, Reinbek 1966 (rowohlts monographien), 120.<br />
Vgl. BRUSOTTI, Vom Zarathustra bis zu Ecce homo, 124.<br />
9<br />
Kommentar zu Band 1-13, KSA 14, 377.<br />
10<br />
Kommentar zu Band 1-13, KSA 14, 345.<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
11 STEGMAIER, Nietzsches „Genealogie der Moral”, 26.<br />
12<br />
Hierzu vgl. PÜTZ, Peter, Nachwort, in: NIETZSCHE, Friedrich, Zur<br />
Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, mit einem Nachwort,<br />
einer Zeittafel zu Nietzsche, Anmerkungen und bibliographischen<br />
Hinweisen von Peter Pütz, [München/Gütersloh] 1999, 149-182,<br />
hier 149.<br />
13 PÜTZ, Nachwort, 150.<br />
14<br />
Vgl. PÜTZ, Nachwort, 149f.<br />
15<br />
Vgl. RAFFNSØE, Nietzsches „Genealogie der Moral 17.<br />
16<br />
FOUCAULT, Michel, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in:<br />
DERS., Von der Subversion des Wissens, hrsg. v. Walter Seitter,<br />
Frankfurt a.M. 1987, 69-90, hier: 73.<br />
17 RAFFNSØE, Nietzsches „Genealogie der Moral, 19.<br />
18 Vgl. RAFFNSØE, Nietzsches „Genealogie der Moral, 14. Diverse<br />
Autoren betiteln verkürzt: „Nietzsches »Genealogie der Moral«”<br />
(z.B. Raffnsøe, Stegmaier, Höffe, Schweppenhäuser).<br />
Jedoch unterschlägt Nietzsche selbst mehrfach die<br />
abschwächende Präposition „Zur” und erhöht damit<br />
nachträglich – eventuell sogar vorsätzlich – den Anspruch des<br />
Textes.<br />
Er bespricht z.B. das Werk in EH unter dem Namen „Genealogie<br />
der Moral”.<br />
19 SALAQUARDA, Jörg, Christentum [Art.], in: OTTMANN, Henning<br />
(Hrsg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/<br />
Weimar 2000, 207-212, hier: 210.<br />
20<br />
FOUCAULT, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, 71.<br />
21<br />
GERLACH, Hans-Martin, Philosophie [Art.], in: OTTMANN,<br />
Henning (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung,<br />
Stuttgart/Weimar 2000, 489-499, hier: 497.<br />
22<br />
Vgl. SCHRÖDER, Winfried, Moralischer Nihilismus. Radikale<br />
Moralkritik von den Sophisten bis Nietzsche, Stuttgart 2005, 28ff.;<br />
SCHWEPPENHÄUSER, Gerhard, Nietzsches Überwindung der<br />
Moral. Zur Dialektik der Moralkritik in Jenseits von Gut und Böse<br />
und in der Genealogie der Moral, Würzburg 1988 (Nietzsche in<br />
der Diskussion), 14f.<br />
23 GD, KSA 6, 82.<br />
24<br />
„[D]urch das Mit‹leid› wird das Leben verneint,<br />
verneinungswü‹rdiger› gemacht, – Mitleiden ist die Praxis des<br />
Nihilismus.” (AC, KSA 6, 173.)<br />
25<br />
„Man hat auf das grosse Leben verzichtet, wenn man auf den<br />
Krieg verzichtet ...” (GD, KSA 6, 84.)<br />
26 „Die Schwachen und Missrathnen sollen zu Grunde gehn: erster<br />
Satz unsrer Menschenliebe.” (AC, KSA 6, 170.)<br />
27<br />
„Denn ein Sollen giebt es nicht mehr; die Moral, insofern sie<br />
ein Sollen war, ist ja durch unsere Betrachtungsart ebenso<br />
vernichtet wie die Religion .” (MA, KSA 2, 54.)<br />
28<br />
JGB, KSA 5, 124.<br />
29<br />
GM, KSA 5, 253.<br />
30<br />
GM, KSA 5, 253.<br />
31<br />
KSA 5, 248.<br />
32<br />
KSA 5, 249f.<br />
Die Zeit heilt alle Wunder<br />
54<br />
33<br />
Bislang blieb dieses <strong>Pro</strong>blem ungesehen: „<br />
Was die Philosophen »Begründung der Moral« nannten und von<br />
sich forderten, war, im rechten Lichte gesehn, nur eine gelehrte
Form des guten Glaubens an die herrschende Moral, ein neues<br />
Mittel ihres Ausdrucks, also ein Thatbestand selbst innerhalb einer<br />
bestimmten Moralität, ja sogar, im letzten Grunde, eine Art<br />
Leugnung, dass diese Moral als <strong>Pro</strong>blem gefasst werden dürfe:<br />
– und jedenfalls das Gegenstück einer Prüfung, Zerlegung,<br />
Anzweiflung, Vivisektion eben dieses Glaubens.” (JGB, KSA 5,<br />
106.)<br />
34<br />
Winfried Schröder spricht der naturgeschichtlichgenealogischen<br />
Analyse eine deskriptive Doppelfunktion zu: „<br />
Sie liefert eine systematisierende Beschreibung der<br />
verschiedenen »Moralen« und deckt deren Ursprung und<br />
Entwicklung auf<br />
.” (SCHRÖDER, Moralischer Nihilismus, 32.)<br />
35 GM, KSA 5, 253.<br />
36<br />
Im „Versuch einer Selbstkritik” aus dem Jahre 1886 stellt<br />
Nietzsche bereits sein Frühwerk GT in den selben Fragehorizont:<br />
„<br />
Was bedeutet, unter der Optik des Lebens gesehn,<br />
– die Moral? [...] Gegen die Moral also kehrte sich damals, mit<br />
diesem fragwürdigen Buche, mein Instinkt, als ein fürsprechender<br />
Instinkt des Lebens [...].”<br />
(GT, KSA 1, 17+19.)<br />
Diese Stoßrichtung hält er bis zum Ende seines Schaffens durch:<br />
„Ich bringe ein Prinzip in Formel. Jeder Naturalismus in der Moral,<br />
das heißt jede gesunde Moral, ist von einem Instinkte des Lebens<br />
beherrscht, – irgend ein Gebot des Lebens wird mit einem<br />
bestimmten Kanon von »Soll« und »Soll nicht« erfüllt, irgendeine<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Hemmung und Feindseligkeit auf dem Wege des Lebens wird<br />
damit beiseite geschafft. Die widernatürliche Moral, das heißt<br />
fast jede Moral, die bisher gelehrt, verehrt und gepredigt<br />
worden ist, wendet sich umgekehrt gerade gegen die Instinkte<br />
des Lebens, – sie ist eine bald heimliche, bald laute und freche<br />
Verurtheilung dieser Instinkte.“ (GD, KSA 6, 85.)<br />
37<br />
PÜTZ, Nachwort, 154.<br />
38 GM, KSA 5, 250.<br />
39<br />
GM, KSA 5, 253.<br />
40<br />
Nachlaß 1885 –1887, KSA 12, 160.<br />
41<br />
Nachlaß 1885 – 1887, KSA 12, 161.<br />
42 Nachlaß 1885 – 1887, KSA 12, 161.<br />
43<br />
GD, KSA 6, 68.<br />
44 GD, KSA 6, 68.<br />
45<br />
GD, KSA 6, 86.<br />
46<br />
GD, KSA 6, 86. Vgl. mit einem berühmten Wort Zarathustras: „<br />
Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und<br />
noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein.”<br />
(Za II, KSA 4, 147f.)<br />
Stefan Rois, geb. 1983, studiert Philosophie und Kunstwissenschaft an der KTU Linz, ist dort Tutor für Philosophie, absolvierte<br />
ein Erasmus-Semester in Tübingen (Deutschland), erhielt 2007 die Talentförderungsprämie des Landes OÖ für Literatur,<br />
brüllt für „FANG DEN BERG”; seit 2007 bei PRO SCIENTIA.<br />
Die Zeit heilt alle Wunder<br />
55
Karin Peter<br />
„Ein ‚Bruch’ in der Zeit“ –<br />
Annäherung an Bedeutung und Funktion<br />
apokalyptischer Vorstellungen<br />
Verführerisch und/oder hilfreich. Apokalyptische<br />
Vorstellungen tauchen in periodischen Abständen<br />
immer wieder auf. Sie beinhalten eine spezifische Sicht<br />
der Welt, eine eigene Vorstellung der aktuellen und der<br />
zukünftigen Zeit.<br />
1 AKTUELLE VERWENDUNG DES WORTFELDES<br />
„APOKALYPTISCH“<br />
Auch in unserer Zeit haben „Apokalyptik“ und damit in<br />
Verbindung stehende Begriffe Konjunktur. “Apocalypse<br />
Now” 1 und “Armageddon” 2 können als Titel großer<br />
Hollywood-Filme exemplarisch für das gegenwärtige<br />
Aufgreifen explizit apokalyptischer Begriffe gelten.<br />
Das Begriffsfeld „Apokalyptik/Apokalyptisch“ lässt weite<br />
Assoziationen zu, die im Umfeld der Bedeutungen<br />
„Schrecken“, „Horror“, „Katastrophe“, „Ende der Welt“<br />
angesiedelt sind. Gerade aufgrund dieser<br />
Konnotationen werden Begriffe des Wortfeldes<br />
„Apokalyptik“ häufig verwendet, um Faszination und<br />
Schrecken und damit auch Aufmerksamkeit bei<br />
potentiellen HörerInnen und LeserInnen zu wecken.<br />
Apokalyptische Rhetorik findet stets ein Publikum. 3<br />
Das Adjektiv „apokalyptisch“ wird gemeinhin als<br />
„furchterregendes Synonym für katastrophal“ 4<br />
verwendet. Oder als eine Entsprechung zu “Doomsday”,<br />
dem „Tag des Jüngsten Gerichts“, wobei in dieser<br />
Verwendung offen gelassen wird, welche<br />
Gegebenheiten als ursächlich für das bevorstehende<br />
Ende der Welt angesehen werden können. Diese<br />
Interpretationsoffenheit ist Ermöglichungsgrund dafür,<br />
dass das Schlagwort in Zeitschriften und Zeitungen in<br />
unterschiedlichsten Zusammenhängen Verwendung<br />
findet: bei der Berichterstattung über Naturkatastrophen<br />
ebenso wie bei der Darstellung aktueller technischer<br />
<strong>Pro</strong>bleme und der Schilderung von schier<br />
unüberwindbar gewordenen Schwierigkeiten einer<br />
friedlichen Gestaltung des Zusammenlebens aller<br />
Menschen. 5<br />
Im Falle der Beschreibungen von Katastrophen<br />
unermesslichen Ausmaßes, die Leid und Tod unzähliger<br />
Menschen mit sich bringen, wird der Apokalyptik-<br />
Terminus wohl gewählt, um das Unvorstellbare doch zum<br />
Ausdruck bringen zu können. Denn für die Beschreibung<br />
solch außergewöhnlicher Gegebenheiten gilt: “ordinary<br />
words were quite inadequate” 6 . Es scheint, als sei der<br />
Rückgriff auf bewährte, alte apokalyptische Begriffe<br />
nötig, um sich dem unfassbar Neuen annähern zu<br />
können. 7<br />
Neben dem Ringen um eine adäquate Sprache<br />
forcieren aber auch die Eigengesetzlichkeiten der<br />
medialen Welt in einer marktwirtschaftlich verfassten<br />
Gesellschaft den beinahe inflationären Gebrauch des<br />
Begriffs. Über die teils ironische Verwendung hinaus wird<br />
deshalb auch die überproportionale bzw. vorschnelle<br />
Anwendung des Terminus reflektiert. 8<br />
2 EINE KOMPLEXE BEGRIFFSBESTIMMUNG<br />
Die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes<br />
„apokalypsis“ hat – entgegen der gegenwärtig<br />
populären Verwendung des Begriffs – nichts mit dem<br />
Weltende und auch nicht von vornherein mit<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Apokalyptische Vorstellungen<br />
56<br />
Katastrophalität zu tun, sondern kann mit „Aufdecken,<br />
Enthüllung“ wiedergegeben werden. 9 Weiterführende<br />
Definitionen von „Apokalyptik“, die über das Offenlegen<br />
der ursprünglichen Wortbedeutung hinausgehen,<br />
erweisen sich mehr als „<strong>Pro</strong>blemanzeige“ 10 denn als<br />
„enthüllende“, hilfreiche Beiträge zu einer Klärung. Die<br />
bisherigen Versuche einer Begriffsdefinition können als<br />
gescheitert angesehen 11 , die vorherrschende Situation<br />
treffend als “semantic confusion” 12 beschrieben werden.<br />
Die begrifflichen Unklarheiten machen gleichzeitig aber<br />
auch etwas vom faszinierenden und innovativen<br />
Potential des Phänomens „Apokalyptik“ deutlich, das<br />
sich auch auf terminologischer Ebene nicht so einfach<br />
in ein striktes Konzept zwängen lässt. 13<br />
Gesichert ist, dass F. Lücke das Kunstwort „Apokalyptik“<br />
1832 in Anlehnung an die Verwendung in Offb 1,1<br />
geprägt hat. Er führt den Begriff im Rahmen seiner<br />
exegetischen Studien ein und meint damit eine<br />
bestimmte Gattung jüdisch-christlicher Literatur. 14<br />
Tatsächlich wird in der Folge Apokalyptik in erster Linie<br />
als literarisches Phänomen untersucht. Der Begriff findet<br />
aber zunehmend breitere Anwendung. Zum einen wird<br />
er auf bestimmte textliche Elemente – Themen, Motive,<br />
Modelle – angewandt, auch in Schriften, die nicht explizit<br />
der apokalyptischen Literatur zugerechnet werden<br />
können, zum anderen werden mit diesem Prädikat auch<br />
gedankliche und soziale Tendenzen beschrieben, die<br />
über alles Textliche hinausgehen. In bestimmten<br />
Vorstellungen und Denkstrukturen wird ebenso eine<br />
spezifisch apokalyptische Prägung entdeckt wie bei<br />
Personengruppen bzw. konkreten sozialen Milieus. 15<br />
Mit dem Anliegen einer umfassenden, adäquaten<br />
Beschreibung des Phänomens hat sich im Lauf der Zeit<br />
zumindest eine grobe Begriffsverwendung etabliert, in der<br />
zwischen Apokalypsen als bestimmter Art der Literatur<br />
und Apokalyptik als spezifischer Art des Denkens<br />
unterschieden wird. 16<br />
3 APOKALYPSEN: APOKALYPTISCHE LITERATUR<br />
Bereits die Forschungsergebnisse zum „engeren Bereich“<br />
des Phänomens Apokalyptik, der apokalyptischen<br />
Literatur, erweisen sich als höchst disparat. So wird<br />
kontrovers diskutiert, wodurch apokalyptische Literatur<br />
überhaupt gekennzeichnet ist. 17<br />
Auf der Höhe des gegenwärtigen Forschungsstandes<br />
werden weniger Definitionsversuche unternommen,<br />
sondern charakteristische Merkmale apokalyptischer<br />
Literatur benannt. Zu diesen zählen neben formalen<br />
Elementen (wie dem häufig pseudepigraphischen<br />
Charakter, dem Vorkommen von Visionen und<br />
Auditionen, der Beschreibung von Himmelsreisen) auch<br />
inhaltliche Aspekte (wie der Offenbarung himmlischer<br />
Geheimnisse, der Bedeutung dualistischer Strukturen,<br />
dem Auftreten von Retter- und Mittlergestalten und einer<br />
Periodisierung weltgeschichtlicher Abläufe – z.T. mit der<br />
Bestimmung der Jetztzeit als „letzter Zeit“ und der<br />
Erwartung des Endes) und theologische Intentionen (wie<br />
eine prinzipielle Theozentrik, die Ausrichtung auf das<br />
jenseitige Heil und eine Fokussierung auf einen<br />
determinierten Heilsplan Gottes, dem alles unterworfen<br />
ist). 18 Kennzeichnend ist nicht so sehr die<br />
Außergewöhnlichkeit einzelner Merkmale, sondern das<br />
Auftreten eines „Bündels“ an Charakteristika: “The genre
is […] constituted […] by a distinctive combination of<br />
elements, all of which are also found elsewhere. ” 19<br />
Auf diesem Hintergrund wird auch nachvollziehbar,<br />
weshalb es durchaus umstritten ist, eine spezifisch<br />
apokalyptische Gattung anzunehmen. 20 Von J. J. Collins<br />
stammt der wohl detaillierteste und einflussreichste, wenn<br />
auch in Einzelpunkten umstrittene Versuch der<br />
Bestimmung der Gattung 21 apokalyptischer Literatur: 22<br />
‘Apocalypse’ is a genre of a revelatory literature with a<br />
narrative framework, in which a revelation is mediated<br />
by an otherworldly being to a human recipient, disclosing<br />
a transcendent reality which is both temporal, insofar as<br />
it envisages eschatological salvation, and spatial, insofar<br />
as it involves another, supernatural world. 23<br />
An biblischer und frühjüdischer apokalyptischer Literatur<br />
lässt sich für Apokalypsen allgemein exemplarisch zeigen,<br />
dass sich in ihnen neben unterschiedlichen<br />
Beeinflussungen durch Literatur aus dem näheren und<br />
weiteren Umfeld auch unterschiedliche Erfahrungen von<br />
Konflikten und verschiedene soziale Faktoren<br />
widerspiegeln. In den entsprechenden biblischen<br />
Passagen finden sich Texte mit eindeutiger Nähe zu<br />
priesterlichen Kreisen, während in anderen Textteilen eine<br />
durchaus kritische Haltung gegenüber dieser Schicht zu<br />
bemerken ist. Ein Gutteil des apokalyptischen Materials<br />
ist von der Abgrenzung gegenüber einer herrschenden<br />
Gesellschaftsschicht angesichts einer bestehenden<br />
Unterdrückungssituation geprägt. 24<br />
Diese vielfältigen Ausformungen apokalyptischer<br />
Literatur lassen den Rückschluss auf die Annahme einer<br />
„einheitlich verorteten apokalyptischen Bewegung“ 25 auf<br />
den ersten Blick als ungültig erscheinen. Gerade sehr<br />
einschränkende Festlegungen wie die Einschätzung<br />
apokalyptischer Texte als „Konventikelliteratur“ 26 machen<br />
sich leicht angreifbar. Häufig wird in Apokalypsen<br />
nämlich ein größerer Adressatenkreis in den Blick<br />
genommen sowie eine universalere Zielsetzung gewagt. 27<br />
Trotzdem gibt es den berechtigten Versuch,<br />
Gemeinsamkeiten der Entstehungssituation<br />
apokalyptischer Literatur zu beschreiben, die aber<br />
durchaus divergent ausfallen. Sie schwanken zwischen<br />
der Annahme einer entsprechenden spezifischen<br />
religiösen Strömung 28 und einer prinzipiellen Art der<br />
Verarbeitung einer Notsituation 29 .<br />
Die auf eine konkrete soziologische Einordnung<br />
verzichtende und allgemein gehaltene Bestimmung<br />
apokalyptischer Literatur als schriftliche Verarbeitung<br />
einer Not- bzw. Krisensituation findet recht breite<br />
Zustimmung.<br />
4 APOKALYPTIK: EINE FASZINIERENDE DENKSTRUKTUR<br />
Der Versuch, das Phänomen Apokalyptik rein literarisch<br />
zu fassen, greift zu kurz. 30 Es geht entscheidender um<br />
Modelle und Denkschemata, die in periodisch<br />
auftretenden Wellen im Lauf der Geschichte unter<br />
unterschiedlichen geographischen, kulturellen, religiösen<br />
Bedingungen bedeutsam, ja prägend werden. 31<br />
Die disparaten Anwendungsmöglichkeiten der<br />
apokalyptischen Schemata und die damit verbundenen<br />
verschiedenen Aspekte haben auch entsprechend<br />
unterschiedliche Schwerpunktsetzungen bei den<br />
Definitionsversuchen zur Folge.<br />
Die allgemeinsten Annäherungen an die apokalyptische<br />
Denkstruktur beschreiben diese mit der Kernbedeutung<br />
des Terminus als „Enthüllung“. Wobei zunächst offen<br />
bleibt, ob sich dieses Aufdecken und Offenlegen auf<br />
gegenwärtige oder aber zukünftige Gegebenheiten<br />
bezieht. 32 Am grundsätzlichsten sind Deutungen, die<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Apokalyptische Vorstellungen<br />
57<br />
apokalyptische Denkstrukturen als Auseinandersetzung<br />
mit der aktuellen, gegenwärtigen Welt sehen. 33<br />
Apokalyptische Denkfiguren sind demnach<br />
Anstrengungen, „Orientierungen im Diesseits“ 34 ,<br />
„Enthüllung der Wirklichkeit“ 35 zu bieten. Dieser<br />
grundlegende Versuch der Interpretation des<br />
gegenwärtig Erlebten und einer umfassenden<br />
Lebensorientierung wird mit Hilfe symbolischer<br />
Repräsentationen vorgenommen. Dabei wird „eine<br />
umfassende Sicht der Wirklichkeit im Spiegel einer<br />
himmlischen Parallelwelt“ 36 präsentiert. Auf diese Weise<br />
soll es möglich werden, auch überfordernde<br />
Realitätserfahrungen einordnen und besser bewältigen<br />
zu können. 37<br />
Die Gegenwart, die mittels apokalyptischer Denkstruktur<br />
analysiert und bewältigt wird, wird stets als von großer<br />
Unsicherheit, ja Katastrophalität geprägt gesehen. In<br />
einer ersten Konkretisierung könnte es demnach heißen:<br />
„Apokalyptik ist Enthüllung der Wirklichkeit […] als einer<br />
untergehenden. Apokalyptik ist Enthüllung der<br />
Wirklichkeit im Untergang.“ 38 Das erwartete Ende stellt<br />
die eigentliche Tiefendimension der Wirklichkeit dar, es<br />
ist strukturierendes Prinzip der Erfahrung und Deutung der<br />
Gegenwart. 39<br />
Auslöser dieser als bedrohlich erlebten Situation können<br />
Erfahrungen der Unterdrückung, Verfolgung und<br />
Versklavung, der politischen und kulturellen<br />
Überfremdung ebenso sein wie soziale Ausgrenzung und<br />
Deklassierung. 40 Apokalyptisches Denken kann<br />
demzufolge als „Krisenphänomen“ 41 gesehen werden –<br />
mit der Absicht, diese Krise durch die Etablierung einer<br />
neuen Sichtweise zu bewältigen. Dieses Anliegen wird<br />
in erster Linie nicht mittels abstrakter Begrifflichkeiten,<br />
sondern mit Hilfe von Bildern bewältigt. Auch in der<br />
Anwendung des häufig gebrauchten Bildmaterials von<br />
Naturgewalten geht es eigentlich darum, „Strukturen des<br />
Bösen und […] der sich verselbständigenden Macht“ 42<br />
offen zu legen. 43<br />
Bei aller Auseinandersetzung mit der Gegenwart ist doch<br />
auch ein Zukunftsbezug entscheidend. Allerdings nicht<br />
die <strong>Pro</strong>gnostizierung zukünftiger Ereignisse, sondern die<br />
Eröffnung von Zukunft. Apokalyptik kann in einer zweiten<br />
Konkretisierung als „Enthüllung der Zukunft“ 44 bezeichnet<br />
werden, insofern sie eine Denkstruktur ist, die die<br />
Hoffnung auf eine gerechte Zukunft bestärkt.<br />
Hoffnung liegt in einem apokalyptischen Denkschema<br />
allerdings – und das erscheint auf den ersten Blick<br />
paradox – zunächst gerade in der Erwartung des Endes<br />
alles Gegebenen. Die Möglichkeit des Untergangs wird<br />
in der apokalyptischen Analyse der krisenhaften<br />
Gegenwart geradezu zu einem strukturierenden<br />
Moment der Weltdeutung. Von ihrem Ende her tritt die<br />
Bedeutung der Geschichte klar hervor. 45<br />
In dieser „negative[n] Apokalyptik“ 46 liegt in der<br />
Zerstörung der als ausweglos geschlossenen erfahrenen<br />
Wirklichkeit bereits ein Hoffnungsaspekt. Noch deutlicher<br />
wird dieser in der „positive[n] Apokalyptik“ 47 , in der das<br />
Ende der aktuell als so bedrängend erlebten Situation<br />
zur Vorbedingung von etwas gänzlich Neuem wird.<br />
Erwartet wird eine neue Welt, eine neue Zeit, ein<br />
gänzlicher Neubeginn, ein zweiter, neuer Äon. Der<br />
Untergang der bestehenden Welt wird zum Übergang<br />
für die neue, gerechte Welt. Gerade in Situationen der<br />
Not und des Erleidens von Unrecht und Gewalt können<br />
apokalyptische Bilder von der Überwindung des Bösen<br />
und dem Anbrechen neuen Heils ihre Kraft entfalten. 48<br />
Aus den Spezifizierungen gewinnt auch die allgemeine<br />
Bestimmung der Apokalyptik an Konkretion:<br />
Apokalyptische Schemata bieten ein Deutungsmuster
für aktuelle, im weitesten Sinn krisenhafte Geschehnisse<br />
und Entwicklungen, indem der Blick aus der düsteren<br />
Gegenwart auf eine lichte Zukunft gelenkt wird. Das<br />
spezifische Deutungsmuster leistet dabei zweierlei: Zum<br />
einen ermöglicht es ein tatsächliches Hinschauen und<br />
Offenlegen von gegenwärtigen, unheilvollen und Angst<br />
machenden Gegebenheiten, zum anderen verheißt es<br />
das Kommen einer radikal neuen Ordnung in der<br />
Zukunft. 49<br />
5 FASZINATION UND GEFAHR DES APOKALYPTISCHEN SCHEMAS<br />
Das grob skizzierte apokalyptische Denkschema mit<br />
seinem schonungslosen Blick auf die als krisenhaft<br />
erlebte Wirklichkeit und dem unbedingten Ringen um<br />
Gerechtigkeit bringt aber eine Tendenz der<br />
Vereinfachung mit sich, die als „Enthüllung im Dienste<br />
der Simplifizierung“ pointiert beschrieben werden kann<br />
– und die es näher in den Blick zu nehmen gilt.<br />
Apokalyptische Schemata sind von vornherein weder<br />
pauschal einer restaurativen Gesinnung zuzurechnen<br />
noch stets als treibender Motor von revolutionären<br />
Bewegungen zu sehen. Im Zuge revolutionärer<br />
Überlegungen und Vorgangsweisen wird zwar durchaus<br />
auf apokalyptische Motive und deren „subversive<br />
Kraft“ 50 zurückgegriffen, mit Bezugnahme auf dasselbe<br />
Material kommt es aber ebenso, sogar in<br />
überwiegendem Ausmaß, zu Argumentationsweisen, die<br />
das Erleiden und Erdulden von belastenden und<br />
unterdrückenden Situationen propagieren. 51<br />
Diese Zweideutigkeit, die der einen apokalyptischen<br />
Struktur innewohnt, macht einen wesentlichen Teil der<br />
von ihr ausgehenden Faszination aus. „Zweideutig wie<br />
ihre Sicht der Wirklichkeit bleibt auch die von ihr<br />
verbreitete Hoffnung“ 52 . Deutlich wird dies neben der<br />
Angst vor dem Weltende im Vertrauen auf einen<br />
Neuanfang. Diese Spannung kann sich durch <strong>Pro</strong>test<br />
gegen die übermächtige Situation äußern, die von<br />
konstruktiver Mitgestaltung auch in Zerstörungswut<br />
umschlagen kann. Mögliches Resultat kann aber auch<br />
das genaue Gegenteil, nämlich Resignation und<br />
Weltflucht sein. 53<br />
Diese Zweideutigkeit und die damit verbundene<br />
Faszination wurzelt gerade in der spezifischen Prägung<br />
der Apokalyptik. Der apokalyptische Blick auf die<br />
Wirklichkeit ist einer, der enthüllen, der Verborgenes ans<br />
Licht bringen will – im Bemühen um Erhellung<br />
untergründiger Strukturen und Gegebenheiten aber zu<br />
scharfer Kontrastierung neigt, ja geradezu dualistische<br />
Vereinfachungen mit sich bringt: weiß oder schwarz, hell<br />
oder dunkel, gut oder böse. 54 Diese vereinfachenden<br />
Zuordnungen sind aufgrund der konkreten Verortung<br />
nachvollziehbar und machen apokalyptische<br />
Denkstrukturen gleichzeitig universell faszinierend.<br />
Die Offenlegung des Gegebenen erfolgt strukturell stets<br />
aus der Perspektive der Einzelperson oder der eigenen<br />
Gruppe, die als gerecht und gut eingeschätzt wird.<br />
Davon klar unterschieden wird die Gruppe derer, die<br />
für die aktuell erfahrenen ungerechten Bedingungen<br />
bzw. die schlimme Notsituation verantwortlich gemacht<br />
wird. Erwartet wird nach einer Zuspitzung der Situation<br />
ein Neuanfang, der die bisherigen Machtverhältnisse<br />
nicht nur abschafft, sondern umkehrt und eine<br />
Belohnung der eigenen Gemeinschaft sowie eine<br />
Bestrafung der Gegner mit sich bringt. 55 In diesen<br />
Vorstellungen finden „Hass, Rachedurst und die Lust am<br />
Untergang“ 56 einen offensichtlich berechtigten Platz. Die<br />
Identität der eigenen Gemeinschaft wird in klarer<br />
Abgrenzung gegenüber dem Anderen, Bedrohlichen<br />
erlebt.<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Apokalyptische Vorstellungen<br />
58<br />
Das Simplifizierende aber auch Verhängnisvolle des<br />
apokalyptischen Schemas kann durch eine schlichte<br />
Änderung des Blickwinkels offenkundig gemacht werden<br />
– mit dem Resultat einer ebenfalls eindeutig<br />
kontrastierenden Unterscheidung zwischen Gut und Böse,<br />
allerdings unter exakt umgekehrter Einschätzung der<br />
beteiligten Parteien.<br />
6 „GEGENWÄRTIGE“ APOKALYPTIK<br />
Hinweise für Verwendung und Bedeutung<br />
apokalyptischer Deutungsmuster in der momentanen<br />
Welt, der jetzigen Zeit liefern der Gebrauch einschlägiger<br />
Begriffe im medialen Bereich sowie das neu<br />
aufkommende, auch differenzierte Bearbeiten des<br />
Themenkomplexes in der theologischen Forschung mit<br />
Mitte des 20. Jh. Doch damit nicht genug. Apokalyptik<br />
ist ein Faktor, der in der aktuellen Politik, ja überhaupt in<br />
der aktuellen Gesellschaft eine prägende Rolle spielt. Es<br />
gilt: “we are arguably in the throes of the most intense<br />
period of apocalyptic activity in recent history.” 57<br />
6.1 Spezifisches gegenwärtiger apokalyptischer<br />
Deutungen<br />
Mit strukturell neu auftretenden Gegebenheiten der<br />
Gegenwart entwickelt sich auch ein spezifisches<br />
Apokalyptik-Verständnis. 58 Auf eine Kurzformel gebracht:<br />
Gegenwärtige Apokalyptik ist „kupierte Apokalyptik“ 59 .<br />
Hinter diesem Terminus verbirgt sich eine apokalyptische<br />
Vorstellung, der der zweite Teil des apokalyptischen<br />
Schemas, die Erlösungsdimension des neu<br />
anbrechenden Äons abhanden gekommen ist. Der Fokus<br />
ist auf die gegenwärtig erlebte Krisenzeit gerichtet; die<br />
Hoffnungsperspektive, die in einem herkömmlichen<br />
apokalyptischen Schema mit dem Ende verbunden ist,<br />
fällt großteils aus. Stattdessen scheint höchstens eine<br />
Flucht in Gegenwelten der Medien- oder<br />
Unterhaltungsindustrie möglich. 60<br />
Trotz dieser eindeutigen Tendenz ist aber auch in kupierter<br />
Apokalyptik eine gewisse Hoffnungsperspektive<br />
enthalten, die allerdings eine spezifische Prägung<br />
aufweist. Sie richtet sich nicht – wie in herkömmlichen<br />
apokalyptischen Vorstellungen üblich – auf den sich mit<br />
dem Weltende neu zeigenden Äon, sondern besteht in<br />
der Sehnsucht nach einem „anderen Leben“ in dieser<br />
Welt. Deutlich wird dieses Anliegen in der als<br />
„prophylaktische Apokalyptik“ 61 bezeichneten<br />
Ausprägung, für die der unbedingte Versuch, die<br />
gegenwärtig bestehende Welt als solche doch noch zu<br />
retten und zu verändern kennzeichnend ist. Es wird ein<br />
„Kampf um den Erhalt der apokalyptisch gedeuteten<br />
Welt“ 62 angestrengt. Die der Apokalyptik prinzipiell<br />
innewohnende ambivalente Struktur birgt auch innerhalb<br />
kupierter Apokalyptik eine gegenteilige Tendenz. Diese<br />
zeigt sich in der Erwartung der völligen Zerstörung allen<br />
Lebens und der Aussicht auf eine Welt, in der kein Leben<br />
mehr möglich ist. 63<br />
Das prinzipielle Ausfallen bzw. die gänzlich spezifische<br />
Gestaltung der Erlösungsdimension der kupierten<br />
Apokalyptik hat seine Ursache wohl in einem tiefer<br />
liegenden Unterschied zur herkömmlichen Apokalyptik.<br />
Letztere ist von ihrem religiösen Ursprung her wesentlich<br />
durch das alles entscheidende Handeln Gottes geprägt.<br />
Völlig konträr dazu die Verhältnisbestimmung in kupierten<br />
apokalyptischen Denkweisen. Die Vorstellung des<br />
Handelns Gottes gerät dabei immer mehr in den<br />
Hintergrund und wird höchstens noch als immanentes<br />
Wirken Gottes in der Natur bzw. als der bleibende Garant<br />
für das Bestehen von Naturgesetzen wahrgenommen.<br />
Zunehmend verschwindet die Annahme Gottes<br />
überhaupt. Konsequenterweise bleibt der Mensch
dadurch alleiniges Subjekt und eigentlicher Gestalter der<br />
Geschichte. 64<br />
6.2 Gegenwärtige Manifestationen apokalyptischer<br />
Tendenzen<br />
Apokalyptische Tendenzen herkömmlicher oder<br />
spezifisch moderner Prägung bleiben nicht allein auf<br />
prinzipiell gedanklicher Ebene, sie manifestieren sich in<br />
der Wirklichkeit: in konkreten apokalyptischen<br />
Gruppierungen und Tendenzen der aktuellen Politik, in<br />
apokalyptisch geprägter Rhetorik, Literatur, Filmen, der<br />
bildenden Kunst.<br />
Apokalyptisch motivierte Gruppierungen haben bis in die<br />
letzte Zeit immer wieder durch ihre Konflikte mit<br />
staatlichen Gesetzen und z.T. durch große Tragödien<br />
Bekanntheit erlangt. 65 Generell ist aktuellen<br />
apokalyptischen Gruppierungen bei allen<br />
unterschiedlichen Beeinflussungen und inhaltlich teils<br />
konträren Anliegen gemeinsam, dass sie gegen die<br />
staatliche Ordnung operieren und eine „New World<br />
Order“ 66 anstreben. Charakteristisch für all diese<br />
angepeilten neuen Weltordnungskonzepte ist eine starke<br />
Konzentration auf dualistische Schemata, durch die die<br />
eigene Gruppierung von den als Feinden betrachteten<br />
Personen, Gruppen oder strukturellen Gegebenheiten<br />
abgehoben wird. 67<br />
Ein Rückgriff auf apokalyptische Argumentationsweisen<br />
wird nicht nur in obskuren Sekten, sondern auch in der<br />
allgemeinen Politik beobachtet. Für die USA kann eine<br />
zunehmende Anerkennung apokalyptischer<br />
Denkschemata konstatiert werden. Im Versuch,<br />
Deutungsherrschaft zu gewinnen, werden gegenseitige<br />
Abgrenzungen der konkurrierenden Lager ebenso<br />
forciert wie die Abhebung des eigenen Landes<br />
gegenüber als feindlich betrachteten Staaten. 68 In der<br />
Reaktion auf die Attentate auf das World Trade Center<br />
2001 zeigt sich eine breite Akzeptanz der<br />
apokalyptischen Einteilung der Welt in ein Gut-Böse-<br />
Schema, die sich auch in der in Intellektuellenkreisen<br />
verbreiteten Forderung nach einem “War Against<br />
Terror” 69 als einer adäquaten Antwort verdeutlicht. 70 Das<br />
Journalistenpaar V./ V. Trimondi konstatiert seit diesem<br />
Terroranschlag eine „ruckartig beschleunigte[]<br />
apokalyptische[] Kulturströmung“ 71 in den USA, die zutiefst<br />
religiös geprägt ist 72 und die Politik des Landes<br />
entscheidend mitbestimmt.<br />
V. / V. Triomondi gehen aber noch weiter. Sie nehmen<br />
eine untergründige „apokalyptische[] Matrix“ 73 an, ein<br />
unterschwelliges apokalyptisches Muster, das allen<br />
religiösen Gruppierungen, auch den Weltreligionen,<br />
zugrunde liegt. Besonders deutlich zeigt sich i.E. dieser<br />
allen Glaubensgemeinschaften zugrunde liegende<br />
Code in den Endzeitprophezeiungen der jeweiligen<br />
Religionen. 74 Die Faszination dieser Matrix, die ihren<br />
Niederschlag in den heiligen Schriften aller Religionen<br />
findet, liegt demnach in der apokalyptischen<br />
Zweideutigkeit, im „Hinundherpendeln zwischen<br />
düsterem Weltpessimismus und freudiger<br />
Jenseitshoffnung“ 75 . Die gemeinsame apokalyptische<br />
Matrix wird als verbindende Basis der verschiedenen<br />
Religionen „mit ihrem grenzenlosen<br />
Zerstörungspotential“ 76 gesehen, die die verschiedenen<br />
Gruppierungen in Konkurrenzkämpfe und schließlich<br />
auch in Kriege führt. 77<br />
Aktuelle künstlerische Auseinandersetzungen mit der<br />
Apokalyptik versuchen großteils, der Gefahr<br />
simplifizierender dualistischen Zuordnungen zu entgehen,<br />
was nicht immer gelingt.<br />
In der Literatur liegt die Hochblüte der Aufnahme und<br />
Verarbeitung apokalyptischer Motive mit Mitte der 80er<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Apokalyptische Vorstellungen<br />
59<br />
Jahre des 20. Jh. bereits einige Zeit zurück. Dennoch<br />
„gehören apokalyptische Züge zum Grundbestand<br />
schriftstellerischen Beschreibens unserer Zeit“ 78 . Was für<br />
die Jahre davor noch reine Auseinandersetzung mit<br />
Utopischem war, ist für gegenwärtige SchriftstellerInnen<br />
mit der Möglichkeit der Selbstvernichtung allerdings<br />
Realität geworden und bringt eine neue Art der<br />
künstlerischen Aufarbeitung mit sich. 79 Dem<br />
Grundanliegen des Aufdeckens gegenwärtiger<br />
Tendenzen wird durch das Offenlegen des der Moderne<br />
inhärenten Zerstörungspotentials nachgekommen. Eine<br />
explizite Hoffnungsbotschaft bleibt allerdings meist aus.<br />
Sie besteht nur mehr allein in der Existenz der Literatur<br />
selbst. Als Ausweg aus dem unausweichlich Scheinenden<br />
bleibt das Vertrauen in die gegebene Schöpfung und<br />
der Auftrag, einen Raum „solidarischer-politischer<br />
Praxis“ 80 zu schaffen. 81<br />
Mit dem geänderten Verständnis der Jetztzeit macht sich<br />
auch in der bildenden Kunst im 20. Jh. eine<br />
Bedeutungsverschiebung bemerkbar. Hinsichtlich<br />
apokalyptischer Visionen ist sie von „Gottlosigkeit“ 82<br />
sowie „negative[r] Anthropozentrik“ 83 geprägt. Das<br />
erwartete Ende der Geschichte wird als<br />
selbstverschuldet und endgültig gesehen, ohne einen<br />
Aspekt von Hoffnung. 84 Unberührt davon bleibt aber die<br />
Möglichkeit einer „innerbildlichen ‚Wende’ des<br />
Bild’themas’ im Sehprozess selbst“ 85 .<br />
Konkrete Manifestationen des Phänomens Apokalyptik<br />
sind auch in der Filmwelt zu finden. Als exemplarische<br />
Beispiele können neben den eingangs erwähnten Filmen<br />
Kassenschlager wie “Terminator 1+2” 86 “Independence<br />
Day” 87 , “Blade Runner” 88 und “The Matrix” 89 , aber auch<br />
der Zeichentrickfilm “The Lion King” 90 angeführt werden. 91<br />
Popularität und Erfolg scheinen hier allerdings in erster<br />
Linie durch den Rückgriff auf simplifizierende<br />
apokalyptische Deutungsmuster gegeben. Die<br />
genannten erfolgreichen Filme können jedenfalls als<br />
„Pseudo-Apokalypsen des großen Action-Kinos“ 92<br />
gelten, die zwar mit einzelnen simplifizierenden<br />
apokalyptischen Versatzstücken arbeiten, denen es<br />
aber an gegenwarts- und ideologiekritischem Potential<br />
mangelt. In einem strengen Sinn kommt in diesen Filmen<br />
auch keine kupierte Vorstellung der Apokalyptik zum<br />
Vorschein, da trotz der auch spürbar werdenden<br />
Zerstörungsenergie stets die Hoffnung auf ein<br />
unverändertes Bestehenbleiben der gegenwärtigen<br />
Umstände gegeben ist. 93<br />
Bei näherer Auseinandersetzung erweist sich das<br />
cineastische Feld aber doch als komplexer. So gibt es<br />
durchaus Filme, die ohne Auseinandersetzung mit<br />
endzeitlichen Schrecken das apokalyptische Anliegen<br />
des Offenlegens der – auch bedrohten – Realität<br />
aufnehmen. Dies kann exemplarisch in, allerdings z.T.
ereits älteren Filmen wie „La Dolce Vita“ 94 und Arbeiten<br />
der Regisseure H. Hartley 95 und D. Jarman 96 verwirklicht<br />
gesehen werden. 97<br />
Das im kulturell-gesellschaftlichen, aber auch im<br />
politischen Bereich selbstverständliche Optieren mit<br />
apokalyptischen Begriffen, mehr aber noch die<br />
ernsthafte Auseinandersetzung mit und die Anwendung<br />
apokalyptischer Strukturen – im Sinne tatsächlicher, oder<br />
aber auch simplifizierender „Enthüllung“ – ist Indiz für die<br />
Bedeutung apokalyptischer Denkweisen in der<br />
Gegenwart: „Apokalyptik ist somit ein ernstzunehmender<br />
politischer Faktor“ 98 , den es zu berücksichtigen gilt.<br />
7 LITERATURVERZEICHNIS<br />
Barkun, M., Politics and Apocalypticism. In: Stein, S. J.<br />
(Hg.), Apocalypticism in the Modern Period and the<br />
Contemporary Age. Vol. 3 der Reihe: McGinn u.a. (Hg.),<br />
Encyclopedia of Apocalypticism. New York u.a. 2000.<br />
442-460.<br />
Becker, M. / Öhler, M., „Und die Wahrheit wird offenbar<br />
gemacht“. Zur Herausforderung der Theologie durch die<br />
Apokalyptik. In: Becker, M. / Öhler M. (Hg.), Apokalyptik<br />
als Herausforderung neutestamentlicher Theologie<br />
(=Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen<br />
Testament, 2. Reihe 214). Tübingen 2006, 3-20.<br />
Bedenbender, A., Der Gott der Welt tritt auf den Sinai.<br />
Entstehung, Entwicklung und Funktionsweise der<br />
frühjüdischen Apokalyptik (=Arbeiten zur<br />
neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte<br />
[ANTZ] 8). Berlin 2000.<br />
Boer, R., Christological Slippage and Ideological<br />
Structures in Schwarzenegger’s Terminator. In: Semeia<br />
Nr. 69/70 (1995), 165-193.<br />
Burrichter, R., Der Blick in den Abgrund – die <strong>Pro</strong>klamation<br />
einer erneuerten Welt. „Ende“ und „Wende“ als<br />
bildliches Phänomen. In: Ebertz, M. N. / Zwick, R. (Hg.),<br />
Jüngste Tage. Die Gegenwart der Apokalyptik. Freiburg<br />
i. Br. 1999, 227-247.<br />
Collins, J. J., Introduction: Towards the Morphology of a<br />
Genre. In: Semeia Nr. 14 (1979), 1-20.<br />
Collins, J. J., The Apocalyptic Imagination. An<br />
Introduction to Jewish Apocalyptic Literature (=The<br />
Biblical Resource Series). Grand Rapids, Michigan /<br />
Cambridge 1998 2 .<br />
Ebach, J., Apokalypse. Zum Ursprung einer Stimmung.<br />
In: Marquardt, F.-M. u.a. (Hg.), Einwürfe. Bd. 2. München<br />
1985, 5-61.<br />
Ebertz, M. N. / Zwick, R., Enthüllt/Verhüllt. Zur Einführung.<br />
In: Ebertz, M. N. / Zwick, R . (Hg.), Jüngste Tage. Die<br />
Gegenwart der Apokalyptik. Freiburg i. Br. 1999, 7-28.<br />
Ellul, J., Apokalypse. Die Offenbarung des Johannes –<br />
Enthüllung der Wirklichkeit. Neunkirchen-Vluyn 1981.<br />
Elshtain, J. B., Just War Against Terror. The Burden of<br />
American Power in a Violent World. New York 2003.<br />
Forrester, D. B., Apocalypse now? Reflections on Faith in<br />
a Time of Terror. Aldershot u.a. 2005.<br />
Frey, J., Die Apokalyptik als Herausforderung der<br />
neutestamentlichen Wissenschaft. Zum <strong>Pro</strong>blem: Jesus<br />
und die Apokalyptik. In: Becker, M. / Öhler M. (Hg.),<br />
Apokalyptik als Herausforderung neutestamentlicher<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Apokalyptische Vorstellungen<br />
60<br />
Theologie (=Wissenschaftliche Untersuchungen zum<br />
Neuen Testament, 2. Reihe 214). Tübingen 2006, 23-94.<br />
Körtner, U. H. J., Weltangst und Weltende. Eine<br />
theologische Interpretation der Apokalyptik. Göttingen<br />
1988.<br />
Körtner, U. H. J., Enthüllung der Wirklichkeit. Hermeneutik<br />
und Kritik apokalyptischen Daseinsverständnisses aus<br />
systematisch theologischer Sicht. In: Becker, M. / Öhler,<br />
M. (Hg.), Apokalyptik als Herausforderung<br />
neutestamentlicher Theologie (=Wissenschaftliche<br />
Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 214).<br />
Tübingen 2006, 383-402.<br />
Kuschel, K. J., Vor uns die Sintflut? Spuren der Apokalypse<br />
in der Gegenwartsliteratur. In: Klauck, H.-J. (Hg.),<br />
Weltgericht und Weltvollendung. Zukunftsbilder im Neuen<br />
Testament (=Quaestiones Disputatae 150). Freiburg i. Br.<br />
u.a. 1994, 232-260.<br />
Langenhorst, G., Bleibende Schatten.<br />
Weltuntergangsvisionen in der deutschsprachigen<br />
Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Ebertz, M. N. / Zwick, R.<br />
(Hg.), Jüngste Tage. Die Gegenwart der Apokalyptik.<br />
Freiburg i. Br. 1999, 161-183.<br />
Lapide, R., Neues Vertrauen aus altem Grauen. In:<br />
Vögele, W. / Schenk, R. (Hg.), Aktuelle Apokalyptik!<br />
Dokumentation einer Tagung der Evangelischen<br />
Akademie Loccum vom 11. bis 13. Juni 1999 (=Loccumer<br />
<strong>Pro</strong>tokolle 20/99). Loccum 2000, 59-78.<br />
McGinn, B., Visions of the End. Apocalyptic Traditions in<br />
the Middle Ages (=Records of Civilization. Sources and<br />
Studies 96). New York u.a. 1998.<br />
Oepke, A., kalypto, klymna, anakalypto, katakalypto,<br />
apokalypto, apokalypsis. In: Kittel, G. (Hg.), Theologisches<br />
Wörterbuch zum Neuen Testament. Band III. München<br />
u.a. 1990 5 (unveränd. Nachdruck der Ausgabe 1933-<br />
1979), 558-597.<br />
O’Leary, S., Die Anziehungskraft der Apokalypse. In:<br />
Concilium 34 (1998), 427-438.<br />
Paulien, J., The Lion/Lamb King. Reading the Apocalyse<br />
from Popular Culture. In: Barr, D. L. (Hg.), Reading the<br />
Book of Revelation. A Resource for Students. Atlanta 2003.<br />
Peters, T. R., Biblische Apokalyptik und Politische<br />
Theologie. In: Vögele, W. / Schenk, R. (Hg.), Aktuelle<br />
Apokalyptik! Dokumentation einer Tagung der<br />
Evangelischen Akademie Loccum vom 11. bis 13. Juni<br />
1999 (=Loccumer <strong>Pro</strong>tokolle 20/99). Loccum 2000, 14-25.<br />
Rad, von G., Theologie des Alten Testaments. Band II:<br />
Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels.<br />
München 1968 5 (durchgesehene und verb. Auflage).<br />
Sauter, G., Zukunft und Verheißung. Das <strong>Pro</strong>blem der<br />
Zukunft in der gegenwärtigen theologischen und<br />
philosophischen Diskussion. Zürich 1965 2 .<br />
Schoepflin, R. B., Apocalypse in an Age of Science. In:<br />
Stein, S. J. (Hg.), Apocalypticism in the Modern Period<br />
and the Contemporary Age. Vol. 3 der Reihe: McGinn<br />
u.a. (Hg.), Encyclopedia of Apocalypticism. New York<br />
u.a. 2000. 427-441.<br />
Schwarz, A., Abgesagte Apokalypse. In: Die Presse,<br />
21.08.2002, 1.
Thompson, D., Das Ende der Zeiten. Apokalyptik und<br />
Jahrtausendwende. Aus dem Englischen von<br />
Dommermuth-Godrich, G. Hildesheim 1997.<br />
Trimondi, V. / V., Krieg der Religionen. Politik, Glaube und<br />
Terror im Zeichen der Apokalypse. München 2006.<br />
Vielhauer, Ph., Einleitung. In: Schneemelcher (Hg.),<br />
Neutestamentliche Apokryphen in deutscher<br />
Übersetzung. Band II: Apostolisches. Apokalypsen und<br />
Verwandtes. Tübingen 1964 3 (völlig neu bearbeitete<br />
Auflage).<br />
Vondung, K., Die Apokalypse in Deutschland. München<br />
1988.<br />
Zwick, R., Jüngste Tage. Variationen der Apokalypse im<br />
Film. In: Ebertz, M. N. / Zwick, R. (Hg.), Jüngste Tage. Die<br />
Gegenwart der Apokalyptik. Freiburg i. Br. 1999, 184-226.<br />
Fußnoten:<br />
1 Antikriegsfilm 1979 (Regie: F. Coppola).<br />
2 Science-Fiction- / Katastrophenfilm 1998 (Regie: M. Bay).<br />
3 Vgl. S. O’Leary 1998, 434.<br />
4 R. Lapide 2000, 59.<br />
5 Vgl. J. Paulien 2003, 152f.<br />
6 D. B. Forrester 2005, 49.<br />
7 Vgl. J. Ebach 1985, 9, 11; D. B. Forrester 2005, 49-51.<br />
8 Siehe A. Schwarz, Abgesagte Apokalypse. In: Die Presse,<br />
21.08.2002, 1.<br />
9 Vgl. A. Oepke 1990, 562f.<br />
10 U. H. J. Körtner 2006, 389.<br />
11 Vgl. G. von Rad 1968 5 , 316f. Dass sich dieser Befund über die<br />
Jahre nicht geändert hat, belegen u.a. J. J. Collins 1998 2 , 2 und<br />
R. Lapide 2000, 59.<br />
12 J. J. Collins 1998 2 , 2.<br />
13 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 8.<br />
14 Siehe F. Lücke, zit. n. U. H. J. Körtner 1988, 40.<br />
15 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 8; J. J. Collins 1998 2 , 12-14; J.<br />
Frey 2006, 45f. Gegen eine solche Ausweitung des Apokalyptik-<br />
Begriffes argumentiert H. Stegemann, rezipiert von J. Frey 2006,<br />
45f.<br />
16 Die grundlegende Unterscheidung differenziert hinsichtlich<br />
Form („Apokalypsen“ als spezifische Textgattung), Inhalt<br />
(„apokalyptische Eschatologie“ als spezifisch religiöse<br />
Perspektive, als bestimmtes Denkmuster) und Trägerkreis<br />
(„Apokalyptik“ als soziologische Größe). Auf diese von P. D.<br />
Hanson und M. E. Stone erarbeitete Unterscheidung beziehen<br />
sich J. J. Collins 1979, 3 sowie 1998 2 , 2 und J. Frey 2006, 45f.<br />
17 Erste grundlegende Überlegungen dazu stammen von Ph.<br />
Vielhauer. Er arbeitet folgende typische Stilelemente<br />
apokalyptischer Literatur heraus: Pseudonymität, Visionsberichte,<br />
„Vaticinium ex eventu“, Formen und Formenmischung,<br />
spezifische Vorstellungswelt (Zwei-Äonen-Lehre, Pessimismus und<br />
Jenseitshoffnung, Universalismus und Individualismus,<br />
Determinismus und Naherwartung, Uneinheitlichkeit). Siehe Ph.<br />
Vielhauer 1964 3 , 407-417.<br />
18 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 9.<br />
19 J. J. Collins 1998 2 , 12.<br />
20 G. von Rad 1968 5 , 331, FN 28 ist wohl der bekannteste Gegner<br />
der Annahme einer spezifisch apokalyptischen Gattung. Für ihn<br />
stellt apokalyptische Literatur keine eigene Gattung, sondern<br />
ein komplexes „mixtum compositum“ dar. Einen grundlegenden<br />
Überblick über die Diskussion der Gattungsfrage bietet J. J.<br />
Collins 1979, 1-20.<br />
21 E. P. Sanders favorisiert den literarisch-formal gefassten Genregegenüber<br />
dem weiter gefassten Gattungsbegriff. Ein<br />
einheitlicher Sprachgebrauch lässt sich aber auch im englischen<br />
Sprachraum nicht wirklich feststellen. Siehe A. Bedenbender<br />
2000, 48.<br />
22 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem<br />
Definitionsversuch bietet A. Bedenbender 2000, 48-61, 264, der<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
Apokalyptische Vorstellungen<br />
61<br />
trotz einiger Anfragen die prinzipielle Brauchbarkeit der<br />
Bestimmung explizit bestätigt.<br />
23 J. J. Collins 1979, 9.<br />
24 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 8f; J. J. Collins 1998 2 , 37f.<br />
25 M. Becker / M. Öhler 2006, 6, 8f.<br />
26 So bei Ph. Vielhauer 1964 3 , 420.<br />
27 Mit J. J. Collins 1998 2 , 38. Dieser spricht sich dezidiert gegen<br />
die Annahme eines einheitlichen sozialen Milieus aus, das als<br />
Entstehungsbedingung apokalyptischer Literatur zu gelten hat.<br />
28 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 9.<br />
29 3 Ph. Vielhauer 1964 420 spricht allgemein von „aktuellen<br />
Nöten“, die er aber – m.E. unnötigerweise – auf<br />
Konventikelgruppen beschränkt. Siehe auch J. J. Collins 19982 ,<br />
38, 41.<br />
30 Siehe auch M. Becker / M. Öhler 2006, 8; U. H. J. Körtner 1988,<br />
50.<br />
31 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 8; U. H. J. Körtner 1988, 50f; S.<br />
O’Leary 1998, 434.<br />
32 Meist ist eine Trennung ohnehin nur tendentiell möglich, der<br />
Vorteil eines idealtypischen Auseinanderhaltens besteht darin,<br />
dass ein differenzierter Blick auf die verschiedenen<br />
Verwendungsweisen des einen Schemas möglich wird.<br />
33 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 6f; D. B. Forrester 2005, 55.<br />
34 T. R. Peters 2000, 20.<br />
35 Buchtitel von J. Ellul 1981 zur Offenbarung des Johannes.<br />
36 M. Becker / M. Öhler 2006, 6.<br />
37 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 6f; J. Frey 2006, 92.<br />
38 U. H. J. Körtner 2006, 389.<br />
39 Vgl. U. H. J. Körtner 1988, 260.<br />
40 Vgl. Ebertz / Zwick 1999, 9.<br />
41 U. H. J. Körtner 1988, 57.<br />
42 U. H. J. Körtner 2006, 392.<br />
43 Vgl. U. H. J. Körtner 1988, 74 bzw. 2006, 392.<br />
44 2 G. Sauter 1965 , 241.<br />
45 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 6; U. H. J. Körtner 1988, 286f,<br />
290f.<br />
46 U. H. J. Körtner 1988 führt die Unterscheidung zwischen<br />
„negativer Apokalyptik“ und „positiver Apokalyptik“ in dieser<br />
Bedeutung ein. Die Termini finden sich immer wieder, u.a. auf<br />
den Seiten 151f, 278, 291. In anderer, quasi fortführender Weise,<br />
nämlich hinsichtlich der abwehrend-bekämpfenden bzw.<br />
erleidend-unterstützenden Haltung gegenüber dem<br />
gesellschaftlichen Establishment verwendet B. McGinn 1998, 32f<br />
die Termini „negative apocalypticism“ bzw. „positive<br />
apocalypticism“.<br />
47 U. H. J. Körtner 1988, 151f, 278, 291.<br />
48 Vgl. M. Becker / M. Öhler 2006, 6f; U. H. J. Körtner 1988, 291f<br />
bzw. 2006, 393.<br />
49 Vgl. D. B. Forrester 2005, 59; U. H. J. Körtner 2006, 390.<br />
50 J. Ebach 1985, 49.<br />
51 Vgl. U. H. J. Körtner 1988, 56f, 73f; S. O’Leary 1998, 434; B.<br />
McGinn 1998, 32f.<br />
52 U. H. J. Körtner 2006, 394f.<br />
53 Vgl. U. H. J. Körtner 1988, 315-317 bzw. 2006, 394f; B. McGinn<br />
1998, xvif.<br />
54 Vgl. U. H. J. Körtner 1988, 284, 293f bzw. 2006, 394f.<br />
55 Vgl. U. H. J. Körtner 1988, 313f.<br />
56 U. H. J. Körtner 1988, 313.<br />
57 M. Barkun 2000, 442.<br />
58 Hinsichtlich Vorstellungen der Apokalyptik sind<br />
ausschlaggebend: Allgemeines Krisenbewusstsein im Kontext<br />
des Zusammenbrechends des Fortschrittoptimismus;<br />
„Katastrophen-Ästhetik“; Möglichkeit der Menschen zur<br />
Selbstvernichtung; Bedeutung und Einfluss von Massenmedien;<br />
„Beschleunigung“ bzw. „Begrenzung“ von Zeit;<br />
Überforderungssituationen in der komplexen Realität mit dem<br />
Wunsch nach einfachen Lösungen. Siehe T. R. Peters 2000, 24f;<br />
U. H. J. Körtner 2006, 396f; R. Lapide 2000, 59; S. O’Leary 1998,<br />
423, 435f.<br />
59 Dieser Begriff geht zurück auf K. Vondung 1988, 12.<br />
60 Vgl. U. H. J. Körtner 2006, 387, 396f.<br />
61 G. Anders zit. n. U. H. J. Körtner 1988, 304.<br />
62 U. H. J. Körtner 1988, 304.<br />
63 Vgl. U. H. J. Körtner 1988, 304-307 bzw. 2006, 396f.<br />
64 Vgl. R. B. Schoepflin 2000, 436.
65 Die in der Öffentlichkeit populärsten apokalyptischen<br />
Vereinigungen – die Davidianer, die Sonnentempler und die<br />
Sekte Aum-Shinrikyo – sind aufgrund von Tragödien bzw.<br />
Anschlägen in die Schlagzeilen geraten. Vgl. M. Barkun 2000,<br />
443.<br />
66 M. Barkun 2000, 452.<br />
67 Vgl. M. Barkun 2000, 442f, 452, 456-459.<br />
68 Vgl. D. Thompson 1997, 387, 400-402.<br />
69 Siehe J. B. Elshtain 2003. Der Brief, der eine kriegerischen<br />
Antwort als einzig mögliche und damit notwendige Reaktion<br />
auf die Terroranschläge sieht, ist u.a. auch von F. Fukuyama, S.<br />
Huntington, R. Putnam und M. Walzer unterzeichnet.<br />
70 Vgl. D. B. Forrester 2005, 2-7.<br />
71 V. / V. Trimondi 2006, 36.<br />
72 Als entscheidende christliche Ausprägung der aktuellen<br />
apokalyptischen Strömung sehen sie den „Neo-<br />
Dispensationalismus“, der sich durch wörtliche Bibelauslegung<br />
und ein zunehmendes Aufheben der Grenzen zwischen<br />
Bibelinterpretation, dem Erkennen des Willens Gottes und dem<br />
Bemühen um politischen Einfluss auszeichnet und über jeweils<br />
aktuelle Deutungen des tagespolitischen Geschehens Eingang<br />
in die gegenwärtige Medienlandschaft findet. Vgl. V. / V.<br />
Trimondi 2006, 31-33, 36-38.<br />
73 Der Terminus findet sich häufig, eingeführt wird er in V. / V.<br />
Trimondi 2006, 11.<br />
74 Vgl. V. / V. Trimondi 2006, 11, 523.<br />
75 V. / V. Trimondi 2006, 15.<br />
Von der Alltäglichkeit zur Apokalypse<br />
76 V. / V. Trimondi 2006, 520.<br />
77 Vgl. V. / V. Trimondi 2006, 13, 15, 22f.<br />
78 G. Langenhorst 1999, 182.<br />
79 Vgl. K. J. Kuschel 1994, 232-234, 246f.<br />
80 K. J. Kuschel 1994, 259.<br />
81 Vgl. K. J. Kuschel 1994, 258-260.<br />
82 R. Burrichter 1999, 230.<br />
83 R. Burrichter 1999, 232.<br />
84 Vgl. R. Burrichter 1999, 229-232.<br />
85 R. Burrichter 1999, 231.<br />
86 Science-Fiction Film 1984 (Regie: J. Cameron) bzw. 1991 (Regie:<br />
J. Cameron). Eine genauere Untersuchung der Anspielungen der<br />
Terminator-Filme auf die Offenbarung des Johannes findet sich<br />
bei Boer, R., Christological Slippage and Ideological Structures<br />
in Schwarzenegger’s Terminator. In: Semeia Nr. 69/70 (1995), 165-<br />
193.<br />
87 Science-Fiction-Film 1996 (Regie: R. Emmerich).<br />
88 Science-Fiction-Film 1982 (Regie: R. Scott).<br />
89 Science-Fiction-Film 1999 (Regie: A. / L. Wachowski).<br />
90 Zeichentrickfilm 1994 (Regie: R. Allers / R. Minkoff).<br />
91 Vgl. J. Paulien 2003, 158f.<br />
92 R. Zwick 1999, 196.<br />
93 Vgl. R. Zwick 1999, 196f.<br />
94 Regie: F. Fellini 1960.<br />
95 “The Unbelievable Truth” 1989; “The Book of Life” 1998.<br />
96 “The Angelic Conversation” 1985; “The Last of England” 1987;<br />
“The Garden” 1990.<br />
97 Vgl. R. Zwick 1999, 203-223.<br />
98 U. H. J. Körtner 2006, 386.<br />
MMag. Karin PETER, geb.1977, ist seit März 2007 Mitarbeiterin am Forschungsprojekt “Transformation der Apokalypse” an der<br />
LFU-Innsbruck. Auch Ihre Dissertation wird sich apokalyptischen Schriften widmen. Die graduierte Religionspädagogin und<br />
Fachtheologin bereichert seit 2007 die Innsbrucker Gruppe von PRO SCIENTIA<br />
Apokalyptische Vorstellungen<br />
62
Mediale Zeit(en)
Clemens Tonsern<br />
Ein Held unserer Zeit<br />
– über die Zeitlosigkeit eines Unzeitgemäßen in der russischen Literaturgeschichte<br />
Im Jahr 1840 wird in Russland der Roman „Ein Held<br />
unserer Zeit“ erstmals vollständig zur Veröffentlichung<br />
gebracht. Das Werk des bis zu diesem Zeitpunkt<br />
vorrangig als Lyriker und Dramatiker in Erscheinung<br />
getretenen Kavallerieoffiziers Michail Jur’evic Lermontov<br />
(1814-1841) 1 irritiert und polarisiert die zeitgenössischen<br />
Literaturkritik ebenso wie das russische Lesepublikum. Der<br />
im Vorwort erhobene Anspruch, im Hauptprotagonisten<br />
Grigorij Aleksandrovic Pecorin den archetypischen<br />
russischen Adeligen seiner Zeit skizziert zu haben, wirkt<br />
provokant und schockierend zugleich. Lermontov selbst<br />
spricht eingangs von „einem Bildnis, aber nicht eines<br />
einzelnen Menschen; es ist ein Bildnis, das sich aus allen<br />
Lastern unserer Generation in ihrer vollen Entfaltung<br />
zusammensetzt“ (Lermontov in: Makanin 5).<br />
Pecorin erlangt als „Held seiner Zeit“ in direktem Erbe<br />
seines typologischen Bruders Evgenij Onegin 2 als<br />
Archetyp der literarischen Figur des „überflüssigen<br />
Menschen“ Unsterblichkeit. Für die Gegenwart und eine<br />
neues Zeitalter immer wieder neu adaptiert entwickelt<br />
sich Pecorin in Folge zu einem festen Bestandteil der<br />
russischen Literatur. Unterdessen tritt die laut<br />
Eigenbeschreibung „überflüssige Figur des fünften Aktes“<br />
(HuZ 156) nicht als ein um Sympathien bemühter Held in<br />
Erscheinung. Vielmehr hat Lermontov in Pec orin einen<br />
tragischen, jedoch nirgendwo um Verständnis und<br />
Mitleid heischenden Antihelden seiner Zeit entworfen,<br />
einer Zeit freilich, die von Lauer treffend als „Unzeit der<br />
nikolaiitischen Herrschaft – ohne Größe, ohne Ziel und<br />
Zukunft“ (Lauer 254) bezeichnet wurde.<br />
Die im Roman dargelegte ausufernde Deformation des<br />
Individuums durch eine als sinnlos empfundene<br />
Gegenwart entwickelt sich im Erbe Pecorins zu einem<br />
der fruchtbarsten Motive der russischen<br />
Literaturgeschichte. Der Bogen des an und in seiner Zeit<br />
scheiternden Helden lässt sich von Pecorin über den<br />
lethargischen Oblomov aus dem gleichnamigen Roman<br />
von Goncarov bis in die Gegenwart spannen. Die<br />
Ahnengalerie der Söhne, Enkel und Urenkel von Pecorin<br />
liest sich wie ein gedrängter Überblick über die<br />
bedeutendsten Werke der russischen Literatur.<br />
Die zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Figur des<br />
Adeligen Bel’tov aus dem Roman „Wer ist schuldig?“<br />
von Gercen stellt 1847 ebenso eine zeitgenössische<br />
Variante des lermontovschen Pecorin dar, wie der als<br />
erster Nihilist in der russischen Literaturgeschichte<br />
ungleich bekanntere Bazarov in „Väter und Söhne“ von<br />
Turgenev aus dem Jahr 1861.<br />
Ungeachtet der Geringschätzung, die Dostoevskij<br />
sowohl der Person Lermontov als auch seinem Werk<br />
entgegenbrachte, trägt auch der weltbekannte<br />
Raskolnikov aus „Verbrechen und Strafe“(Schuld und<br />
Sühne) deutliche Züge Pecorins.<br />
Eine Heldin ihrer Zeit verkörpert schließlich Pelageja<br />
Vlasova, die Hauptfigur im hierzulande leider<br />
schlichtweg ignorierten, jedoch mit Fug und Recht als<br />
epochal zu bezeichnenden Roman „Die Mutter“ von<br />
Maxim Gorkij aus dem Jahr 1906. Die<br />
Entwicklungsgeschichte der Arbeiterin Pelageja Vlasova<br />
gilt zudem als erstes Werk der Stilrichtung des<br />
„sozialistischen Realismus“, der die russische Literatur<br />
über Jahrzehnte dogmatisch beherrscht hat.<br />
Die Forderung des sozialistischen Realismus nach einer<br />
„historisch-konkreten Darstellung der Wirklichkeit in ihrer<br />
Mediale Zeit(en)<br />
Ein Held unserer Zeit<br />
64<br />
revolutionären Entwicklung“ (Terz 1) bleibt spätestens ab<br />
den 1970er Jahren eine Leerformel; zwanzig Jahre später<br />
zerfällt die Sowjetunion. Aus ihren Trümmern erhebt sich<br />
wiederum niemand geringerer als Grigorij Aleksandrovi<br />
Pecorin, der diesmal als Petrovic in Vladimir Makanins<br />
Roman „Underground oder Ein Held unserer Zeit“ im Jahr<br />
1998 eine surrealistische Auferstehung in einer vom<br />
Neoliberalismus entstellten postsowjetischen Gesellschaft<br />
feiert.<br />
Die sprichwörtliche Zeitlosigkeit und der ungebrochene<br />
Erfolg des „Helden unserer Zeit“ geht auf einen Roman<br />
zurück, der sich aus fünf thematisch voneinander<br />
unabhängigen Erzählungen zusammensetzt. Der<br />
namentlich nicht genannte Ich-Erzähler schildert darin<br />
chronologisch nicht geordnet Episoden aus dem Leben<br />
des jungen Adeligen Pecorin, den er dem Leser zunächst<br />
in zwei Reiseberichten aus der Außenperspektive und<br />
sodann in Rückgriff auf drei ausgesuchte Passagen aus<br />
Pecorins Tagebuch aus der Innenperspektive näher<br />
bringt. Die „organisch um Pecorin formierte Komposition“<br />
(Belinskij 90) von fünf in sich geschlossenen Erzählungen<br />
erlaubt es Lermontov in einer „Einschachtelungsmethode“<br />
(Stender-Petersen 152) sowohl den<br />
Helden als auch seine Zeit aus verschiedenen<br />
Gesichtspunkten zu beleuchten. Die Rahmenhandlung<br />
des Romans bildet eine Reise des Erzählers, der sich<br />
ebenso wie Pecorin als russischer Offizier zu erkennen gibt,<br />
durch den Kaukasus. Eine Reisebekanntschaft namens<br />
Maxymitsch berichtet in der ersten Erzählung mit dem<br />
Titel „Bela“ über einen befreundeten, waghalsigen<br />
jungen Offizier namens Pecorin, der unter Einsatz seines<br />
Lebens die Liebe der tscherkessischen Fürstentochter Bela<br />
erringt. Pecorins Leidenschaft für Bela verflüchtigt sich<br />
schnell und erst im Angesicht des von ihm<br />
mitverschuldeten Todes seiner noch jungen Frau regen<br />
sich in ihm tiefere Gefühle. Die erste Erzählung des<br />
Romans wird von der Eintönigkeit des Lebens russischer<br />
Garnisonssoldaten im Kaukasus sowie der zunehmenden<br />
Weltentfremdung und Apathie von Pecorin dominiert,<br />
der die alltäglichen Monotonie und fehlende innere<br />
Anteilnahme am äußeren Geschehen durch<br />
halsbrecherische Abenteuer zu durchbrechen versucht.<br />
Im Spannungsverhältnis von Besatzern und Besetzten folgt<br />
Pecorin den anderen russischen Militärangehörigen im<br />
Kaukasus in eine von Außen oktroyierte Isolation. Wein,<br />
Karten, Jagd und amouröse Abenteuer bieten nur wenig<br />
Zerstreuung, die Zeit bleibt ein durch inständig<br />
herbeigesehnte Zwischenfälle kaum geordnetes<br />
Kontinuum, das weder ein Gestern noch ein Morgen<br />
kennt. Auf die vom monotonen Soldatenalltag geprägte<br />
Gegenwart reagiert Pecorin schließlich mit einer<br />
tiefergehenden zweiten, nach Innen gewandten<br />
Isolation. Diese äußert sich in einer von seinen<br />
Mitmenschen als arrogant und lebensverachtend<br />
empfundenen, bewussten Entfremdung von Gesellschaft<br />
und Zeit und gibt dem Romangeschehen einen<br />
anhaltend düsteren Grundton vor.<br />
Die Gründe der Entfremdung Pecorins von seiner Umwelt,<br />
die nach Außen vor allem Irritation und nach Innen eine<br />
anwachsende Verhärmung des jungen Adeligen bewirkt,<br />
sind indes weder in göttlichen Prädestination noch in der<br />
Erziehung zu suchen (HuZ 52-53), sondern liegen<br />
ausschließlich in der von Lermontov als bedrückend<br />
beschriebenen „Zeit“, unausgesprochen demnach in der<br />
Gesellschaftsorganisation des von Nikolai dem II.<br />
autokratisch beherrschten Russland. In einem der<br />
zahlreichen Augenblicke der Selbstreflexion bekennt
Pecorin seinem Freund Maxymitsch: „Meine Seele ist von<br />
der Welt verdorben, meine Phantasie unruhig, mein Herz<br />
unersättlich; alles ist mir zu gering, an die Traurigkeit<br />
gewöhne ich mich ebenso leicht wie an den Genuß [...]“<br />
(HuZ 54).<br />
Die Gleichgültigkeit und Weltverachtung Pecorins<br />
bedingt nicht nur seine Unfähigkeit zur vollständigen<br />
Hingabe an Religion, Wissenschaft und Karriere (HuZ 53)<br />
sondern äußert sich darüber hinaus in einer Gefühlskälte,<br />
die ihn weder erfüllende Liebe noch tiefe Freundschaft<br />
empfinden lässt. In der zweiten Erzählung des Romans<br />
„Maxim Maxymitsch“ begegnet Pecorin nach langer Zeit<br />
seinem gleichnamigen alten Freund und Kameraden.<br />
Das kafkaesk kaum zu Stande gekommene Gespräch<br />
zwischen Maxymitsch und Pecorin bleibt auf wenige<br />
belanglose Floskeln reduziert, die abschließende Replik<br />
lässt jedoch bereits weiteres Unglück erahnen, wenn es<br />
heißt: „’Und was treiben Sie so?’ ‚Ich langweile mich’,<br />
erwiderte Pecorin lächelnd“ (HuZ 73).<br />
Die auf den zweiteiligen Reisebericht folgenden<br />
Veröffentlichungen aus dem Tagebuch von Pecorin<br />
zeugen vorrangig von einer sich nur noch weiter um sich<br />
greifenden Langeweile und Entfremdung. Pecorin tritt<br />
von nun an nicht mehr länger als tragisch Getriebener in<br />
Erscheinung, der „wenn er das Unglück anderer<br />
verschuldet, selbst nicht weniger unglücklich ist“ (HuZ 53),<br />
sondern erweist sich zunehmend als kühl berechnender<br />
Zeitgenosse, der lediglich im seinen Mitmenschen gezielt<br />
zugefügten Leid die selbstgewählte Isolation für kurze<br />
Augenblicke durchbrechen kann. In der<br />
Schmugglerepisode „Taman“ erwirkt die boshafte<br />
Neugierde Pecorins den sicheren Niedergang einer alten<br />
Frau und eines blinden Kindes. Die Schlussformel „Was<br />
scheren mich die Freuden und Leiden der Menschen“<br />
(HuZ 98) gibt bereits das Thema des nächsten Kapitels<br />
vor. In „Prinzeß Mary“ berichtet Pecorin in seinem<br />
Tagebuch von einer lediglich aus Langeweile<br />
begonnenen Romanze mit einer jungen Adeligen<br />
namens Mary. Pecorin treibt die junge Fürstentochter<br />
durch seine heuchlerische Liebe in den Wahnsinn und<br />
erschießt derer Verehrer Grušnickij kaltblütig in einem aus<br />
Überdruss provozierten Duell. Am Vorabend des Duells<br />
vermerkt Pecorin in seinem Tagebuch:<br />
„In meiner frühesten Jugend war ich ein<br />
Träumer; ich schwelgte mit Vorliebe<br />
abwechselnd in finsteren, dann wieder in<br />
leuchtenden Bildern [...]. Aber was ist von<br />
alldem geblieben? Nichts als eine große<br />
Müdigkeit [...]. In diesem vergeblichen Ringen<br />
zermürbte ich sowohl die Leidenschaft meines<br />
Herzens als auch die Beständigkeit meines<br />
Willens, die für das wirkliche Leben so nötig sind<br />
[...]“ (HuZ 219).<br />
Im letzten Abschnitt des Romans, der den Titel „Der<br />
Fatalist“ trägt, berichtet Pecorin über eine Wette mit<br />
einem Offizier namens Vulic. Im Gegensatz zu Pecorin<br />
glaubt Vulic an eine göttliche Vorherbestimmung und<br />
will dies in einer Wette mit Pecorin beweisen, indem er<br />
eine geladene Pistole gegen sich richtet, aus der sich<br />
unerklärlicher Weise jedoch kein Schuss löst. Pecorin hat<br />
ihm aber bereits zuvor böswillig ein baldiges Ableben<br />
prophezeit; Vulic wird noch in der selben Nacht von<br />
einem Betrunkenen ermordet. Mit dieser Episode<br />
beschließt Lermontov seinen Roman über den Helden<br />
seiner Zeit, dessen Leben er „als eine endlose Kette von<br />
traurigen und unglücklichen Widersprüchen, die sich<br />
gegen das Herz und die Vernunft richten“ (HuZ 108)<br />
beschreibt.<br />
Die Frage nach dem Ursprung und der Ursache dieser<br />
Widersprüche wird von Pecorin in den auffällig<br />
Mediale Zeit(en)<br />
Ein Held unserer Zeit<br />
65<br />
zahlreichen Momenten der Selbstreflexion nicht<br />
erhoben. Wer nun letztlich für den „archetypischen“<br />
Werdegang des russischen Adeligen Pecorin zur<br />
Verantwortung gezogen werden muß, wird von<br />
Lermontov zwischen den Zeilen lediglich angedeutet.<br />
Pecorin bleibt ein an den hohen Ansprüchen an sich<br />
selbst und an der Wirklichkeit gescheiterter Mensch. Das<br />
beständige Abgleiten in von Selbstmitleid gezeichneten<br />
Reflexionen über seine eigene Person wurde von Belinskij<br />
zwar als entscheidender Entwicklungsschritt hin zu einem<br />
Tätigwerden in der Welt begriffen (Belinsij 73), verhindert<br />
aber gleichzeitig, dass Pecorin zu einer wirklichen<br />
Auseinandersetzung mit seiner Zeit vorstoßen kann. Das<br />
nur vorsichtig angedeutete, übergeordnete Ziel des<br />
Romans, „die bittere Enthüllung der sozialen Verhältnisse,<br />
die einen solchen Menschentyp vorbrachten“ (Stender-<br />
Petersen 153) bleibt für Lermontov noch deutlich außer<br />
Reichweite.<br />
Nur fünf Jahre nach der Veröffentlichung von „Ein Held<br />
unserer Zeit“ eröffnet Aleksandr Ivanovic Gercen (1812-<br />
1871) durch die Publikation des Romans „Wer ist<br />
schuldig?“ in direkter Übernahme der Pecorinthematik<br />
eine intensive literarische Auseinandersetzung mit dem<br />
archetypischen, zeitgenössischen russischen Adeligen<br />
als überflüssiges Anhängsel seiner Zeit. Mutiger und<br />
direkter als Lermontov findet Gercen auf die im Titel<br />
seines „sozialphilosophisches Traktates“ (Ci•evskij II 28)<br />
aufgeworfene Frage eine sehr deutliche Antwort. Der<br />
Hauptprotagonist des Romans, der junge Adelige<br />
Bel’tov, tritt als „<strong>Pro</strong>test und Entlarvung“ des<br />
zeitgenössischen Lebens, als „Einwand gegen seine<br />
ganze Ordnung“ (WS 168) in Erscheinung, der an den<br />
„äußeren Umständen, den Verhältnissen“ (WS 229), d.h.<br />
der gesellschaftspolitischen Organisation seiner Zeit<br />
zerbricht, die ihm keine andere Existenz ermöglicht, als<br />
die eines „unnützen Menschen“ (WS 213). Der „Held<br />
seiner Zeit“ entfernt sich in der Person von Bel’tov von<br />
einer vornehmlich nach innen gerichteten<br />
(Nicht)Annahme der Gegenwart, die sozialkritische und<br />
aktivistische Komponente in der Ausformung des<br />
typischen jungen Adeligen nimmt erstmals spürbar zu.<br />
Als Pecorin dritter Generation offenbart sich schließlich<br />
Bazarov, der als nihilistische Hauptfigur aus Turgenevs’<br />
1861 publiziertem Roman „Väter und Söhne“ über<br />
mehrere Jahre hinweg den philosophischen und<br />
literarischen Diskurs der russischen Intelligenzija<br />
mitbestimmt hat. Während Herzen in „Wer ist schuldig?“<br />
ungleich stärker als Puschkin und Lermontov auf die<br />
äußeren Umstände als Ursprung für das Phänomen des<br />
„überflüssigen Menschen“ verweist, verdichtet sich in der<br />
Gestalt von Bazarov die durch Gercens’ Bel’tov<br />
vorübergehend aufgebrochene pecorinsche<br />
Selbstreferenz wieder zu einem von seiner Zeit und seinen<br />
Mitmenschen weitgehend losgelösten Helden. Bazarov<br />
übernimmt auf den ersten Blick als engagierter<br />
Naturwissenschaftler die aktivistische Tendenz von<br />
Bel’tov, sieht aber ein Einwirken auf die äußeren<br />
Umstände zur Umgestaltung der nach wie vor als sinnlos<br />
empfundenen Gegenwart als nicht zielführend an. In<br />
konsequenter Hingabe an seine materialistischen<br />
Grundsätze stirbt Bazarov schließlich mit sich und der<br />
Welt unversöhnt einen zufälligen und sinnlosen Tod.<br />
Auf Bel’tov und Bazarov folgen in der russischen<br />
Literaturgeschichte in der zweiten Hälfte des<br />
19.Jahrhunderts viele weitere, facettenreiche Spielarten<br />
des „Helden unserer Zeit“. Der Hauptprotagonist des<br />
gleichnamigen Romans „Oblomov“ von Goncarov löst<br />
als kontemplativ-untätiger Enkel von Pecorin bereits ab<br />
1859 eine intensive Debatte über das Nichtstun und die<br />
vermeintliche Überflüssigkeit der russischen Adeligen aus.<br />
Die lebhafte literarische Auseinandersetzung findet im<br />
legendären Aufsatz „Was ist Oblomovtum?“ des
adikalen Demokraten Dobroljubov ihren Höhepunkt,<br />
der die moralische Agonie und die selbstgefällige<br />
Lethargie des russische Adels schonungslos an den<br />
Pranger stellt (Lauer 280).<br />
Die Geschichte der Arbeiterwitwe Pelageja Vlasova im<br />
Roman „Die Mutter“ von Maxim Gorkij bedeutet im Jahr<br />
1906 eine zweifache Neuadaption der Pecorinthematik.<br />
Erstmals reflektiert nicht ein Mann, sondern eine Frau über<br />
das Geschehen der Gegenwart, dem sie sich anfangs<br />
hilflos ausgesetzt sieht. Darüber hinaus vollzieht Gorkij<br />
einen grundlegende Perspektivenwechsel: nicht der<br />
Werdegang eines privilegierten Adeligen, sondern der<br />
einer Arbeiterwitwe, die dem Beispiel ihres Sohnes<br />
folgend in das Lager der aufkommenden revolutionären<br />
Bewegung überwechselt, steht im Mittelpunkt des<br />
Romans. Die übergeordnete Intention seines Romans,<br />
der von konservativen Kritikern als „Tendenzwerk“ [...],<br />
dessen „Einfluß in reziprokem Verhältnis zu der<br />
literarischen Qualität“ (Kasack 146) verunglimpft wurde,<br />
hat Gorkij in unbewusster Übernahme des Vorworts von<br />
Lermontov in „Ein Held unserer Zeit“ offen gelegt. Von<br />
Gorkij heißt es wörtlich über seinen Roman „Die Mutter“:<br />
„Wenn ein Schriftsteller ein Buch schreibt, stellt er in ihm<br />
nicht das Porträt dieses oder jenes ihm bekannten<br />
Menschen dar, sondern er bemüht sich, in einem<br />
Menschen viele diesem einen ähnlichen Menschen<br />
darzustellen“ (Gorkij 434).<br />
Bereits in den 1970er Jahren hat sich Vladimir Makanin<br />
als eine der ersten russischen Schriftsteller von im Roman<br />
„Die Mutter“ bei Gorkij erstmals vorgezeichneten Stil des<br />
sozialistischen Realismus gelöst. Im Jahr 1998<br />
veröffentlicht der vielfach prämierte Autor ein<br />
fulminantes Werk, mit welchem Makanin an die hier<br />
genannten Lermontov, Gercen, Goncarov, Turgenev,<br />
Dostoevskij, ja letztlich sogar an Gorkij anknüpft, indem<br />
er mit „Underground oder Ein Held unserer Zeit“ ein an<br />
intertextuellen Bezügen reiches und bislang letztes<br />
Porträt des Helden seiner Zeit vorlegt.<br />
Im als nicht von ungefähr als „Metaroman der russischen<br />
Literaturgeschichte“ (Burkhart in: Makanin 700)<br />
bezeichneten Werk berichtet der Ich-Erzähler Petrovic,<br />
der sich als Wohnungswächter in einem weitläufigen<br />
Plattenbau verdingt, in deutlicher Anlehnung an „Ein<br />
Held unserer Zeit“ in fünf Abschnitten über sein<br />
selbstgewähltes Leben am Rande des Existenzminimums.<br />
Das hier bereits eingangs angeführte Zitat aus dem<br />
Vorwort von Lermontov in „Ein Held unserer Zeit“ vom<br />
wiederzugebenden „Bildnis, das sich aus allen Lastern<br />
unserer Generation in ihrer vollen Entfaltung<br />
zusammensetzt“ (Makanin 5) wird auch von Makanin<br />
seinem Werk als Motto vorangestellt. Die einzelnen<br />
Abschnitte lassen Petrovic sehr deutlich als Vertreter<br />
einer nach dem Ende der Sowjetunion sozial wie<br />
moralisch in ihren Grundfesten erschütterten russischen<br />
Gesellschaft hervortreten. Das an Petrovic gerichtete<br />
„Du bist hier überflüssig, Bruder!“ (Makanin 364) weckt<br />
nicht nur deutliche Anklänge an die Helden der Zeit<br />
Lermontovs’, Gercens’ und Turgenevs’, sondern steht<br />
allegorisch als Urteil über eine ganze Generation von<br />
im „Untergrund“ mühsam dahinvegetierenden<br />
Existenzen, welche von den tiefgreifenden<br />
Veränderungen ihrer Zeit übergangen und überfordert<br />
abseits des neuen, nunmehr kapitalistischen Zeitalters<br />
Russlands stehen.<br />
Der Held der „Jetztzeit“ Petrovic begibt sich als lediglich<br />
geduldete Existenz aus dem Mikrokosmos des<br />
heimatlichen Plattenbaus in ein an Pecorin und<br />
Grušnickij gemahnendes, ungleiches Duell mit einem<br />
Tschetschenen, den er auf einer Parkbank ohne<br />
ersichtliches Motiv hinterrücks ersticht und muss<br />
schließlich als Schmarotzer diffamiert den Plattenbau<br />
Mediale Zeit(en)<br />
Ein Held unserer Zeit<br />
66<br />
räumen. Die in Anbetracht des Rausschmisses<br />
angestellten Überlegungen von Petrovic bringen das seit<br />
Pecorin bekannte Spannungsverhältnis zwischen<br />
Individuum und der Gesellschaft sowie die besondere<br />
Tragik des „Helden unserer Zeit“ noch einmal deutlich<br />
zum Ausdruck, wenn es heißt:<br />
Nicht physische Gewalt [...] fürchtete ich, [...] -<br />
sondern den Verlust des Ortes, an den ich mich<br />
zurückziehen konnte, und ... den Verlust ihrer<br />
Liebe. Ich müsste außerhalb ihres Dunstkreises<br />
leben, das erkannte ich überraschend als<br />
<strong>Pro</strong>blem. Außerhalb der Gesellschaft dieser<br />
dumpfen, bornierten, traumatisierten, armen<br />
Menschen, deren Liebe ich so natürlich und<br />
selbstverständlich aufgenommen und<br />
verbraucht hatte, wie man beim Atmen<br />
farblosen Sauerstoff aufnimmt und verbraucht“<br />
(Makanin 364).<br />
Das Fehlen eines außerhalb des eigenen Ich liegenden<br />
Bezugspunktes und die daraus resultierende fehlende<br />
Anteilnahme und Hingabe an die Umwelt bilden bei<br />
Lermontov wie bei Makanin bleibende Kennzeichen der<br />
Helden ihrer Zeit. Die selbstgewählte wie auch die<br />
erzwungene Opposition zur der in der jeweiligen Jetztzeit<br />
mehrheitlich getragenen Weltanschauung erwirkt nicht<br />
die intendierte Freiheit und Unabhängigkeit. Vielmehr<br />
verstärkt sie die von Gercen in „Wer ist schuldig?“<br />
bloßgelegte Deformation des Individuums durch<br />
diejenigen „äußeren Verhältnisse“, von welchen sich Pe<br />
orin, Bel’tov, Bazarov und Petrovic eigentlich befreien<br />
wollten. Der pecorinsche Held erweist sich auf diese<br />
Weise als zeitloses erstes Opfer seiner Zeit und gereicht<br />
all jenen zum lebendigen Mahnmal, die diese aktiv<br />
mitgestalten.<br />
LITERATURVERZEICHNIS:<br />
Lermontov, Michail: 1989. Ein Held unserer Zeit. Aus dem<br />
Russischen von Günther Stein. Frankfurt am Main: Insel<br />
Verlag. Kurz: HuZ<br />
Herzen, Alexander: 1976. Wer ist schuldig? Deutsch von<br />
Alfred Eckelt. Mit einem Nachwort von Eberhard Reißner.<br />
Berlin und Weimar: Aufbau Verlag. Kurz: WS<br />
Kasack, Wolfgang: 1994. Russische Autoren in<br />
Einzelporträts. Stuttgart: Reclam.<br />
Gorki, Maxim: 1962. Die Mutter. Aus dem Russischen von<br />
Adolf Heß. Berlin: Aufbau Verlag.<br />
Makanin, Vladimir: 1998. Underground oder Ein Held<br />
unserer Zeit. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke.<br />
München: Luchterhand.<br />
Lauer, Reinhard: 2000. Geschichte der russischen Literatur.<br />
Von 1700 bis zur Gegenwart. München: Beck.<br />
Stender-Petersen, Adolf: 1993. Geschichte der russischen<br />
Literatur. München. Beck.<br />
Eliasberg, Alexander: 1923. Russische Literaturgeschichte.<br />
München: Beck.<br />
Ci•ewskij, Dmitrij: 1967. Russische Literaturgeschichte des<br />
19. Jahrhunderts. II. Realismus. Forum Slavicum Bd. 1 1967.<br />
München: Wilhelm Fink.<br />
Belinskij, Vissarion Grigorevic: 1958. Geroj našego<br />
vremeni. Socinenie M.L. Lermontova. Moskva:<br />
Gosudarstvennoe izdatel’stvo hudo•estvennoj literatury.<br />
Terc, Abram: 1956. to takoe socialisti<br />
eskij realizm. Moskva: Samizdat.
Fußnoten:<br />
1 Michail Jurcevic Lermontov (1814-1841), aus altem<br />
russischem Adel, studierte beginnend 1830 Philologie in<br />
Moskau und war ein Zeitgenosse und Freund von<br />
Aleksandr Sergeevic Puškin.<br />
Bis 1830 verfasst Lermontov bereits an die 300 Gedichte,<br />
es folgen die Dramen „Menschen und Leidenschaften“,<br />
„Maskerade“ sowie der Roman „Vadim“.<br />
Ab 1832 dient Lermontov als Kavallerieoffizier in der<br />
russischen Armee. Sein kritisches Gedicht „Der Tod des<br />
Dichters“ im Andenken an den 1837 verstorbenen Puškin<br />
bringt ihm eine Strafversetzung in den Kaukasus ein, das<br />
1839 veröffentlichte Versepos „Der Dämon“ festigt seinen<br />
Ruhm als aufstrebenden Dichter und „Byron auf<br />
russischem Boden“ (Eliasberg 35).<br />
Mediale Zeit(en)<br />
Nach einer vorübergehenden Rückkehr aus dem<br />
Kaukasus nach St. Petersburg wird Lermontov wegen<br />
eines Duells erneut strafversetzt.<br />
Im Jahr 1840 erscheint sein Roman „Ein Held unserer Zeit“,<br />
der hinsichtlich Thematik und Komposition in der<br />
russischen Literaturgeschichte bis heute seinesgleichen<br />
sucht und gemeinhin als Vorläufer der großen,<br />
bekannten Romane des russischen Realismus in der<br />
zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts gilt . Lermontov stirbt<br />
in Folge eines Duells 1841 in Pitjagorsk.<br />
2 Evgenij Onegin ist der Hauptprotagonist des<br />
gleichnamigen Versepos von Aleksandr Sergeevi<br />
Puškin (1799-1837) das zwischen 1823 und 1830<br />
entstand.<br />
Mag. Clemens Tonsern, geb. 1981, studierte in Graz Philosophie und Russisch und arbeitet ebendort an seiner Dissertation.<br />
Seine Diplomarbeit widmete sich dem Menschenbild des russischen Philosophen Alexander Herzen. Zwischen 2005 und<br />
2007 war er als Gastlektor an der Staatlichen Pädagogischen Universität Wolgograd tätig.<br />
Ein Held unserer Zeit<br />
67
Petre Puskasu<br />
Reinterpretation der Zeitgeschichte als politischer Sprengstoff im Kino:<br />
Der Fall Octobre (1994)<br />
« J´ai toujours essayé de faire mes<br />
films comme on pose des bombes..<br />
.Où la placer pour que ça fasse<br />
mal ? » 1<br />
Pierre Falardeau<br />
Der bekennende Marxist Pierre Falardeau ist einer der<br />
erfolgreichsten, politisch engagiertesten und wohl auch<br />
umstrittensten Filmemacher der kanadischen <strong>Pro</strong>vinz<br />
Quebec. Er setzt sich für die politische Unabhängigkeit<br />
der <strong>Pro</strong>vinz ein und nützt das Medium Film als Ventil für<br />
seine kompromisslose Kritik, die er gegen den<br />
kanadischen Föderalismus, die Alienation,<br />
Globalisierung und Amerikanisierung der Gesellschaft<br />
Quebecs richtet. Im vorliegenden Beitrag soll sein<br />
umstrittener Film Octobre (1994) analysiert werden, der<br />
für eine hitzige Debatte in den kanadischen Medien<br />
gesorgt hat.<br />
Pierre Falardeaus Spielfilm Octobre, an dessen<br />
Realisierung der Regisseur bereits seit 1981 arbeitete,<br />
problematisiert ein Schlüsselereignis der Oktoberkrise<br />
von 1970, die Entführung und Hinrichtung des<br />
quebeckischen Arbeitsministers Pierre Laporte durch<br />
die Chénier- Zelle der Front de Libération du Québec<br />
(FLQ). Diesen Ereignissen ging die Entführung des<br />
britischen Diplomaten Richard Cross durch die<br />
Libération- Zelle der FLQ am 5.Oktober 1970 voran. Die<br />
FLQ- Männer forderten als Gegenleistung für die<br />
Entlassung von Cross unter anderem die<br />
Veröffentlichung des FLQ- Manifests auf der Titelseite<br />
einer französischsprachigen Zeitung, die Freilassung der<br />
23 inhaftierten FLQ-Mitglieder, die Publikmachung der<br />
Identät des Polizeinformanten, der die FLQ infiltriert hat<br />
sowie die Zurverfügungstellung eines Flugzeugs nach<br />
Kuba oder Algerien zusammen mit 500.000 CAD in Gold.<br />
Davor hatte die FLQ ihre Aktivitäten auf Raubüberfälle<br />
und Bombenattentate beschränkt; zwischen 1963 und<br />
1970 ließ die FLQ etwa alle 10 Tage eine Bombe im<br />
Großraum Montreal hochgehen, wobei hier<br />
üblicherweise Briefkästen in den wohlhabenden<br />
anglophonen Wohnviertel Montreals, wie etwa<br />
Westmount, gesprengt wurden.<br />
Die föderale Regierung Kanadas unter Premierminister<br />
Pierre Elliott Trudeau lehnt indes jegliche<br />
Verhandlungen mit der FLQ ab; der quebeckische<br />
Premierminister Robert Bourassa reist nach New York ab<br />
und designiert den quebeckischen Arbeitsminister<br />
Pierre Laporte als Stellvertreter während seiner<br />
Abwesenheit. Einige Minuten vor dem Ablauf der von<br />
der FLQ gestellten Frist verkündet der quebeckische<br />
Justizminister Jérôme Choquette am 10. Oktober (um<br />
ca. 18 Uhr) die Ablehnung der Verhandlungen mit der<br />
FLQ seitens seiner Regierung. Etwa 20 Minuten später<br />
entführt die Chénier- Zelle Pierre Laporte vor seinem<br />
Haus in Saint- Lambert, wo er mit seinem Enkelsohn<br />
Fussball spielt. Eine Woche später wird Laporte erdrosselt<br />
aufgefunden.<br />
Die Oktoberkrise und die Ereignisse, die mit ihr<br />
zusammenhängen- etwa die Ausrufung des<br />
Ausnahmezustands in Quebec durch einen Quebecker,<br />
nämlich Pierre Elliott Trudeau, die Suspension der<br />
Bürgerrechte (das Gesetz, das Trudeau diese<br />
Maßnahme ermöglichte, datiert aus dem Jahr 1918!),<br />
der Einmarsch der kanadischen Armee in Montreal, die<br />
Mediale Zeit(en)<br />
Der Fall Octobre (1994)<br />
68<br />
drauffolgenden mehr als 500 Verhaftungen und<br />
Detentionen, die ohne <strong>Pro</strong>zess erfolgten,<br />
ist ohne Zweifel eines der traumatischsten Kapitel des<br />
quebeckischen und kanadischen Kollektivbewußtseins.<br />
Hierzu Gilles Marsolais:<br />
Cette opération menée par 12 000 militaires<br />
et policiers se solda par 30 000 „intimidations“<br />
perpétrées à l´occasion de ratissages de<br />
quartiers, des milliers de perquisations sauvages<br />
et l´arrestation arbitraire de 500 personnes.<br />
Plusieures d´entre elles, soumises à diverses<br />
humiliations et même à des simulacres<br />
d´exécution, furent incarcérées jusqu´à trois<br />
mois, dans l´isolement complet. Toutes furent<br />
relachées sans qu´aucune accusation ne soit<br />
finalement portée contre elles. 2<br />
Die Oktoberkrise ist gleichzeitig zu einem politischen<br />
Tabu geworden- das Archivmaterial der Gerichte, der<br />
Armee, des kanadischen Sicherheitsdienstes oder der<br />
quebeckischen Polizei, die die Oktoberkrise<br />
dokumentieren, bleibt bis dato unzugänglich, was eine<br />
objektive Rekonstruktion der Ereignisse von 1970 beinahe<br />
unmöglich macht- „il est impossible de faire le deuil<br />
d´Octobre (…) comme le démontrent les conclusions<br />
partielles des commissions et enquêtes, qui se sont<br />
heurtées au refus du gouvernement fédéral ou de la<br />
GRC 3 de fournir des documents“ 4 (Leroux). Bleibt der<br />
Diskurs der an der Oktoberkrise beteiligten Akteure, der<br />
FLQ- Mitglieder, der Historiker, der Journalisten, der<br />
Soziologen oder eben auch der Filmemacher; dieses<br />
Material ist sehr zahlreich, doch widersprüchlich. So<br />
wurden etwa im Zuge der Oktoberkrise Gerüchte und<br />
Falschmeldungen über die FLQ von der Regierung selbst<br />
verbreitet, um politisches Kapital aus der Krise schlagen<br />
zu können. 5<br />
Hierzu erinnert sich Francis Simard: „ À l´époque, (…) le<br />
ministre de la Justice, Jérôme Choquette, a refusé de<br />
rendre public le rapport de l´autopsie faite sur le corps<br />
de Pierre Laporte. Cela a permis aux deux<br />
gouvernements de se justifier, en laissant les rumeurs de<br />
torture se répandre. D´autres rumeurs, qui disaient que<br />
Laporte avait été achevé par l´Armée, après avoir été<br />
retrouvé vivant dans le coffre arrière de la Chevrolet,<br />
ont aussi couru.” 6<br />
Desinformation, Verbreitung von Gerüchten; Legenden<br />
und Halbwahrheiten haben ihr Übriges dazu<br />
beigetragen, dass die Oktoberkrise stark mystifiziert,<br />
politisiert und mannigfaltig interpretiert worden ist- „les<br />
légendes vivent plus longtemps que les faits, surtout<br />
lorsque ceux-ci sont dissimulés, maquillés ou interprétés<br />
à mesure qu´ils s´imposent à la mémoire“, 7 bemerkte in<br />
diesem Zusammenhang Bruno Bisson.<br />
Pierre Falardeau hinterfragt mit seinem Film die offizielle<br />
Lesart der Oktoberkrise, und das aus seiner gewohnten<br />
Ablehnungshaltung heraus, die Geschichte zu<br />
akzeptieren „as it is written by the Power Corporation<br />
mercenaries“ 8 (Stone), wobei seinem Film von einigen<br />
Kritikern Revisionismus nachgesagt wird.<br />
Falardeau selbst meint dazu, dass Octobre ein Versuch<br />
seinerseits gewesen ist, die Ereignisse um die Entführung<br />
und Ermordung Pierre Laportes aus der Sicht der FLQ-<br />
Leute darzustellen und die „états d´âme de quatre<br />
gars“ 9 zu verstehen. Falardeaus Hauptquelle für seinen
Film ist Francis Simard, einer der Akteure der Entführung<br />
und Hinrichtung von Pierre Laporte, der seine Erlebnisse<br />
in seinem Buch „Pour en finir avec octobre“ 1981<br />
festhält. Falardeaus Octobre beschäftigt sich also<br />
ausschließlich mit der Chénier- Zelle und dem<br />
Kidnapping Laportes, die aus der Sicht der 4 FLQ-<br />
Männer dargestellt werden und versucht, ihre<br />
Beweggründe zu eruieren. Die zentrale Frage, die sich<br />
Falardeau hierbei stellt, ist : „ A-t-on le droit de tuer pour<br />
des idées, pour défendre un concept de liberté ?” 10<br />
1.)ZUM INHALT UND STRUKTUR VON FALARDEAUS OCTOBRE<br />
« Le 10 octobre 1970, quatre militants du Front<br />
de libération du Québec kidnappent le ministre<br />
du Travail et de l´Immigration. Une semaine plus<br />
tard, la police retrouve le corps du ministre<br />
dans le coffre arrière de l´automobile qui a servi<br />
à l´enlèvement.<br />
Que s´est il passé exactement pendant cette<br />
semaine ? Pourquoi ? Comment ? Dans quelles<br />
circonstances ? Heure après heure, jour après<br />
jour, on suit de l´intérieur la vie de cinq hommes<br />
coincés pendant sept jours dans la maison de<br />
la rue Armstrong : leurs doutes, leurs espoirs,<br />
leurs peurs, leurs déchirements, leurs<br />
convinctions.<br />
Mis au pied du mur par le pouvoir, pris dans la<br />
logique implacable des événements,<br />
emportés par le poids des choses, l´un après<br />
l´autre ils affrontent leur destin. Ils décident.<br />
Seuls. Solitaires.» 11<br />
Pierre Falardeau über Octobre<br />
Die erzählte Zeit in Falardeaus Film ist die Woche vom<br />
10. auf den 17. Oktober 1970, Tag, an dem Laportes<br />
Leiche im Kofferraum eines blauen Chevrolets in der<br />
Nähe des Flughafens Saint- Hubert aufgefunden wird.<br />
Der Schauplatz des Films ist fast ausschließlich das Haus<br />
auf der Armostrong Street auf der Rive Sud von Montreal,<br />
in dem die vier Entführer Paul und Jacques Rose, Francis<br />
Simard und Bernard Lortie den Arbeitsminister von<br />
Quebec gefangen halten. Wir verlassen sehr selten das<br />
Haus an der Armstrong Street und werden in die gleiche<br />
Lage wie die FLQ- Männer versetzt; die einzige<br />
Informationsquelle, die zu diesem „huis-clos“<br />
durchdringt, übermittelt das Radio- „un sixième<br />
personnage qui nous fera réentendre le discours de<br />
Choquette et de Bourassa“ 12 (Privet). Falardeau<br />
identifiziert keinen seiner Charaktere, außer dem<br />
Charakter Pierre Laportes und bleibt auf diese Weise den<br />
Schilderungen Francis Simards aus „Pour en finir avec<br />
octobre“ treu, der in seinem Buch keine Namen nennt.<br />
Von ihren politischen Idealen beflügelt, entführen die<br />
vier FLQ- Männer Laporte am Anfang des Films, doch<br />
die Ereignisse überschlagen sich und ihre Aktion ist zum<br />
Scheitern verurteilt.<br />
So gesehen ist Octobre ein tragischer Film; die Lage der<br />
Entführer wird immer aussichtsloser- „c´est comme si<br />
j´étais dans un moulin à viande…La patente tourne et<br />
tourne, pis ça r´cule pas…On est dans l´entonnoir pis<br />
ça pousse...ça pousse...”, sagt der von Denis Trudel<br />
gespielte Charakter. Christian Poirier spricht in diesem<br />
Zusammenhang von einer „ représentation tragique,<br />
mélancolique et manquée de l´identité et de la réalité<br />
québécoises.” 13 Dieses Gefühl der Aussichtslosigkeit wird<br />
von den sich überschlagenden Ereignissen (die<br />
Ausrufung des Ausnahmezustands, der Einmarsch der<br />
kanadischen Armee in Montreal, die Verhaftungswellen,<br />
Laporte, der sich bei einem Fluchtversuch stark verletzt)<br />
Mediale Zeit(en)<br />
Der Fall Octobre (1994)<br />
69<br />
vermittelt und von der Reihenfolge und vom<br />
Schnittrhytmus der Sequenzen, von der Kamera Alain<br />
Dosties, die kaum das Haus auf der Armstrong Street<br />
verlässt, verstärkt. Die Kamera, die den vier FLQ-<br />
Männern auf Schritt und Tritt folgt, vermittelt ein Gefühl<br />
der Erstickung.<br />
Hierzu Pierre Falardeau:<br />
L´idée que la caméra reste toujours à<br />
l´intérieur avec eux, (...) j´étais pas tout à fait<br />
conscient, au début, de l´impact que ça<br />
aurait sur le spectateur. Mais c´est vrai qu´on<br />
étouffe avec eux, on a envie de dire : ouvrez<br />
les chassis, quelqu´un, faites quelque chose !<br />
(...) Et puis c´est la réalité qui est tragique, j´ai<br />
pas inventé l´horreur de tous ces événementslà<br />
; c´est vrai que les gars étaient comme dans<br />
un entonnoir... 14<br />
Die FLQ- Männer werden von Falardeau als alles andere<br />
als Übermenschen gezeigt- sie sind sich ihrer Sache<br />
keineswegs sicher und zögern. Sie haben Angst zu<br />
scheitern und entdeckt zu werden und zerbrechen an<br />
ihrer Unentschlossenheit, konsequent ihre politischen<br />
Überzeugungen bis zum Ende umzusetzen und Laporte<br />
zu töten. Am Ende des Films wissen sie nicht, was sie mit<br />
dem verblutenden Laporte tun sollen – einerseits haben<br />
sie Mitleid mit ihm, andererseits sind sie sich der<br />
Notwendigkeit bewußt, keine Schwäche zeigen zu<br />
dürfen.<br />
Einer der FLQ- Männer weist darauf hin, dass israelische<br />
Soldaten nicht zögern würden, bevor sie ein<br />
palestinesisches Kind töten; einer seiner Kameraden<br />
schreit ihn daraufhin an und meint, dass sie nicht das<br />
Recht hätten, jemanden für eine politische Idee zu<br />
töten.<br />
Das Dilemma der FLQ-Männer charakterisiert Nathalie<br />
Petrowski dieserart: „Quand ils ont enlevé Laporte, les<br />
gars avaient l´impression d´enlever un symbole, une<br />
sorte d´abstraction responsable de tous les maux de la<br />
terre (...) Et puis ils se sont retrouvés entre quatre murs<br />
avec un être humain, un gars ordinaire qui avait peur,<br />
qui avait faim, qui avait envie de pisser. Ils avaient<br />
tellement honte qu´ils n´osaient pas le regarder.” 15<br />
Die Spannung steigt abermals und die FLQ- Männer<br />
bringen den leblosen Laporte nach langem Zögern um,<br />
was Francis Simard in seinem Buch als „nécessaire et<br />
injustifiable“ bezeichnet, Camus zitierend. Hier<br />
verwendet Falardeau eine schier endlos scheinende<br />
30 Sekunden andauernde Plansequenz der<br />
Küchenwand, als sich die Hinrichtung ereignet. Die<br />
Exekution findet „hors- champ“ statt und wird<br />
musikalisch nicht untermalt. Louise Blanchard fasst den<br />
Plot des Falardeau´schen Films ausdrucksstark<br />
zusammen:<br />
Avec la dimension politique traitée seulement<br />
en fond de scène par le biais de la radio et<br />
de la télévision, le film expose avant tout l´état<br />
d´esprit des quatre hommes engagés dans un<br />
huis clos explosif, rue Armstrong, avec un<br />
otage sur les bras, révélant l´esprit<br />
d´improvisation dans lequel s´est commis<br />
l´enlèvement, l´attente frénétique des<br />
nouvelles du gouvernement, leur crainte<br />
d´être découverts, leur désillusion montante<br />
devant l´inertie des politiciens ainsi que leur<br />
angoisse et leur déchirement devant la<br />
perspective d´aller au bout de leurs<br />
convinctions en tuant Pierre Laporte. 16
Falardeaus Octobre funktioniert zudem auf zwei<br />
Ebenen. Er ist einerseits ein Krimi über ein Kidnapping,<br />
das mit einem Mord endet. Die Perspektive hier ist die<br />
der Entfürer, also die der Chénier- Zelle, und nicht wie<br />
üblich die des Opfers.<br />
Andererseits beinhaltet der Film einen starken<br />
separatistischen Diskurs.<br />
1.a.) Die Hollywood- Form von Octobre<br />
Als Krimi oder „suspence story“ verwendet Falardeaus<br />
Film konventionnele Vokabel und weist eine klassische<br />
Hollywood- Form auf, wie sie am besten von David<br />
Bordwell, Janet Staiger und Kristin Thomson in ihrem<br />
Werk „The Classical Hollywood Cinema“ 1985<br />
beschrieben wird. So schreibt hier Bordwell, dass eine<br />
der Regel, die sich das Hollywood- Kino selbst auferlegt<br />
hat, die Einhaltung einer „realistischen“ Linie ist, und<br />
zwar sowohl im aristotelischen Sinne, was er als „truth<br />
to the probable“ bezeichnet, als auch „realistisch“ im<br />
Sinne der Nähe zum Faktischen, zur historischen<br />
Tatsache. Das Hollywood- Kino versucht seine<br />
Artifizialität durch Anwendung von so genannten<br />
„continuity techniques“ (z.B.: Einhaltung der Kohärenz<br />
zwischen den Schnitten im Editierungsprozess) und<br />
„invisible storytelling“ zu cachieren. Darüber hinaus will<br />
es verständlich und unmissverständlich (unzweideutig)<br />
sein und eine universale Botschaft beinhalten, die also<br />
klassen- und nationsüberschreitend ist. 17<br />
Der Plot in Octobre setzt mit der Entführung Pierre<br />
Laportes durch die Chénier- Zelle der FLQ ein. Sie ist<br />
auch die narrative Linie des Films mit einer für die<br />
Hollywood- Form klassischen 3- Akt- Struktur, die einem<br />
linearen Spannungsbogen folgt: 18<br />
· Exposition (1. Akt);<br />
· 1. Wendepunkt (Plot Point1), der die Spannung<br />
steigert und den 2. Akt einleitet<br />
· 2. Wendepunkt (Plot Ponit 2), der meist eine<br />
Umkehrung darstellt und die Klimax und den<br />
3. Akt einleitet<br />
· Auflösung (3. Akt)<br />
Die narrative Linie von Octobre wird, wie ein klassischer<br />
Hollywood- Krimi, am Ende des 3. Aktes beendet, an<br />
dem die zentrale Frage des Films: „Was hat die vier FLQ-<br />
Männer dazu gebracht, Pierre Laporte zu entführen und<br />
zu ermorden?“ beantwortet wird. Der Film ist in einer<br />
unauffälligen Weise editiert und weist durchwegs glatte<br />
Schnitte auf, die reibunglos aneinander anschliessen-<br />
Großaufnahmen der Gesichter der FLQ- Männer und<br />
ihrer Waffen, als sie das Haus Laportes erreichen;<br />
Falardeau vermeidet zudem harte Schnitte- in der<br />
Szene, in der Laporte ins Auto geschoben wird,<br />
verwendet er Großaufnahmen und Totalen, die<br />
ebenfalls nahtlos ineinder übergehen. Diese Form wird<br />
durch die emotional manipulative Musik von Richard<br />
Grégoire vesrtärkt, die den Spannungsbogen der<br />
Storyline dramaturgisch unterstützt. Falardeau<br />
verwendet nach der Entführungsszene sogar eine<br />
Wendung, um die Spannung zu steigern- als die<br />
verkleideten Entführer mit dem Minister auf dem Boden<br />
ihres Autos eine Kreuzung passieren wollen, wird die<br />
Ampel rot, wobei auf der gegenüberliegenden<br />
Straßenseite ein Streifenwagen ebenfalls auf die grüne<br />
Ampel wartet. Als die Ampel grün wird, blockiert der<br />
Polizeiwagen die Straße, nachdem sie an ihm<br />
vorbeigefahren sind; die vier Männer im Auto schreien<br />
auf, als sie knapp davonkommen.<br />
Zudem wird diese Spannung zu verschiedenen Zeiten<br />
im Film reaktiviert- etwa wenn die Figur von Paul Rose<br />
in der Stadt von Polizisten in Zivil erkannt wird. Sie<br />
Mediale Zeit(en)<br />
Der Fall Octobre (1994)<br />
70<br />
verfolgen ihn, Rose flüchtet sich in das Haus eines<br />
befreundeten R.I.N. 19 - Mitglieds, wo er sich selbst eine<br />
Stirnschewellung mit einem Ziegel zufügt, sich verkleidet<br />
und auf diese Weise entkommen kann.<br />
Die FLQ- Männer werden außerdem häufig in einen<br />
Alarmzustand versetzt- etwa, als die Polizei ihr<br />
Nachbarhaus stürmt oder als der Ausnahmezustand<br />
ausgerufen wird, die kanadische Armee unter dem<br />
betäubenden Geräusch von Helikoptern und<br />
Polizeisirenen in die Stadt einmarschiert und Leute<br />
wahllos verhaftet werden.<br />
Der finale Zeitpunkt der „suspence“ kreist um die<br />
Entscheidung, Laporte zu töten oder nicht. Dieses<br />
Corneille´sche Dilemma zwischen ihrem menschlichen<br />
Empfinden und ihrer Pflicht dem bewaffneten Kampf für<br />
die Befreiung Quebecs gegenüber stellt den<br />
Hauptkonflikt dar.<br />
Am Ende töten die FLQ- Männer den quebeckischen<br />
Arbeitsminister.<br />
1.b.) Der separatistische Diskurs in Falardeaus Octobre<br />
« Moé, la seule démocratie que je connais,<br />
c´est la démocratie des coup de pied dans le<br />
cul, la démocratie des p´tits boss sales qui<br />
crient après toé à journée longue, pour un<br />
salaire de crève-faim. T´es pas content ? Quin,<br />
prends ton p´tit livre d´assurence-chômage, pis<br />
décâlisse, y´en a 20 à porte qui attendent pour<br />
avoir ta job.»<br />
Einer der FLQ- Männer in Octobre<br />
Die zweite Ebene ist der separatistische Diskurs des Films.<br />
So wird gleich am Anfang von Octobre folgender<br />
Scrolltext eingeblendet, um die Beweggründe des FLQ-<br />
Aktionen historisch zu kontextualisieren:<br />
Deux cents ans après la conquête<br />
de 1760 par l´armée anglaise,<br />
des québécois prennent les armes<br />
pour l´indépendance de leur pays.<br />
Le Front de Libération du Québec<br />
renouant avec la lutte des Patriotes<br />
de 1837, passe à l´action armée:<br />
attaques de casernes, vols d´armes,<br />
vols d´explosifs, hold up de<br />
financement, dynamitages etc.<br />
Années après années,<br />
vagues après vagues, les réseaux<br />
du FLQ sont démantelés par la police,<br />
pour renaître aussitôt.<br />
Pour faire libérer leurs camarades<br />
emprisonnés, des militants du FLQ<br />
déclenchent l´ « Opération Libération ».<br />
Ce film raconte une histoire vécue,<br />
basée non pas sur une reconstitution<br />
d´époque mais sur le respect<br />
des faits et des hommes.<br />
Diese Botschaft rekurriert im ganzen Film- es werden im<br />
Radio Ausschnitte des FLQ-Manifests vorgelesen; der<br />
Charakter von Paul Rose spricht von einem System der<br />
Exploitation, dass über 200 Jahre angedauert hätte; ein<br />
anderer der vier FLQ- Männer bemerkt, dass die<br />
Quebecker ein seit Generationen besiegtes Volk seien,<br />
das nicht weiß was es heißt, frei zu sein. Hierzu William<br />
Johnson: „ Both when the Felquistes speak and when
they listen to television, the litany of indignities against<br />
francophones is evoked, including the statement by CN<br />
president Donald Gordon that he could find no qualified<br />
francophone to promote to senior management.” 20 Die<br />
Aktualität der Oktoberkrise wird außerdem durch den<br />
Umstand suggeriert, dass Falardeau in seinem Film nicht<br />
auf die Einhaltung der Authentizität der dargestellten<br />
Epoche achtet- “le film se passe entre 70 et 90. Pour<br />
moi c´était (…) aussi une quéstion idéologique; c´était<br />
un moyen de dire que les choses ont peut- être pas<br />
changé tant que ça depuis 1970... ” 21<br />
Dieser Diskurs schwingt aber eher nur mit und ist nicht<br />
das Leitmotiv des Films, wie etwa in Falardeaus<br />
Filmpamphlet Le temps des bouffons. Das<br />
Hauptaugenmerk liegt auf der Tragödie der vier FLQ-<br />
Männer „who are shown to be lumpenproletarians who<br />
just lost control of the situation.“(White). 22<br />
2.) DIE ENTMYSTIFIZIERUNG DER OKTOBERKRISE<br />
Viele in Quebec hatten die Zeit der Oktoberkrise, die<br />
1970er Jahre, als eine romantische Epoche und die FLQ<br />
als eine Bande junger Männer, „ (qui) étaient eux aussi<br />
plus romantiques que révolutionaires même si leur<br />
révolte se réclamait de Karl Marx, Frantz Fanon et Ernesto<br />
« Che » Guevara” 23 (Marsolais) erlebt. Viele Quebecker<br />
haben die Abenteuer der FLQ verfolgt und die meisten<br />
von ihnen haben von dieser militanten Gruppe nach<br />
der Ermordung Laportes abgelassen. Mit der Zeit wurde<br />
das Bild der FLQ mystifiziert- ihre Mitglieder als moderne<br />
Abenteurer gezeichnet, die ein wenig naiv für ihre<br />
großen politischen Ideale in einen Kreuzzug gegen das<br />
Establishment und gegen das große Kapital gezogen<br />
sind.<br />
Dieses Bild der FLQ, das sich ins Kollektivgedächtnis der<br />
Quebecker eingeprägt hatte, zerstört Falardeau in<br />
seinem Film, der die Militanten der FLQ weder als<br />
Übermenschen, noch als wagemutige Guerrilleros,<br />
sondern als Durchschnittsmenschen zeigt, die<br />
unentschlossen sind und am Ende in die Knie gezwungen<br />
werden- „ils n´étaient pas des psychopathes ni des<br />
surhommes mais des simples êtres humaines (…) ni<br />
mercenaires, ni patriotes, ni déliquants, ni guérilleros. Du<br />
monde ordinaire comme vous et nous.“ 24 , bemerkt etwa<br />
Nathalie Petrowski, die zugibt, von diesem<br />
entmystifizierten und wenig schmeichelhaften aber wohl<br />
sehr realitätsnahen Bild der FLQ („remarquez que c´est<br />
probablement comme cela que tout c´est passé“, sagt<br />
sie an einer anderen Stelle) enttäuscht worden zu sein.<br />
Dies bestätitigt auch Karen Ricard, die festhält, dass<br />
Falardeaus Film „détruit le mythe encombrant<br />
d´Octobre 70 pour nous faire entrer, une fois pour toutes,<br />
dans l´histoire.” 25<br />
3.)ZUR FINANZIERUNG UND KRITIK VON FALARDEAUS OCTOBRE<br />
« Après toutes les chicanes, les batailles de<br />
chiens enragés, de sénateurs fous, 26 et les<br />
hoquets chienneux d´une SOGIC en voie<br />
d´extinction, Falardeau qui ne craint ni les<br />
grands mots, ni les affrontements, ni les<br />
dénonciations, a réussi envers et contre<br />
presque tous à tourner son film avec l´argent<br />
de Téléfilm. » 27<br />
Franco Nuovo<br />
Mediale Zeit(en)<br />
Der Fall Octobre (1994)<br />
71<br />
« (...) chaque fois que tu t´intéresses<br />
à l´histoire, t´as toujours un point de<br />
vue. Pour la conquête, par exemple :<br />
celui du conquérant ou celui du<br />
conquis. Si t´es du bord du conquis,<br />
l´autre bord ne va pas te donner de<br />
l´argent pour le faire. » 28<br />
Pierre Falardeau<br />
Die Geschichte der Finanzierung und Enstehung von<br />
Falardeaus Octobre ist gespickt von grotesken<br />
Begebenheiten, Affären, Absurditäten und Anekdoten;<br />
sie gleicht einer Odysse und könnte den Stoff für einen<br />
Roman liefern, 29 ähnlich Sergej Dovlatovs berühmten<br />
Roman „Das unsichtbare Buch“, den der russiche<br />
Dissident über die unzähligen Versuche, seine<br />
Erzählungen in der Sowjetunion zu veröffentlichen,<br />
verfasst und später in New York publiziert hat. Der Grund<br />
dafür ist nicht zuletzt die Tatsache, dass der<br />
Filmemacher ein historisches Kapitel (nicht ganz<br />
unbewußt) in einer Art und Weise behandelt, die die<br />
Kontroverse nahezu heraufbeschwört.<br />
Die Oktoberkrise ist nämlich ein einschneidendes<br />
traumatisches Erlebnis in der jüngsten kanadischen<br />
Geschichte gewesen, das sowohl die Föderalisten, als<br />
auch die quebeckischen Separatisten in eine Krise<br />
stürzte. Beide Seiten haben seither versucht, ihre Schuld<br />
an diesen Ereignissen zu rationalisieren, indem sie zu<br />
beweisen erpicht waren, dass die jeweils andere Seite<br />
weniger gerechtfertigt gehandelt und die größere<br />
Schuld an der Oktoberkrise zu tragen hätte. Letztere ist<br />
zu einem politischen Tabu geworden, das gerne<br />
gemieden wird.<br />
Es ist daher wenig verwunderlich, dass Falardeaus<br />
Octobre- <strong>Pro</strong>jekt, das die Oktobereignisse aus der<br />
Perspektive der FLQ zeigt und zudem einen<br />
separatistischen Diskurs vertritt, auf einen starken<br />
Widerstand seitens der föderalen und quebeckischen<br />
Förderungsorganismen gestoßen ist und mehr als 15<br />
Jahre auf seine Realisierung warten musste- „après tout,<br />
il ne faut pas réveiller le gros méchant monstre surtout<br />
avec l´argent du gouvernement fédéral.“ 30 (Joanisse)<br />
. Pierre Falardeau drückt in seinem Buch „La liberté n´est<br />
pas une marque de yougourt“ seine Frustration aus-<br />
„Non. Oui. Non. Oui. Non. La valse pendant des jours,<br />
des semaines, des mois. Oui. Non. Peut- être. Ça finit<br />
par tomber un peu sur le système“. 31<br />
Wie auch bei vorangehenden <strong>Pro</strong>jekten, in denen<br />
Falardeau seinen „discours identitaire“ gegenüber dem<br />
„discours économique“ den Filmförderungsorganismen<br />
gegenüber hat durchsetzen müssen, kam sein Octobre-<br />
<strong>Pro</strong>jekt „that has the stuff to provoke a debate about<br />
these events that is long overdue“ 32 (Legault) ebenfalls<br />
in einen direkten Interessenskonflikt mit dem<br />
föderalistischen Diskurs der Förderungsorganismen,<br />
allen voran dem von Téléfilm Canada und dem Office<br />
National du Film du Canada (ONF). Hierzu Ray<br />
Conlogue: „ (…) private- sector producers fled. SOGIC,<br />
the arm of the Quebec government which subsidizes<br />
film, refused to contribute a penny. Nobody in Quebec<br />
wanted anything to do with a movie about the FLQ<br />
uprising and the imposition of the War Measures Act.”<br />
33<br />
Mehr als das, es schalteten sich polititsche Akteure ein,<br />
um einen Finanzierungsstopp von Falardeaus Film zu<br />
erreichen. Hier ist die Rede vom liberalen Senator<br />
Philippe Gigantes, der diese Frage sogar vor das<br />
Parlament brachte.
3. a.) Die Affäre Gigantes<br />
« Le sénateur Gigantes part en guerre. Son<br />
cheval de bataille : la censure<br />
cinématographique. Il veut faire interdire le<br />
tournage d´un film sur la Crise d´octobre. » 34<br />
Pierre Falardeau<br />
Der Senator Philippe Deane Gigantes erhielt 1993 auf<br />
mysteriöse Art und Weise Teile des unveröffentlichten<br />
Drehbuchs Falardeaus und startete eine stark<br />
medialisierte Diffamationskampagne gegen<br />
Falardeaus Film- „Gigantes (…) went ballistic and<br />
complained in the media across the country that the<br />
movie (…) portrayed the FLQ as heroes, Laporte as a<br />
Mafia lapdog and Quebec anglos as slave drivers“. 35<br />
Gigantes zeigte sich schockiert darüber, dass die<br />
föderalen Institutionen Téléfilm Canada und der ONF<br />
es in Betracht zogen, einen separatistischen Film über<br />
die Oktoberkrise mit dem Geld kanadischer<br />
Steuerzahler zu fiananzieren: „Il (Falardeau) présente<br />
comme des héros sympathiques, qui pleurent quand<br />
ils lisent des poèmes, les quatre terroristes qui ont enlevé,<br />
séquestré, mutilé et étranglé Pierre Laporte. Pour justifier<br />
ces assassins, M. Falardeau décrit Pierre Laporte<br />
comme étant un vendu à la Mafia même s´il n´y a pas<br />
la moindre preuve ; et décrit M. Bourassa comme « un<br />
mangeur de grain » à génoux devant le fédéral qu´il<br />
veut aider a écraser le Québec.” 36<br />
Der Senator zeigte sich ebenfalls darüber empört, dass<br />
der ONF dem Ex- Terroristen Francis Simard 9000 CAD<br />
gezahlt hat, um die Verfilmungsrechte seines Buchs<br />
über die Oktoberkrise („Pour en finir avec octobre“) zu<br />
erwerben. Seiner Logik folgend war es skandalös, dass<br />
einer der Mörder des ehemaligen Arbeitsministers von<br />
Quebec Pierre Laporte mit seiner Untat noch Geld<br />
verdiente, das zu allem Überfluss vom Steuerzahler<br />
stammte. Rick Gibbons unterstützt Gigantes´ Kritik:<br />
„Seems Canada is not content simply to jail a murderer<br />
for his crimes, it must now provide money to make sure<br />
his story is told in the most sympathetic terms once he is<br />
released“ 37<br />
Doch gerade Gigantes´ Enmischung war<br />
wahrscheinlich dafür verwantwortlich, dass Téléfilm<br />
Canada und der ONF Falardeaus <strong>Pro</strong>jekt letztendlich<br />
finanzierten, denn sehr viele Kritikstimmen gegen eine<br />
politische Druckausübung verurteilten, vor allem in<br />
Quebec, den „Kreuzzug“ Gigantes gegen Falardeau,<br />
so zum Beispiel auch Martine Maltais und Michel<br />
Poulette von La Presse: „ qu´un sénateur fasse<br />
publiquement des pressions pour qu´on empêche le<br />
développement et le financement d´un film est une<br />
forme de censure qui ne leurre personne“. 38<br />
3.b.) Zur Kritik von Octobre in „English- Canada“<br />
« Les succès d´ Octobre font hurler des députés<br />
fédéraux » 39<br />
Le Soleil<br />
Als Falardeaus <strong>Pro</strong>jekt eine Finanzierungszusage<br />
erhalten hat (insgesamt etwa 2,2 Mio. CAD), wurden<br />
krititische Stimmen aus Ottawa besonders laut- man<br />
fragte sich, warum eine föderale Behörde (Téléfilm<br />
Canada) einen Film finanziert, der einen<br />
separatistischen Diskurs vertritt. Falardeaus Film löste<br />
eine öffentliche Debatte zwischen Quebec und dem<br />
Rest Kanadas ob der moralischen und politischen<br />
Implikationen, die die Ermordung Pierre Laportes nach<br />
sich trugen, aus. Der so genannte ROC (Rest of Canada,<br />
also Kanada ohne Quebec) lehnte Falardeaus Film als<br />
Mediale Zeit(en)<br />
Der Fall Octobre (1994)<br />
72<br />
<strong>Pro</strong>pagandafilm vehement ab- „en fait, il est difficile<br />
d´imaginer un film québécois récent qui ait été attaqué<br />
avec plus de haine qu´ Octobre... ” 40 (Privet).<br />
Hier wurde die Argumentationslinie des Senators<br />
Gigantes übernommen. So schreibt etwa The Sun: „ Yes,<br />
out of the tax- funded coffers of the National Film Board<br />
and Telefilm Canada, $ 1,4 million of your money was<br />
donated to help produce a propaganda film so onesided<br />
and so cowardly that the brutal murder of Laporte<br />
is made to appear as though it were an act of mercy”; 41<br />
John Williams denunziert Falardeaus Film als<br />
revisionistischen “film which presents a racist image of<br />
English- speaking Canadians”. 42 Andererseits<br />
denunzierte die anglokanadische Kritik den<br />
separatistischen Diskurs von Falardeaus Octobre, „a<br />
project aimed at heaping scorn, if not outright hate, on<br />
a clearly identifiable group of Canadians- English<br />
Canadians“ 43 (Gibbons). Falardeaus Octobre wird<br />
zudem als “docu- garbage” und als ein dem<br />
fantastischen Einfallsreichtum eines Revolutionärs<br />
entsprungener <strong>Pro</strong>pagandafilm abgetan, der als Ziel<br />
hat, „eine junge und formbare Generation der<br />
Quebecker anhand der Taten einer Mörder- und<br />
Räuberbande (FLQ) zu erziehen“, 44 wobei hier die<br />
Anglophonen als Bösewichte gezeigt werden, während<br />
die FLQ- Leute „come out smelling like roses“ 45 (Pelletier).<br />
Darüberhinaus stellt etwa Shlomo Schwartzberg von<br />
der Montreal Scene die Authentizität und die<br />
Glaubwürdigkeit von Falardeaus Octobre in Frage:<br />
„Almost as amusing as the idiotic Marxist agitprop in<br />
Octobre are the press notes for the film which inform<br />
us, among other tidbits, that Octobre is based on «<br />
respect for the facts and the men » who kidnapped<br />
Laporte.”, 46 während der Toronto Sun das größte<br />
<strong>Pro</strong>blem von Falardeaus Film darin sieht, dass die<br />
Oktoberkrise soweit zurück liegt, dass sie keinem mehr<br />
etwas sagt. 47 Der quebeckische Filmwissenschafter<br />
Georges Privet ist hierbei der Meinung, dass diese<br />
Haltung sehr gut den Abgrund, der English- Canada vom<br />
präreferendären Quebec trennt, veranschaulicht. 48<br />
3.c.) Zur Kritik von Octobre in Quebec<br />
« Depuis que Lord Durham a dit des Québécois<br />
qu´ils étaient un peuple sans histoire, plusieurs<br />
ont fini par le croire. Pas surprenant que lorsque<br />
surviennent des périodes mouvementées, on<br />
préfère les oublier au plus vite ou en laisser<br />
l´interprétation à ce que le cinéaste Pierre<br />
Falardeau considère comme « les fiers-à-bras<br />
du discours officiel » » 49<br />
Normand <strong>Pro</strong>vencher<br />
Die quebeckischen Kritiker und die frankophonen<br />
Medien loben Falardeaus Film in den höchsten Tönen<br />
und tun die kritischen Stimmen aus dem anglophonen<br />
Kanada, die sich nicht die geringste Mühe gegeben<br />
hätten, die Botschaft des Films zu verstehen, 50 als<br />
„critiques dithyrambiques, et souvent fort élitistes, voire<br />
« politically correct »“ 51 (Leblond) ab. So bezeichnet<br />
Karen Ricard Falardeaus Film als „approche unique et<br />
passionnée que même Eisenstein n´aurait pas<br />
reniée…“, 52 während Louise Blanchard vom Journal de<br />
Montréal Falardeaus Spielfilm als „œuvre intimiste et<br />
puissante“ charakterisiert, die „moins une leçon<br />
d´histoire sur le Québec qu´une plongée dans le cœur<br />
des hommes qui en ont écrit une page” 53 sei. Die<br />
Bedeutung des Films sah die quebeckische Kritik<br />
hauptsächlich darin, dass Falardeaus Octobre die<br />
Oktoberkrise entromantisiert, entmystifiziert und mit viel<br />
Luzidität die moralische Debatte um die Frage, „si l´acte<br />
de tuer pour ses idées est injustifiable en soi, les<br />
politiciens, les élus du peuple sont- ils quant à eux justifiés
de sacrifier l´un des leurs (en l´occurence un ministre<br />
du gouvernement) à la soi- nommée raison d´État ?” 54<br />
(Marsolais) behandelt.<br />
Falardeaus Octobre liefert somit, neben Michel Braults<br />
Les Ordres, einen wichtigen Beitrag zur<br />
Vergangenheitsbewältigung- „avant tout Octobre est<br />
un cadran qui vient réveiller un Québec ensommeillé<br />
en ces temps de grande tiédeur en lui mettant le nez<br />
dans son passé, en brassant les consciences” 55<br />
(Tremblay), denn die Tragik von Quebec, dessen<br />
Wahlspruch „Je me souviens“ ist, liegt darin, dass seit 24<br />
Jahren keiner außer ihm und Michel Brault es gewagt<br />
hat, von diesen Ereignissen zu sprechen 56 (Petrowski), die<br />
laut Gilles Marsolais „le sésame, la clef indispensable à<br />
la compréhension du Québec contemporain et de ses<br />
aspirations“ 57 darstellen.<br />
Im Umfeld des Referendums von 1995 beweist Octobre<br />
eindrucksvoll, dass selbst nach 24 Jahren alles, was mit<br />
der Oktoberkrise zu tun hat durch den Filter einer starken<br />
politischen Befangenheit, die den Riss zwischen Quebec<br />
und dem anglophonen Rest of Canada deutlich<br />
veranschaulicht, interpretiert wird. Hierzu zieht der<br />
quebeckische Filmwissenschafter<br />
Georges Privet folgendes Fazit : „ Avec Octobre,<br />
Falardeau offrait aux Canadiens une chance de mieux<br />
comprendre notre histoire. Force est d´admettre<br />
aujourd´hui qu´ils ne comprennent pas plus qu´en 70...” 58<br />
Fußnoten<br />
1 BÉGIN, Pierre- Luc: Québec libre! Entretiens politiques<br />
avec Pierre Falardeau, Éditions du Québécois,<br />
Ste- Foy 2004, S. 100<br />
2 MARSOLAIS, Gilles: Octobre au cinéma. La<br />
mouvance révélatrice d´une démocratie en péril in<br />
24 Images (93/94), Montreal 1998, S. 20<br />
3 GRC steht für „Gendarmerie Royale du Canada“/<br />
engl.: RCMP („ Royal Canadian Mounted Police“); die<br />
GRC oder die RCMP ist der kanadische Geheimdienst,<br />
vergleichbar mit dem US- amerikanischen FBI.<br />
4 LEROUX, Mannon: Les silences d´octobre. Le discours<br />
des acteurs de la Crise de 1970, vlb éditeur, Montreal<br />
2004, S. 139<br />
5 so wurde von der quebeckischen Regierung die<br />
Unwahrheit verbreitet, dass Laporte von der FLQ<br />
gefoltert wurde und dass dieser an den Folgen dieser<br />
Misshandlungen gestorben sei, um die Bevölkerung<br />
gegen die FLQ aufzuwiegeln. Ferner wurde die FLQ<br />
zwischen 1971-72 von der Antiterroreinheit der<br />
Montrealer Polizei künstlich am Leben erhalten. Davon<br />
wusste die Öffentlichkeit nichts und man konnte, allein<br />
von der Anzahl der in dieser Zeit veröffentlichten FLQ-<br />
Communiqués ausgehend, annehmen, dass die FLQ<br />
noch eine ernstzunehmende Bedrohung darstellte:<br />
vgl.: ibid., S. 138<br />
6 vgl. : BISSON, Bruno: Est- il possible de vraiment en<br />
finir avec Octobre ? in La Presse, Montreal, 08.10.1994<br />
7 ibid.<br />
8 vgl. : STONE, Jay : Changing Octobre History in The<br />
Citizen, Ottawa, 04.Oktober 1994<br />
9 Pierre FALARDEAU in Mireille LA FRANCE, op.cit., S.<br />
192<br />
10 vgl. : Gilles MARSOLAIS, Octobre au cinéma., op.cit.<br />
Mediale Zeit(en)<br />
Der Fall Octobre (1994)<br />
73<br />
11 Pierre FALARDEAU, La liberté n´est pas une marque<br />
de yougourt, Stanké, Montreal 2002, S. 146<br />
12 PRIVET, Georges: Octobre. Le parti prix in Voir,<br />
Montreal, 09. Dezember 1993<br />
13 Christian POIRIER, Le cinéma québécois. À la<br />
recherche d´une identité ?, op.cit., S. 213<br />
14 Pierre FALARDEAU in Mireille LA FRANCE, op.cit., S.<br />
193<br />
15 PETROWSKI, Nathalie: Octobre, prise 2 in La Presse,<br />
14. März 1993<br />
16 BLANCHARD, Louise: Octobre. Une œuvre intimiste<br />
et puissante in Le Journal de Montréal, Montreal,<br />
1.10.1994<br />
17 vgl. : BORDWELL, David et al. : The Classical<br />
Hollywood Cinema, Columbia University Press, New<br />
York 1985<br />
18 vgl. : FIELD, Syd : The foundations of screenwriting,<br />
Dell, New York 1994<br />
19 sc. Rassemblement pour l´Indépendence Nationale<br />
(quebeckische sepratistische Bewegung )<br />
20 GORDON, William: Les anglais. New film on the FLQ<br />
crisis conveys a heinous message in The Gazette,<br />
Montreal, 04.10.1994<br />
21 vgl.: PRIVET, Georges: Octobre. Le parti prix in Voir,<br />
Montreal, 09. Dezember 1993<br />
22 WHITE, Jerry : Cinema of Pierre Falardeau and<br />
Michel Brault, the FLQ and the Patriotes in Québec<br />
Studies, Volume 37, Spring/ Summer 2004<br />
23 Gilles MARSOLAIS : Octobre au cinéma, op.cit.<br />
24 PETROWSKI, Nathalie : Octobre in La Presse,<br />
Montreal, 29.09.1994<br />
25 RICARD, Karen: Octobre pour mémoire in Lectures<br />
(2/ 2), Montreal, Oktober 1994<br />
26 Anspielung auf die Affäre Gigantes. Dazu siehe<br />
weiter unten.<br />
27 NUOVO, Franco : Octobre, le film in Le Journal de<br />
Montréal, Montreal, 29.09.1994<br />
28 PERRAULT, Luc : Fallait- il tuer Pierre Laporte ? in La<br />
Presse, Montreal, 11.12.1993<br />
29 siehe Pierre FALARDEAUS La liberté n´est pas une<br />
marque de yougourt, op.cit.<br />
30 JOANISSE, Marc André: On a parlé d´Octobre in Le<br />
Droit, Ottawa-Hull, 8.10.1994<br />
31 Pierre FALARDEAU, La liberté n´est pas une marque<br />
de yougourt, op.cit., S. 149<br />
32 LEGAULT, Josée : New film on October Crisis brings<br />
back memories in The Gazette, Montreal, 30.09.1994<br />
33 CONLOGUE, Ray : Suspended in a political vacuum<br />
in The Globe and Mail, Toronto, 28.09.1994
34 Pierre FALARDEAUS La liberté n´est pas une marque<br />
de yougourt, op.cit., S. 154<br />
35 ALIOFF, Maurie : October then and now in The<br />
Mirror, Montreal, 29.09.1994<br />
36 GIGANTES, Philipp Deane: “Octobre”: de la<br />
littérature haineuse ! in La Presse, Montreal,<br />
10.04.1993<br />
37 GIBBONS, Rick : Paying to rewrite history in The<br />
Ottawa Sun, Ottawa, 06.12.1994<br />
38 MALTAIS, Martine und Michel POULETTE : Censure<br />
inadmissible in La Presse, Montreal, 19.03.1993<br />
39 PARSONS, Vic : Les succès d´ « Octobre » font hurler<br />
des députés fédéreaux in Le Soleil, Quebec,<br />
12.06.1995<br />
40 PRIVET, Georges: Octobre chez les anglos. Papiers<br />
glacés in Voir, Quebec, 12.01.1994<br />
41 Octobre in The Ottawa Sun, Ottawa, 10.05.1994<br />
42 vgl. : WHEELAND, Peter : Laporte´s last days in The<br />
Hour, Montreal, 29.09.1994<br />
43 GIBBONS, Rick : Paying to rewrite history in The<br />
Ottawa Sun, Ottawa, 06.10.1994<br />
44 vgl. Ibid.<br />
45 PELLETIER, Francine: A crying game in The Gazette,<br />
Montreal, 10.04.1994<br />
46 SCHWARTZBERG, Shlomo : A touch of Class in The<br />
Montreal Scene, Montreal, 05.10.1994<br />
Mediale Zeit(en)<br />
47 vgl. : PRIVET, Georges: Octobre chez les anglos.<br />
Papiers glacés in Voir, Quebec, 12.01.1994<br />
48 vgl. : ibid.<br />
49 PROVENCHER, Normand : « Octobre » de Pierre<br />
Falardeau. Un coup de poing aux tripes in Le Soleil,<br />
Quebec 1.10.1994<br />
50 vgl. : PRIVET, Georges: Octobre chez les anglos.<br />
Papiers glacés in Voir, Quebec, 12.01.1994<br />
51 LEBLOND, Laurent : « Octobre » : La vérité humaine<br />
toute crue in Le Rimouskois, Rimouski, 04.10.1994<br />
52 RICARD, Karen: Octobre pour mémoire in Lectures (2/<br />
2), Montreal, Oktober 1994<br />
53 BLANCHARD, Louise: Octobre. Une œuvre intimiste et<br />
puissante in Le Journal de Montréal, Montreal, 1.10.1994<br />
54 MARSOLAIS, Gilles: Octobre au cinéma. La mouvance<br />
révélatrice d´une démocratie en péril in 24 Images (93/<br />
94), Montreal 1998, S. 20<br />
55 TREMBLAY, Odile: Comme une bombe à retardement<br />
in Le Devoir, Montreal, 01.10.1994<br />
56 vgl. : PETROWSKI, Nathalie: Octobre, prise 2 in La<br />
Presse, 14. März 1993<br />
57 MARSOLAIS, Gilles: Octobre au cinéma. La mouvance<br />
révélatrice d´une démocratie en péril in 24 Images (93/<br />
94), Montreal 1998, S. 20<br />
58 PRIVET, Georges: Octobre chez les anglos. Papiers<br />
glacés in Voir, Quebec, 12.01.1994<br />
Mag. Petre Puskasu, geb. am 22. September 1982 in Kischinau (Rep. Moldau), studierte Romanistik und Keltologie an der<br />
Universität Wien. Seine Diplomarbeit handelt “Vom Filmen Québecs und Irlands. Auf Identitätssuche im Kino”. Derzeit<br />
absolviert er den Studiengang für Digitalfilm und 3 D Animation am SAE College in Wien.<br />
Der Fall Octobre (1994)<br />
74
Niku Dorostkar, Alexander Preisinger<br />
Zeitungsforen und Forenzeit1 Aspekte des Sprachwandels unter Zeitdruck<br />
1. KULTUR-, MEDIEN- UND SPRACHWANDEL IN DER <strong>ZEIT</strong><br />
UND DURCH DIE <strong>ZEIT</strong><br />
Objektive wie subjektive Beschleunigung ist zweifelsohne<br />
eines der zentralen Charakteristika der Moderne (vgl.<br />
Rosa 2005: 199–213): Die Erfindung der mechanischen<br />
Uhr, der Eisenbahn, des Flugzeuges und des Computers<br />
– sie alle laufen letztlich auf eine Steigerung der<br />
Lebensgeschwindigkeit und die „Entbettung“ (Giddens<br />
1996: 33–42) von Zeit und Raum hinaus. Wo zuvor Tag,<br />
Nacht und Jahreszeiten den Arbeits- und Lebensrhythmus<br />
bestimmen, treten während des <strong>Pro</strong>to- und<br />
Industriekapitalismus (17./18. Jh.) sukzessive<br />
Betriebssirenen und Arbeitsschichten als neue<br />
Organisationssignale des Alltags auf. Der sich<br />
entwickelnde Kapitalismus führt zu einer Zeitökonomie,<br />
die die Subjekte als Sozialdisziplinierung erfahren. Diesem<br />
„totale[n] Zeit- und Raumregime des aufkommenden<br />
Industriekapitalismus“ (Kaschuba 2004: 63) durch<br />
Arbeitstakt, Liefertermine und Fließbänder erzeugt soziale<br />
Spannungen und Widerstände und bringt gleichzeitig<br />
neue Vorstellungswelten hervor: Fahrpläne verketten<br />
Raum und Zeit, die Kartographie ermöglicht die<br />
Nationalisierung des Raums und der Tourismus entsteht,<br />
samt den für ihn so typischen Ausdrucksformen wie<br />
Reisebericht oder klassischer Bildungsreise.<br />
Kulminationspunkt der Beschleunigung ist die Stadt: Die<br />
stark wachsenden Großstädte, etwa Paris, London oder<br />
Berlin, werden um 1900 zum Brennpunkt der Moderne.<br />
Ober- und unterirdische Straßen, Massenverkehrsmittel,<br />
Wasser-, Strom- und Gasleitungen, Massenkonsum,<br />
Arbeitsteilung und eben die Steigerung der<br />
lebensweltlichen Dynamik führt zu einem großstädtischen<br />
Lebensstil, wie er etwa von Walter Benjamin im<br />
Passagenwerk oder Georg Simmel beschrieben wird: „So<br />
ist die Technik des großstädtischen Lebens überhaupt<br />
nicht denkbar, ohne dass alle Thätigkeiten und<br />
Wechselbeziehungen aufs pünktlichste in ein festes,<br />
übersubjektives Zeitschema eingeordnet würden.“<br />
(Simmel 2006: 17) Die großstädtische Atmosphäre führt<br />
zu der „Steigerung des Nervenlebens“ (Simmel 2006: 9)<br />
aufgrund der hohen Dichte an wahrnehmbaren<br />
Veränderungsprozessen.<br />
Unter vielen unterschiedlichen Einflussfaktoren gilt vor<br />
allem die auf ständiges Wachstum ausgerichtete<br />
Ökonomie als einer der Hauptmotoren. Nicht die Zeit,<br />
sondern ihr Fehlen (Hochschild 2006; Löpfe/ Vontobel<br />
2008) wird von den postmodernen Subjekten im Rahmen<br />
einer Ökonomisierung des Lebens unmittelbar<br />
wahrgenommen. „Wir schlafen nicht“ heißt der<br />
programmatische Titel eines fiktiven Interviews von<br />
Kathrin Röggla (Röggla 2004), in dem Manager mit<br />
Wochenarbeitszeiten jenseits der 50 Stunden vorgeführt<br />
werden.<br />
Der technische Fortschritt stellt nicht nur objektive<br />
Zeitmessungssysteme bereit, sondern transformiert durch<br />
diese die subjektive Lebenswirklichkeit selbst durch einen<br />
„osmotische[n] Aneignungsvorgang zwischen<br />
unterschiedlichen Wissenskulturen, Lebenswelten und<br />
Alltagen“ (Kaschuba 2004: 23). Als Beispiel für einen<br />
solchen Wandel individuellen Verhaltens und Handelns<br />
vor dem Hintergrund einer technischen Entwicklung<br />
wollen wir im Folgenden Zeitungsforen im Internet und<br />
deren spezifischer zeitökonomischer Sprachverwendung<br />
untersuchen.<br />
Mediale Zeit(en)<br />
Zeitungsforen und Forenzeit<br />
75<br />
Die Wahl von Sprache als Untersuchungsgegenstand<br />
erfolgt hierbei nicht zufällig, denn Sprache hat eine<br />
herausragende Bedeutung nicht nur für die Menschheit,<br />
sondern auch für das Menschsein: „Eine Sprache<br />
vorstellen, heißt, sich eine Lebensform vorstellen“, wie<br />
Wittgenstein es formulierte. Wenn sich die<br />
Beschleunigung der Moderne verändernd auf die<br />
Sprache auswirkt, müsste dies daher gleichzeitig<br />
bedeutsame Veränderungen in sämtlichen<br />
Lebensbereichen mit sich bringen, sprich: eine<br />
Veränderung der menschlichen „Lebensform“. Diese<br />
Verschränkung von Sprache, Medien, Mentalität und<br />
Kultur hat Giesecke (1998: 13) in folgendem simplen<br />
Statement auf den Punkt gebracht: „Medienwandel,<br />
Sinnenwandel, Kulturwandel und schließlich auch<br />
Sprachwandel gehen Hand in Hand.“ In diesem Sinne<br />
folgen wir Brachmann (2007: 45) in ihrer Einschätzung,<br />
dass Sprachwandel mit Medienwandel einhergeht, und<br />
dass die unsere Epoche dominierenden neuen Medien<br />
einen bedeutsamen Einfluss auf aktuelle<br />
Sprachveränderungsprozesse haben. Gerade das<br />
Internet wird von vielen Autoren als besonders<br />
gesellschaftsverändernd eingestuft, manche stellen gar<br />
den Vergleiche mit der Erfindung des Buchdrucks an<br />
(vgl. Jucker 2004; für eine Zusammenfassung von<br />
Forschungsbeiträgen zur transformierenden Kraft des<br />
Internets siehe Gleich 2002).<br />
Unsere Überlegungen gehen dahin, dass Internetforen<br />
als asynchrone und damit langsamere Mittel der<br />
Kommunikation sprachlich anders realisiert werden als<br />
die kurzlebigen Chats. Diese Unterschiede liegen u.a.<br />
im zeitlichen Aspekt der <strong>Pro</strong>duktionsbedingungen<br />
begründet. Um diese Überlegungen auszuführen, wollen<br />
wir im folgenden Abschnitt das sprachliche<br />
Ökonomieprinzip am Beispiel der Internetkommunikation<br />
erläutern, und im anschließenden 3. Kapitel wird eine<br />
allgemeine Charakterisierung von Foren- und Chat-<br />
Kommunikation vorgenommen. Im 4. Kapitel nehmen<br />
wir schließlich sprachliche Phänomene von Foren- und<br />
Chat-Kommunikation unter dem Aspekt des Zeitdrucks<br />
unter die Lupe, wobei wir anhand einer teilweise<br />
computergestützten Auswertung und Analyse einer<br />
derstandard.at-Forendiskussion auf Unterschiede dieser<br />
beiden Internetkommunikationsformen eingehen. Zuletzt<br />
erfolgt ein zusammenfassendes Resümee mit<br />
Schlussfolgerungen und Desiderata.<br />
2. SPRACHWANDEL DURCH <strong>ZEIT</strong>DRUCK: DAS<br />
ÖKONOMIEPRINZIP AM BEISPIEL DER<br />
INTERNETKOMMUNIKATION<br />
Für den Zusammenhang von Sprache unter Zeitdruck ist<br />
das Internet besonders ergiebig (vgl. Borscheid 2004:<br />
345–378). Erstens lässt sich das Internet als Ort<br />
verdichteter Kommunikation in unterschiedlichen<br />
Realisierungsformen (MUDs, Chats, MMORPG, eMail,<br />
Foren…) verstehen. Crystal schreibt dazu pointiert: „And<br />
as the Internet comes increasingly to be viewed from<br />
social perspective, so the role of language becomes<br />
central. […] If the Internet is a revolution, therefore, it is<br />
likely to be a linguistic revolution” (Crystal 2001: viii).<br />
Gerade der hohe Einfluss des Internets auf die Sprache<br />
ruft vermehrt Kulturkritiker, wenn nicht gar -pessimisten<br />
(als Paradebeispiel vgl. Schreiber 2006 oder Zimmer<br />
1997) auf den Plan, die, wie Peter Schlobinski (2000)<br />
schreibt, einen „Mythos vom unverständlichen<br />
Kauderwelsch“ samt Sprachverfall konstatieren.<br />
Auffassungen von Sprache, wie sie etwa Bastian Sick
(„Der Genetiv ist dem Dativ sein Tod“) in seinen<br />
Zwiebelfisch-Kolumnen 2 vertritt (vgl. Sick 2004), sind<br />
jedoch sehr konservativ und scheinen Sprache als ein<br />
normatives und nicht veränderbares System aufzufassen.<br />
Zweitens ist das Internet der zentrale Ort, an dem<br />
Beschleunigungsprozesse erfahrbar werden: Sämtliche<br />
Online-Kommunikationswege basieren auf unmittelbarer<br />
Informationsübertragung und ermöglichen bzw.<br />
erfordern sogar eine unmittelbare Reaktion des<br />
Gesprächspartners. Je nach Kommunikationssituation<br />
und -medium bilden sich besondere sprachliche Formen<br />
heraus, die beispielsweise auf einer Vermischung von<br />
Symbolsprache und Alphabet beruhen, und die es<br />
ermöglichen rasch zu antworten. Die Unmittelbarkeit der<br />
Online-Kommunikation drückt sich in der sogenannten<br />
Written Speech aus, also einer Mischform von<br />
mündlicher und schriftlicher Kommunikation. Die<br />
Interaktivität des virtuellen Raumes führt zur Verdichtung<br />
der Zeit durch eine Steigerung der Sinneseindrücke, ganz<br />
im Simmelschen Sinne. Jeder User kennt das Gefühl,<br />
objektiv sehr viel Zeit vor dem Internet verbraucht zu<br />
haben, die man subjektiv jedoch als kurz erfahren hat.<br />
Skeptiker haben bisher schon immer in der<br />
Einführungsphase und beim Populärwerden neuer<br />
Medien vor der Anwendung dieser Medien ob ihrer<br />
Gefährlichkeit gewarnt (vgl. zur Diskursgeschichte von<br />
Kind und Fernsehen in den 70er Jahren: Schneider 2004:<br />
217–230). Dass das Internet - wie oben skizziert -<br />
hinsichtlich seines schlechten Einflusses auf die Sprache<br />
verdammt wird, stellt ja nur ein Aspekt unter vielen dar,<br />
den wir an dieser Stelle aber näher beleuchten wollen.<br />
Zunächst muss man hierzu festhalten, dass<br />
Sprachwandel auch ohne das Internet stattfindet, schon<br />
immer stattgefunden hat und auch weiterhin stattfinden<br />
wird. Die Gültigkeit der Hypothese, dass alle natürlichen,<br />
gesprochenen Sprachen dem Sprachwandel<br />
unterworfen sind, ist ungeachtet ihrer schwierigen<br />
Beweisbarkeit heutzutage allgemein anerkannt.<br />
Sprachwandelsprozesse sind in zahlreichen Sprachen<br />
auf allen linguistischen Ebenen (Phonologie,<br />
Morphologie, Syntax, Pragmatik) gut dokumentiert,<br />
zudem konservieren im Fall von Schriftsprachen<br />
graphische Systeme ältere Sprachzustände, was<br />
beispielsweise im Französischen und Englischen<br />
besonders gut nachvollziehbar ist. Über die Gründe des<br />
Sprachwandels gibt es jedoch keine Einigkeit, sondern<br />
stark divergierende Ansichten und eine lange<br />
wissenschaftliche Debatte.<br />
Wir gehen davon aus, dass sich Sprache durch und im<br />
Gebrauch ändert und damit auf der Perfomanzebene<br />
angesiedelt ist, und nicht auf der Kompetenzebene<br />
(letzteres wird beispielsweise von Chomsky postuliert). Die<br />
neuen Medien, die eine Beschleunigung der<br />
Informationsprozesse erwirken, bringen neue Formen des<br />
Sprachgebrauchs mit sich, der sich beispielsweise in der<br />
Verwendung neuer Register, Anglizismen und<br />
Mischformen aus Sprechen und Schreiben<br />
niederschlagen. Diese Veränderungen auf der<br />
Perfomanzebene machen wiederum Anpassungen auf<br />
der Kompetenzseite notwendig. Näher zu untersuchen<br />
wäre in diesem Zusammenhang, inwieweit der medienund<br />
situationsspezifische Gebrauch von Sprache sich auf<br />
andere Medien und Situationen ausbreitet, inwieweit<br />
also z.B. Chat-spezifische Sprachformen außerhalb des<br />
Chats und des Internets im alltäglichen Sprachgebrauch<br />
Verwendung finden. Crystal (2001: 21) stellt solche<br />
Ausbreitungen vor allem auf lexikalischer Ebene, mit<br />
graphischen Einflüssen in geschriebener Sprache, fest<br />
und gibt für das Englische u.a. folgende Beispiele:<br />
Mediale Zeit(en)<br />
Zeitungsforen und Forenzeit<br />
76<br />
I need more bandwith to handle this problem<br />
(i.e. I can’t take it all in at once).<br />
Are you wired (i.e. ready to handle this).<br />
I got a pile of spam in the post today (i.e. junkmail).<br />
He’s living in hypertext (i.e. he’s got a lot to<br />
hide).<br />
Während es sich beim Ausdruck Spam um eine<br />
Bedeutungserweiterung handelt, stellen die anderen<br />
Beispiele neue idiomatische Redewendungen dar, deren<br />
Gebrauch in der Alltagssprache wohl dazu dient, so<br />
etwas wie Coolness auszudrücken. Diese<br />
Redewendungen werden zweifelsohne nicht von allen<br />
verstanden, jedoch könnte die nächste Generation von<br />
Englisch-Sprechern bereits über eine veränderte<br />
Kompetenz verfügen, die diese Idiome zu allgemein<br />
verständlichen und frequenten Äußerungen werden lässt.<br />
Nachdem die Beschleunigung von Informationsprozessen<br />
ein Phänomen der Moderne ist, kann sie nicht<br />
als universale Erklärung für Sprachwandel herangezogen<br />
werden - schließlich hat Sprachwandel ja schon vor der<br />
Moderne stattgefunden. Das Bedürfnis, zeitsparend zu<br />
kommunizieren, ist jedoch nicht nur eine Eigenschaft des<br />
modernen Sprachbenutzers, wenn man dem Konzept der<br />
Sprachökonomie folgt, das für unsere weiteren<br />
Überlegungen eine zentrale Rolle spielen wird. Dieses<br />
Konzept besagt nämlich, dass Sprachbenutzer danach<br />
trachten, mit möglichst geringem Aufwand möglichst<br />
große kommunikative Effekte zu erzielen. Zu diesem<br />
Aufwand zählt neben dem Energieaufwand und dem<br />
Artikulationsaufwand eben auch der Zeitaufwand.<br />
Hierbei muss man allerdings festhalten, dass Ökonomie<br />
nicht mit (zeitlicher) Kürze verwechselt werden darf:<br />
„Ökonomisch Handeln bedeutet gerade nicht<br />
Verzichten, sondern die vorhandenen Kräfte so<br />
einzuteilen, daß man möglichst wenig davon braucht,<br />
um sein Ziel zu erreichen – in der Sprache der Wirtschaft<br />
ausgedrückt: Rationalisieren“ (Ronneberger-Sibold 1980:<br />
239). Kürze allein (bzw. der Verzicht auf Länge) macht<br />
eine Äußerung noch nicht ökonomisch, nämlich v.a.<br />
dann nicht, wenn sie aufgrund ihrer Kürze ihren Zweck<br />
beim Hörer verfehlt. Letzteres ist nicht nur dann der Fall,<br />
wenn eine Äußerung nicht oder falsch verstanden wird,<br />
sondern auch dann, wenn ich beispielsweise cool wirken<br />
will und dies nicht erreiche. In wirtschaftlicher Metaphorik<br />
würde dies bedeuten, dass das sprachliche<br />
Ökonomieprinzip nicht Kosten-orientiert, sondern Kostenund-Nutzen-orientiert<br />
ist. Daher müssen neben den<br />
Kosten bzw. dem Aufwand (zeitlich, motorisch, kognitiv<br />
etc.) auch der Nutzen berücksichtigt werden, der sich in<br />
so unterschiedlichen Kategorien wie überzeugend,<br />
beeindruckend, lustig, unterhaltsam, informativ etc.<br />
niederschlagen kann.<br />
Der Nutzenaspekt ist letztlich auch dafür verantwortlich,<br />
dass der Sprachwandel nicht dazu führte, dass<br />
sprachliche Äußerungen immer kürzer bzw. weniger<br />
kostenintensiv werden. Gleichzeitig lässt sich darüber<br />
streiten, ob bzw. in welchem Sinne Sprachen im Laufe<br />
der Zeit immer ökonomischer werden.<br />
Das bisher Gesagte lässt sich gut anhand des obigen<br />
Beispiels von Crystal illustrieren. Der Ausdruck Spam ist<br />
sowohl im Englischen als auch im Deutschen ein Fall von<br />
Sprachwandel: Ursprünglich bezeichnete dieser Begriff<br />
im Englischen eine Marke für Dosenfleisch, das in Amerika<br />
praktisch überall erhältlich (und von Soldaten nicht<br />
besonders geschätzt) war. Ein Sketch aus der englischen<br />
Comedy-Serie Monty Python’s Flying Circus, in dem der<br />
Ausdruck übertrieben oft auf einer Speisekarte eines<br />
Cafés vorkam, förderte die Bedeutung des Ausdrucks als<br />
etwas Massenhaftes und Unerwünschtes. Schließlich fand<br />
das Wort im Internet Verwendung, indem in MUDs (Multi-
User-Dungeons), also in einer Chat-ähnlichen, virtuellen<br />
Umgebung, das Wort SPAM zig mal hintereinander<br />
gepostet wurde, um anderen den Raum für ihre Chat-<br />
Nachrichten zu stehlen 3 . Crystals Beispielsatz („I got a pile<br />
of spam in the post today“) bezieht sich auf eine weitere<br />
Bedeutungserweiterung, die dazu führt, dass man mit<br />
Spam nicht nur unerwünschte, massenhaft versendete<br />
Emails, sondern auch nicht-elektronische Post<br />
bezeichnen kann. Spam ist als Lehnwort auch im<br />
Deutschen gebräuchlich und insofern interessant, als dass<br />
es kein eigentliches deutsches Synonym dafür gibt wie<br />
im Englischen „junk-email“. Während es im Englischen<br />
offensichtlich ökonomischer ist Spam statt „junk-email“<br />
zu sagen, trifft dies auf das Deutsche daher in besonderer<br />
Weise zu, da Spam umständlich umschrieben werden<br />
müsste, könnte man den Ausdruck nicht auch im<br />
Deutschen verwenden. Dieser Fall von Sprachwandel<br />
lässt sich daher mit dem Ökonomieprinzip gut erklären:<br />
Indem im Englischen statt „junk-email“ Spam geäußert<br />
wird bzw. im Deutschen statt einer Umschreibung wie<br />
„unerwünschtes, massenhaft versendetes Email“, wird bei<br />
wesentlich geringeren Kosten ein mindestens gleich<br />
großer Nutzen erzielt.<br />
3. ASYNCHRONE UND SYNCHRONE INTERNET-<br />
KOMMUNIKATION: (<strong>ZEIT</strong>UNGS-)FOREN UND CHATS<br />
Im Unterschied zu Email- und Chat-Kommunikation<br />
existieren kaum Studien zum Sprachgebrauch in<br />
Internetdiskussionsforen, insbesondere Untersuchungen<br />
zu Online-Zeitungsforen wurden unseres Wissens bisher<br />
nicht durchgeführt. Crystals nicht unumstrittene<br />
Monographie mit dem Titel „Language and the Internet“<br />
(2001 bzw. 2006) berücksichtigt Forenkommunikation<br />
insofern, als dass diese unter Crystals Kategorie der<br />
asynchronen Chat-Gruppe fallen würde, die er in seiner<br />
Beschreibung von der synchronen Chat-Gruppe<br />
unterscheidet. Dieser Unterscheidung liegt der Zeitfaktor<br />
zugrunde: In synchronen Chats wird in Echtzeit, also<br />
gleichzeitig kommuniziert, in Foren hingegen<br />
zeitverzögert 4 . Dass Chat-Kommunikation tatsächlich<br />
synchron verläuft ist allerdings nicht unumstritten: So<br />
weisen Bittner (2003: 196) und Dürscheid (2004: 151)<br />
darauf hin, dass Chat-Beiträge nicht während ihres<br />
Entstehens, sondern erst danach (nach Absenden des<br />
Beitrags) angezeigt werden, womit Chat-Kommunikation<br />
anders als Face-to-Face-Gespräche streng genommen<br />
nicht in Echtzeit stattfindet. Nachdem der wechselseitige<br />
Austausch dennoch wesentlich schneller vonstatten geht<br />
als beispielsweise in der Emailkommunikation, kann man<br />
bei herkömmlichen Chats zumindest von quasisynchroner<br />
Kommunikation sprechen. Es existieren aber<br />
auch schon Technologien für tatsächlich synchronen<br />
Chat, bei dem die Teilnehmer einander beim Entstehen<br />
der Chat-Beiträge (samt Korrekturen, Löschungen etc.),<br />
in Echtzeit, zusehen können (dieser sog. Online-Chat wird<br />
beispielsweise vom <strong>Pro</strong>gramm ICQ unterstützt; vgl.<br />
Dürscheid ebd.). Im Folgenden sollen nun die<br />
Unterschiede zwischen Chats und Foren anhand<br />
bisheriger Forschungsarbeiten unter die Lupe genommen<br />
werden, wobei der Zeitaspekt und die Spezifika von<br />
Online-Zeitungsforen nicht unberücksichtigt bleiben<br />
sollen.<br />
3.1. Asynchrone Internetkommunikation: Foren<br />
Zunächst zu den allgemeinen Charakteristika von<br />
Internetforen nach Crystal (2006): Eine Forendiskussion<br />
erfolgt innerhalb eines Threads zu einem bestimmten<br />
Thema und kann von einem Moderator geleitet werden,<br />
muss es aber nicht. Dieser kann über so genannte<br />
Moderatorenrechte Nachrichten bzw. Postings löschen,<br />
verändern (editieren), in andere Threads verschieben<br />
etc. Zumeist wird in Foren auf das Recht der freien<br />
Meinungsäußerung verwiesen (so beispielsweise auch<br />
Mediale Zeit(en)<br />
Zeitungsforen und Forenzeit<br />
77<br />
auf derstandard.at 5 ), deren Missbrauch wird aber meist<br />
ebenso explizit nicht gewünscht und geahndet. Die<br />
häufige kritische Thematisierung von Zensuren durch User<br />
in einzelnen Zeitungsforenpostings legt nahe, dass<br />
Zensuren eine besondere Rolle in der<br />
Forenkommunikation spielen, die eine nähere<br />
Untersuchung verdienen würden, hier jedoch nicht<br />
näher behandelt werden kann. Foren erlauben weiters<br />
verschiedene Grade von Anonymität: In manchen Foren<br />
ist die Angabe des echten Namens obligatorisch,<br />
zumeist werden aber so genannte Nicks verwendet (so<br />
auch bei den von uns untersuchten Foren). Diese haben<br />
vor allem bei Chats eine besondere soziopsychologische<br />
Bedeutung: Sie ermöglichen u.a. die<br />
Festlegung eine Online-Identität und übernehmen<br />
selbstdarstellerische Funktionen. Die Nicks in<br />
Zeitungsforen geben dabei möglicherweise weniger<br />
personenbezogene Informationen wie Geschlecht,<br />
Alter, Beruf etc. preis, sondern stehen vielmehr für<br />
individuelle Weltanschauungen, Ideologien und die im<br />
Forum vertretenen Ansichten und praktizierten<br />
Diskursstrategien – eine Hypothese, die noch überprüft<br />
werden müsste.<br />
Für Crystal (2006: 139) besteht eines der wichtigsten<br />
Merkmale der Forenkommunikation darin, dass in Foren<br />
relativ kurze Nachrichten gepostet werden, die<br />
potenziell auf zahlreiche Antworten von anderen Usern<br />
treffen: „It is a medium which is designed to provoke<br />
and accept short messages and multiple reactions.“<br />
Dass die Antworten nur potentiell zahlreich erfolgen,<br />
deutet auf ein weiteres Kennzeichen von<br />
Forenkommunikation hin: Anders als bei Emails ist eine<br />
Reaktion auf mein Posting nicht zwingend, und ich sollte<br />
als erfahrener Poster auch keine Antwort auf meine<br />
Nachricht erwarten (übrigens ebenso wenig wie<br />
Begrüßungs- und Abschiedsformeln). In unserem Sample<br />
eines Diskussionsthreads auf derstandard.at (siehe<br />
Kapitel 4) waren von 517 Beiträgen 158 Antworten - dies<br />
deutet schon darauf hin, dass bei weitem nicht auf alle<br />
Beiträge reagiert wird. Die angesprochene Kürze der<br />
Nachrichten ergibt sich hierbei nicht nur aufgrund<br />
pragmalinguistischer Aspekte wie der begrenzten Zeit<br />
der Forenuser, sondern auch aufgrund von technisch<br />
vorgegebenen Platzbeschränkungen in Form von<br />
Zeichenlimits. Dieser Druck, kurze Nachrichten zu<br />
produzieren, zieht wiederum eine spezielle Sprachform<br />
nach sich, die sich den medienspezifischen<br />
Gegebenheiten anpasst (aber auch den<br />
forenspezifischen Ingroup-Konventionen, siehe unten).<br />
Charakteristisch ist ebenso, dass sich eine Forendiskussion<br />
über eine potentiell undefinierbar lange Zeitspanne<br />
ausdehnen und daher mehrere Jahre dauern kann. Dies<br />
hat zur Folge, dass ein User beispielsweise im Juni 2008<br />
im gleichen Diskussionsthread ein Posting von einem<br />
anderen User aus dem Jahr 2006 zitieren kann, womit<br />
Foren gewissermaßen den perfekten Gegenpol zur<br />
Flüchtigkeit gesprochener Dialoge darstellen. In Hinblick<br />
auf Zeitungsforen relativiert sich dieses Bild allerdings:<br />
Diskussionen beispielsweise zu einem Artikel der Online-<br />
Zeitungen erstrecken sich meist höchstens über einige<br />
Tage und stellen sich vollständig ein, sobald der Artikel<br />
an Aktualität einbüßt und daher auch von der am<br />
meisten besuchten Titel- bzw. Startseite der Online-<br />
Zeitung verschwindet. Zudem werden beispielsweise auf<br />
derstandard.at sämtliche Artikel (zumeist Online-<br />
Versionen der Printartikel) 30 Tage nach ihrem Erscheinen<br />
in das kostenpflichtige Archiv verschoben und die<br />
dazugehörigen Postings gelöscht, wie ein Blick in die<br />
Demoversion des Online-Archivs 6 zeigt. Ebenfalls<br />
charakteristisch ist die nicht-lineare, komplexe und für<br />
die Leser oftmals schwer zu rekonstruierende Struktur der<br />
Nachrichtenabfolge in Forendiskussionen. Zwar werden<br />
die Postings in der Reihe ihres Empfangszeitpunktes am<br />
Server gespeichert, und aktuelle Nachrichten finden sich
in der Regel weiter oben als ältere Nachrichten, jedoch<br />
werden die eingelangten Postings grafisch nicht in<br />
zeitlich-linearer Struktur dargestellt. Dies ist dem Umstand<br />
geschuldet, dass Postings entweder als Antwort auf ein<br />
anderes User-Posting verfasst werden können, oder als<br />
eigenständige Nachricht (letztere bezieht sich im Fall von<br />
Zeitungsforen auf den Online-Zeitungsartikel, ansonsten<br />
auf das Diskussionsthema). Eine solche Antwort wird in<br />
räumlicher Nähe zu dem Posting platziert, auf das es sich<br />
bezieht, um das Lesen zu erleichtern - was eben eine<br />
nicht-lineare Struktur nach sich zieht, die bei mehreren<br />
Antworten entsprechend komplex werden kann. Crystal<br />
(2006: 142; 150) liefert auch einige Zahlen zur<br />
Forenkommunikation, die die Wichtigkeit des Faktors Zeit<br />
unterstreichen: Im Durchschnitt werden nur fünf bis sechs<br />
Postings gelesen, bevor man seine eigene Nachricht<br />
postet. Eine Nachricht geht in Crystals Sample von 113<br />
Beiträgen durchschnittlich über 3,5 Zeilen, wobei 20% der<br />
Postings nur ein oder zwei Zeilen aufwiesen. Die Postings<br />
weisen durchschnittlich 1,45 Absätzen auf, und 70% der<br />
Beiträge bestehen nur aus einem einzigen Absatz. Was<br />
die Länge der Beiträge betrifft, scheint diese unter den<br />
Forennutzern ausgewogen zu sei – ein Merkmal, das auf<br />
Face-to-Face- Kommunikation nicht zutrifft. Die relativ<br />
geringe Anzahl von thematischen Abschweifungen in<br />
Forendiskussionen ergibt ebenfalls einen augenscheinlichen<br />
Unterschied zur Face-to-Face-<br />
Alltagskommunikation. Die Konzentration auf das Thema<br />
– Abschweifungen werden bei moderierten Diskussionen<br />
auch durch Löschung sanktioniert – könnte hierbei<br />
wiederum dem Zeitdruck geschuldet sein, wie Crystal<br />
spekuliert. Dies erscheint insofern plausibel, als dass ein<br />
Thread mit zahlreichen abschweifenden und/oder<br />
überlangen Nachrichten riskiert, von den anderen Usern<br />
gemieden zu werden. Relevanz und Prägnanz scheinen<br />
somit zu Motiven und Maximen der Forenkommunikation<br />
zu gehören, die Vorsaussetzungen für deren Gelingen<br />
darstellen.<br />
Für Crystal (2006: 156) liegt die Vermutung nahe, dass<br />
es sich beim Sprachgebrauch in Foren und noch mehr<br />
in Chats um eine neue linguistische Varietät bzw. ein<br />
neues Register handelt, d.h. um eine Sprachform, die<br />
von den Sprachbenutzern ausschließlich in spezifischen<br />
Situationen, in diesem Fall im Internet, eingesetzt wird. Er<br />
bezeichnet diese für das Internet spezifische Sprachform<br />
in Anlehnung an Orwells Newspeak als Netspeak (auf<br />
Deutsch in etwa: Netzsprache). Crystals Postulat einer<br />
Netzsprache ist nicht unkritisiert geblieben: So dementiert<br />
beispielsweise Dürscheid (2004: 147) die Existenz einer<br />
solchen Netzsprache, indem sie argumentiert, dass<br />
vermeintlich internetspezifische sprachliche Merkmale<br />
auch in anderen Verwendungskontexten auftreten, und<br />
dass diese internetspezifischen Ausdrücke –sollten sie<br />
tatsächlich existieren – nur situations- und<br />
sprecherabhängig verwendet werden. Umgelegt auf<br />
die Chat- und Forenkommunikation würde das<br />
bedeuten: Nicht alle Chat- und Forenuser bedienen sich<br />
der gleichen sprachlichen Mittel, und Chats und Foren<br />
divergieren hinsichtlich ihrer sprachlichen Merkmale und<br />
Gesprächsstruktur beträchtlich. Anders ausgedrückt:<br />
Eine Diskussion in einem Forum zu politischen Themen<br />
wird demnach mit großer Wahrscheinlichkeit andere<br />
sprachliche Stilmittel aufweisen als eine Diskussion in<br />
einem thematisch anders gelagerten Forum, etwa für<br />
ein bestimmtes Computerspiel.<br />
Die hochflexiblen Sprachformen, die im Internet<br />
anzutreffen sind, lassen sich also schon deshalb nicht<br />
auf ein homogenes Netspeak reduzieren, weil die<br />
Kommunikationsformen und -anlässe im Internet stark<br />
heterogen sind. Als Beispiele für internetspezifische<br />
Sprachformen werden zumeist Wortspiele, absichtlich<br />
falsche Orthographie, bestimmte hochfrequente<br />
Interjektionen und Neologismen genannt – ob und<br />
Mediale Zeit(en)<br />
Zeitungsforen und Forenzeit<br />
78<br />
welche dieser Sprachformen auftreten, hängt aber wie<br />
gesagt von der Kommunikationssituation im Internet ab.<br />
Forennutzer identifizieren sich auf diese Weise manchmal<br />
über einen forenspezifischen Sprachstil, wodurch<br />
Outgroup-User von Ingroup-Mitgliedern relativ leicht<br />
identifiziert werden können und für neue Mitglieder die<br />
Fähigkeit zu linguistischer Anpassung in der<br />
Forenkommunikation zu einer zentralen Voraussetzung<br />
wird. Dieser Peer-Group-Faktor scheint in Zeitungsforen<br />
jedoch eine geringere Rolle zu spielen, da beispielsweise<br />
die Gruppe der Online-Standard-User keine so<br />
homogene Gruppe darstellt wie beispielsweise ein Forum<br />
zu frauenspezifischen Themen.<br />
Weiters ist für die forenspezifische Sprachform<br />
charakteristisch, dass es sich dabei um eine „mixture of<br />
informal letter and essay, of spoken monologue and<br />
dialogue“ handelt (Crystal 2006: 154). Zahlreich<br />
auftretende Elemente sind zudem rhetorische<br />
Fragen bzw. im Englischen sog. tag questions (in der Form<br />
„ ... everybody should read this article. Am I right?“) und<br />
orthographische sowie grammatikalische Fehler, die auf<br />
einen Entwurfcharakter der eingesetzten Sprache<br />
hindeuten.<br />
3.2. Synchrone Internetkommunikation: Chats<br />
Der entscheidende Unterschied zwischen Chats und<br />
Foren besteht – Crystals Terminologie entsprechend – in<br />
der Synchronizität: Chats verlaufen synchron, d.h. in<br />
Echtzeit, und sind durch zeitliche Kopräsenz aller am Chat<br />
beteiligten User gekennzeichnet. Die User müssen also<br />
zur gleichen Zeit online und im Chat(-Kanal) eingeloggt<br />
sein, meist erscheinen die Nicks dieser User dann auch in<br />
einem vom Chatfenster seperaten Log. Chats finden<br />
nicht selten nur zwischen zwei Personen statt, während<br />
dies bei Foren den Ausnahmefall darstellt, da<br />
Forenpostings wie bereits erläutert auf multiple Antworten<br />
von zahlreichen anderen Forennutzern angelegt sind. Bei<br />
Chat-Kanälen, die themenspezifische Chats anbieten,<br />
kann es wie bei Foren Moderatoren bzw. Operatoren<br />
geben, die beispielsweise einen Chattenden bei<br />
Verstößen (z.B. bei Überfluten des Chatverlaufs durch<br />
Spams) „verbannen“ können, indem sie ihn ausloggen.<br />
Charakteristisch für Chats ist laut Crystal eine Mischung<br />
aus Sequenz, Simultanität und Überlappungen, die in<br />
dieser Form weder in Foren- oder Emailkommunikation<br />
noch in Face-to-Face-Alltagskommunikation vorkommt.<br />
Diese Mischung ergibt sich hierbei aus dem Umstand,<br />
dass bei einem Chat mehrere der Beteiligten gleichzeitig<br />
einen Beitrag produzieren können, bevor sie diesen<br />
absenden. Die grafische Darstellung dieser Beiträge<br />
erfolgt dann zwar zeitlich-linear in der Abfolge ihres<br />
Absendezeitpunkts, aber – im Gegensatz zu Foren – hat<br />
dies zur Folge, dass sich aufeinander beziehende Beiträge<br />
oftmals nicht mehr in räumlicher Nähe zueinander<br />
befinden, also nicht mehr direkt untereinander stehen.<br />
Dadurch werden auch adjency-Konventionen<br />
unterlaufen, d.h. zueinander gehörende Ausdruckspaare<br />
wie Frage-Antwort oder Gruß-Gegengruß treten nicht<br />
mehr paarweise auf, sondern versetzt. Der Überblick über<br />
die Diskussion wird auch dadurch erschwert, dass in einer<br />
Chat-Diskussion mehrere Themen gleichzeitig - und<br />
nicht nacheinander – abgehandelt werden. Die Themen<br />
in Chats halten sich auch nicht so lange wie in Foren, sie<br />
werden nach kurzer Zeit gewechselt und<br />
Abschweifungen sind mehr die Regel als die Ausnahme.<br />
An dieser Themeninkonsistenz beteiligt ist, dass in Chats<br />
oft nur um des Redens willen geredet wird (oder um des<br />
Chats willen gechattet), d.h. die Chattenden reden ohne<br />
wirklich etwas zu sagen zu haben (wie der Begriff Chat<br />
eigentlich schon nahe legt). Dies geschieht auch oft<br />
schon alleine deshalb, weil beim Chat Stille ambig ist:<br />
Wenn ein User zu lange nichts postet, wissen die anderen<br />
nicht, ob er der Diskussion noch folgt bzw. ob er
überhaupt noch online ist oder vor dem PC sitzt. Die<br />
Kommunikationsanlässe bei Chats sind aber schließlich<br />
auch grundlegend andere als bei Foren: Bei letzteren wird<br />
argumentativ verfahren, Sachverhalte werden geklärt<br />
und verhandelt, sie dienen der Informationsvermittlung<br />
oder Überzeugung etc. In Chats steht oftmals mehr der<br />
selbstreferentielle und kreative Sprachgebrauch im<br />
Vordergrund sowie die Stiftung einer Gruppenidentität.<br />
Letzere wird gerade auch durch einen Chat-Gruppenspezifischen<br />
Chat-Jargon bzw. -Slang erreicht, der mit der<br />
Zeit wiederum in das Gruppengedächtnis der Chat-<br />
Gruppe Eingang findet. Dieser Slang wird dann teilweise<br />
auch in semi-institutionalisierter Form in den FAQ kodifiziert<br />
und schlägt sich beispielsweise in Form von spezifischen<br />
Neologismen, Ellipsen, absichtlich missachteter<br />
Orthographie oder anderen bewusst angewendeten<br />
Normverstößen nieder. Dieser Chat-Jargon, mit dem sich<br />
die Chat-Teilnehmer von Außenstehenden abgrenzen,<br />
erklärt damit letztlich auch, warum die Sprache in Chats<br />
dem Sprachwandel stärker unterworfen zu sein scheint<br />
als die in Foren.<br />
Dass in Chats in sprachlicher Hinsicht mehr normative<br />
Verstöße zu finden sind und mehr Merkmale der<br />
Mündlichkeit als in Foren, lässt sich unserer Vermutung<br />
zufolge allerdings nicht nur auf diesen selbsreferentiellen<br />
Sprachgebrauch zurückführen, sondern auch auf den<br />
Zeitdruck, unter dem die Chattenden stehen. Dieser<br />
Zeitdruck ist noch größer als bei den Foren: Zwar sind wie<br />
oben ausgeführt Prägnanz und Relevanz für einen<br />
Forumsthread quasi überlebensnotwendig, aber die an<br />
einer Diskussion beteiligten Forenuser sind nicht zeitlich<br />
kopräsent und erwarten keine unmittelbaren Antworten<br />
auf ihre Postings. Als Forenuser kann ich mir mehr Zeit für<br />
mein Posting gönnen - im Fall eines Zeitungsforenusers<br />
maximal so lange, bis der Artikel ins Archiv verschwindet<br />
und die dazugehörige Diskussion gelöscht wird (im<br />
Idealfall werde ich mich als Poster jedoch beeilen, mein<br />
Posting abzuschicken, bevor der Artikel nicht mehr aktuell<br />
ist und von der Titel- bzw. Startseite verschwindet). Wenn<br />
ich mir beim Chat ebensoviel Zeit für das Verfassen<br />
meines Beitrages nehme, riskiere ich, dass die anderen<br />
Chat-Teilnehmer inzwischen bei einem gänzlich anderen<br />
Thema angelangt sind (in der Regel werden in der Zeit<br />
wohl bereits mehrere Themenwechsel erfolgt sein) und<br />
auf mein Statement nicht mehr eingehen können oder<br />
wollen. Wenn mein Beitrag dann auch noch zu lang ist,<br />
so dass die anderen Chat-User dadurch beispielsweise<br />
den Überblick über den Gesprächsverlauf verlieren,<br />
könnte ich leicht aus dem Chatraum „verbannt“ werden.<br />
Auch in einem Chat zu zweit wird mein Gegenüber nicht<br />
so lange warten wollen, bis ich meinen Beitrag poste.<br />
Dieser Zeitdruck wird auch dadurch verstärkt, dass<br />
die User wissen, dass sich technische Schwierigkeiten<br />
beispielsweise aufgrund von mangelnder<br />
Übertragungsgeschwindigkeit oder Serverüberlastungen<br />
in Form von lags (Verzögerungen) negativ auf den<br />
Kommunikationserfolg auswirken können. Crystal gibt<br />
folgende Zahlen und Merkmale für Chat-spezifischen<br />
Sprachgebrauch an, die u.E. zumindest teilweise auf den<br />
Druck, möglichst schnell bzw. möglichst kurze Beiträge<br />
zu verfassen, zurückzuführen sind:<br />
• In einem englischen Sample von 300<br />
Worten besteht ein Beitrag durchschnittlich<br />
aus 4,23 Wörtern und 80% der Beiträge aus<br />
5 Wörtern.<br />
• 80% der Wörter aus diesem Sample sind<br />
einsilbig, nur 4% zweisilbig (zum Vergleich:<br />
englische Alltagskommunikation ist noch<br />
etwas einsilbiger, Journalismus viel<br />
weniger).<br />
• Abkürzungen und Initialen kommen häufig<br />
vor, hingegen praktisch keine Absätze.<br />
Mediale Zeit(en)<br />
Zeitungsforen und Forenzeit<br />
79<br />
• Emoticons und verkürzte Worte wie ‘r’ für<br />
‘are’, ‘u’ für ‘you’ usw. treten häufig auf<br />
(v.a. im Englischen und Französischen,<br />
weniger im Deutschen).<br />
• Ebenso häufig sind „emotional noises“<br />
und comic-artige Interjektionen wie z.B.<br />
„bamf!“.<br />
• Kleinschreibung ist bei Chats die Norm.<br />
• Es sind praktisch keine bzw. kaum<br />
Apostrophe anzutreffen, aber dafür<br />
zahlreiche Ruf- und Fragezeichen.<br />
• In einem Chat mit mehreren Teilnehmern<br />
werden neu eintretende, grüßende User<br />
nicht oder kaum gegengegrüßt (dies liegt<br />
aber möglicherweise weniger am<br />
Zeitdruck als vielmehr daran, dass bei<br />
vielen Chat-Teilnehmern diese das<br />
Chatfenster überfluten würden, wenn<br />
jeder zurückgrüßen würde).<br />
• Chat ist gekennzeichnet von<br />
vereinfachter („perverser“) Orthographie<br />
und<br />
• nicht-standardsprachlichen Ausdrücken<br />
und umgangssprachlicher Grammatik.<br />
4. SPRACHLICHE PHÄNOMENE UNTER DEM ASPEKT DES<br />
<strong>ZEIT</strong>DRUCKS: (<strong>ZEIT</strong>UNGS-)FOREN UND CHATS IM<br />
EMPIRISCHEN VERGLEICH<br />
Im Folgenden wollen wir unsere Überlegungen zu Zeit<br />
und asynchroner Internetkommunikation exemplarisch<br />
an einer Forendiskussion auf derstandard.at verifizieren.<br />
Hierfür analysierten wir einen Diskussionsthread 7 , der am<br />
18. Juni 2008 zeitgleich mit dem Erscheinen des Online-<br />
Artikels „Doppelt hält nicht immer besser“ auf der<br />
Internetseite eröffnet wurde. Die Diskussion erreichte 521<br />
Postings und dauerte von 18.06.08 bis 20.6.08 (Stand vom<br />
16.07.2008), wobei wir die Diskussion schon am 19.06.08<br />
speicherten und damit 517 der 521 Postings in unserer<br />
Analyse berücksichtigten. Aufgrund einer Kooperation<br />
mit dem Austrian Academy Corpus (AAC) der<br />
Österreichischen Akademie der Wissenschaften konnten<br />
wir eine computergestützte Auswertung der digital<br />
vorliegenden Beiträge vornehmen. Die Daten wurden<br />
mit dem <strong>Pro</strong>gramm corpedUni in eine XML-kompatible<br />
Form gebracht und ausgewertet. Hierfür wurden<br />
folgende Schritte durchgeführt: Konvertierung der der<br />
Rohdaten vom DOC- ins XML-Format, Tokenisierung<br />
(Isolierung von verarbeitbaren Einheiten auf der<br />
Wortebene), Auszeichnen von Sätzen, Lemmatisierung<br />
und POS-Zuweisung, Nachbearbeitung (manuelle<br />
Korrekturen) und Analyse. Bei den Ergebnissen handelt<br />
es sich um vorläufige, sicherlich noch fehlerbehaftete<br />
Resultate, die jedoch relevante Schlussfolgerungen<br />
zulassen und vor allem einen Eindruck vermitteln, in<br />
welche Richtung zukünftige maschinelle Auswertungen<br />
und Analysen gehen könnten.<br />
Die automatische Auswertung förderte folgende<br />
Resultate zu Tage 8 :<br />
Gesamtanzahl der Beiträge 517<br />
Gesamtanzahl der Sätze 1456<br />
Gesamtanzahl der tokens 21026<br />
Gesamtanzahl der wTokens 17781<br />
Gesamtanzahl der Einträge mit wahrscheinlicher Verletzung der Groß/-<br />
Kleinschreibregeln 354<br />
Gesamtanzahl der Einträge mit wahrscheinlicher Übereinstimmung mit<br />
den Groß-/Kleinschreibregeln 163<br />
Durchschnittliche Satzlänge (wTokens / Sätze) 12.21
Durchschnittliche Beitragslänge (wTokens / Beiträge) 34.39<br />
Gesamtanzahl der Antworten 158<br />
Gesamtanzahl der Beiträge mit mindestens einem „Sie“ 54<br />
Gesamtanzahl der Beiträge mit mindestens einem „Du“ 9<br />
Gesamtanzahl der Beiträge mit mindestens einem „Du“ oder „Sie“ 63<br />
Wir werden diese Ergebnisse in weiterer Folge dahin<br />
gehend interpretieren, dass die Kommunikation in Foren<br />
im Vergleich zu Chats langsamer verläuft, und sich dies<br />
in sprachlichen Hinsicht bemerkbar macht. Die Chat-<br />
Kommunikation, mit ihrer „Knappheit, Kürze und<br />
Reduktion“ (Bittner 2005: 243), kann hierbei in mehrfacher<br />
Hinsicht zwar als graduelles, aber nicht als strukturelles<br />
Gegenstück zum Forum aufgefasst werden, zudem<br />
überschneiden sich etliche der bereits besprochenen<br />
Merkmale von Foren- mit jener der Chat-Kommunikation.<br />
Welche Merkmale der textuellen <strong>Pro</strong>duktion weisen nun<br />
auf die verlangsamten Kommunikationsstrukturen in den<br />
Foren hin? Diese Frage ist nur schwer beantwortbar, weil<br />
sich die textuelle Realisation aus einer überblickbaren<br />
Vielfalt an Einflussfaktoren ergibt. Es geht uns allerdings<br />
nicht darum, Merkmale monokausal zu erklären, sondern<br />
vielmehr auf den Aspekt des Zeitlichen hinzuweisen, der<br />
sich als Bestandteil in allen Einflussfaktoren finden lassen<br />
wird.<br />
Wir haben drei wesentliche Faktoren benannt, die uns<br />
als Indikator für eine zeitspezifische Sprachveränderung<br />
dienen sollen: Normsprachliche Texte brauchen mehr<br />
Zeit zur <strong>Pro</strong>duktion. Wie die Diskussion der Ergebnisse<br />
unserer maschinellen Auswertung zeigen wird, sind die<br />
Forumstexte deutlich regelkonformer konzipiert als Chats.<br />
Die durchschnittliche Satz- und Beitragslänge (definiert<br />
über die Anzahl von Wörtern pro Satz bzw. pro Beitrag)<br />
liegt über jener der Chats, die Sätze sind damit<br />
anzunehmenderweise auch komplexer. Viele der<br />
typischen Netspeak-Elemente (Emoticons, Abkürzungen,<br />
Asterisken, Verbstammbildungen, dialektale<br />
Formulierungen u.a.m.), deren Realisation u.a. durch die<br />
Dynamik des Chats begründet ist, werden in Foren kaum<br />
bzw. gar nicht angewandt.<br />
Auch die stärkere Normsprachlichkeit der Foren im<br />
Vergleich zu den Chats werten wir als Charakteristikum<br />
der langsameren <strong>Pro</strong>duktionsbedingungen. Bislang wird<br />
diskutiert, ob sich die Sprachverwendung im Internet<br />
eher an der Schriftlichkeit oder der Mündlichkeit<br />
orientiert. Was etwa E-Mails anbelangt, so unterteilt<br />
Baron die wissenschaftlichen Positionen, je nach Autor,<br />
in fünf völlig unterschiedliche Kategorien: Das Mail gilt<br />
als „a form of writing“, „a form of speech“, „a<br />
combination of written and spoken language“, „a<br />
distinct language“ oder „a still-evolving language style“<br />
(Baron 2003: 85). Die Antwort auf diese heterogenen<br />
Interpretationen könnte darin liegen, dass „Email<br />
resembles speech because writing in general has<br />
become more speechlike“ (Baron 2003: 92). Einen<br />
systematischeren Zugang finden<br />
Koch/Oesterreicher (1994), die in<br />
ihrem Modell zwischen medialer<br />
und konzeptueller Mündlichkeit/<br />
Schriftlichkeit unterscheiden.<br />
Dieses Modell wird von Dürscheid<br />
(2004: 154 f.) auf der medialen<br />
Ebene durch die Kategorie der<br />
Synchronizität erweitert, wobei<br />
synchrone Kommunikation als<br />
Diskurs und asynchrone als Text<br />
klassifiziert wird (jene sind laut<br />
Dürscheid Gegenstand der<br />
Diskurs- bzw. Gesprächsanalyse,<br />
diese der Textlinguistik):<br />
Abbildung (Dürscheid ebd.):<br />
Mediale Zeit(en)<br />
Zeitungsforen und Forenzeit<br />
80<br />
Diesem Modell zufolge würde der herkömmliche Chat in<br />
den Bereich der medial schriftlichen, quasi-synchronen<br />
Diskursart fallen, eine Anrufbeantworter-Durchsage oder<br />
-Aufnahme würde hingegen einen medial mündlichen,<br />
asynchronen Text darstellen, und eine Forumsdiskussion<br />
im Internet einen medial schriftlichen, asynchronen Text.<br />
Auf der Ebene der konzeptionellen Mündlichkeit/<br />
Schriftlichkeit hängt es laut Dürscheid wiederum von der<br />
Synchronizität ab, wie sehr konzeptionell mündlich bzw.<br />
schriftlich kommuniziert wird: „Je synchroner die<br />
Kommunikation, desto eher weist sie Merkmale (...) der<br />
konzeptionellen Mündlichkeit (auf).“ (Dürscheid 2004:<br />
155). Dieser Theorie zufolge müssten Chats als synchrone<br />
Diskurse wesentlich mehr Mündlichkeitsmerkmale<br />
enthalten als die asynchronen Forendiskussionen.<br />
Die Analyse unserer Forendiskussion auf derstandard.at<br />
bestätigt diese theoretische Annahme und widerlegt<br />
Crystals These eines einheitlichen Netspeaks, der sowohl<br />
in Chats als auch in Foren anzutreffen sein müsste: In<br />
unserem analysierten Thread finden sich wenige bis keine<br />
Merkmale von konzeptioneller Mündlichkeit wie<br />
Emoticons, Akronyme, Kontraktionen, Interjektionen oder<br />
Feedback-Signale (wie „mhm“ oder „aha“). So kommen<br />
in den von uns untersuchten 517 Postings nur zwei Mal<br />
„aha“ und ein Mal „ach“ vor, aber kein einziges Mal<br />
„hm“, „mhm“, „achso“ oder „oh“. In der insgesamt 21.884<br />
Wörter umfassenden Diskussion wird zudem nur je viermal<br />
„wenns“ und „gibt’s“ geäußert, dreimal „kanns“ sowie<br />
je zweimal „wärs“ und „gibts“. Im Vergleich dazu<br />
kommen zwölf Mal Kontraktionen durch Apostroph<br />
(„wenn’s“, „wär’s“, „auf’s“, „er’s“ etc.) vor. Zudem wird<br />
nur zehn Mal von Emoticons Gebrauch gemacht, und<br />
auch dialektale Formen treten kaum auf.<br />
Während das Ausschreiben von Wörtern im Chat zur<br />
Einstufung als „Newbie“ führen würde, zeichnen sich die<br />
Forenpostings auch durch Konventionalität bei der<br />
Verwendung von Abkürzen aus (etwa: d.h., u.a., usw.).<br />
Auch hier wird deutlich, dass Foren deutlich langsamere<br />
Formen der Kommunikation sind, für die symbolische<br />
Redundanz, etwa um die Eingabegeschwindigkeit zu<br />
erhöhen, keine Rolle spielt. In den untersuchten Beiträgen<br />
kann aber von spezifisch-themenbezogenen<br />
Abkürzungen („Gusi“, „Willi“, Parteiennamen,...) sehr wohl<br />
gesprochen werden, die aber mit dem Netspeak nichts<br />
zu tun haben. Emoticons kommen, bis auf eine<br />
Ausnahme, überhaupt keine vor, was darauf hinweist,<br />
dass die Themenzentrierung eher im Vordergrund steht<br />
als die persönliche Befindlichkeit der Diskutanten. Davon<br />
betroffen ist auch die Verwendung von Asterisken und<br />
Verbstammbildungen: Zu in Asterisken (*) gesetzte<br />
Verbstammbildungen zählen Ausdrücke wie *seufz*,<br />
*heul* oder *noch ein schluchts* (Bittner 2003: 244). Eine<br />
der Funktionen solcher Konstruktionen lässt sich unter dem<br />
Zeitaspekt erfassen: „Die Asteriske als Marker erlauben
gegenüber dem vergleichweise komplexen und<br />
aufwendigen Handlungsmodus dagegen, diese<br />
Metaebene schnell und flexibel zu eröffnen und auch<br />
mit der Diskursebene innerhalb einer einzigen Äußerung<br />
zu verbinden.“ (Bittner 2004: 245). Auch hier erweist sich<br />
das Forum als langsame Kommunikationsform – von den<br />
517 Beiträgen bedienen sich nur die folgenden zwei<br />
Beiträge einer solchen Form:<br />
››››› krendl | 19.06.2008 11:56<br />
Re: Re: Re: Re: Strache als Vize und<br />
Innenminister.Dann wirds Zeit zum Auswandern.<br />
Aber halt: dort hockt dann vielleicht ein Mölzer als<br />
Außenminister. *grusl*<br />
› natan | 18.06.2008 15:05<br />
Häupl...*würgh*...<br />
Akronyme, etwa *lol*, *g* oder *bg*, finden sich in der<br />
Beiträgen überhaupt keine. Naheliegend wäre es, das<br />
Ausbleiben solcher Formen in der Themenorientierung<br />
des untersuchten Forums zu sehen: Verbstammbildungen<br />
und Asterisken deuten eher auf phatisch-emotionale<br />
Beiträge hin und stehen damit in Kontrast zu den<br />
scheinbar rational argumentierenden, eben<br />
sachbezogenen Diskussionsbeiträgen. Wenn man jedoch<br />
die Beiträge aus dem untersuchten Korpus liest, lässt sich<br />
diese Charakterisierung nicht halten. Tatsächlich werden<br />
in allen Beiträgen persönliche Befindlichkeiten, allerdings<br />
durch andere Mittel, geäußert. Vor allem durch rhetorisch<br />
komplexere Strategien wie Ironie oder Sarkasmus, die<br />
wiederum mehr Zeit und textuellen Raum benötigen als<br />
jene Verbstammbildungen und Akronyme. Auch die für<br />
die Chat-Kommunikation so typischen<br />
umgangssprachlichen Merkmale sind in den<br />
untersuchten Beiträgen kaum vorhanden: Endungsabfall<br />
und Kontraktion („son“ für „so einer“), Gesprächspartikel<br />
(„ha“), homophone Akronyme in phonetischer<br />
Schreibweise („cu“ für „see you“), Großschreibung für<br />
steigende Lautstärke („HALT“) etc. (eine Liste mit<br />
Merkmalen findet sich bei Kilian 2001: 69-70) treten<br />
ebenso wie dialektale Formen nur selten auf, wie etwa<br />
in folgendem Beitrag:<br />
bernhardbernhard Neuwahlenund schon<br />
wieder samma alle in dem Rot-Schwarzen<br />
Gesudere, wenn ich die Postings so lese. Habt ihr<br />
den alle zusammen nicht geschnallt, daß ihr euch<br />
mit eurem Kastldenken die Wähler systematisch<br />
verkrault. Jemanden der täglich im Leben steht, hat<br />
mit diesen weltfremden Parteigejammere wirklich nix<br />
angefangen. Wer besser ist, wer schuld ist, wers<br />
schon immer gewußt hat, wer mit wem und<br />
überhaupt..... BÄÄÄÄÄÄÄÄHHHHHHH.<br />
Kilian verweist für den Chat auf die „ökonomische“ (69)<br />
Funktion einer solche umgangssprachlichen Ausrichtung.<br />
Dies muss allerdings bezweifelt werden: Zweifelsohne führt<br />
die Orientierung an einer umgangssprachlichen<br />
Mündlichkeit etwa zu Kontraktionen oder phatischemotionalem<br />
Ausdruck, gleichzeitig kann die<br />
Verwendung solcher umgangssprachlicher Formen aber<br />
auch zu Uneindeutigkeiten und Missverständnissen<br />
führen.<br />
Ein deutliches Indiz für den höheren Grad an Formalität<br />
in den von uns untersuchten Beiträgen ist zudem die<br />
häufige Siezung der Gesprächsteilnehmer: Die<br />
maschinelle Auswertung ergab, dass in 54 Beiträgen<br />
mindestens einmal „Sie“ vorkommt und nur in 9 Beiträgen<br />
mindestens einmal „Du“.<br />
Während manche, etwa Crystal, die Kleinschreibung als<br />
generelles Charakteristikum des Netspeaks ansehen, lässt<br />
Mediale Zeit(en)<br />
Zeitungsforen und Forenzeit<br />
81<br />
sich dies in unserem Material nicht bestätigen, dort findet<br />
sich Groß- und Kleinschreibung gemischt wieder:<br />
›››› ImmerSachlich | 19.06.2008 11:58<br />
Re: Re: Re: Ich meinte das eher im<br />
volkswirtschaftlichem Sinn. Das BIP steigt, die<br />
Unternehmensgewinne steigen und die<br />
unselbständig Erwerbstätigen erleiden derzeit<br />
einen massiven Reallohnverlust. Das verstehe ich<br />
eben unter „nicht fair“. Die Politik ist z. B. dadurch<br />
gefordert, EU-weit ein einheitliches Steuerrecht und<br />
einheitliche soziale Mindeststandards zu schaffen.<br />
Wir sind leider sehr weit davon entfernt.<br />
››››› pablo.ponte | 19.06.2008 12:12<br />
Re: Re: Re: Re: ein einheitliches steuerrecht<br />
wäre ideal. real betrachtet, ist dieser wunsch<br />
leider eine utopie.<br />
Die maschinelle Auswertung ergab, dass mit großer<br />
Wahrscheinlichkeit 354 von 517 Einträgen von den Groß-<br />
/Kleinschreibregeln des Deutschen abweichen (eine<br />
gewisse Fehlerwahrscheinlichkeit muss allerdings<br />
angenommen werden) 9 . Das heißt, dass<br />
wahrscheinlicherweise in 68% der Einträge gegen die<br />
Konventionen der Groß-/Kleinschreibung verstoßen wird,<br />
was allerdings nicht bedeutet, dass in diesen Beiträgen<br />
durchgehend klein geschrieben wird. Damit halten sich<br />
die User wahrscheinlicherweise immerhin zu 32%<br />
vollständig an die Groß-/Kleinschreibung. Dies kann als<br />
klares Indiz dafür gewertet werden, dass durchgehende<br />
Kleinschreibung im Forum nichts so weit verbreitet ist wie<br />
im Chat, bei dem sie quasi schon zur Norm geworden<br />
ist.<br />
Dabei geht die Kleinschreibung, wie der letztere zitierte<br />
Beitrag zeigt, nicht einher mit einer prinzipiellen<br />
Vernachlässigung der Orthographie. In Chats wie auch<br />
in Foren ist die Toleranz gegenüber Tippfehlern<br />
außerordentlich hoch, in dem von uns untersuchten<br />
Material fand sich keine metasprachliche Äußerung, die<br />
sich auf Rechtschreib- oder Grammatikfehler bezog.<br />
In einigen Beiträgen besteht ein Zusammenhang<br />
zwischen der Form des Postings und dem Nickname, wie<br />
beim Eintrag von „ImmerSachlich“ erkennbar ist.<br />
Spezifische schriftliche Ausprägungen (etwa nur<br />
umgangssprachliche Postings, beabsichtige Fehler etc.)<br />
werden von einzelnen Diskutanten gezielt als Mittel der<br />
Inszenierung verwendet, die Möglichkeit der<br />
Selbstinszenierung wird aber im Vergleich zu Chats und<br />
MOOs in Foren viel seltener genutzt (vgl. hierzu Becker<br />
2004: 413–429). Als Beispiel hierfür seien die Postings des<br />
Users „Der Alte vom Berge“ angeführt, dessen dialektaler<br />
Sprachgebrauch wohl mit seinem Nick - nomen est<br />
omen - korrespondieren soll:<br />
› Der Alte vom Berge | 18.06.2008 16:57<br />
Verordnete Geschlossenheit ? Na dann......reissts<br />
auf die Doppler. ^^<br />
›› Der Alte vom Berge | 18.06.2008 15:13<br />
Re: So grausam......wirds scho ned werden. Da<br />
Pappa wirds scho richten, dazu is er ja da. Aber,<br />
ehrlich gsagt, so als „Wünsch-dir-was“ für<br />
Abgesägte seh ih das Ganze aa ned gern.^^<br />
››› Der Alte vom Berge | 18.06.2008 14:03<br />
Re: Re: Hab ih aa ned behauptet,......es is selten<br />
nur Einer schuld an Allem, Gnä‘Frau. Ja sowas...das<br />
erinnert mi jetzt an die Personaldebatte. Ned falsch<br />
verstehen, ih bin kein Freund von Leut die no<br />
weniger halten als sie versprochen haben, oder so<br />
viel versprechen, das sie selber ned wissen wie‘s<br />
das alles halten sollen. Aber...ausser dem
„Watschenmann“ giebts jo aa Mittäter, die jetzt<br />
natürlich kräftig paddeln, damits ned mit<br />
untergehen. Der Tausch bringt nix, weil der neue<br />
„Kasperl“ die gleichen Witz reissen wird wie der alte.<br />
Die Spieler hinter dem Vorhang sollten wechseln,<br />
davor is eh nur Theater. Was den Häupel<br />
angeht...der is mittlerweile VOR dem Vorhang<br />
gelandet, wie mir scheint. „Alles geht einmal<br />
vorüüüber, alles geht einmal vorbei....“ als<br />
Hintergrundmusik ? ^^<br />
Ein interessantes Merkmal der Forenkommunikation ist<br />
die abnehmende Beitragslänge, wenn in Reaktion auf<br />
ein Posting weitere Kommentare erfolgen:<br />
› Erisian Liberation Front | 18.06.2008 16:32<br />
Man darf gespannt seinwie viele „Förderer“ die<br />
kleine Rudas beglücken muß, um ihre Karriere zu<br />
behalten? Mehr oder weniger als die Bures?<br />
Obwohl, mehr geht kaum noch...<br />
›› Claidheamh Mòr | 18.06.2008 19:14<br />
Re: keine Sorgeder Opi wirds scho richten.<br />
›› axt | 18.06.2008 18:45<br />
Re: du weißt von was du sprichst.<br />
›› Was guckst du? | 18.06.2008 18:35<br />
Re: Da Michl is eh schnö fertig.<br />
›› farbrauschen | 18.06.2008 18:28<br />
Re: was die kleine rudas macht, geht dich gar nix<br />
an.<br />
›› kurt kren | 18.06.2008 16:58<br />
Re: Siehst,so wird Politik auch für<br />
Schmuddeltypen wie dich interessant!<br />
Dabei scheinen die Postings tatsächlich sprach- bzw.<br />
chatähnlicher zu werden: So sinkt die durchschnittliche<br />
Satzlänge signifikant ab, die Beiträge sind eher<br />
kleingeschrieben und die Argumentation neigt zur<br />
Generalisierung, zu Ironie und Sarkasmus. Der<br />
Umgangston wird, wie auch in Chats, persönlicher und<br />
kollegialer, es entsteht der Eindruck einer unmittelbaren<br />
Kommunikation aufgrund der Beitragskürze und der<br />
Spontanität der rhetorischen Pointierungen. Von einer<br />
argumentativen Struktur kann in diesen Beiträgen nicht<br />
mehr gesprochen werden, da Ellipsen und<br />
Präsuppositionen zu dominant werden.<br />
Zwar lassen sich die Ergebnisse bezüglich der Länge von<br />
Beiträgen und Sätzen aufgrund unterschiedlicher<br />
Operationalisierungen (Anzahl von Zeilen, Absätzen,<br />
Wörtern pro Satz etc.) oftmals nicht direkt vergleichen,<br />
jedoch lässt sich unschwer die Tendenz erkennen, dass<br />
Beiträge und Sätze in Chats kürzer gehalten sind als in<br />
Foren. So hat bereits die Bestandsaufnahme im vorigen<br />
Kapitel gezeigt, dass in Crystals englischsprachigen<br />
Samples Forenbeiträge über durchschnittlich 3,5 Zeilen<br />
gehen, während Chat-Beiträge durchschnittlich nur aus<br />
4,23 Wörtern bestehen (diese sind wiederum zu 80%<br />
einsilbig), zudem kommen bei Crystal Absätze in<br />
Forenpostings häufiger vor als in Chat-Beiträgen.<br />
Während bei Crystal Chat-Beiträge durchschnittlich also<br />
nur aus 4,23 Wörtern bestehen, ergab unsere<br />
maschinelle Auswertung der Forenbeiträge auf<br />
derstandard.at, dass diese durchschnittlich aus 34,39<br />
Wörtern bestehen. Dass Chat-Sätze als kurz zu<br />
klassifizieren sind, ist auch ein Ergebnis der Studie von<br />
Al-Sa´di und Hamdan (2005: 411-413): Von 5.591<br />
untersuchten Chat-Sätzen waren 86% kurz und 14% lang,<br />
wobei Sätze ab 8 Wörtern als lang eingestuft wurden.<br />
Unsere maschinelle Auswertung der Forenbeiträge<br />
ergab demgegenüber eine durchschnittliche Satzlänge<br />
Mediale Zeit(en)<br />
von 12,21 Wörtern pro Satz. Der Vergleich von<br />
durchschnittlicher Satzlänge und durchschnittlicher<br />
Beitragslänge in Chats und Foren weist deutlich darauf<br />
hin, dass Sätze und Beiträge in Forendiskussionen<br />
wesentlich länger sind als in Chats.<br />
Was Chatter betrifft, so konstatieren Al-Sa´di/Hamdan<br />
(2005: 413): „However, whether a Cyberer is able to type<br />
fairly fast with a modicum of effort or finds speedy typing<br />
an inaccessible gift, it should be natural to expect many<br />
(and probably most) e-chatters to resort to short, succinct<br />
sentences to save time and effort“. In diesem Zitat<br />
spiegelt sich das Ökonomieprinzip wider: Der Chattende<br />
muss seine Beiträge und Sätze kurz halten, um Zeit und<br />
Energie einzusparen. Dies ist auf die (quasi-)-synchrone<br />
Kommunikationssituation beim Chat zurückzuführen, die<br />
ja beim Forum weg fällt, oder anders formuliert: Die<br />
Chattenden erwarten sofortige Reaktionen auf ihre<br />
Äußerungen, die Forenuser aber nicht. Die<br />
Segmentierung von Sinneinheiten zur raschen <strong>Pro</strong>duktion<br />
steht im Forum daher nicht im Vordergrund, in Chats<br />
hingegen schon. Die Satzlänge im Forum wird nicht von<br />
einem unmittelbaren Zwang zur Kommunikation<br />
beeinflusst, sondern von anderen, etwa inhaltlichen oder<br />
argumentatorischen, Überlegungen. Dem kommt auch<br />
entgegen, dass die älteren Beiträge in den<br />
derstandard.at-Forendiskussionen durch spätere<br />
Antworten aktualisiert und an die erste Stelle gesetzt<br />
werden. Eine zeitliche Begrenzung besteht nur insofern,<br />
als dass die Betreiber die Diskussion nach einigen Tagen<br />
schließen.<br />
Bittner weist ebenfalls darauf hin, dass Chat-Diskurse<br />
einen „niedrigeren Elaborationsgrad“ aufweisen „und<br />
zwar insbesondere deshalb, weil die Beiträge<br />
durchgängig viel kürzer sind.“ (2005: 241) Während im<br />
Chat die Kommunikation durch „Segmentierungserscheinungen<br />
wie die Aposopese (isoliertes Thema) und<br />
das isolierte Rhema“ (Bittner 2005: 243) geradezu<br />
gefördert werden, steht im Forum jedes Posting für eine<br />
in sich geschlossene Sinneinheit. Die Beiträge müssen<br />
damit in sich möglichst kohärent formuliert sein, sollen<br />
sie von anderen Teilnehmern verstanden werden. Dies<br />
erfordert wiederum einen erhöhten zeitlichen Aufwand<br />
und gleichzeitig die Pointierung der eigenen Meinung.<br />
Die Kürze der Argumentation wird in den untersuchten<br />
Beiträgen vor allem durch elliptische Konstellationen bzw.<br />
einen hohen Anteil an Präsuppositionen erreicht. Die<br />
rhetorische Funktion von Ironie und Sarkasmus ist ein<br />
wesentlicher Bestandteil einer Schreibstrategie, die mit<br />
den anderen Beiträgen um die Aufmerksamkeit der<br />
anderen User kämpft.<br />
5. RESÜMEE<br />
Zeitungsforen und Forenzeit<br />
82<br />
Wir haben versucht, aufgrund aktueller Forschungen zum<br />
Thema Internet und Sprachwandel das bisher eher<br />
unterbelichtete Phänomen der (Zeitungs-)<br />
Forenkommunikation im Internet unter dem Aspekt der<br />
Zeit bzw. des Zeitdrucks näher zu beleuchten. Einerseits<br />
haben sich hierfür theoretische Konzepte wie das<br />
sprachliche Ökonomieprinzip und die Synchronizität von<br />
Medien als relevante Bezugssysteme erwiesen.<br />
Andererseits konnte aufgrund bisheriger Studien zu Chat-<br />
Kommunikation und aufgrund einer von uns im kleinen<br />
Rahmen durchgeführten Analyse eines Forenthreads auf<br />
derstandard.at eine vergleichende Analyse von Chatund<br />
Forenkommunikation vorgenommen werden. Hierbei<br />
hat sich gezeigt, dass Chats aufgrund ihrer (Quasi-<br />
)Synchronizität dem Zeitdruck wesentlich stärker<br />
ausgesetzt sind als Forendiskussionen, was sich u.a. in<br />
folgenden Merkmalen niederschlägt: Forenbeiträge sind<br />
länger, verfügen über längere Sätze, orientieren sich<br />
mehr an der schriftsprachlichen Norm und weisen<br />
weniger Merkmale konzeptueller Mündlichkeit
(Emoticons, Feedback-Signale, Interjektionen,<br />
Kontraktionen etc.) auf als Chat-Beiträge. In diesem Sinne<br />
stellt das Internetforum auch eine langsamere<br />
Kommunikationsform dar als der Chat: Die User brauchen<br />
länger für das Verfassen eines Beitrages, eventuelle<br />
Antworten lassen länger auf sich warten, und die<br />
Diskussion dauert insgesamt länger als beim Chat (im Fall<br />
der von uns analysierten Forendiskussion waren dies zwei<br />
Tage). Da die Vergleichbarkeit von quantitativdeskriptiven<br />
Studien zu Chat- und Forenkommunikation<br />
aufgrund unterschiedlicher Operationalisierungen<br />
beispielsweise von Satzlänge meist nicht gegeben ist,<br />
bleibt eine umfangreichere vergleichende Studie ein<br />
wichtiges Forschungsdesiderat. Untersuchungen zur<br />
Satzkomplexität, auch in Hinblick auf Mündlichkeits-/<br />
Schriftlichkeitsmerkmale – konzeptionelle Mündlichkeit<br />
zeichnet sich ja beispielsweise auch durch häufiges<br />
Vorkommen von Parataxen aus – konnten in diesem<br />
Rahmen nicht vorgenommen werden und erscheinen für<br />
die Zukunft ebenfalls sinnvoll. Eine eingehendere Analyse<br />
der Rolle von Benutzernamen in (Zeitungs-)foren – im<br />
Unterschied zu Nicks in Chats – könnte ebenfalls<br />
interessante Resultate liefern (vgl. die Hypothese in<br />
Kapitel 3, wonach Benutzernamen in Zeitungsforen<br />
möglicherweise in stärkeren Ausmaß für individuelle<br />
Weltanschauungen, Ideologien und die im Forum<br />
vertretenen Ansichten und praktizierten Diskursstrategien<br />
stehen als im Chat). Die Möglichkeit (halb-)<br />
automatisierter Auswertungsverfahren mit Hilfe<br />
entsprechender Computerprogramme wäre bei all jenen<br />
wünschenswerten Folgeuntersuchungen möglicherweise<br />
stärker zu berücksichtigen und bietet sich im Fall von<br />
Internetkommunikation jedenfalls schon aufgrund des<br />
Vorliegen des Textmaterials in digitaler Form an.<br />
Unsere Analyse deutet weiters darauf hin, dass<br />
Forenkommunikation - insbesondere Zeitungsforenkommunikation<br />
- tendenziell anderen Zwecken<br />
dient als Chat-Kommunikation: Forenkommunikation<br />
übernimmt mehr argumentatorische Funktionen, weshalb<br />
Eindeutigkeit und Relevanz zu bedeutsamen Kriterien<br />
dieser Kommunikationsform werden. Sprachlich-kreative<br />
Äußerungen, Emoticons, Dialekt, absichtliche<br />
Normverstöße etc. tauchen im Forum daher auch<br />
deshalb nicht auf, weil dies dem Ökonomieprinzip<br />
zuwider laufen würde. Sprachlich ökonomisch handeln<br />
bedeutet hierbei nicht nur kosten-, sondern auch<br />
nutzenorientiert vorzugehen: Die Verwendung<br />
sprachlicher Mittel wie Dialekt, Emoticons etc. ist nur im<br />
Forum unökonomisch, weil nicht-nutzenorientier – im Chat<br />
hingegen können sie sehr wohl ihren Nutzen haben, da<br />
im Chat andere Kommunikationszwecke wie<br />
beispielsweise die Stiftung und Aufrechterhaltung einer<br />
Gruppenidentität im Vordergrund stehen. So wird ein<br />
Forenbeitrag, der von Rechtschreibfehlern strotzt und<br />
Zeichensetzung ignoriert, an intendierter Brillanz und<br />
Überzeugungskraft einbüßen, im Chat hingegen wird<br />
über diese Normverstöße im wahrsten Sinne des Wortes<br />
schneller hinweggegangen werden. Damit stellen unsere<br />
Ergebnisse auch Crystals Postulat eines Netspeaks, also<br />
eines einheitlichen internetspezifischen Sprachgebrauchs,<br />
in Frage. Die Annahme eines homogenen<br />
Netspeaks scheint in Anbetracht der stark heterogenen<br />
Kommunikationsformen und -anlässe im Internet nicht<br />
gerechtfertigt, vielmehr muss man davon ausgehen, dass<br />
sich nicht nur Chats und Foren in ihrer Sprachform<br />
voneinander unterscheiden, sondern dass es auch<br />
beträchtliche Unterschiede innerhalb dieser beiden<br />
Kommunikationsformen gibt, dass sich also Foren von<br />
Foren und Chats von Chats in sprachlicher Hinsicht stark<br />
unterscheiden können. In diesem Sinne verstehen wir<br />
unseren Aufsatz nur als einen ersten Anstoß, weiter in die<br />
Mikrostrukturen insbesondere von Forendiskussionen<br />
vorzudringen und sprachliche Merkmale<br />
unterschiedlicher Forengenres – wie beispielsweise<br />
Mediale Zeit(en)<br />
Zeitungsforen, Foren zu verschiedenen<br />
Diskussionsthemen, <strong>Pro</strong>blemlösungsforen oder Foren zu<br />
partizipativer Politik etc. – herauszuarbeiten.<br />
BIBLIOGRAPHIE<br />
Zeitungsforen und Forenzeit<br />
83<br />
Al-Sa´di, Rami/ Hamdan, Jihad M.: „Synchronous online chat“<br />
English: Computer-mediated communication. In: World<br />
Englishes 4/2005. S. 409-424.<br />
Baron, Naomi S. (2003): Why email looks like speech:<br />
proofreading, pedagogy and public face. In: Aitchison,<br />
Jean/ Lewis, Diana M. (Hrsg.) (2003): New Media Language.<br />
London, New York: Routledge. S. 85-94.<br />
Becker, Barbara (2004): Selbst-Inszenierung im Netz. In: Sybille<br />
Krämer (Hrsg.): Performativität und Medialität. München:<br />
Wilhelm Fink. S. 413-429.<br />
Beißwenger, Michael (Hrsg.) (2001): Chat-Kommunikation.<br />
Sprache, Interaktion, Sozialität & Identität in synchroner<br />
Vermittlung.Stuttgart: ibidem.<br />
Bittner, Johannes (2003): Digitalität; Sprache, Kommunikation.<br />
Eine Untersuchung zur Medialität von digitalen<br />
Kommunikationsformen und Textsorten und deren<br />
varietätenlinguistischer Modellierung. Berlin: Schmidt (=<br />
Philologische Studien und Quellen 178).<br />
Borscheid, Peter (2004): Das Tempo-Virus. Eine<br />
Kulturgeschichte der Beschleunigung. Frankfurt a. M.:<br />
Campus.<br />
Brachmann, Sabine (2007): Kommunikation im Eiltempo. Zur<br />
Dynamik sozialer Beschleunigungsprozesse und medial<br />
initiierten Sprachwandels am Beispiel schriftbasierter<br />
Alltagskommunikation. Berlin (Magisterarbeit).<br />
Crystal, David (2006): Language and the Internet. 2nd edition<br />
[1st edition 2001].Cambrigde: Cambridge University Press.<br />
Dürscheid, Christa (2004): Netzsprache - ein neuer Mythos. In:<br />
Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 68, 141-157.<br />
Geers, Rainer (1999): Der Faktor Sprache im unendlichen<br />
Daten(t)raum. Eine linguistische Betrachtung von Dialogen im<br />
Internet Relay Chat. In: Naumann, Bernd (Hrsg.): Dialogue<br />
Analysis and the Mass Media. <strong>Pro</strong>ceedings of the<br />
international conference in Erlangen, April 2-3, 1998.<br />
Tübingen: Niemeyer, S. 83-100.<br />
Giddens, Anthony (1996): Konsequenzen der Moderne.<br />
Frankfurt a. M.: Suhrkamp (stw 1295).<br />
Giesecke, Michael (1998): Sinnenwandel, Sprachwandel,<br />
Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft.Frankfurt<br />
a.M.: Suhrkamp.<br />
Haase, Martin, Huber, Michael, Krumeich, Alexander & Rehm,<br />
Georg (1997): Internetkommunikation und Sprachwandel. In:<br />
Weingarten, Rainer (1997) (Hrsg.), S. 51-85.<br />
Gleich, Uli (2002): Nutzung neuer Kommunikationsmedien. In:<br />
Media-Perspektiven 11/2002. Online abrufbar unter: http://<br />
www.ard-werbung.de/showfile.phtml/fodi.pdf?foid=5838, S.<br />
575-580. [Letzter Zugriff: 16.06.08].<br />
Hochschild, Arlie Russell (2006): Keine Zeit. Wenn die Firma<br />
zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet.<br />
Wiesbaden: VS 2 .<br />
Jucker, Andreas (2004): Gutenberg und das Internet. In: Der<br />
Einfluss von Informationsmedien auf Sprache und<br />
Sprachwissenschaft. net.worx 40, 2004. Online abrufbar unter:<br />
http://www.mediensprache.net/networx/networx-40.pdf.<br />
[Letzter Zugriff: 16.06.2008.]
Koch, Peter/ Oesterreicher, Wulf (1994): Schriftlichkeit und<br />
Sprache. In: Günther, Hartmut/ Ludwig, Otto (Hrsg.): Schrift<br />
und Schriftlichkeit. Writing and its Use. Ein interdisziplinäres<br />
Handbuch internationaler Forschung. An Interdisciplinary<br />
Handbook of International Research. 1. Halbband. Berlin/<br />
New York: de Gruyter, S. 587-604.<br />
Kaschuba, Wolfgang (2004): Die Überwindung der Distanz.<br />
Zeit und Raum in der europäischen Moderne. Frankfurt a. M.:<br />
Fischer.<br />
Kilian, Jörg (2001):T@stentöne. Geschriebene<br />
Umgangssprache in computervermittelter Kommunikation. In:<br />
Beißwenger, Michael (Hrsg.) (2001): Chat-Kommunikation.<br />
Sprache, Interaktion, Sozialität & Identität in synchroner<br />
Vermittlung.Stuttgart: ibidem. S. 55-78.<br />
Löpfe, Philipp/ Vontobel, Werner (2008): Arbeitswut. Warum<br />
es sich nicht lohnt, sich abzuhetzen und gegenseitig die Jobs<br />
abzujagen. Frankfurt, New York: Campus.<br />
Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der<br />
Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (stw<br />
1760).<br />
Röggla, Kathrin (2004): wir schlafen nicht. Frankfurt a. M.:<br />
Fischer.<br />
Schlobinski, Peter: Der Mythos von der CyberSprache. Online<br />
abrufbar unter: http://www.chinaweiser.de/news/dermythos-von-der-cybersprache.<br />
[Letzter Zugriff: 17.06.2008.]<br />
Schneider, Irmela (2004): Das beschirmte Kind. Zur<br />
Diskursgeschichte Kind und Fernsehen. In: Schneider, Irmela/<br />
Bartz, Christina/ Otto, Isabell (Hrsg.): Medienkultur der 70er Jahre.<br />
Diskursgeschichte der Medien nach 1945. Bd. 3. Wiesbaden:<br />
VS. S. 217–230.<br />
Schreiber, Mathias (2006): Deutsch for sale. In: Der Spiegel 40/<br />
2006. S. 182-198.<br />
Sick, Bastian (2004): Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod.<br />
Köln: Kiepenheuer & Witsch.<br />
Simmel, Georg (2006): Die Großstädte und das Geistesleben.<br />
Frankfurt a. M.: Suhrkamp.<br />
Templeton, Brad: Origin of the term „spam“ to mean net<br />
abuse. http://www.templetons.com/brad/spamterm.html.<br />
[Letzter Zugriff: 11.06.08.]<br />
Vitouch, Peter (2001) (Hrsg.): Psychologie des Internet. Wien:<br />
WUV.<br />
Weingarten, Rüdiger (1997) (Hrsg.): Sprachwandel durch<br />
Computer. Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />
Wittgenstein, Ludwig (1967): Philosophische Untersuchungen.<br />
Frankfurt/Main: Suhrkamp.<br />
Zimmer, Dieter E. (1997): Deutsch und anders - die Sprache im<br />
Modernisierungsfieber. Hanburg: Rowohlt (rororo Sachbuch<br />
60525).<br />
Mediale Zeit(en)<br />
Fußnoten<br />
1 Besonders bedanken möchten sich die Autoren dieses<br />
Artikels bei Dr. Mörth vom AAC (ÖAW), der das<br />
untersuchte Material mit korpuslinguistischen Methoden<br />
computergestützt ausgewertet und so die statistische<br />
Arbeitsgrundlage geschaffen hat.<br />
2 Vgl.: http://www.spiegel.de/kultur/zwiebelfisch.<br />
3 Vgl.: http://www.templetons.com/brad/spamterm.html.<br />
4 In der heute üblicheren, engen Definition von Chats<br />
bezeichnen diese jedoch ausschließlich den synchronen<br />
Typ, während Begriffe wie Forum und Mailingliste für die<br />
entsprechenden asynchronen Online-<br />
Kommunikationsformen stehen. Wir verwenden daher<br />
konsequenterweise für die synchrone Variante<br />
den Terminus Chat und für die asynchrone die<br />
Bezeichnung Forum.<br />
5 http://derstandard.at/?id=2934632<br />
6 http://derstandard.at/archiv<br />
7 Artikel und dazugehörender Diskussionsthread waren<br />
ab Erscheinen 30 Tage unter http://derstandard.at/<br />
?id=3381453 online abrufbar. Die Postings wurden am<br />
17.07.2008 gelöscht und der dazugehörende Artikel ins<br />
kostenpflichtige Online-Archiv verschoben.<br />
8 wtokens bezeichnet alle tokens, die keine Satzzeichen<br />
sind<br />
9 Für die Analyse von Groß-/Kleinschreibung wurde die<br />
Anzahl von Beiträgen errechnet, die wToken enthalten,<br />
die gegen die Konvention nicht mit einem<br />
Großbuchstaben beginnen. In diesen Fällen ist es sehr<br />
wahrscheinlich, dass der Text die Groß- /Kleinschreibung<br />
ignoriert. Auch die Gegenprobe zu diesen Fällen wurde<br />
maschinell errechnet.<br />
Mag. Alexander Preisinger, geb. 1982, absolvierte die Lehramtsstudien Deutsch, Geschichte, Sozialkunde, politische Bildung.<br />
Seine Interessen liegen u.a. im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Literatur. Er ist seit 2007 “<strong>Pro</strong>scientist”.<br />
Mag. Niku Dorostkar, geb. 1983 studiert Allgemeine und Angewandte Sprachwissenschaft sowie die Lehramtsfächer Deutsch,<br />
Psychologie und Philosophie. Er wird seit 2008 durch PRO SCIENTIA gefördert.<br />
Zeitungsforen und Forenzeit<br />
84
Zeit in Gesellschaft
Dr. Karin Rainer<br />
Zeit als Spende –<br />
Grundlagen, Hintergründe und Motivation für Freiwilligenarbeit heute<br />
Zeit – neben der viel zitierten Gesundheit – ist wohl das<br />
Wertvollste, das dem Menschen gegeben ist; ganz<br />
einfach aus dem Grund, dass sie nicht beliebig<br />
vermehrbar ist und – ökonomisch gesprochen – ein<br />
knappes Gut darstellt 1 . Wie wir individuell diese Zeit<br />
verbringen und sie nutzbringend für uns und auch für<br />
andere einsetzen, ist subjektiv sehr verschieden: was für<br />
den einen „vergeudete Zeit“ darstellt, ist für die andere<br />
eine wertvolle Bereicherung... Im Folgenden soll es<br />
demnach um jene Menschen gehen, die ihre Zeit nicht<br />
nur für die Erfüllung ihrer persönlichen Lebensziele<br />
einzusetzen scheinen, sondern auch für die Gesellschaft,<br />
das „Gemeinwohl“...<br />
Obwohl bei genauerem Hinsehen deutlich wird, dass<br />
auch die Freiwilligenarbeit oft mehr zum Erreichen der<br />
subjektiven Ziele beitragen kann als angenommen.<br />
1 FREIWILLIGKEIT – WAS IST DAS?<br />
EINE BEGRIFFSVERWIRRUNG – ODER DOCH NICHT?<br />
Allein hinsichtlich des Terminus ist sich die Fachwelt nicht<br />
sicher, wie eine Tätigkeit, die sich dem üblichen<br />
westlichen Arbeitsdenken weitgehend verweigert bzw.<br />
ihm sogar entgegenwirkt, einzuordnen ist. „Laienhilfe“,<br />
„Ehrenamt“, „Freiwilligenarbeit“, „soziales bzw.<br />
bürgerschaftliches Engagement“ oder neudeutsch<br />
„volunteering“ werden als unterschiedliche Begriffe für<br />
Arbeit verwendet, die zum Nutzen der Gesellschaft<br />
außerhalb der Erwerbstätigkeit in einem gewissen<br />
organisationellen Rahmen erbracht wird:<br />
„Grundsätzlich wird unter ehrenamtlicher Tätigkeit jede<br />
freiwillig erbrachte, nicht auf Entgelt ausgerichtete<br />
außerberufliche Tätigkeit verstanden, die am<br />
Gemeinwohl orientiert ist, auch wenn sie für einen<br />
einzelnen erbracht wird. Kostenerstattungen oder<br />
Aufwandsentschädigungen stehen der Ehrenamtlichkeit<br />
grundsätzlich nicht entgegen.“ (Stecker 2002, 44f)<br />
Auf die Diskussion, welcher dieser Termini nun der korrekte<br />
sei und ob bzw. welche feinen Abstufungen in diesen<br />
Begrifflichkeiten dominieren, soll jedoch hier nicht<br />
eingegangen werden 2 . An der grundlegenden Idee, die<br />
hinter der sogenannten „Zeitspende“ steht, ändert die<br />
Begrifflichkeit nichts. Im aktuellen Kontext soll aber zentral<br />
der Begriff der „Freiwilligkeit“ verwendet werden, der<br />
sowohl ideologische als auch definitorische Hürden am<br />
befriedigendsten zu meistern scheint.<br />
2 KENNZEICHEN DER FREIWILLIGENARBEIT<br />
Freiwilligkeit scheint als diffuses Konstrukt in der<br />
allgemeinen Wahrnehmung bekannt zu sein. Eine<br />
genauere Definition ist allerdings notwendig, um auf die<br />
verschiedenen, wichtigen Faktoren hinzuweisen, die hier<br />
zusammenspielen. Die Kennzeichen der Freiwilligenarbeit<br />
sind also nicht nur<br />
• Freiwilligkeit und<br />
• nicht auf monetäre Bezahlung gerichtetes<br />
Engagement.<br />
Das Ehrenamt wird auch definiert durch<br />
• eine gewisse Regelmäßigkeit und Dauer der<br />
Dienste<br />
• einen organisationellen Rahmen der die<br />
Hilfeleistung<br />
• außerhalb des eigenen (weiteren)<br />
Familienverbandes vorsieht.<br />
Zeit in Gesellschaft<br />
Zeit als Spende<br />
87<br />
Dass auch in der Familie ein enormes Maß an „typisch“<br />
ehrenamtlicher Tätigkeit durchgeführt wird, sollte<br />
eigentlich nicht weiter erwähnt werden müssen.<br />
Dennoch ist es wichtig, den Blick auch kurz auf jene harte<br />
Arbeit zu lenken, die vor allem Frauen in der Pflege und<br />
Betreuung nicht nur von Kindern, sondern auch von<br />
älteren hilfsbedürftigen Personen leisten 3 .<br />
Hier soll es allerdings zentral um jene Tätigkeiten gehen,<br />
die eben außerhalb des zu Unrecht! als<br />
selbstverständlich angesehenen innerfamiliären<br />
Kontextes stehen.<br />
3 ZAHLEN UND FAKTEN ZUR FREIWILLIGKEIT IN ÖSTERREICH<br />
Was leisten die Freiwilligen?<br />
Eine vollständige Erhebung von konkreten Zahlen kann<br />
wohl auch aufgrund der teilweise sehr informellen<br />
Haltung zu Dokumentation und Berichtswesen in<br />
manchen, vor allem kleineren Freiwilligenorganisationen<br />
kaum jemals erreicht werden. Es gibt jedoch eine<br />
europaweite Erhebung, die von einer beachtlichen<br />
Anzahl von 31% der Gesamtbevölkerung Österreichs<br />
spricht, die 2004 ehrenamtlich tätig gewesen sein soll 4 .<br />
Eine aktuelle österreichische Erhebung der Statistik<br />
Austria von 2007 liefert zwar teilweise konkrete Werte<br />
aufgrund einer Befragung im Zuge der Micro-Zensus-<br />
Erhebung, durch die teilweise mangelnde<br />
Differenzierung von hier zentraler formeller und<br />
informeller Freiwilligenarbeit wie z.B. Nachbarschaftshilfe,<br />
werden diese Daten nur ergänzend herangezogen.<br />
<strong>Pro</strong> Woche werden in Österreich die schwer vorstellbare<br />
Anzahl von 11,2 Millionen Stunden an unbezahlter Arbeit<br />
geleistet, was etwa 482.000 ganztägig arbeitenden<br />
Personen entspricht 5 .<br />
Die Arbeitsleistung der Ehrenamtlichen kann zwar<br />
aufgrund der schon erwähnten Dokumentationslage<br />
nicht leicht in Stunden bestimmt werden.<br />
Durchschnittlich kann aber von einer Arbeitsleistung von<br />
etwa 23,3 Stunden pro Freiwilliger/Freiwilligem und<br />
Monat ausgegangen werden:<br />
„Etwa ein Drittel (30%) arbeitet bis zu 10 Stunden, ein<br />
weiteres Drittel (37%) zwischen 11 und 20 Stunden. 20%<br />
der ehrenamtlichen MitarbeiterInnen arbeiten zwischen<br />
21 und 40 Stunden. Mehr als 40 Stunden ehrenamtlich<br />
tätig sind 13% der ehrenamtlichen MitarbeiterInnen. 6 “<br />
Generell muss aber auch darauf hingewiesen werden,<br />
dass sowohl die Frequenz als auch das Stundenausmaß<br />
von Freiwilligenarbeit stark variiert. Auch bezüglich der<br />
Wochentage, an denen die Dienstleistung erbracht wird,<br />
ist eine starke Variabilität zu erkennen: Freiwilligenarbeit<br />
wird zu 93% an Werktagen erbrach und zu 42% an<br />
Wochenenden. Bezüglich der Tageszeit der<br />
ehrenamtlichen Arbeit ist eine Tendenz zum Nachmittag<br />
zu erkennen (68%), weiters auch am Vormittag (50%) und<br />
abends (39%). In der Nacht zwischen 22:00 und 5:00 sind<br />
11% der Ehrenamtlichen aktiv und in der Früh immerhin<br />
4% 7 .<br />
Was tun die Freiwilligen?<br />
Freiwilligenarbeit hat also ihren Fokus geschichtlich auf<br />
jenen Sektor gerichtet, der generell zum Wohl der<br />
Gemeinschaft beiträgt. Waren es erst auch in der Antike<br />
politische Ämter, so änderte sich durch das Christentum<br />
und den Gedanken der „charitas“ auch die
Schwerpunkte von Ehrenamtlichkeit. Im Weiteren<br />
entwickelte sich das Ehrenamt zu einer Art Privileg, das<br />
sich nur Adel und Klerus leisten konnten – im Zuge der<br />
Emanzipation des aufstrebenden Bürgertums wurde die<br />
charitative Tätigkeit auch für diese Gesellschaftsschicht<br />
zugänglich und auch als politisches Zeichen interessant.<br />
Ehrenamtliches Engagement wurde vor allem auch zu<br />
einem Zeichen von Luxus: Die Freizeit, die nicht zur<br />
Sicherung des täglichen Lebens verwendet werden<br />
musste, konnte später auch für die Erfüllung von eigenen,<br />
aber auch von gesellschaftlichen Entwicklungen genutzt<br />
werden. Lange Zeit waren Wohltätigkeitseinrichtungen,<br />
die von Zeit- und Geldspenden engagierter BürgerInnen<br />
lebten, die einzige soziale Absicherung für einen Großteil<br />
der Gesellschaft. Erst mit der Entwicklung des uns auch<br />
heute bekannten Sozial- und Wohlfahrtsstaates wurde<br />
das ehrenamtliche Engagement seiner tragenden Rolle<br />
entkleidet und letztlich in die neuen gesellschaftlichen<br />
Strukturen integriert. 8<br />
Das heutige freiwillige Engagement wird hauptsächlich<br />
in folgenden Bereichen geleistet (geordnet nach der<br />
Anzahl der geleisteten Gesamtstunden pro Woche):<br />
• Kunst/Kultur/Brauchtumspflege (2118,5<br />
Stunden/Woche)<br />
• Rettungs-, Kat- und Notfallhilfe (Freiwillige<br />
Feuerwehr, Rettungsdienst, Krisenintervention)<br />
• Sport und Bewegung (in Vereinen etc.)<br />
• Religion/Kirche<br />
• Politisches/zivilgesellschaftl. Engagement<br />
• soziale und gesundheitsbezogene Dienste<br />
• Bildung und Jugendarbeit (z.B.: Nachhilfe)<br />
• Umwelt/Tierschutz (mit praktischen Aktionen) 9<br />
Wer sind die Freiwilligen?<br />
Es gibt auch im Freiwilligenbereich gewisse soziologische<br />
und gender-spezifische Differenzen. Bemerkenswert wie<br />
auch naheliegend ist vor allem auch, dass verschiedene<br />
Bereiche und Tätigkeiten von jeweils unterschiedlichen<br />
Gruppen von Freiwilligen vermehrt durchgeführt werden.<br />
Wenig verwunderlich, dass z.B. in eher „technischen“<br />
Bereichen wie der Freiwilligen Feuerwehr aber auch in<br />
Führungspositionen weitaus mehr Männer<br />
ehrenamtlichen Dienst versehen; soziale wie auch<br />
gesundheitsspezifische Dienstleistungen werden<br />
vermehrt von weiblichen Ehrenamtlichen durchgeführt.<br />
Generell werden von Frauen 63% der Freiwilligenarbeit<br />
durchgeführt, von Männern etwa 37%, die Intensität der<br />
erbrachten Dienstleistung hängt natürlich auch jeweils<br />
von den familiären Gegebenheiten ab 10 .<br />
Bezüglich des Alters ist auffällig, dass kaum Jugendliche<br />
in der Freiwilligenarbeit zu geben scheint. Für die<br />
Altersklasse von 20 bis 50 Jahren ist die Aufteilung der<br />
Freiwilligenarbeit relativ konstant: jede der Dekaden<br />
deckt etwa 20 bis 25% an der Gesamtheit der<br />
ehrenamtlichen Arbeit ab. Im Alter von 51 bis 60 und<br />
von 61 bis 70 Jahren leisten die Freiwilligen jeweils etwa<br />
15%, ab etwa 71 Jahren geht das ehrenamtliche<br />
Engagement verständlicher Weise stark zurück auf unter<br />
ein <strong>Pro</strong>zent 11 .<br />
Neben dem Alter sind es aber auch berufliche und<br />
familiäre Faktoren, die das Ausmaß der Freiwilligenarbeit<br />
beeinflussen.<br />
4 FREIWILLIGENARBEIT UND DIE GESELLSCHAFT<br />
Welchen Nutzen hat die Zivilgesellschaft durch die<br />
Freiwilligenarbeit?<br />
Wie noch zu zeigen sein wird, ist Freiwilligenarbeit<br />
einerseits in der vom heutigen demographischen<br />
Zeit in Gesellschaft<br />
Zeit als Spende<br />
88<br />
Wandel beeinflussten, von Zeitdruck geprägten<br />
Gesellschaft eine der wertvollsten Spenden überhaupt 12 .<br />
Besonders im Gesundheits- und Sozialbereich in der<br />
Pflege und Betreuung ist hoher Arbeits- und<br />
Handlungsbedarf. Daher bildet das Ehrenamt in diesem<br />
Sektor einen wesentlichen Beitrag für die<br />
Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit in der<br />
Zivilgesellschaft. Auch der Bedarf an psychosozialen<br />
Hilfeleistungen scheint im Steigen begriffen: staatliche<br />
Unterstützung beschränkt sich auch hier z.B. im Bereich<br />
der Arbeitslosigkeit und der Armut auf rein operationelle<br />
Hilfe, erstreckt sich aber nicht auf die persönliche Ebene.<br />
Handlungsbedarf und das Bedürfnis nach sozialen<br />
Kontakten durch engagierte und vor allem nicht unter<br />
chronischem Zeitdruck befindliche HelferInnen wird<br />
immer deutlicher. Auch Bereiche, die sonst vielleicht von<br />
öffentlichen Stellen nicht als Fokus für ihre Interventionen<br />
angesehen werden, sind für die Involvierung von<br />
Freiwilligenarbeit prädestiniert.<br />
Welche Gefahren bestehen bei freiwillig ausgeübter<br />
Arbeit?<br />
Ist auch die Freiwilligenarbeit in gewisser Weise ein<br />
gesunder und notwendiger Ausgleich zu Gewinnstreben<br />
und Ökonomisierungstendenzen unserer Gesellschaft, so<br />
ist andererseits auch der Verlass auf diese Art des<br />
Engagements ein Warnzeichen für uns. Ehrenamtliches<br />
Engagement ist auch dort so notwendig, wo traditionelle<br />
Familien- und Sozialbeziehungen in die Brüche gehen<br />
bzw. keine alternativen Versorgungsmöglichkeiten auf<br />
„menschlicher“ und nicht so sehr professioneller Ebene<br />
geboten werden.<br />
Auch wird oft übersehen, dass gewisse Bedürfnisse in der<br />
Versorgung deutlichen politischen Zuspruch und<br />
praktische Maßnahmen bedürfen und nicht durch die<br />
Einbindung von freiwilligem Personal gleichsam<br />
„kaschiert“ werden sollen. Freiwilligenarbeit sollte als<br />
positiver Zusatz angesehen werden und nicht als<br />
kosmetisches Pflaster für aktiven Handlungsbedarf.<br />
5 FREIWILLIGENARBEIT UND DIE WIRTSCHAFT<br />
Wie groß ist das wirtschaftliche Potential von<br />
Freiwilligenarbeit?<br />
Es wurde schon erwähnt, dass die Freiwilligenarbeit nicht<br />
unbedingt ohne finanzielle Abgeltung bzw.<br />
Aufwandsentschädigung durchgeführt werden muss.<br />
Aber auch auf anderer Ebene hat diese Zeitspende ein<br />
beachtliches wirtschaftliches Potential. Einerseits müssen<br />
natürlich Finanzmittel aufgewandt werden, um die<br />
Rahmenbedingungen für ehrenamtliches Engagement<br />
zu schaffen. Andererseits scheint vor allem in unserer von<br />
Leistungsdruck und „Akkordarbeit“ auch im Pflege- und<br />
Betreuungsbereich geprägten Gesellschaft Zeit für<br />
persönliche Beziehung zu fehlen.<br />
Welche Gefahren entstehen durch die freiwillig<br />
ausgeübte Arbeit?<br />
Ein wesentlicher Faktor, der als eine Art „Gefahr“ durch<br />
die freiwillige Arbeit – vor allem von Seiten der<br />
hauptamtlichen KollegInnen – angesehen werden kann,<br />
ist die Verdrängung und Besetzung von bezahlten<br />
Arbeitsplätzen mit Ehrenamtlichen. Dieses Faktum, das<br />
sicherlich durch kurzsichtige Planung von Seiten der<br />
„professionellen“ Organisationen auftreten kann, sollte<br />
allerdings durch folgende Aspekte entschärft werden:<br />
einerseits ist für viele Tätigkeiten eine langwierige<br />
Ausbildung erforderlich, die kaum im Zuge der<br />
Freiwilligenarbeit erworben werden kann; andererseits<br />
sollte die ehrenamtliche Tätigkeit, wie schon gezeigt<br />
worden ist, eher als zusätzliche Bereicherung und zur
Erfüllung zusätzlicher Bedürfnisse von KlientInnen<br />
eingesetzt werden.<br />
6 MOTIVE FÜR FREIWILLIGKEIT<br />
Warum tut also jemand etwas, das so offenkundig Mühe<br />
und Arbeit bedeutet, wenn er oder sie es nicht für Geld<br />
macht? Hier werden nun jene Motive bedeutsam, die<br />
sonst vielleicht eher sekundär bei der Erwerbsarbeit zum<br />
Tragen kommen.<br />
Betrachtet man im Sinne einer Metaanalyse die in den<br />
verschiedenen Werken angeführten Beweggründe, die<br />
für Freiwilligenarbeit angeführt werden, so kann man<br />
diese nach Heimgartner (2004: 31-41) unter individuelle,<br />
soziale, gesellschaftliche und religiöse Motivationen<br />
subsumieren. Auch nach nicht repräsentativen,<br />
exemplarischen und selbsterstellten empirischen<br />
Befunden können die von den KollegInnen<br />
angegebenen Gründe für ihren Eintritt und ihr Verweilen<br />
als Freiwillige bei Rettungsorganisationen diesen<br />
Kategorien zugeordnet werden.<br />
Unter die individuellen Beweggründe reihen sich die<br />
persönliche Sinnsuche, neben der Erprobung und<br />
Weiterentwicklung eigener Fähigkeiten, der Ausgleich zur<br />
oft unbefriedigend empfundenen Erwerbsarbeit und<br />
mittel- bzw. langfristig auch der Wunsch nach „echter“,<br />
bezahlter Arbeit. Letztlich kann auch die Nutzung von<br />
Infrastruktur und die – wenn auch minimalen –<br />
Aufwandsentschädigungen einen wesentlichen Beitrag<br />
zur Sicherung des Auskommens darstellen 13 .<br />
Unter die sozialen Beweggründe, die wesentlich für den<br />
Eintritt und die laufende Betätigung als Freiwillige sind,<br />
können altruistische Beweggründe gereiht werden, die<br />
allerdings auch in Frage gestellt werden können, da alle<br />
Ehrenamtlichen – wenn auch nur immateriell oder<br />
ideologisch – von ihrer Tätigkeit profitieren. Auch<br />
Geselligkeit und Zugehörigkeitsgefühl, das Gefühl,<br />
gebraucht zu werden, der Erwerb von sozialem Status<br />
und in manchen Fällen auch die Leistung von<br />
Wiedergutmachung können hier mitspielen.<br />
Als gesellschaftliche Beweggründe werden auf der einen<br />
Seite die Unzufriedenheit mit aktuellen<br />
Versorgungsleistungen, eine gewisse politische<br />
Basisorientierung aber auch bürgerliches<br />
Standesbewusstsein und die Erwartung von gleichen<br />
Dienstleistungen und Hilfestellungen bei eigenem Bedarf.<br />
Unter die religiösen/philosophische Motive für das<br />
Ehrenamt können die (christliche) Nächstenliebe und das<br />
streben nach gottgefälligen Werken gereiht werden.<br />
Eine andere Einteilung kann grob in intrinsische und<br />
extrinsische Faktoren erfolgen. Da jedoch intrinsische<br />
Motivationen immer auch stark durch die Umwelt bedingt<br />
werden, ist diese Unterteilung auch in anderen Bereichen<br />
der Motivationspsychologie in einer derart simplifizierten<br />
Sichtweise umstritten.<br />
Manche wissenschaftliche Betrachtungen stellen einen<br />
Zusammenhang der Freiwilligenmotivation mit der<br />
Bedürfnispyramide von Maslow her. Demnach kann ein<br />
Engagement im zivilgesellschaftlichen Sinn sowohl auf<br />
das Bedürfnis nach Gesellschaft, nach (materieller)<br />
Absicherung, aber auch nach einem höheren Ziel wie<br />
der Selbstverwirklichung zurückzuführen sein.<br />
Fest steht jedenfalls, dass für eine Zeitspende immer<br />
mehrere dieser Argumente ineinander greifen und die<br />
Freiwilligen motivieren, ihre Arbeitsleistung weiter in den<br />
Zeit in Gesellschaft<br />
Zeit als Spende<br />
89<br />
Dienst der Gesellschaft aber auch in die eigene<br />
Entwicklung zu investieren.<br />
7 SCHLUSSBEMERKUNG<br />
Über Freiwilligenarbeit oder ehrenamtliches<br />
Engagement in den verschiedensten Bereichen gibt es<br />
zahlreiche Betrachtungen, Meinungen und<br />
Perspektiven: die wissenschaftliche Sichtweise – sei es<br />
nun soziologisch, ökonomisch oder auch psychologisch;<br />
den philosophisch-ethischen und religiösen Blickwinkel;<br />
den praktischen, alltagsbezogenen und den sehr<br />
persönlichen, subjektiven Zugang jeder und jedes<br />
einzelnen Freiwilligen oder auch Außenstehenden.<br />
Neben all diesen zahlreichen Aspekten, Strömungen und<br />
Einzelmeinungen darf man aber nie vergessen, dass das<br />
zentrale Anliegen der freiwilligen Tätigkeit immer eine<br />
Verbesserung der Situation des Mitmenschen bleibt. Der<br />
sozialutopische Ansatz und auch das konkrete – wenn<br />
auch sehr langfristige, teils bewusste, teils unbewusste –<br />
Ziel der Freiwilligen ist es, auf verschiedene Art und Weise<br />
die Welt und die Gesellschaft, in der wir uns bewegen<br />
zu einem „besseren“, für alle lebenswerteren Ort<br />
umzugestalten.<br />
In einer Zeit der angeprangerten „sozialen Kälte“ ist es<br />
zudem ein deutliches Zeichen, sich bewusst auch den<br />
verschiedenen Spielarten des Ehrenamtes zu widmen<br />
und dies nicht – wie in früheren Zeiten – als<br />
selbstverständlich unerwähnt zu lassen; sondern<br />
vielmehr, diese freiwillige Tätigkeit im Dienst unserer<br />
Mitmenschen hinauszutragen und auch davon bewusst<br />
und stolz – im Sinne des Ehrenamtes – zu berichten. Durch<br />
die Tätigkeit als Multiplikator wird vielen anderen klar,<br />
dass die Idee hinter dem scheinbar blauäugigen<br />
Weltverbesserungs-Anliegen eine leicht<br />
nachvollziehbare ist, und keineswegs ohne eigenen<br />
Nutzen – selbst wenn dieser nicht in Geld abgegolten<br />
wird! – verwirklicht wird.<br />
Vielleicht wird dieser Exkurs auch andere KollegInnen<br />
dazu bringen, Ihre bisherigen ehrenamtlichen Tätigkeiten<br />
mit mehr Stolz und in einem größeren, nachhaltigeren<br />
Zusammenhang zu sehen; oder auch, um bewusst die<br />
Verantwortung, aber auch die großen Möglichkeiten
anzunehmen, die ein freiwilliges, soziales Engagement<br />
bieten können!<br />
8 LITERATUR<br />
Badelt, Christoph: Politische Ökonomie der<br />
Freiwilligenarbeit: theoretische Grundlegung und<br />
Verwendungen in der Sozialpolitik. Frankfurt am Main<br />
u.a.: Campus, 1985.<br />
Beer, Ursula: Geschlecht, Struktur, Geschichte. soziale<br />
Konstituierung des Geschlechterverhältnisses. Frankfurt<br />
am Main u.a.: Campus, 1990.<br />
Heimgartner, Arno: Ehrenamtliche bzw. freiwillige Arbeit<br />
in Einrichtungen Sozialer Arbeit. Frankfurt am Main u.a.:<br />
Lang, 2004.<br />
Holzer, Claudia: Ehrenamtliches Engagement: Motive<br />
pro und contra gemeinwohlorientierter freiwlliger Einstz.<br />
Wien: unveröff. Diplomarbeit, 2005.<br />
Pott, Ludwig: Der Spagat zwischen Ehrenamt und<br />
Dienstleistung. In: Gruppendynamik und<br />
Organisationsberatung 34 (2003), S. 347-353.<br />
Schmidt, Andreas: Die Bedeutung von Freiwilligenarbeit<br />
in modernen Gesellschaften un im Leben Freiwilliger.<br />
Wien: unveröff. Diplomarbeit, 2007.<br />
Statistik Austria: Struktur und Volumen der<br />
Freiwilligenarbeit in Österreich. Wien: 2007. http://<br />
www.statistik.at/web_de/static/<br />
struktur_und_volumen_der_freiwilligenarbeit_in_oesterreich_029573.pdf<br />
[20.06.2008]<br />
Stecker, Christina: Vergütete.Solidarität und solidarische<br />
Vergütung: Zuf Förderung von Ehrenamt und<br />
Engagement durch den Sozialstaat. Poladen: Leske +<br />
Budrich, 2002.<br />
Walchshofer, Michaela: Individueller und<br />
gesellschaftlicher Stellenwert des Ehrenamtes im<br />
Sozialbereich aus der Sicht ehrenamtlich tätiger<br />
Personen: eine Fallstudie in den Organisationen Buddy-<br />
Zeit in Gesellschaft<br />
Verein, Caritas und Rotes Kreuz. Wien: unveröff.<br />
Diplomarbeit, 2002.<br />
Fußnoten<br />
1 Die immanente Wichtigkeit der Zeit wird auch durch ihre<br />
Singularität in der Sprache deutlich: es gibt keinen<br />
befriedigenden Terminus, der synonym verwendet werden<br />
kann. Aus diesem Grund wird um Verständnis für die<br />
Redundanz in der vorliegenden Betrachtung ersucht.<br />
2 vgl zur näheren Verfolgung dieser Begriffsdebatte z.B.:<br />
Heimgartner 2004, 16-19 oder Holzer 2005: 10-17.<br />
3 vgl. z.B.: Beer 1990.<br />
4 vgl. Holzer 2005: 34f.<br />
Anm.: Bemerkenswert ist jedoch, dass auch in dieser Erhebung<br />
Österreich nur im unteren Mittelfeld liegt. Traditionell ist die<br />
Ehrenamtlichkeit in den nördlichen Ländern Europas am<br />
stärksten ausgeprägt. Nach aktuelleren Daten, die vom BMSK<br />
angeboten werden, sind 43,8% der ÖsterreicherInnen<br />
ehrenamtlich tätig. URL: http://www.bmsk.gv.at/cms/site/<br />
liste.html?channel=CH0854 [20.06.2008]<br />
5 URL: http://freiwilligenweb.at/pages/aktionen/bmsg.html<br />
[18.06.2006]<br />
6 Heimgartner 2004: 232<br />
7 Vgl. Heimgartner 2004: 231-237<br />
8 vgl. Schmidt 2007: 13ff<br />
9 Aufstellung in Anlehnung an: Statistik Austria 2007, 34<br />
10 Anm.: Interessante Abweichungen von dieser<br />
wissenschaftlichen Erhebung sind in den undatierten<br />
Informationen des BMSK zu finden, nach denen sich die<br />
Freiwilligen zu 47,1% aus Männern und 40,7% aus Frauen<br />
zusammensetzt. Da diese Zahlen weder datiert noch schlüssig<br />
auf 100% addieren, wurde hier im Haupttext auf die<br />
wissenschaftliche Studie von Heimgartner Bezug genommen.<br />
http://www.bmsk.gv.at/cms/site/liste.html?channel=CH0854<br />
[20.06.2008]<br />
11 Vgl. Heimgartner 2004: 235f<br />
12 Vgl. Heimgartner 2004: 104f<br />
13 Anm.: besonders im Einsatz bei der Weltmeisterschaft 2006 in<br />
Berlin konnte ich dieses Motiv bei zahlreichen der deutschen<br />
KollegInnen beobachten.<br />
MMag. Dr. Karin Rainer, geb. 1977, studiert(e) Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik, Psychologie, Romanistik<br />
und GenderStudies. Die gebürtige Wienerin ist seit 2002 in verschiedenen Funktionen für das Rote Kreuz tätig und staatlich<br />
geprüfte Rettungssanitäterin. Sie wurde 2008 in das Österreichische Studienförderungswerk PRO SCIENTIA aufgenommen.<br />
Zeit als Spende<br />
90
Paula Aschauer<br />
Vorwort<br />
Gerade in letzter Zeit waren die das Asyl- und<br />
Flüchtlingsrecht in den österreichischen Medien ein<br />
prägnantes Thema. Vor allem die Frage der<br />
Inschubhaftnahme (Minderjähriger) und der damit<br />
verbundene Entzug von (Lebens)Zeit und Freiheit stehen<br />
immer wieder zur Diskussion.<br />
Dieser Beitrag beschäftigt sich vorrangig mit der<br />
Ausgestaltung des österreichischen Fremdenrechts und<br />
die Rolle der Schubhaft darin. Die Schubhaft wird sowohl<br />
von bundesrechtlicher, menschenrechtlicher und<br />
höchstgerichtlicher Seite betrachtet.<br />
Die weiteren Ausführungen zeigen, wie umstritten die<br />
österreichische Ausformung und vor allem die praktische<br />
Anwendung der Schubhaft nach wie vor ist und welche<br />
Mängel besonders häufig hervorgehoben werden.<br />
In diesem Diskurs zeigt sich, wie schwierig es ist, rechtlich<br />
Gebotenes in der Praxis unter Achtung der<br />
Menschenrechte umzusetzen, ohne die innerstaatlichen<br />
Rechte und Pflichten außer Acht zu lassen.<br />
Bei den in dieser Arbeit verwendeten<br />
personenbezogenen Bezeichnungen (zB<br />
Asylwerber, Schubhäftling) gilt die gewählte Form für<br />
beide Geschlechter.<br />
.<br />
Abkürzungsverzeichnis<br />
AsylG Asylgesetz<br />
AVG Allgemeines Verwaltungsgesetz<br />
BMI Bundesministerium für Innere Angelegenheiten<br />
EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte<br />
EMRK Europäische Menschenrechtskonvention<br />
FrPolG Fremdenpolizeigesetz<br />
MRB Menschenrechtsbeirat<br />
NGO Non- Governmental Organisation<br />
VfGH Verfassungsgerichtshof<br />
VStG Verwaltungsstrafgesetz<br />
VwGH Verwaltungsgerichtshof<br />
A. SCHUBHAFT ALS INSTRUMENT DER ÖSTERREICHISCHEN<br />
RECHTSORDNUNG<br />
1. Allgemeines<br />
Die Schubhaft wird im Fremdenpolizeigesetz 2005<br />
geregelt und kann nur Fremden zuteil werden. Sie soll<br />
einerseits den Zweck erfüllen ein Verfahren zur Erlassung<br />
einer Ausweisung oder eines Aufenthaltsverbotes zu<br />
gewährleisten, und andererseits eine anstehende<br />
Ausweisung sicherzustellen.<br />
Es handelt sich bei der Schubhaft nicht um eine richterlich<br />
verhängte Haft oder Strafhaft, sondern um eine lediglich<br />
von einer Verwaltungsbehörde ausgesprochene und<br />
durchgesetzte Verwaltungshaft.<br />
2. Die Vollziehung der Schubhaft<br />
Geraubte Zeit?<br />
Schubhaft im Lichte der Menschenrechte<br />
Räumlichkeiten der Fremdenpolizei vollzogen, außer sie<br />
Innerhalb des Exekutivapparates ist die Fremdenpolizei<br />
mit der Vollziehung des Fremdengesetzes betraut, was<br />
vor allem aufenthaltsbeendigende Maßnahmen, wie<br />
etwa Ausweisung und Abschiebung oder Überprüfung<br />
der Voraussetzungen für einen Aufenthalt oder ein<br />
Aufenthaltsverbot betrifft. Die Schubhaft wird in<br />
Zeit in Gesellschaft<br />
Geraubte Zeit?<br />
91<br />
findet direkt im Anschluss an eine reguläre Freiheitsstrafe<br />
statt. In diesen Fällen kann sie, mit Zustimmung des<br />
Betroffenen, in der jeweiligen Strafvollzugsanstalt<br />
vollzogen werden.<br />
3. Dauer der Schubhaft<br />
Gesetzlich vorgesehen ist eine möglichst kurze<br />
Schubhaftdauer, maximal jedoch zwei Monate, in<br />
Ausnahmefällen sechs Monate.<br />
Gemäß § 22 Abs. 3 AsylG ist ein Verfahren über Antrag<br />
auf internationalen Schutz von den Behörden der ersten<br />
und zweiten Instanz prioritär zu behandeln, wenn der<br />
Asylwerber in Schubhaft genommen wurde. Solche Fälle<br />
sollten nach Möglichkeit innerhalb von drei Monaten<br />
entschieden werden.<br />
B. DAS FREMDENPOLIZEIGESETZ 2005<br />
1. Allgemeines<br />
Die Schubhaft ist vor allem im Fremdenpolizeigesetz<br />
geregelt, welches im Zuge des „Fremdenrechtspakets<br />
2005“ zusammen mit dem Asylgesetz 2005 von der<br />
österreichischen Bundesregierung erlassen wurde. Das<br />
Gesetz basiert auf der ersten Fassung 1997 und der<br />
Novelle 2003, geprägt durch die Verpflichtung der<br />
Umsetzung gemeinschaftlicher Richtlinen, wobei sich die<br />
Europäische Union hier auf die Ermächtigungsnorm des<br />
Art 63 EGV stützt. 1<br />
2. Regelung der Schubhaft im Fremdenpolizeigesetz<br />
Die Schubhaft wird in §§ 76-81 FrPolG genau geregelt.<br />
a) Gründe für die Inschubhaftnahme<br />
§ 76 bestimmt die Gründe für eine Inschubhaftnahme:<br />
nämlich um das Verfahren zur Erlassung eines<br />
Aufenthaltsverbotes oder einer Ausweisung zu sichern<br />
oder wenn auf Grund bestimmter Tatsachen<br />
anzunehmen ist, ein Asylwerbender könnte sich dem<br />
Verfahren entziehen. Absatz zwei gibt taxativ die<br />
Voraussetzungen für die Verhängung der Schubhaft an:<br />
wenn<br />
1. gegen den Asylwerber eine durchsetzbare - wenn<br />
auch nicht rechtskräftige - Ausweisung erlassen wurde;<br />
2. gegen den Asylwerber nach den Bestimmungen des<br />
Asylgesetzes 2005 ein Ausweisungsverfahren eingeleitet<br />
wurde;<br />
3. gegen den Asylwerbenden bereits vor Stellung des<br />
Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare<br />
Ausweisung oder ein durchsetzbares Aufenthaltsverbot<br />
verhängt worden ist oder<br />
4. wenn auf Grund des Ergebnisses der Befragung, der<br />
Durchsuchung und der erkennungsdienstlichen<br />
Behandlung anzunehmen ist, dass der Antrag des<br />
Fremden auf internationalen Schutz mangels<br />
Zuständigkeit Österreichs zur Prüfung zurückgewiesen<br />
werden wird (siehe Dublin II VO).<br />
Weiters wird die Verhängung der Schubhaft mittels<br />
Bescheid gemäß § 57 AVG vorgesehen.
Eine Anfechtung der Schubhaft ist mittels Beschwerde<br />
nach § 82 FrPolG möglich.<br />
b) Das gelindere Mittel<br />
§ 77 FrPolG sieht als Alternative zur Schubhaft ein<br />
sogenanntes „gelinderes Mittel“ vor. Nähere<br />
Ausführungen dazu siehe Kapitel C „Exkurs“.<br />
c) Vollzug der Schubhaft und ihre örtlichen Grenzen<br />
Die Schubhaft ist gemäß § 78 örtliche begrenzt. Prinzipiell<br />
ist sie im Haftraum der Fremdenpolizeibehörde zu<br />
vollziehen, die sie verhängt hat. Ist dies der<br />
Fremdenpolizeibehörde jedoch nicht möglich, ist die<br />
nächstgelegene Fremdenpolizeibehörde, die über<br />
Haftraum verfügt, um den Vollzug zu ersuchen. Sollte<br />
auch diese Behörde nicht in der Lage sein die Schubhaft<br />
zu vollziehen, so kann die Schubhaft im gerichtlichen<br />
Gefangenenhaus vollzogen werden.<br />
Es darf in diesem Kontext nicht übersehen werden, dass<br />
die Schubhäftlinge grundsätzlich in einer<br />
Fremdenpolizeibehörde oft neben Personen, die nach<br />
gerichtlich strafbaren Handlungen angehalten werden<br />
oder eine Ersatzfreiheitsstrafe nach VStG verbüßen,<br />
festgehalten werden.<br />
Hier verschwimmen schon merkbar die Grenzen<br />
zwischen einer Verwaltungshaft, welche die Schubhaft<br />
ja darstellen sollte, und einer gerichtlich angeordneten<br />
Strafhaft.<br />
Wie schon oben erwähnt, kann gemäß Abs.3 die<br />
Schubhaft im Anschluss an eine vollzogene<br />
Freiheitsstrafe, mit Zustimmung des Betroffenen, in der<br />
jeweiligen Strafvollzugsanstalt fortgesetzt werden.<br />
Absatz 4 sieht im Rahmen einer Abschiebung den<br />
Vollzug der Schubhaft in eigens eingerichteten<br />
Hafträumen auf dem Weg an die Bundesgrenze vor.<br />
Weiters wird vorgesehen, dass ein Schubhaftvollzug bei<br />
entsprechendem körperlichem Zustand des<br />
Schubhäftlings auch in Krankenanstalten möglich ist.<br />
d) Durchführung der Schubhaft<br />
§ 79 legt, fest, dass auch für Asylwerber die gleichen<br />
Regeln wie für anderweitig Inhaftierte nach dem VStG<br />
gelten.<br />
Es wird explizit auf Minderjährige eingegangen und<br />
vorgesehen, dass sie von den Erwachsenen getrennt<br />
unterzubringen sind, außer es handelt sich um ein<br />
Familienmitglied und der gemeinsamen Unterbringung<br />
steht nichts im Wege.<br />
e) Dauer der Schubhaft und ihre zeitlichen Grenzen<br />
In § 80 werden die zeitlichen Grenzen der Schubhaft<br />
gesetzliche geregelt.<br />
Grundsätzlich hat die Behörde nach darauf hinzuwirken,<br />
dass die Schubhaft einer möglichst kurzen Dauer<br />
unterliegt und sie endet mit Wegfall der<br />
Inhaftierungsgründen oder08nach Ablauf von zwei<br />
Monaten. Hievon gibt es jedoch zwei Ausnahmen:<br />
wurde ein Asylantrag nach § 51 noch nicht entschieden,<br />
so kann sich die Dauer der Schubhaft auf 6 Monate<br />
verlängern. Auf 10 Monate (innerhalb von zwei Jahren)<br />
kann die Schubhaftdauer verlängert werden, wenn ein<br />
Fremder nicht abgeschoben werden kann oder darf,<br />
weil seine Identität nicht festgestellt werden kann, weil<br />
noch keine Ein- oder Durchreisebewilligung für einen<br />
anderen Staat vorliegt, oder wenn der Fremde selbst<br />
Zeit in Gesellschaft<br />
Geraubte Zeit?<br />
92<br />
seine Abschiebung dadurch vereitelt, indem er sich<br />
beispielsweise Zwangsgewalt widersetzt.<br />
Für diese Verlängerungen sind besondere<br />
Überprüfungsmaßnahmen seitens der Behörden und der<br />
entscheidenden Instanzen vorgesehen.<br />
Mag. Klaus Kelz, Leiter der Fremdenpolizei Graz gibt an,<br />
dass solche Haftverlängerungen kein Einzelfall sind.<br />
Häufig würden Botschaften für Ihre Staatsangehörigen<br />
einfach keine Reisedokumente ausstellen, was die<br />
Abschiebung unmöglich mache. Auch komme es oft vor,<br />
dass Asylwerber eine falsche Identität angeben oder bei<br />
der Abschiebung mittels körperlicher Gewalt das<br />
Einsteigen in ein Flugzeug verhindern. 2<br />
f) Aufhebung der Schubhaft<br />
§ 81 sieht die Formlose Aufhebung der Schubhaft vor,<br />
wenn sie entweder nicht mehr aus den gesetzlich<br />
genannten Gründen in § 80 aufrecht erhalten werden<br />
darf, oder wenn es der Unabhängige Verwaltungssenat<br />
feststellt, dass die Voraussetzungen für eine Schubhaft<br />
nicht mehr vorliegen.<br />
C. SITUATIONSANALYSE IN ÖSTERREICH ANHAND<br />
HÖCHSTGERICHTLICHER JUDIKATUR<br />
1 Allgemeines zur Schubhaft- Situation in Österreich<br />
Grundsätzlich sind es vor allem regionale und nationale<br />
NGOs wie die Caritas, die Volkshilfe, der Evangelische<br />
Flüchtlingsdienst, die ARGE Schubhaft (in Tirol) und SOS<br />
Menschenrechte (in Oberösterreich), die mit dem BMI<br />
einen sogenannten Schubhaftbetreuungsvertrag<br />
unterhalten. Ein Schubhaftbetreuungsvertrag sieht vor,<br />
dass die genannten Organisationen regelmäßige,<br />
humanitäre, soziale und psychosoziale Betreuung, sowie<br />
rechtliche Beratung der Fremden sicherstellen.<br />
Daneben gibt es noch zahlreiche andere Organisationen<br />
wie den Flughafensozialdienst, Asyl in Not, Amnesty<br />
International, Deserteursberatung Wien und ZEBRA, die<br />
zwar keinen Vertrag mit dem BMI haben, sich aber auch<br />
im Bereich der Schubhaft engagieren. 3<br />
Vor allem durch deren rechtliche Beratung und durch<br />
Unterstützung von Asylanwälten, ist es Fremden möglich<br />
auch die ihnen zustehenden Rechte geltend zu machen.<br />
Diese Situation wird von ministerieller Seite nicht nur<br />
begrüßt, sondern teilweise auch kritisch betrachtet, da<br />
es durch das Engagement der Nicht-<br />
Regierungsorganisationen naturgemäß zur vermehrten<br />
Einreichung von Asylanträgen und Rechtsmitteln kommt.<br />
2. Grenzen der Schubhaft im Lichte<br />
Verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung<br />
Gerade in der jüngeren Vergangenheit geht der<br />
Verfassungsgerichtshof stark auf eine rechtmäßige und<br />
tatsächlich vollzogene Begründung einer<br />
Schubhaftnahme ein. So hob er, mit Bezug auf den<br />
Gleichheitssatz, einen die Schubhaft anordnenden<br />
Bescheid wieder auf. Es läge nämlich „eine Verletzung<br />
im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden<br />
untereinander durch Abweisung der<br />
Schubhaftbeschwerde eines Asylwerbers mangels<br />
nachvollziehbarer Begründung für die Anordnung bzw.<br />
Aufrechterhaltung der Schubhaft und Überlegungen zur<br />
Anwendung eines gelinderen Mittels“ 4 vor.<br />
In einer anderen Entscheidung betont der<br />
Verfassungsgerichtshof die Verpflichtung der Behörden<br />
zur Beachtung Gebotes der Verhältnismäßigkeit, das im<br />
Bundesverfassungsgesetz über den Schutz der<br />
persönlichen Freiheit genau festgelegt ist. 5 (siehe auch
Kapitel F „Alternativen zur Schubhaft“) Dieser Grundsatz<br />
der Verhältnismäßigkeit, so der Verfassungsgerichtshof,<br />
sei insbesondere bei Regelungen über bzw. bei<br />
Verfügungen von präventiven Freiheitsentziehungen zu<br />
beachten und die in §76 Abs2 Z4 FrPolG festgelegte<br />
Ermächtigung zur Schubhaftnahme sei immer im Lichte<br />
des aus dem PersFrSchG erfließenden unmittelbar<br />
anwendbaren Gebots der Verhältnismäßigkeit<br />
auszulegen.<br />
Auch in einem ähnlich gelagerten Fall, wo über eine<br />
Beschwerde gegen eine Schubhaftverlängerung zu<br />
entscheiden war, betont der Verfassungsgerichtshof,<br />
dass die zuständige Fremdenpolizeibehörde stets dazu<br />
verpflichtet sei, „die einzelnen Schubhafttatbestände<br />
verfassungskonform auszulegen und eine<br />
einzelfallbezogene Abwägung zwischen dem<br />
öffentlichen Interesse an der Sicherung des Verfahrens<br />
und der Schonung der persönlichen Freiheit des<br />
Betroffenen vorzunehmen“. 6<br />
Hier zeigen sich somit der Gleichheitssatz und auch das<br />
Verhältnismäßigkeitsprinzip als wichtige, von der<br />
Rechtssprechung entwickelte, juristische Grenzen der<br />
Schubhaft.<br />
3. Grenzen der Schubhaft im Lichte<br />
Verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung<br />
Wie der Verfassungsgerichtshof hat auch der<br />
Verwaltungsgerichtshof nach der Einführung der FrPolG<br />
im Jahr 2005 einige grundlegende Entscheidungen zu<br />
treffen. So erkannte er im Vorjahr, es könne „dem<br />
Gesetzgeber vor dem Hintergrund des<br />
verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes<br />
jedenfalls nicht zugesonnen werden, er sei davon<br />
ausgegangen, alle potenziellen “Dublin-Fälle” seien statt<br />
in Grundversorgung in Schubhaft zu nehmen.“ 7 Somit<br />
wird auch hier eindeutig festgestellt, dass eine<br />
Schubhaftnahme nur in den Grenzen der gesetzlich<br />
geregelten Gründe zulässig ist, keinesfalls aber einem<br />
gelinderen Mittel oder der üblichen Grundversorgung in<br />
einem potentiellen „Dublin-Fall“ automatisch vorzuziehen<br />
sei.<br />
In einem anderen Fall sprach sich der VwGH, nach<br />
Prüfung der genauen Lebensumstände des Fremden, für<br />
die Verhängung Schubhaft aus, obwohl oder gerade weil<br />
er in Österreich unter Umgehung des Arbeitsverbotes<br />
einen Restaurationsbetrieb aufgebaut hatte. „Weil er<br />
einerseits keine familiären Bindungen zu Österreich<br />
aufweist (seinen Angaben zufolge lebt seine Tochter in<br />
Ungarn, seine Ehefrau in Ägypten) und er andererseits<br />
angesichts der Schwere der von ihm begangenen<br />
Straftaten (Verbrechen des betrügerischen<br />
Datenmissbrauches, Vergehen der fahrlässigen Krida, der<br />
Nichtablieferung von Sozialversicherungsbeiträgen und<br />
falscher Angaben zum Zweck der Eintragung in das<br />
Handelsregister) eine beachtliche Minderung der für eine<br />
Integration wesentlichen sozialen Komponente erkennen<br />
lässt“ 8 erachtet der Verwaltungsgerichtshof in diesem<br />
Fall die Befürchtung der Asylwerber könne sich im<br />
Verborgenen halten, für begründet.<br />
Diese Ansicht ist aber, wie aus älteren Entscheidungen<br />
ersichtlich, weder unerwartet noch neu. So entschied der<br />
Verwaltungsgerichtshof schon 1999, dass „bereits die<br />
berechtigte Annahme der Möglichkeit der Verhängung<br />
eines Aufenthaltsverbotes“ für die Anordnung der<br />
Schubhaft ausreiche. 9<br />
Auch wurde allein das Betreten eines Asylwerbers bei der<br />
Verrichtung von Schwarzarbeit durch Organe des<br />
Arbeitsinspektorates als ausreichend angesehen, um die<br />
Notwendigkeit der Schubhaft im Hinblick auf die<br />
Zeit in Gesellschaft<br />
Geraubte Zeit?<br />
93<br />
Sicherung eines voraussichtlich zu verhängenden<br />
Aufenthaltsverbotes zu rechtfertigen. 10<br />
Die Grenzen der Schubhaft werden hier durch den<br />
Verwaltungsgerichtshof recht weit gelegt, auch wenn<br />
er immer wieder auf die Anwendung des „gelinderen<br />
Mittels“ hinweist. So auch in seiner bereits oben<br />
erwähnten Entscheidung 2001/02/0048<br />
zur Schubhaftbeschwerde einer Minderjährigen, die<br />
davor ihre Strafhaft verbüßt hatte, wo befunden wurde,<br />
dass die Behörde die Gründe die für die Anwendung<br />
des gelinderen Mittels, genauer hätte prüfen müssen.<br />
4. Die Schubhaft im Lichte der Menschenrechte<br />
a) Schubhaft und EMRK<br />
Art 5 lit. f der EMRK besagt „Jedermann hat ein Recht<br />
auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf einem<br />
Menschen nur in den folgenden Fällen und nur auf die<br />
gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:…<br />
wenn er rechtmäßig festgenommen worden oder in Haft<br />
gehalten wird, um ihn daran zu hindern, unberechtigt in<br />
das Staatsgebiet einzudringen oder weil er von einem<br />
gegen ihn schwebenden Ausweisungs- oder<br />
Auslieferungsverfahren betroffen ist.“<br />
Allgemein wird angenommen, dass dieser lit. f (wie lit.<br />
a) eine rein formelle Garantie enthält. Die<br />
Freiheitsentziehung wird durch mehrere Faktoren<br />
gerechtfertigt: einerseits durch die Absicht, den<br />
Betroffenen daran zu hindern, in das Staatsgebiet<br />
einzudringen und andererseits durch die Einleitung eines<br />
Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahrens die<br />
Ausweisung oder Auslieferung sicherzustellen. 11<br />
Immer wieder wird diskutiert, ob die Schubhaft nicht<br />
gegen das Menschenrecht auf Freiheit verstoße,<br />
welches in Art 5 der Europäischen<br />
Menschenrechtskonvention, welche in Österreich<br />
ratifiziert wurde und in Verfassungsrang steht, verankert<br />
ist.<br />
In einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes wird<br />
aber ausdrücklich festgehalten, dass die Vorschriften<br />
über die Schubhaft keinen “verfassungswidrigen<br />
Freiheitsentziehungstatbestand” im Hinblick auf Art. 5<br />
MRK enthalten; „selbst bei Zutreffen der gegenteiligen<br />
Argumentation wird übersehen, dass nach Art. 5 Abs. 1<br />
lit. f legcit die Haft im Rahmen eines<br />
Ausweisungsverfahrens ausdrücklich für zulässig erklärt<br />
wird.“ 12<br />
Konventionskonform sei auf jeden Fall eine innerstaatlich<br />
gesetzmäßige Freiheitsentziehung, wenn sie auch<br />
gemäß den gesetzlichen Bestimmungen und nicht<br />
willkürlich durchgeführt werde, so der Europäische<br />
Gerichtshof für Menschenrechte. 13<br />
Eine Freiheitsentziehung sei aber nur dann - und nur<br />
solange konventionskonform, als sie dem anvisierten<br />
zulässigen Zweck diene, wie beispielsweise die<br />
Anhaltung von Personen, die von schwebenden<br />
Ausweisungsverfahren betroffen sind, oder die<br />
Verhinderung eines unberechtigten Eindringens in das<br />
Staatsgebiet. 14<br />
Außerdem wurde festgestellt, dass die<br />
Konventionsorgane der EMRK zwar die<br />
Konventionsmäßigkeit der Haft festzustellen haben,<br />
„nicht aber die Rechtmäßigkeit der Ausweisung oder<br />
Auslieferung selber“ 15<br />
Eine richtungsweisende Entscheidung im Lichte der EMRK<br />
zum aktuellen Diskussionspunkt der langen
Verfahrensdauer, wurde ebenfalls bereits 1975 getroffen,<br />
wo bestätigt wurde, dass „die Rechtmäßigkeit der Haft<br />
nach lit. f möglicherweise entfallen kann, wenn das<br />
Auslieferungs- bzw. Ausweisungsverfahren nicht mit der<br />
erforderlichen Beschleunigung durchgeführt wird.“ 16<br />
b) Die kritische Auseinandersetzung mit der Schubhaft<br />
in Österreich<br />
Der Menschenrechtsbeirat des Innenministeriums<br />
beschäftigt sich sehr intensiv mit der österreichischen<br />
Vollzugspraxis der Schubhaft und äußert sich hier in Form<br />
von Berichten und Empfehlungen. So wurde aus einem<br />
Anlassfall im Jahr 2005, als ein Asylwerber während der<br />
Schubhaft starb, bemängelt, dass es keinen<br />
österreichweiten Standard für medizinische Versorgung<br />
in Schubhaft, und keine Rechtsgrundlage für die in die<br />
körperliche Integrität eingreifende<br />
Zwangsuntersuchungen und Zwangsbehandlungen in<br />
den Polizeianhaltezentren gäbe. 17<br />
Wie bereits erwähnt, erntet Österreichs Schubhaftpraxis<br />
nicht nur vom hiesigen Menschenrechtsbeirat Kritik,<br />
sondern auch international, so wie beispielsweise<br />
Thomas Hammaberg, der EU-<br />
Menschenrechtskommissar.<br />
In seinem Bericht vom Dezember 2007 sprach er<br />
folgende vier Empfehlungen aus: 18<br />
- Die Inhaftierung von Asylwerbern während<br />
einer Zuständigkeitsprüfung überprüft werden,<br />
- Schubhaft solle nur dann angeordnet werden,<br />
wenn die Abschiebung in unmittelbarer Zukunft<br />
erfolgen könne,<br />
- Für (abgelehnte) Asylwerber solle es<br />
grundsätzlich kostenlosen Rechtsbeistand<br />
geben und<br />
- Die Zellen der Schubhaft sollen allgemein mehr<br />
geöffnet werden.<br />
Vor allem auf die teilweise sehr lange Dauer von bis zu<br />
acht Monaten weist der Bericht hin und fordert eine<br />
Anwendung der Schubhaft nur dann, wenn eine<br />
Abschiebung unmittelbar bevorstehe.<br />
Der Grazer Rechtsanwalt Dr. Klaus Kocher meint im<br />
Rahmender Lehrveranstaltung aus Flüchtlings- und<br />
Asylrecht, die Schubhaft sei schon aus humanitären<br />
Gründen unzumutbar und fügt hinzu, dass viele<br />
Flüchtlinge schon vor der Flucht negative Erfahrungen<br />
mit dem Staatsapparat gehabt hätten; ja gerade auch<br />
oft deshalb geflohen seien. Er kritisiert die Abhängigkeit<br />
der Entscheidungsträger im Asylverfahren von den<br />
jeweiligen Dolmetschern und äußert sich eher negativ<br />
zu den im Jahr 2005 eingeführten<br />
Schubhaftmaßnahmen und dass hier der Schutz für<br />
traumatisierte Fremde fehle.<br />
Auch die Regelung, dass eine Arbeitserlaubnis an die<br />
Aufenthaltserlaubnis gekoppelt ist, könnte nach RA Dr.<br />
Kocher eine gut durchdachte Änderung vertragen.<br />
D. ALTERNATIVEN ZUR SCHUBHAFT<br />
1. Allgemeines<br />
Eine weitere Grenze der Schubhaft stellt ihre Alternative,<br />
das sogenannte „gelindere Mittel“ dar.<br />
„Die Ergänzung der Schubhaft durch das Rechtsinstiut<br />
des gelinderen Mittels ist einerseits aus Aspekten der<br />
Menschenrechte ein positives Signal, weil hiermit- so die<br />
Rahmenbedingungen gegeben sind- die<br />
Zeit in Gesellschaft<br />
Geraubte Zeit?<br />
94<br />
Freiheitsbeschränkungen Fremder auf ein Mindestmaß<br />
reduziert werden könnnen<br />
Seine gesetzliche Grundlage findet das gelindere Mittel<br />
in § 77 FrPolG, wo vorgesehen ist, dass die Behörde kann<br />
von der Anordnung der Schubhaft Abstand nehmen<br />
kann, wenn sie Grund zur Annahme hat, dass deren<br />
Zweck durch Anwendung gelinderer Mittel erreicht<br />
werden kann. Dies kann bedeuten, dass der Fremde in<br />
von der Behörde bestimmten Räumen Unterkunft nimmt<br />
oder sich in periodischen Abständen bei einem dem<br />
Fremden bekannt gegebenen Polizeikommando meldet.<br />
Voraussetzung für die Anwendung des gelinderen Mittels<br />
ist die vorgängige erkennungsdienstliche Behandlung<br />
des Fremden durch die Behörde.<br />
Mag. Klaus Kelz gibt an, dass in der Praxis eher selten auf<br />
die Möglichkeit des gelinderen Mittels zurückgegriffen<br />
wird.<br />
Bei Zuwiderhandeln gegen die behördlichen Auflagen,<br />
kann statt des gelinderen Mittels wieder die Schubhaft<br />
angeordnet werden.<br />
2. Exkurs: Minderjährige in Schubhaft<br />
a) Rechtliche Grundlagen<br />
Das FrPolG sieht in §77 vor, dass gegen Minderjährige<br />
das gelindere Mittel anzuwenden ist, außer es besteht<br />
„Grund zur Annahme, dass der Zweck der Schubhaft<br />
nicht erreicht werden kann.“<br />
Außerdem gibt es diesbezüglich zahlreiche internationale<br />
völkerrechtliche Vereinbarungen und Verträge sowie<br />
internationale Standards. Hier sind beispielsweise die<br />
„Richtlinien über allgemeine Grundsätze und Verfahren<br />
zur Behandlung asylsichernder, unbegleiteter<br />
Minderjähriger“ des Hochkommissärs der Vereinten<br />
Nationen für Flüchtlinge, die UN-Kinderrechtskonvention<br />
und die UN-Mindeststandards für Jugendverfahren zu<br />
erwähnen.<br />
In Österreich stehen Minderjährige grundsätzlich unter<br />
dem besonderen Schutz der Gesetze ( § 21 ABGB). Diese<br />
Schutzbedürftigkeit wird durch ein mögliches<br />
Verständigungsproblem minderjähriger Fremder noch<br />
erhöht.<br />
So entschied der Verwaltungsgerichtshof etwa, dass<br />
selbst nach der Entlassung einer Minderjährigen aus der<br />
Strafhaft, nicht automatisch eine Schubhaft die Folge sein<br />
darf, sondern „Es wäre daher (....) von der Behörde zu<br />
begründen gewesen, warum sie Grund zur Annahme<br />
fand, dass der Zweck der Schubhaft durch die<br />
Anwendung gelinderer Mittel nicht erreicht werden<br />
könne.“ 19 Damit hob der VwGH einen die Schubhaft<br />
begründenden Bescheid als rechtswidrig auf.<br />
b) Clearingstellen als weiterer Alternativvorschlag des<br />
MRB<br />
Der Menschenrechtsbeirat in Österreich fordert im<br />
Zusammenhang mit der <strong>Pro</strong>blematik der Unterbringung<br />
unbegleiteter minderjähriger Fremder die Einrichtung<br />
eigener „Clearingstellen“. 20 Aufgabe dieser Einrichtungen<br />
wäre es, einerseits für die Unterbringung und Verpflegung<br />
der Minderjährigen aufzukommen und andererseits für<br />
eine rasche Ausforschung von Familienangehörigen und<br />
die Feststellung der verwandtschaftlichen Verhältnisse zu<br />
sorgen. Außerdem solle es statt dem herkömmlichen<br />
Asylverfahren ein sogenanntes „Clearingverfahren“<br />
geben, durch welches die rasche Feststellung des<br />
fremdenrechtlichen Status des Minderjährigen möglich<br />
ist. Je nach Ausgang des Verfahrens wären dann die
notwendigen Schritte für eine Integration oder auch für<br />
die Rückkehr in den Herkunftsstaat zu setzen.<br />
c) Das <strong>Pro</strong>blem der Altersfeststellung als weiter Grenze<br />
der Schubhaft<br />
Gibt ein Fremder an, minderjährig zu sein, so muss er dies<br />
nachweisen. Oft ist dies aber mangels verfügbarer<br />
Dokumente nicht möglich.<br />
Daher muss das Alter seitens der Behörden geschätzt<br />
werden. Hierbei sind nicht nur das äußere, körperliche<br />
Erscheinungsbild, sondern auch der Faktor der<br />
psychischen Reife als Beurteilungskriterium<br />
heranzuziehen.<br />
Diskussionen über die medizinische Feststellung des Alters,<br />
etwa durch ein Handwurzelröntgen oder ein<br />
Panoramaröntgen das den Entwicklungsstand der<br />
Weisheitszähne zeigen kann, sind nach wie vor im Gange.<br />
Gegen einen solchen radiologischen Eingriff sprechen<br />
sicher die hohe Strahlenbelastung, die hier außerhalb von<br />
einem gesundheitlichen Diagnoseprozess zum Einsatz<br />
kommen würde und andererseits der Eingriff in das Privatund<br />
Familienleben nach Art 8 Abs. 2 EMRK. Außerdem<br />
gibt es heute noch keine wirklich gut ausgereifte<br />
Methode, die das exakte Alter einer Person feststellbar<br />
macht.<br />
Da man also auf die Schätzung des Kindesalters<br />
angewiesen ist, sollte im Zweifel zugunsten des<br />
Minderjährigen entschieden werden.<br />
E. CONCLUSIO<br />
Abschließend kann festgestellt werden, dass aus<br />
zahlreichen Entscheidungen hervorgeht, dass die<br />
Schubhaft als Sicherungshaft des Verwaltungsapparates<br />
sowohl Verfassungs- als auch Europarechts- und<br />
Menschenrechtskonform ist.<br />
Die praktische Umsetzung ist in Österreich aber nach wie<br />
vor wenig ausgereift und wird von vielen Seiten kritisiert.<br />
Nicht nur die Bedingungen der Unterbringung, sondern<br />
auch die medizinische, psychologische Versorgung und<br />
die rechtliche Beratung der Asylwerber ist<br />
verbesserungsbedürftig. Auch die rechtliche Beratung<br />
hat noch nicht ihre optimale Ausgestaltung gefunden.<br />
Es wird somit auch in Zukunft nötig sein, dass der MRB<br />
und die involvierten NGOs immer wieder auf Missstände<br />
aufmerksam machen, um so eine Verbesserung der<br />
Umsetzung der Schubhaft seitens des BMI und der<br />
Behörden zu erreichen.<br />
Denn nur nach genauer vorhergehender Prüfung kann<br />
eventuell gerechtfertigt werden, dass einem Menschen<br />
ein Stück seiner Lebenszeit und seiner Freiheit genommen<br />
wird.<br />
Zeit in Gesellschaft<br />
LITERATURVERZEICHNIS:<br />
Veit, Theodor (Hrsg): Asylrecht als Menschenrecht,<br />
Band V, Wien-Stuttgart 1969<br />
Frowein/ Peukert: Europäische<br />
Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, Kehl<br />
1985<br />
Reichel, Paul: Die Schubhaft im österreichischen<br />
Fremdenrecht, Salzburg 1997<br />
Putzer/ Rohrböck: Leitfaden zur neuen Rechtslage<br />
nach dem Asylgesetz 2005, Wien 2007<br />
Fußnoten:<br />
1 Mag. Wolfgang Taucher, Leiter des Bundesasylamtes, im<br />
Rahmen der LV „Flüchtlings- und Asylrecht“ am 09.11.2007 in<br />
Graz<br />
2 Mag. Klaus Kelz. Leiter der Fremdenpolizei Graz, , im<br />
Rahmen der LV „Flüchtlings- und Asylrecht“ am 19.10..2007 in<br />
Graz<br />
3 http://www.zebra.or.at/lexikon/s.html,06.02.2008<br />
4 VfGH 24.09.2007, B372/06<br />
5 VfGH 24.06.2006, B362/06<br />
6 VfGH 15.06.2007, B1330/06<br />
7 VwGH 24.10.2007, 2006/21/0267<br />
8 VwGH 23.07.1999, 99/02/0081<br />
9 VwGH 16.02.1999, 99/02/0011<br />
10 VwGH 27.04.2000, 2000/02/0088<br />
11 Frowein/ Peukert: Europäische Menschenrechtskonvention,<br />
EMRK-Kommentar, Kehl 1985, Rn 81<br />
12 VwGH 18.05.2001, 2001/02/0056<br />
13 EGMR 18.12.1986, Bozano gegen Frankreich<br />
14 EGMR, 22.3.1995; Quinn gegen Frankreich,<br />
15 Caprino v United Kingdom, B 6871/75<br />
16 Lynas v Switzerland E 7317/75<br />
17 http://www.menschenrechtsbeirat.at/cms/<br />
index.php?option=com_content&task=view&id=274&Itemid=196<br />
18 http://no-racism.net/article/2385/ 06.02.2008<br />
19 VwGH 18.05.2001. 2001/02/0048<br />
20 Bericht des Menschenrechtsbeirates des BMI, zum <strong>Pro</strong>blem<br />
„Minderjährige in Schubhaft“, 11.07. 2000<br />
Paula Aschauer, geboren 1986, studiert Rechtswissenschaft in Graz, Fribourg und Bern. Sie engagiert sich u.a. im Akademischen<br />
Forum für Außenpolitik und nahm hier 2006 am Vienna Model of United Nations teil. Ihre Interessen liegen v.a. im Bereich des<br />
Völker- und Europarechts. Sie ist seit 2008 Angehörige von PRO SCIENTIA.<br />
Geraubte Zeit?<br />
95
David Wineroither<br />
Was fängt die Demokratie mit der Zeit an?<br />
Überlegungen zu Repräsentation und “political leadership”<br />
EINLEITUNG<br />
Was hat die Welt nicht schon alles gesehen - nach außen<br />
und innen ungehemmt Machtexpansion betreibende<br />
“totalitäre” Diktaturen; zahllose “gemäßigtere”<br />
autokratische Formen, sogenannte “autoritäre”<br />
Diktaturen; den Zusammenbruch etlicher Demokratien in<br />
der “Zwischenkriegszeit” (zwischen den beiden<br />
Weltkriegen) und anschließende (dritte und vierte)<br />
Demokratisierungswellen 1 . Die Demokratie als<br />
erstrebenswerteste Herrschaftsform scheint heute<br />
universale Geltung zu besitzen - selbst eine lange Reihe<br />
skrupelloser Potentaten beansprucht dieses Etikett für sich.<br />
Andere gaben und geben sich offener: Es bedarf einer<br />
“Diktatur auf Zeit”, um die Gesellschaft sozial und<br />
ökonomisch demokratiefit zu machen, was sich dann<br />
euphemistisch “Entwicklungsdiktatur” nennt.<br />
Vor allem jedoch: Die Anzahl der demokratischen Länder<br />
nimmt zu (absolut wie relativ, wie man hinzufügen sollte).<br />
Werfen <strong>Pro</strong>zesse politischer Transformation von der<br />
Diktatur zur Demokratie die Frage nach Kriterien auf,<br />
anhand derer ein politisches System als zweifelsohne<br />
demokratisch konsolidiert ausgewiesen ist, stellt sich für<br />
die bereits etablierten “älteren” Demokratien die Frage<br />
nach der Erreichung und Bestimmung von (mehr)<br />
Demokratie-Güte. Dem will dieser Beitrag nachgehen und<br />
rekurriert auf eine kombinierte Darstellung eines<br />
fundamentalen demokratietheoretischen Aspekts mit<br />
einer politologischen “Leerstelle”, einem bis dato “blinden<br />
Fleck” in der einschlägigen Forschungslandschaft: (a) der<br />
möglichst weitgehenden Bindung der Politik an die<br />
Vorstellungen der Regierten im Rahmen repräsentativer<br />
Demokratie und (b) ihrer <strong>Pro</strong>jektion im Zeitverlauf.<br />
Die Ausführungen orientieren sich im Wesentlichen an der<br />
Beziehung von gewählten Politikern (bzw. Parteien) und<br />
verallgemeinerbaren ebenso wie artikulationsfähigen<br />
gesellschaftlichen Interessen im Sinne eines auf Angebot<br />
(Politik) und Nachfrage (Bürger bzw. Wähler) basierenden<br />
Marktmodells ausrichtet. Diese ist naturgemäß am<br />
dichtesten im Umfeld von Wahlen, die in dieser<br />
Perspektive folgerichtig zur vielgepriesenen “Olympiade<br />
der Demokratie” 2 mutieren. Als Referenz für den<br />
Zeitverlauf wird somit die Dauer einer Legislaturperiode<br />
bestimmt.<br />
DER DEMOKRATIETHEORETISCHE HINTERGRUND<br />
Demokratie heißt wörtlich Volksherrschaft. Demokratie<br />
steht damit im vornherein in einem Spannungsverhältnis<br />
mit einer Repräsentativregierung. Je weniger politische<br />
Macht politische Repräsentanten ausüben, desto<br />
geringer sollte sie sein. 3 Die meisten Demokratietheorien<br />
akzeptieren mehr oder weniger widerwillig die<br />
Hervorbringung einer politischen Elite in modernen<br />
Demokratien. Das setzt für jene wie die Gruppe der<br />
“partizipativen”, der “diskursiven” (Habermas) wie der<br />
“deliberativen” (Rawls) Ansätze aber ein permanentes<br />
Bemühen um Verringerung des Machtabstandes<br />
zwischen Regierenden und Regierten voraus, eine<br />
andauernde Vergewisserung der Mächtigen durch<br />
Kommunikation mit dem von politischen Entscheidungen<br />
betroffenen Bürger. Das ist umso bedeutender, weil die<br />
Demokratie nicht auf Konservierung des<br />
gesellschaftlichen “status quo” ausgerichtet ist 4 , sondern<br />
den Wandel verwaltet 5 (Blondel) und Unsicherheit<br />
organisiert 6 - das sind die Fundamente des<br />
Wohlfahrtsstaates, der den Staat zweifelsohne gestärkt<br />
oder, diesmal kritisch gesehen, “aufgebläht” haben.<br />
Was oben die andauernde Vergewisserung durch<br />
Kommunikation genannt wurde, legt ein weiteres Fundament<br />
frei, nämlich jenes demokratischen politischen<br />
Wettbewerbs. Es soll nicht überraschen, dass eine<br />
ausgefeilte Theorie politischen Wettbewerbs sich erstens<br />
“ökonomisch” nennt und zweitens die Bedeutung einer<br />
Demokratietheorie erlangt hat: Ende der 1950er Jahre<br />
legte Anthony Downs seinen Entwurf für eine<br />
“Ökonomische Theorie der Demokratie” 7 vor. In diesem<br />
Modell stehen sich schonungslos stimmenmaximierende<br />
Parteien und ein postulierter rationaler, schonungslos<br />
interessen- und nutzenabwägender Wähler gegenüber.<br />
Damit wurde nicht weniger als eine Theorie politischer<br />
Handlungen und Entscheidungen beansprucht. 8 Ihr wohnt<br />
der Vorteil aller “rational choice”-Ansätze inne: sie fußen<br />
auf einer drastischen Verringerung von<br />
forschungsnotwendigem Kontextwissen zur Bestimmung<br />
von Handlungen und vereinfachen deren Rekonstruktion<br />
aus Ergebnissen von Handlungen und sozialer Interaktion 9 .<br />
Für die Dokumentation der Dichte und Intensität<br />
politischen Wettbewerbs ist ebenfalls eine Hilfestellung<br />
gegeben, wenngleich expandierende Umfrageforschung,<br />
ihre exzessive Rezeption in den Parteizentralen und ihr<br />
gemeinsames <strong>Pro</strong>dukt “permanent campaigning” (Sidney<br />
Blumenthal) sowie “going public” 10 -Strategien ein<br />
zunehmend systematisches Substitut bilden.<br />
Zurück zur Demokratietheorie und genauer der<br />
Bestimmung von Demokratie selbst: Hier bietet sich<br />
komplementär zur “Ökonomischen Theorie” mit ihrer<br />
Betonung der prozeduralen Dimension von Demokratie<br />
eine schmale Definition an: Dahls “Polyarchie”-Vorlage<br />
mit ihrer Basis “contestation open to participation” 11 .<br />
Dieses Konzept “has become the most frequently cited<br />
framework for empirically oriented democratization studies<br />
in recent decades.” 12<br />
Im anschließenden Kapitel wird beschrieben, wie die<br />
“Polyarchie” mit vertikaler und horizontaler<br />
Gewaltenteilung und politischer Verantwortlichkeit mit<br />
dem Ausmaß, der Intensität und der Dynamik politischen<br />
Wettbewerbs in Beziehung gesetzt werden soll.<br />
MACHT, KONTROLLE UND WETTBEWERB<br />
Was fängt die Demokratie mit der Zeit an?<br />
96<br />
Die Konsolidierungsqualität in einigen der “neuen”<br />
Demokratien in Lateinamerika, Osteuropa und Asien ist<br />
auch fünfzehn oder zwanzig Jahre nach erfolgter Transition<br />
mit Einschränkungen behaftet, die von einer<br />
“defekten” Demokratie sprechen lassen. 13 Betrachtet man<br />
die Regierungspraxis und die darin reflektierten<br />
Beziehungsmuster von Politik und (Wahl-)Volk wird deutlich,<br />
dass die <strong>Pro</strong>bleme in diesem Punkt mitunter am weitesten<br />
ausgeprägt sind. Es handelt sich um “electoral” und<br />
“delegative democracies” mit Wahlgängen, die<br />
zumindest den demokratischen Grundanforderungen<br />
gerecht werden, aber anschließend in eine autonome<br />
Politikkreation übergehen - das Volk bleibt passiv, die<br />
Gewählten agieren (fast) ohne öffentliche Kontrolle, der<br />
Wettbewerb um die Regierungsmacht ist gering (ein Indiz<br />
liegt im teilweise überwältigenden Amtsinhaberbonus vor,<br />
der die - nächste - Wiederwahl schon lange vorab zu<br />
garantieren scheint). Worum es in dieser Beschreibung von<br />
Defiziten im Wettbewerbsregime aber geht, ist nichts<br />
anderes als die Identifizierung ausgeprägter zeitlicher<br />
Schwankungen machtpolitischer Asymmetrien zwischen<br />
“Volk” und “Politik”. Der Befund ist nicht neu: Karl<br />
Loewenstein beklagte schon vor mehr als vierzig Jahren<br />
das “demo-autoritäre” Deutschland Adenauers, worunter
er “zumindest während der Dauer der Legislaturperiode”<br />
eine Regierung verstand, die “politische Führung autoritär<br />
und ohne jede Begrenzung durch das Parlament oder die<br />
Wählerschaft ausübt” 14 .<br />
Auffällig ist das zeitliche Auseinanderklaffen der<br />
Entwicklung von ökonomischer Demokratietheorie<br />
einerseits und der Analyse der für den politischen Markt<br />
konstitutiven Akteure (Politiker und Parteien bzw. Bürger<br />
und Wähler), vor allem auf der “Nachfrageseite”, in der<br />
Demokratisierungs- und Konsolidierungsforschung: 1997<br />
erschien das Buch “Democracies with adjectives” 15 , erst<br />
im vergangenen Jahr ein Artikel in der maßgeblichen<br />
politologischen Fachzeitschrift über “Democrats with adjectives”<br />
(mitverfasst vom gebürtigen Österreicher<br />
Andreas Schedler) 16 . Die Feststellung einer<br />
demokratiepolitischen Wünschbarkeit von politischer<br />
“Responsivität” ist im Detail natürlich abhängig vom<br />
demokratischen Konsolidierungsgehalt. Demokratisierung<br />
und Konsolidierung werden ihrerseits von “power dispersion”<br />
wenn schon nicht bedingt, so doch entscheidend<br />
begünstigt. 17<br />
Politische Parteien verfolgen grundsätzlich drei Ziele: “office,<br />
vote and policy” 18 . Ihre Verwobenheit ist ebenso<br />
unstrittig wie komplex. Das zeitlich lückenloseste<br />
handlungsleitende Motiv dürfte dabei das (Wieder-<br />
)Wahlgebot sein, wenngleich ein Kardinalfehler in etlichen<br />
Forschungsarbeiten der Vergangenheit in der<br />
rudimentären Differenzierung von Interessen im<br />
Regierungslager lag, etwa zwischen dem oberen<br />
Parteiapparat und dem Regierungschef und<br />
Parteivorsitzenden. Bestens dokumentiert sind “electoral<br />
cycles”: die Politik einer Regierung entspricht der Nähe<br />
und Ferne zu Wahlterminen. Ein solches Verhaltensmuster<br />
betrifft zentrale Indikatoren wie die Bilanz des Bundes- bzw.<br />
Staatshaushalts und spiegelt sich sogar in<br />
makroökonomischen Kenndaten. Der Wähler seinerseits<br />
benützt “midterm elections” in der überwiegenden Zahl<br />
der Fälle zur “Bestrafung” von Regierungen, Stärkungen<br />
sind die Ausnahme. Diese bundespolitische Hypothek lässt<br />
sich auch aus vielen Landtagswahlergebnissen in<br />
Österreich herauslesen. 19<br />
Die kurzen Ausführungen in diesem Aufsatz blenden jene<br />
Wettbewerbsanteile aus, die sich nicht auf die Politiker/<br />
Parteien-Wähler-Beziehung zurückführen lassen. <strong>Pro</strong>bleme<br />
der Zuerkennung von “responsivity” als Umsetzung eines<br />
Volkswillens, der alles andere als eindeutig sein kann und<br />
der sich zudem in Form von Wahlergebnissen lediglich auf<br />
aggregierter Ebene leicht “ablesen” lässt, bleiben<br />
ausgespart. 20<br />
Aus mehrfacher Perspektive lässt sich argumentieren, dass<br />
diese “Marktbeziehung” am Tag nach einer<br />
geschlagenen Wahl zu wirken beginnt. Das Ende von<br />
Legislaturperioden und die Ausrufung von vorzeitigen<br />
Wahlen ist in vielen Fällen selbst Ausdruck einer<br />
bestimmten Verteilung von Wettbewerbschancen der<br />
Regierungsparteien. Parteien und staatlichen Behörden<br />
fallen Schlüsselrollen in der Wählermobilisierung und<br />
Wettbewerbsintensität zu. 21<br />
Die Güte demokratischen Wettbewerbs besteht aus bzw.<br />
verwirklicht sich in einem Amalgam aus uneingeschränkter<br />
“accountability”, “responsivity” 22 und (“party”)-political<br />
competition” (nachfolgend ARC). Przeworski et al.<br />
unterscheiden “responsiveness” (auch: “mandate representation”)<br />
und “accountability” des Einflusses von Wahlen<br />
auf den Gehalt politischer Repräsentation 23 .<br />
Ausgangspunkt ist die Beobachtung, wonach Wähler<br />
sowohl nach “retrospektiven” (Evaluation von<br />
Regierungspolitik und Abstimmungsverhalten der Opposition)<br />
als auch “prospektiven” Maßstäben (inhaltliche<br />
Konvergenz mit den Wahlplattformen, Vertrauen in<br />
Was fängt die Demokratie mit der Zeit an?<br />
97<br />
Wahlversprechen, allgemeine <strong>Pro</strong>blemlösungskompetenz<br />
für zukünftige Herausforderungen etc.) über<br />
Parteien und Politiker urteilen 24 . Erstes meint die<br />
Artikulation von Interessen der Wähler in Richtung Politik,<br />
die diese in Wahlprogrammen bzw. Wahlversprechen<br />
übernehmen und - bis zu einem gewissen Grad - als<br />
Richtschnur ihrer tatsächlichen Politik verwenden. Zweites<br />
beschreibt die Entscheidung des Wählers als Abstimmung<br />
über die erbrachten politischen Leistungen einer<br />
Regierung.<br />
ARC trägt zu einer Verringerung der machtpolitischen<br />
Asymmetrie zwischen Politik und Volk bei. Eine offene<br />
Frage ist, wie mit der Machtverteilung quer zur<br />
festzustellenden Intensität des politischen Wettbewerbs<br />
um die Regierungsmacht umgegangen werden soll. Das<br />
betrifft neben der obligatorischen Berücksichtigung der<br />
vertikalen Gewaltenteilung die Interpretation der Rolle<br />
des Regierungschefs (in Parlamentsdemokratien) 25 . Gurr<br />
et al. identifizieren in ihrer “institutionalized democracy’<br />
drei Dimensionen: den Wettbewerbscharakter im Sinne<br />
Dahls, die Offenheit der Rekrutierung für Spitzenämter und<br />
die Machtposition des “chief executive” 26 . Die Ergebnisse<br />
dürfen jedoch durch ihre Konzentration auf die “polity”-<br />
Ebene in Bezug auf die tatsächliche Macht des<br />
Premierministers als statisch, in Hinblick auf die<br />
Veränderungen seines Einflusses und ihre Dynamik als<br />
äußerst träge angesehen werden. 27 Die Ergründung der<br />
Kräfteverhältnisse im Parlament (wie bei Pérez-Liñán) oder<br />
die Bestimmung des Regierungstypus (präsidentiell, semipräsidentiell,<br />
parlamentarisch 28 ) reichen jedenfalls nicht<br />
dazu aus, ein umfassendes Bild der politischen<br />
Wettbewerbsstrukturen zu zeichnen - schon gar nicht in<br />
ihrer Dynamik während einer Legislaturperiode. Andere<br />
Ansätze wie Vanhanens Index (Wahlbeteiligung mal 100<br />
minus <strong>Pro</strong>zentanteil der stärksten Partei) führen sogar zu<br />
einer verzerrten Wahrnehmung von<br />
Wettbewerbsintensität. 29<br />
Wie bereits angedeutet wurde, kennt die<br />
demokratiepolitische und performative Bejahung von<br />
“responsivity” der Regierenden in Repräsentativdemokratien<br />
Grenzen. Negative Züge trägt<br />
insbesondere der “Populismus”, obwohl er historisch eher<br />
unbelastet ist. “Output” und Logik von “electoral cycles”<br />
sind ebenso problematisch: Übertriebene Ausschläge<br />
solchen Verhaltens, sehr wohl bedingt durch existente<br />
wahlpolitische Anreize, schädigen die Volkswirtschaft und<br />
mittelfristig den politischen Wettbewerb und signalisieren<br />
demokratische Konsolidierungsprobleme. Ungarn mit<br />
seinen exorbitant hohen Budgetdefiziten und stark<br />
schwankenden Haushaltsausgaben darf hierfür als (negatives)<br />
Paradebeispiel gelten.<br />
Morlinos eindeutiges Bekenntnis gegen die “Westminster”-<br />
Demokratie setzt Nicht-Konsolidierung und<br />
eingeschränkten Wettbewerb voraus. Majoritäre<br />
Institutionen erscheinen dann vielmehr als Hemmnis auf<br />
dem Weg zur Stabilisierung und Garanten einer<br />
Verringerung von “accountability”, wohingegen neben<br />
Korporatismus auch Klientelismus als positive Phänomene<br />
betrachtet werden. 30 Erneut schimmert in dieser Haltung<br />
die für das beworbene <strong>Pro</strong>jekt unabdingbar zu leistende<br />
Beschreibung der Existenz bzw. des Ausmaßes vom<br />
Konsolidierungsbedarf im heutigen Ungarn durch. Es muss<br />
im Detail analysiert werden, wie sich die positive Funktion<br />
von “Responsivität” und ihre Beziehung zu Klientelismus<br />
und Korporatismus bei größerem Konsolidierungsbedarf<br />
verändert. Beide Phänomene sollten aber nicht<br />
vorschnell mit dem Prädikat<br />
“wettbewerbsunterdrückend” etikettiert werden.<br />
Im demokratischen Bedingungsgefüge (Kontext<br />
demokratisch-liberaler Konsolidierung) würde sich mein<br />
Zugang in einer Matrix wie folgt darstellen:
Identifikation<br />
Repräsentation<br />
“good governance”<br />
Responsivity<br />
Accountability<br />
Quelle: Eigene Darstellung<br />
Das Hauptgewicht der Bestimmung demokratischer<br />
Qualität im vorliegenden Kontext ist an der Schnittstelle<br />
zwischen “Input” im bzw. in das politische System und den<br />
politischen Entscheidungsprozess (Regierung, Parlament,<br />
Verfassungsgerichtshof etc.) zu verorten. In der Matrix<br />
wäre das Ideal von Wettbewerbsdemokratie - in einer<br />
demokratischen “Idealbesetzung” von Gesellschaft - als<br />
Fusion von “responsivity” und “accountability”<br />
vorzustellen. Die gegenläufige Tendenz einer Reduktion<br />
von Wettbewerb wohnt demgegenüber Verbindungen<br />
von Populismus und Klientelismus inne. Da es sich hier für<br />
alle vier Felder um idealtypische Konstruktionen handelt,<br />
sollte darauf hingewiesen, dass a. viele weitere<br />
Kombinationen möglich sind und b. selbst eine einseitige<br />
akteursspezifische Nutzenmaximierung in manchen<br />
Demokratiemodellen positive Aspekte haben kann. Die<br />
viel gescholtenen “Kartellparteien” 31 wären, grob<br />
gesprochen, als eine Kombination von “accountability”<br />
und Klientelismus anzusehen. Studien über die Motive<br />
politischer Akteure sind abseits (psycho-)biographischer<br />
Werke eher rar. Die Arbeiten über “vote-, office-, and<br />
policy-seeking” von Parteien oder ihre Rolle in der<br />
Veränderung der institutionellen Landschaft sind aber<br />
wichtige Ausgangspunkte. 32<br />
Die Wettbewerbsstruktur ist zumindest auf der Ebene des<br />
Parteienwettbewerbs ununterbrochen von Volatilität<br />
geprägt. Mitunter konkretisieren sich Wettbewerbsschübe<br />
oder veränderte Rahmenbedingungen aber in einzelnen<br />
(Nicht-)Entscheidungen politischer Akteure. Ein Beispiel<br />
aus Österreich: Selbst in einer strukturkonservativen Partei<br />
wie der ÖVP forcierten wesentliche Teile der Parteispitze<br />
nach der Wahlniederlage im Herbst 2006 eine zweigeteilte<br />
Führungsspitze im Sinne der “Präsidentialisierungsthese”.<br />
Neben die “klassische” Vergabe des Parteivorsitzes an<br />
einen bewährten Parteipolitiker (Molterer) sollte ein<br />
populärer Vertreter von außerhalb des Parteiapparates<br />
(Grasser) die Regierungsmannschaft anführen, womit die<br />
Spitzenkandidatur für die nächste NR-Wahl verbunden<br />
gewesen wäre. 33<br />
DIE NUTZBARKEIT VON ARC:<br />
ANWENDUNGSFORMEN UND IMPLIKATIONEN<br />
Akteursspezifische<br />
Nutzenmaximierung<br />
Populismus<br />
Klientelismus<br />
ARC hat den Vorteil, das Ausmaß des <strong>Pro</strong>duktes von<br />
politischen Repräsentanten allgemein und der politische<br />
Exekutivmacht und Autonomisierung vom artikulierbaren<br />
Willen des im Zeitverlauf zu rekonstruieren oder, was<br />
vielleicht spannender ist, zu prognostizieren. Es reagiert<br />
sensibel auf Verschiebungen demokratischer Güte in<br />
ausgewählten Teilbereichen des Wettbewerbsregimes.<br />
Dieses <strong>Pro</strong>jekt ist auf der Basis noch zu erarbeitender<br />
Indikatoren und deren Gewichtung messbar und<br />
erleichtert damit politische Kontrolle (siehe Campbell/<br />
Schedler oder “democratic audit”).<br />
Der vorgetragene Ansatz verspricht zudem neue<br />
Anhaltspunkte in den hitzigen Diskussionen um die<br />
Leistungsbilanz von Wettbewerbs- und<br />
Konkordanzdemokratien 34 , weil er prinzipiell auf alle<br />
Realtypen politischer Systeme angewendet werden kann.<br />
Die auf den ersten Blick erkennbare Nähe zur<br />
Was fängt die Demokratie mit der Zeit an?<br />
98<br />
Konkordanzdemokratie mit ihren charakteristischen, sogar<br />
programmatischen machtteilenden Arrangements<br />
relativiert sich durch die Bindung von ARC an die<br />
Wettbewerbsintensität. In diesem Aspekt darf wiederum<br />
die Mehrheits- bzw. Konkurrenzdemokratie als überlegen<br />
eingestuft werden, womit eine Art “Waffengleichheit”<br />
eintritt. ARC ist keine Funktion des Typus Mehrheit oder<br />
Konsens: Zum Beispiel liegen Abwahl- und<br />
Wiederwahlhäufigkeit von Regierungen im britischen<br />
“Westminster”-Regierungssystem und im “semisouveränen”<br />
Deutschland auf demselben Niveau.<br />
Ähnliches gilt für die Amtszeit des Premiers bzw. Kanzlers.<br />
Der Premierminister hat sehr wohl ein erweitertes Potential<br />
zur Wahrnehmung von “political leadership”, doch war<br />
Adenauer mächtiger als Wilson und Schmidt einflussreicher<br />
als Callaghan. 35 Entscheidend ist die Formel “Mehr Macht<br />
ist gleich mehr Wettbewerb”.<br />
Ein weiterer Vorteil drängt sich auf: Es wird eine für die<br />
Beurteilung der “new democracies” wenig vorteilhafte<br />
Allianz einer Orientierung an Vorbildern konsolidierter<br />
westlicher Demokratien und demokratietheoretischer Postulate<br />
vermieden, an deren Ideal diese zwangsläufig<br />
scheitern müssen. Die ARC-Analyse lässt die Möglichkeit<br />
einer demokratiequalitativen Gleichwertigkeit oder sogar<br />
(temporären) Überlegenheit der “neuen” im Vergleich zu<br />
den “älteren” Demokratien im Teilregime des -<br />
ausdrücklich weit gefassten - politischen Wettbewerbs zu.<br />
Ein Beispiel: Als eines der ersten mittel- und<br />
osteuropäischen Länder (zuzüglich jener im<br />
postsowjetischen Raum) brachte Ungarn eine<br />
wiedergewählte Regierung vor (2006). Die bisherige Praxis<br />
bestand ausnahmslos in Niederlagen der regierenden<br />
Koalitionen. In einigen Demokratien Westeuropas ist das<br />
gegensätzliche Extrem beobachtbar: sei es erkauft durch<br />
Minderheitenregierungen wie in Schweden oder “Große<br />
Koalitionen” in Österreich. Mehr- und Vielparteiensysteme<br />
nehmen dem Wähler oft die Möglichkeit direkt über die<br />
Zusammensetzung zu entscheiden: Obwohl<br />
Koalitionsfestlegungen vielfach entscheidende Teile von<br />
Wahlkampagnen sind, hängt die Koalitionsbildung nach<br />
der Wahl von Parteienverhandlungen und dem<br />
Wahlergebnis ab - das die Parteien mitunter zwingt,<br />
vorherige Aussagen abzuändern, um überhaupt eine<br />
tragfähige Mehrheit bilden zu können. In Belgien schließen<br />
sich bevorzugt Wahlverlierer zu einer Regierungskoalition<br />
zusammen; in der dortigen Konkordanzdemokratie<br />
allerdings auch eine Barriere gegenüber radikaleren<br />
Parteien, welche die Populismus- oder Demagogie- oder<br />
sonstige Prämie der Mobilisierung von Minderheiten (oft<br />
gegen andere Minderheiten und damit das<br />
Konkordanzsystem im Ganzen) nicht in<br />
Regierungsverantwortung umsetzen können.<br />
Alle diese Facetten des politischen <strong>Pro</strong>zesses in liberalen<br />
Demokratien sollen nicht verdecken, dass sich die<br />
Regierungssysteme einen notwendigen Spielraum für<br />
selbstgesteuertes Handeln bewahren. Verhandlungen<br />
zwischen Staat und NGO’s etwa finden im “Schatten der<br />
Hierarchie”, sprich unter dem Organisations- und<br />
überwiegend auch dem Entscheidungsprimat staatlicher<br />
Agenturen statt. Wie sonst wäre die von manchen<br />
beklagte Zurückdrängung sozialpartnerschaftlichen<br />
Einflusses während der Kanzlerschaft Wolfgang Schüssels<br />
möglich gewesen, obwohl dessen Partei selbst “bündisch”<br />
aufgebaut ist, Wirtschafts- und Landwirtschaftskammer<br />
politisch dominiert und den Sozialpartnern im Rahmen des<br />
Begutachtungsverfahrens für Bundesgesetze privilegierte<br />
Rechte eingeräumt sind? Schließlich: Falls der Wähler<br />
durch seine Wahlentscheidung ohnehin für die Verteilung<br />
der Macht zwischen den Parteien zuständig wäre, wie<br />
könnte dann ein Politiker wie Schüssel trotz mäßiger<br />
Beliebtheit ein starker Parteiführer gewesen sein? Er verlor<br />
als Parteiobmann bzw. Spitzenkandidat die<br />
Nationalratswahlen der Jahre 1999 und musste bereits
1995 einen wachsenden Rückstand zur SPÖ verantworten,<br />
sodass drei von vier Wahlen unter seiner Ägide eine<br />
Niederlage darstellen. Schüssel machte dieses Manko wett<br />
- durch sein Image als dennoch bravouröser Wahlkämpfer,<br />
vor allem aber die ihm von Freund und Feind<br />
zugeschriebene Brillanz als Verhandlungstaktiker.<br />
Schließlich könnte der beschriebene Zugang Material für<br />
die “Politische Bildung” zur Verfügung stellen mit dem<br />
Zweck, eine realistische Sichtweise auf das Verhalten<br />
politischer Akteure zu entwickeln; im Besonderen in der<br />
Illustration ihrer Verwobenheit und wechselseitigen<br />
Bedingung. Diesbezüglich herrscht gegenwärtig (noch)<br />
vielerorts mangelndes Verständnis. Die in Forschung und<br />
Wahrnehmung der Bürger traditionell unterbewertete Rolle<br />
der parlamentarischen und außerparlamentarischen<br />
politischen Opposition dient als Beleg. In einer Epoche<br />
zunehmender Politik- oder passender<br />
Politikerverdrossenheit könnte eine realistische,<br />
“abgeklärtere” (wenngleich nicht leidenschaftslose)<br />
Sichtweise auf den politischen <strong>Pro</strong>zess und die Funktionen<br />
einzelner politischer Akteure vor dem Verfall in Agonie und<br />
Apathie bewahren.<br />
Die Synthese der Ergebnisse soll, nochmals in einem kurzen<br />
Satz präsentiert, der normativen Grundlage folgend aus<br />
negativem Blickwinkel darstellen: Je ausgeprägter der<br />
Charakter von “Demo-Autorität” und “delegative democracy”,<br />
also zeitlich limitierter Demokratiequalität, desto<br />
wichtiger ist die Einhegung von Exekutiv- und individueller<br />
Politikermacht.<br />
FUßNOTEN<br />
1 Vgl. Samuel P. Huntington, The Third Wave. Democratization<br />
in the Late Twentieth Century, Oklahoma 1991.<br />
2 Peter Grafe, Wahlkamp. Die Olympiade der Demokratie,<br />
Frankfurt/Main 1994.<br />
3 Zu “political leadership” als unverwechselbarer und<br />
“innengeleiteter”, das heißt autonomer Führungsleistung<br />
eines Einzelnen siehe David Wineroither, “Herrschen lernt<br />
sich leicht, regieren schwer” - “Leadership” und<br />
Herrschaftsform im Deutschland des 20. Jahrhunderts,<br />
Frankfurt/Main et al. 2007.<br />
4 Vgl. Hartmut von Hentig, Die große Beschwichtigung -<br />
Zum Aufstand der Studenten und Schüler, in: Merkur (22)<br />
1968, Seite 385-400.<br />
5 Die “political leadership”-Typologie bei Blondel verortet<br />
Politiker bzw. Diktatoren in einer Matrix aus Ausmaß und<br />
Dynamik politischen Wandels. Vgl. Jean Blondel, Political<br />
Leadership. Towards a General Analysis, London - Beverly<br />
Hills 1987, Seite 97.<br />
6 Vgl. Adam Przeworski, Democracy and the Market. Political<br />
and Economic Reforms in Eastern Europe and Latin<br />
America, New York - Cambridge 1991, Seite 12-13.<br />
7 Anthony Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie,<br />
dt. Übersetzung, Tübingen 1968.<br />
8 Kritik und Würdigung bei Manfred G. Schmidt,<br />
Demokratietheorien. 3. Auflage, Opladen 2000.<br />
9 Einen Ausweg aus der “black box” von Präferenzen und<br />
Handlungen zur Bestimmung von “prime ministerial power”<br />
versuchten etwa Francesco Cavatorta / Eoin O’Malley,<br />
Finding a party and losing some friends: Overcoming the<br />
weaknesses of the Prime Ministerial Figure in Italy, in: Contemporary<br />
Politics, 10 (3) 2004, Seite 271-286 zu finden,<br />
indem sie seine Durchsetzungsfähigkeit im<br />
Vetospielerkontext ergründen.<br />
10 Vgl. Samuel Kernell, From Going Public: New Strategies<br />
of Presidential Leadership, Washington 1986.<br />
11 Robert A. Dahl, Polyarchie. Participation and Opposition,<br />
New Haven - London 1971, Seite 5.<br />
12 Dirk Berg-Schlosser, The quality of democracies in Europe<br />
as measured by current indicators of democratization<br />
and good governance”, in: Journal of Communist<br />
Studies and Transition Politics, 20 (1) 2004, Seite 28-55, Seite<br />
30.<br />
13 Vgl. Wolfgang Merkel et al., Defekte Demokratie. Band<br />
1: Theorie, Opladen 2003.<br />
14 Karl Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Auflage,<br />
Tübingen 1969, Seite 93-94.<br />
15 Vgl. David Collier / Steven Levitsky, Democracy with<br />
Adjectives: Conceptual Innovation in Comparative Research,<br />
in: World Politics 3/1997, Seite 430-451.<br />
16 Vgl. Andreas Schedler / Rodolfo Sarsfield, Democrats<br />
with adjectives: Linking direct and indirect measures of<br />
democratic support, in: European Journal of Political Research<br />
46: 637-659, 2007.<br />
17 Vgl. Carsten Q. Schneider, The Consolidation of Democracy.<br />
Comparing Europe and Latin America, London<br />
- New York 2008 (forthcoming).<br />
18 Vgl. Wolfgang C. Müller/ Kaare Strom (Hg.), Policy, Office,<br />
or Votes? How Political Parties in Western Europe<br />
Make Hard Decision, Cambridge 1999.<br />
19 Ein prägnantes Beispiel ist die oberösterreichische<br />
Landtagswahl 2003: Die SPÖ legte nach einem<br />
aggressiven und populistischen, primär die<br />
Unzufriedenheit mit der Bundesregierung<br />
thematisierenden Wahlkampagne im Vergleich mit dem<br />
Ergebnis von 1997 um über 11% zu. Die ÖVP stagnierte,<br />
ihr Vorsprung schmolz von knapp 16% auf 5%.<br />
Aussagekräftiger ist aber der Umfragestand aus dem Jahr<br />
2000: Damals signalisierten mehrere Umfragen eine absolute<br />
Stimmenmehrheit der “Volkspartei” und ein<br />
beispielloses Tief der SPÖ bei 23%!<br />
20 Vgl. Powell, Responsiveness, Seite 93.<br />
Was fängt die Demokratie mit der Zeit an?<br />
99<br />
21 Vgl. Aníbal Pérez-Liñán, Neoinstitutional Accounts of<br />
Voter Turnout: Moving Beyond Industrial Democracies”,<br />
in: Electoral Studies, 20 (2) 2001, Seite 281-297.<br />
22 In seinem Überblick über die “accountability”-Konzepte<br />
in der Demokratie- und Demokratisierungsforschung<br />
verweist Schmitter unter anderem auf “corporate social<br />
accountability,” “communitarian responsiveness,” and<br />
“individual moral responsibility.” (Philippe C. Schmitter, The<br />
Ambiguous Virtues of Accountability, in: Journal of Democracy,<br />
15 (4) 2004, Seite 47-60, Seite 48) Die Bedeutung<br />
der für das Forschungsprojekt vorgesehenen Konzepte<br />
wird unter dem Punkt “Arbeitsschritte” eingehender<br />
erläutert.<br />
23 Adam Przeworski / Susan C. Stokes / Bernard Manin<br />
(Hg.), Democracy, Accountability, and Representation,<br />
Cambridge 1999.<br />
24 Vgl. Morris P. Fiorina, Retrospective Voting in American<br />
National Elections, New Haven 1981.<br />
25 Zur negativen Korrelation von “political leadership” und<br />
(konsolidierter) Demokratie siehe Anton Pelinka, Politics
of the Lesser Evil. Leadership, Democracy and Jaruzelski’s<br />
Poland, New Brunswick 1998.<br />
26 Vgl. Monty G. Marshall, Keith Jaggers and Ted Robert<br />
Gurr, Polity IV: Political Regime Characteristics and Transitions,<br />
1800-2001 (Maryland, MD: University of Maryland,<br />
Integrated Network for Societal Conflict Research, Centre<br />
for International Development and Conflict Management,<br />
2001.<br />
27 Der internationale Bedeutungswandel des Premiers<br />
geht nicht auf Veränderungen in seinen<br />
verfassungsmäßigen Rechten zurück. Vgl. Thomas<br />
Poguntke / Paul Webb, The Presidentialization of Politics.<br />
A Comparative Study of Modern Democracies, Oxford<br />
2005; Eoin O’Malley, The Power of Prime Ministers: Results<br />
of an Expert Survey, in: International Political Science<br />
Review, 28 (1) 2007, Seite 7-27.<br />
28 Vgl. Jack Bielasiak, Party Competition in Emerging Democracies:<br />
Representation and Effectiveness<br />
in Post-communism and Beyond, in: Democratization, 12<br />
(3) 2005, Seite 331-356.<br />
29 Tatu Vanhanen, <strong>Pro</strong>spects of Democracy: A Study of<br />
172 Countries, London 1997. Für einen präziseren Entwurf<br />
vgl. Andreas Schedler, Zur (nichtlinearen) Entwicklung des<br />
Parteienwettbewerbs (1945 bis 1994), in: Österreichische<br />
Zeitschrift für Politikwissenschaft, 1/1995, Seite 17-34.<br />
30 Leonardo Morlino, Anchors and Democratic Change,<br />
in: Comparative Political Studies, 38 (7) 2005, Seite 743-<br />
770, Seite 748.<br />
31 Vgl. Richard S. Katz / Peter Mair, Changing Models of<br />
Party Organization and Party Democracy. The Emergence<br />
of the Cartel Party, in: Party Politics, 1 (1) 1995, Seite 5-28.<br />
32 Siehe zum Beispiel Shaun Bowler / Todd Donovan / Jeffrey<br />
A. Karp, Why Politicians Like Electoral Institutions: Self-<br />
Interest, Values, or Ideology?, in: The Journal of Politics, 68<br />
(2) 2006, Seite 434-446.<br />
33 Vgl. David Wineroither, Bundespräsident und<br />
Bundeskanzler: Konsens, Konflikt oder Neutralität, in:<br />
Andreas Khol et al. (eds.), Österreichisches Jahrbuch für<br />
Politik 2006, München - Wien 2007, Seite 603-623, Seite 620-<br />
621.<br />
34 Zur Unterscheidung selbst siehe Arend Lijphart, Patterns<br />
of Democracy. Government Forms and Performance in<br />
Thirty-Six Countries, New Haven - London 1999.<br />
35 Vgl. Ludger Helms, Presidents, Prime Ministers and Chancellors.<br />
Executive Leadership in Western Democracies,<br />
London - New York 2005.<br />
David Wineroither, geb. am 14. Dezember 1981, Politologe, Research Fellow an der “Ungarischen Akademie der<br />
Wissenschaften”. Bei <strong>Pro</strong> <strong>Scientia</strong> seit 2006.<br />
Was fängt die Demokratie mit der Zeit an?<br />
100
<strong>ZEIT</strong> Geschichte
„Insgesamt ist somit das Panorama äußerst komplex“<br />
Horst Pietschmann<br />
1. EINLEITUNG<br />
Das Überthema des diesjährigen Readers von <strong>Pro</strong><br />
Sciencia lautet “Zeit”, deshalb wählte ich den etwas<br />
sperrigen Titel “Antihispanismus gestern und heute - die<br />
`Schwarze Legende´ seit Beginn der Neuzeit bis zu<br />
`Zeitbilder 2000´”. Dies soll folgende Tatsache deutlich<br />
machen: Anti-Ideologien sind sehr zeitbeständig, so auch<br />
der Antihispanismus. Mit den Wurzeln in der frühen Neuzeit<br />
prägte er ein Bild von Spaniens Geschichte, das, obwohl<br />
von der Geschichtswissenschaft längst widerlegt, heute<br />
in den Köpfen vieler Zeitgenossen gegenwärtig ist, und<br />
auch in Geschichtslehrbücher wie Zeitbilder 6, 2000<br />
eingeflossen ist.<br />
Das Phänomen einer antispanischen „Schwarzen<br />
Legende“, das in der akademischen Diskussion in den<br />
spanischsprachigen und angelsächsischen Ländern ein<br />
Thema von Interesse darstellt, ist bislang in der<br />
deutschsprachigen Forschung, abgesehen von einigen<br />
Ausnahmen, noch wenig bearbeitet worden.<br />
Rückständig, finster, intolerant, faul und vor allem: extrem<br />
grausam – viele Spanier leiden unter ihren traditionellen<br />
Stereotypen. In diesem Zusammenhang ist vor allem die<br />
Darstellung der Kolonisierung Hispanoamerikas von<br />
Bedeutung. Im österreichischen Lehrbuch für Geschichte<br />
Zeitbilder 6, 2000 wird den Lernenden eine Textstelle aus<br />
Bartolomé de Las Casas Brevísima Relación de la<br />
Destrucción de las Indias, einer polemischen<br />
Anklageschrift des 16. Jahrhunderts, als sachliche Quelle<br />
zur Behandlung der autochthonen Bevölkerung in den<br />
spanischen Kolonien vorgestellt. Demnach „wissen“ wir<br />
von Las Casas „wie der Erlass [des spanischen Königs zur<br />
Behandlung der Indios] umgesetzt wurde“ 1 . Danach wird<br />
eine Stelle des besagten Werkes zitiert, die die Spanier<br />
als schreckliche Barbaren darstellt und äußerst<br />
anschaulich über Gräueltaten an der einheimischen<br />
Bevölkerung Westindiens berichtet:<br />
Die neugeborenen Kinder konnten sich nicht entwickeln,<br />
weil die Mütter, von Anstrengung und Hunger erschöpft,<br />
keine Nahrung für sie hatten [...] einige Mütter erdrosselten<br />
vor Verzweiflung ihre Kinder. […] Sie [die spanischen<br />
Aufseher] gaben [den Indios] Stock- und Rutenhiebe,<br />
Peitschenschläge, Fußtritte und nannten sie nie anders<br />
als Hunde. Als Ergebnis kann man annehmen, dass in den<br />
vierzig Jahren mehr als 12 Millionen Männer, Frauen und<br />
Kinder getötet worden sind. 2<br />
Es ist eine Tatsache, dass die conquistadores mit echter<br />
Brutalität vorgegangen sind, dennoch ist diese Textstelle<br />
stark tendenziös und auch historisch nicht korrekt, wie im<br />
Laufe des Beitrags klar werden wird. Das Verhalten<br />
Spaniens in den Kolonien scheint in diesem Lehrbuch auf<br />
den Gewaltaspekt reduziert zu sein, während eine Seite<br />
später, wo von den Eroberungen der Holländer,<br />
Engländer und Franzosen gesprochen wird, in keinem<br />
einzigen Wort der Gewalt dieser Völker gegenüber den<br />
eingeborenen Stämmen gedacht wird. Die Quelle Las<br />
Casas zur Schilderung der spanischen Grausamkeiten<br />
wird dem gegenüber im Vergleich zu anderen<br />
abgedruckten Quellen im Lehrbuch sogar<br />
überdurchschnittlich lange zitiert.<br />
Das Phänomen einer antihispanistischen Darstellung der<br />
Geschichte, die die Brutalität der Spanier in ihren Kolonien<br />
mit besonderem Nachdruck unterstreicht, wird in der<br />
historischen Wissenschaft als „leyenda negra“, „Schwarze<br />
Legende“ bezeichnet. Diese Legende prägt das<br />
<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />
Roland BERNHARD<br />
Antihispanismus gestern und heute<br />
Die „Schwarze Legende“ seit Beginn der Neuzeit bis zu „Zeitbilder 2000“<br />
Antihispanismus gestern und heute<br />
102<br />
historische Bewusstsein und hat hispanophobe Vorurteile<br />
in das Geschichtsbild vieler Menschen eingeprägt.<br />
In diesem Beitrag soll in einem ersten Punkt dem Begriff<br />
der „Schwarzen“ wie auch einer Spanien verherrlichenden<br />
„Weißen Legende“ auf den Grund gegangen werden.<br />
Danach wird aufgezeigt, wie neuere Erkenntnisse der<br />
Geschichtswissenschaft dem Begriff „Schwarze Legende“<br />
seine Berechtigung verleihen, indem Aspekte der<br />
Kolonialgeschichte dargelegt werden, die das Schwarz-<br />
Weiß-Schema durchbrechen und Graustufen erkennen<br />
lassen.<br />
2. DIE „SCHWARZE“ UND DIE „WEIßE LEGENDE“<br />
Julian Juderías hat im Jahr 1913 den Begriff leyenda negra<br />
geprägt, der folgendes Phänomen bezeichnet: Es gibt<br />
eine Legende über Spanien, die in breiten Kreisen als eine<br />
objektive Darstellung der Vergangenheit angesehen wird.<br />
Durch diese sind seit dem 15. Jahrhundert negative<br />
Stereotypen in propagandistischer Weise über Spanien<br />
verbreitet worden. Die leyenda negra kann als ein Teil einer<br />
„Ideologie“ 3 bezeichnet werden, durch die bewusst eine<br />
spanienfeindliche Stimmung geschürt worden ist. Juderías<br />
erklärt dies folgendermaßen:<br />
Unter „leyenda negra“ verstehen wir die Stimmung, die<br />
durch fantastische Erzählungen über unsere Heimat [...]<br />
geschaffen wurde, die grotesken Beschreibungen, die<br />
man über den Charakter der Spanier als Individuen und<br />
als Kollektiv gemacht hat, [...] die Anschuldigungen, die<br />
zu aller Zeit gegen Spanien gerichtet wurden, und in denen<br />
man sich auf übertriebene, schlecht interpretierte oder<br />
gänzlich falsche Tatsachen stützte. 4<br />
Es handelt sich gemäß Juderías um „fantastische<br />
Erzählungen“ über Spanier, die ein Bild geprägt haben,<br />
das nicht der Realität entspricht. Ein wichtiger Aspekt der<br />
„Schwarzen Legende“ ist, wie schon erwähnt, das<br />
Verhalten der conquistadores bei der Eroberung und<br />
Kolonisierung der Neuen Welt. Ihnen wird vorgeworfen, in<br />
unvergleichbarer Weise grausam gewesen zu sein, die<br />
Indianer unterdrückt und ihre Kultur zerstört zu haben.<br />
Grausames Wüten und sinnlose Barbarei seitens der<br />
Spanier wären auf der Tagesordnung gestanden. Es wird<br />
sogar von „Genozid“ 5 gesprochen. Sind das nun alles<br />
fantastische Erzählungen?<br />
Einige Argumente scheinen dagegen zu sprechen: Gut<br />
zwei Jahrzehnte nach der ersten Landung der Europäer<br />
auf den karibischen Inseln, ist die autochthone<br />
Bevölkerung schon stark dezimiert. Auch in Mexiko lebten<br />
im Jahr ca. 12.000.000 Einwohner, im Jahr 1570 zählten<br />
spanische Zensuslisten nur mehr 3,72 Millionen, im Jahr 1650<br />
gar nur mehr 900.000 Personen indigenen Ursprungs. 6 Der<br />
Bevölkerungsrückgang nach der Ankunft Kolumbus wird<br />
regional unterschiedlich auf 80-98% geschätzt. 7 Für einen<br />
neutralen Beobachter drängt sich sofort der Gedanke auf,<br />
die Spanier mussten dort arg gewütet haben, damit<br />
dergleichen passieren konnte. Auch einige<br />
zeitgenössische Quellen erwecken Entsetzen: Pedro de<br />
Valdivia schreibt dem König im Jahr 1550, dass die<br />
Araukaner sich nicht unterwerfen haben wollen,<br />
weswegen er nicht vergessen hat, sie zu bestrafen: „Ich<br />
habe befohlen, dass man 200 von ihnen die Nase und<br />
die Hände abschneidet.“ 8<br />
Kann angesichts solcher Fakten von einer „Schwarzen<br />
Legende der Kolonisierung Lateinamerikas“ gesprochen<br />
werden? Lange Zeit hat, vor allem in Spanien, eine „Weiße
Legende“ vorgeherrscht. Es waren dies Bilder, die viele<br />
Iberer lange Zeit von ihrer eigenen Vergangenheit hegten 9<br />
und die gekennzeichnet waren durch den Heroismus der<br />
conquistadores, die den menschenfressenden Indianern<br />
endlich ein wenig Zivilisation beibrachten. Die Eroberung<br />
der Neuen Welt wäre eine großartige Erlösungstat der<br />
Spanier gewesen, die die Lehren des Abendlandes an die<br />
abergläubigen Indianer vermittelte. Auch dies entspricht<br />
nicht der historischen Wirklichkeit. Ebenso, wie die „Weiße<br />
Legende“ eine Verdrehung der Geschichte darstellt, die<br />
oft für politische Zwecke und zur Identitätsstifung<br />
instrumentalisiert worden ist, ist auch die „Schwarze<br />
Legende“ für ideologische Zwecke bewusst geschaffen<br />
worden, wie weiter unten noch ausgeführt werden wird.<br />
Es ist insofern gerechtfertigt von einer „Schwarzen<br />
Legende“ zu sprechen, als sich nachweisen lässt, dass in<br />
der Darstellung der Eroberung und Kolonisierung<br />
Hispanoamerikas seit der Frühen Neuzeit eine sehr<br />
einseitige Fokussierung auf Gewalt und Brutalität besteht.<br />
Obwohl die anderen europäischen Völker der frühen<br />
Neuzeit in keiner Weise milder mit „dem Anderen“<br />
umgegangen sind, wird vor allem immer wieder Spanien<br />
in diesem Zusammenhang als Negativbeispiel hingestellt.<br />
Viele Aspekte der spanischen Kolonisierung werden dabei<br />
einfach ausgeblendet. Einige davon sollen hier aufgezeigt<br />
werden.<br />
In der Geschichtswissenschaft ist die „Schwarze Legende“<br />
heute schon flächendeckend und auch interdisziplinär<br />
untersucht und die Existenz einer leyenda negra<br />
antiespañola unbestritten. Im Jahr 2001 erschien die<br />
Hablitation von Peer Schmidt in Buchform, 10 in der die<br />
antispanische <strong>Pro</strong>paganda insbesondere zur Zeit des<br />
Dreißigjährigen Krieges aufgearbeitet wurde. Der Begriff<br />
leyenda negra wird in neueren historischen und<br />
literarischen Lehrbüchern und Überblickswerken<br />
verwendet. Beispiele dafür sind die beiden Reclam<br />
Standartwerke Kleine Geschichte Spaniens aus dem Jahr<br />
2004 (in einem Artikel des Historikers Friedrich Edelmayer) 11<br />
und Martin Franzbachs Geschichte der spanischen<br />
Literatur im Überblick aus dem Jahr 2002. 12 Auch der<br />
Grazer Romanist Klaus-Dieter Ertler verwendet 2002 in<br />
seinem Standartwerk zum lateinamerikanischen Roman<br />
den Begriff „leyenda negra“, 13 ebenso wie Hanns Prem in<br />
seinem Oldenbourg Grundriss der Geschichte zu<br />
Altamerika, für den die „leyenda negra“ 14 eine „unkritisch<br />
negative Sichtweise der spanischen Eroberung“ ist.<br />
Der Sprachwissenschaftler Jesús Troncoso García legte<br />
eine Studie vor, in der er nachwies, dass die<br />
antihispanistischen Bilder, die im 16. und 17. Jahrhundert<br />
geformt wurden, noch heute in didaktischen Texten in<br />
Amerika und Europa gegenwärtig sind. Es kommt dabei<br />
zu „Desinformation“ und „Manipulation“ 15 in Bezug auf<br />
die Geschichte der conquista.<br />
3. EINIGE ASPEKTE DER GRAUEN REALITÄT<br />
3.1 Bevölkerungsverluste<br />
Eroberungen und Kriege sind prinzipiell von Gewalt<br />
gekennzeichnet. Wo Krieg herrschte, kam es zu allen<br />
Zeiten, in allen Kulturen und unter allen Völkern zu<br />
Gräueltaten. Auch die spanischen Eroberer haben diese<br />
Tradition nicht unterbrochen. Festgehalten werden muss,<br />
dass die Frühe Neuzeit eine für unsere Begriffe sehr<br />
gewaltbereite Zeit war 16 und dass kein europäisches Volk<br />
in dieser Hinsicht eine Ausnahme darstellte.<br />
Die Eroberung Lateinamerikas, die die conquistadores mit<br />
von den Inkas und den Azteken unterworfenen und in<br />
Gewaltherrschaft dominierten Völkern gemeinsam<br />
durchgeführt haben, brachte eine Zeit des Krieges hervor.<br />
Nach ein paar Jahren stellte sich in den meisten Gebieten<br />
<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />
Antihispanismus gestern und heute<br />
103<br />
eine relativ ruhige Friedenszeit ein. Die indigenen Eliten<br />
arrangierten sich großteils mit den Spaniern und besetzten<br />
weiterhin einflussreiche Stellungen in der<br />
Kolonialgesellschaft. 17 Es entwickelte sich ein relativ<br />
stabiles Gesellschaftssystem und während in Europa ein<br />
Krieg nach dem anderen tobte und Aufstände an der<br />
Tagesordnung waren, blieb Lateinamerika mehr als 200<br />
Jahre lang großteils davon verschont. Natürlich baute<br />
diese Gesellschaft in hohem Maß auf Unterdrückung und<br />
Ausbeutung von indigenen Arbeitskräften auf, doch muss<br />
erwähnt werden, dass Unterdrückung und Ausbeutung<br />
ebenso im Europa jener Zeit in großem Stil praktiziert<br />
wurden und die spanischen Kolonisatoren diesbezüglich<br />
keine Ausnahme darstellten.<br />
Trotz dieser relativ ruhigen Zeit starben die Indianer in<br />
Massen weiter. Die Ursache dieses Sterbens lag zum<br />
größten Teil in Krankheiten, die von den Spaniern<br />
importiert wurden, und denen das Immunsystem der<br />
amerindischen Bevölkerung nicht gewachsen war.<br />
Lateinamerika, von den Seuchenzügen Eurasiens bis 1492<br />
verschont, kam plötzlich in Kontakt mit Pocken,<br />
Diphtherie, Masern und Typhus, was zu den starken<br />
Verlusten unter der autochthonen Bevölkerung bis ca.<br />
1650 führte. Die spanische Krone versuchte massiv, dem<br />
entgegen zu wirken. Am dramatischen Rückgang der<br />
Zahl der Indianer ist darüber hinaus auch die Vermischung<br />
der Indios mit den Spaniern beteiligt, die „eine<br />
kontinuierlich ansteigende Mischlingsbevölkerung<br />
entstehen ließ, die schließlich [in diesem Fall] im modernen<br />
Mexiko zum beherrschenden Bevölkerungselement<br />
aufstieg.“ 18<br />
In der Textstelle von Las Casas in Zeitbilder 6, 2000 werden<br />
Stock- und Rutenhiebe, Peitschenschläge und Fußtritte<br />
der Spanier für den Tod von 12 Millionen Menschen<br />
verantwortlich gemacht. Durch diese Darstellung besteht<br />
kein Zweifel daran, dass die Spanier den Tod der 12<br />
Millionen Indios bewusst herbeigeführt hätten. Angesichts<br />
der wirklichen Ursachen für die Menschenverluste und<br />
den Versuchen von Seiten der spanischen Krone und der<br />
Kirche dem entgegen zu wirken, wird offensichtlich, wie<br />
unrichtig diese Darstellung ist.<br />
3.2 Aus Selbstkritik wird <strong>Pro</strong>paganda<br />
Ein anderer Aspekt, der es wert ist, beachtet zu werden,<br />
ist, dass die Spanier bald nach der Entdeckung Amerikas<br />
ihr Verhalten den Indianern gegenüber kritisch reflektiert<br />
haben. Schon in der ersten Zeit nach der Entdeckung war<br />
die Behandlung der einheimischen Bevölkerung ein<br />
wichtiger Gegenstand spanieninterner Debatten. 19 Der<br />
spanische Dominikaner Antonio de Montesinos trug im<br />
Jahr 1511 mit seiner Kritik an den Praktiken der<br />
Kolonisatoren dazu bei, dass die spanische Krone im Jahr<br />
1512 die „Leyes de Burgos“ erließ, die den Indianern<br />
zumindest theoretisch Schutz zukommen ließen. Die<br />
indianerfreundliche Partei gewann in Spanien immer<br />
mehr an Boden, 20 und der innerspanische Diskurs, der sich<br />
in der Folge besonders in der Schule von Salamanca<br />
entwickelte, trug durch Denker wie Francisco de Vitoria<br />
und unter dem Einfluss des Papstes maßgeblich zum<br />
Entstehen des Völkerrechts bei. Von Spanien beeinflusst<br />
erließ Papst Paul III. im Jahr 1537 die Bulle Sublimis Deus,<br />
worin er sich folgendermaßen ausdrückte: Allen die sich<br />
erdreisten zu behaupten, dass die Indianer den<br />
Kolonisatoren zu Gehorsam verpflichtet wären als seien<br />
sie Tiere, oder die es wagen sie auf Knechtschaft zu<br />
reduzieren sei gesagt:<br />
dass die Indios und alle andern Völker, die künftig mit den<br />
Christen bekannt werden, auch wenn sie den Glauben<br />
noch nicht angenommen haben, ihrer Freiheit und ihres<br />
Besitzes nicht beraubt werden dürfen; vielmehr sollen sie<br />
ungehindert und erlaubterweise das Recht auf Besitz und
Freiheit ausüben und sich dessen erfreuen können. Auch<br />
ist es nicht erlaubt, sie in den Sklavenstand zu versetzen.<br />
Alles was diesen Bestimmungen zuwiderläuft, sei null und<br />
nichtig. 21<br />
Diese Bulle wirkte auch auf den Theologen Vitoria, der<br />
mit seinen rechtsphilosophischen Abhandlungen das<br />
spanische Geistesleben nachhaltig prägte, und der<br />
aufgrund seines Werkes De Indis (1539) als Begründer des<br />
modernen Völkerrechts gilt. 22 Anders formuliert bedeutet<br />
dies, dass in Spanien während der Kolonisierung und<br />
durch die Frage, wie mit „dem Anderen“ umgegangen<br />
werden soll, das moderne Völkerrecht entstand.<br />
In diesem Zusammenhang muss auch die berühmte<br />
Brevísima Relación de la Destrucción de las Indias des<br />
Bischofs und Spaniers Bartolomé de Las Casas gesehen<br />
werden, die anfangs schon zitiert worden ist. Die Erzählung<br />
war als ein innerspanischer Diskussionsbeitrag gedacht,<br />
in der Las Casas auf die schlechte Behandlung der Indios<br />
von Seiten einiger spanischer Kolonisatoren aufmerksam<br />
machen wollte. Mit zahlreichen blutrünstig und einseitig<br />
dargestellten Übertreibungen und Ausschmückungen der<br />
Geschichten der Eroberungen trat er 1542 mit seiner<br />
Anklageschrift vor Kaiser Karl V. und präsentierte diese,<br />
um mit allen Mitteln schärfere Gesetze gegen spanische<br />
Kolonisten zu erzwingen. Das ist ihm auch gelungen, denn<br />
Karl V., aufgrund des Sterbens der Indios in den Kolonien<br />
immer stärker verunsichert, erließ am 20.11.1542 die Leyes<br />
Nuevas. Es waren dies für die damalige Zeit äußerst<br />
fortschrittliche „Neue Gesetze“, die die Indianer schützen<br />
und die Privilegien und Rechte der Spanier in Amerika<br />
einschränken sollten. 23<br />
Von spanischer Seite wurde dieses Ringen um die Rechte<br />
der Indios und das Infragestellen der eigenen<br />
Vorgehensweise vieler spanischer Theologen,<br />
Intellektueller und Karls V. oft als iberische Fähigkeit zur<br />
Selbstkritik interpretiert. Nicht so bei den Feinden Spaniens:<br />
Die Brevísima Relación verwandelte sich in den Händen<br />
von Nicht-Spaniern in die antihispanistische Kampfschrift<br />
schlechthin. Das Werk ist untrennbar mit der „Schwarzen<br />
Legende“ verbunden, es war der „Grundstock für die<br />
Beschuldigungen gegen Spanien“. 24 In zahlreiche<br />
Sprachen übersetzt und immer wieder neu aufgelegt,<br />
diente sie „wo es auch immer antihispanistische<br />
<strong>Pro</strong>pagandisten gab, als bevorzugte Waffe im Kampf.“ 25<br />
Zwei von vielen möglichen Beispielen dafür, sollen hier<br />
angeführt werden:<br />
In einer Zeit blutigster Konflikte in Großbritannien, in denen<br />
England mit derartiger Gewalt gegen Irland vorging, dass<br />
diese sogar mit den ethnischen Säuberungen des 20.<br />
Jahrhunderts verglichen wurde, 26 plante England das<br />
Zentrum der spanischen Macht in den Kolonien<br />
anzugreifen. 27 Doch bevor man den Gegner auf der Basis<br />
von Moralität angreifen konnte, musste er zuerst<br />
diskreditiert werden. Dazu wurde in England im Jahr 1656<br />
noch einmal Las Casas Brevísima Relación aufgelegt,<br />
geschmückt mit einigen Illustrationen der spanischen<br />
Grausamkeiten des niederländischen Kupferstechers<br />
Theodore de Bry. Dabei ließen die puritanischen<br />
Übersetzer, wie Louis Kelly in einer Arbeit zeigte, ihre<br />
eigenen Interpretationen so stark in die Texte einfließen,<br />
dass ihnen bis zu einem gewissen Grad eine<br />
Mitverantwortung für die Spannungen zwischen England<br />
und Spanien in der Mitte des 17. Jahrhunderts zukommt. 28<br />
Dies war typische Vorgehensweise der Feinde Spaniens,<br />
die bis ins 20. Jahrhundert praktiziert wurde, und ein<br />
Element der „Schwarzen Legende“ darstellt: Wenn gegen<br />
Spanien Krieg geführt wurde, legte man die alten<br />
Geschichten über die Eroberung der Neuen Welt wieder<br />
auf und eröffnete damit eine neue Front auf ideeller<br />
Ebene. 29 Spanien war in der Mitte des 17. Jahrhunderts<br />
<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />
Antihispanismus gestern und heute<br />
104<br />
Englands Hauptfeind, „the great“, „the natural enemy“<br />
wie Oliver Cromwell es ausdrückte. 30 Indem man<br />
propagandistisch gegen Spanien ins Feld zog, konnte man<br />
selbst strahlend gegen sie auftreten und hatte eine<br />
Rechtfertigung für kriegerische Betätigung. Die Historikerin<br />
Melanie Perreault zeigte in einer Arbeit zu interkultureller<br />
Gewalt im englischen Atlantik, 31 wie es England gelang,<br />
seine gewalttätige Präsenz im 17. Jahrhundert moralisch<br />
zu rechtfertigen, während im gleichen Atemzug Spanien<br />
massiv für die gleichen Taten kritisiert wurde.<br />
Ein anderes Beispiel aus noch neuerer Zeit: Vor dem<br />
Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898, in dem Spanien<br />
Kuba verlor, wurde in den USA eine neue Auflage von Las<br />
Casas Brevísima Relación herausgegeben. Auch hier ging<br />
man nach dem gleichen Schema vor: zuerst die<br />
moralische Diskreditierung und dann der Angriff auf die<br />
Kolonien. 32<br />
Dieses propagandistisch in vielfältiger Weise verwendete<br />
und für den innerspanischen Diskurs zum Schutz der Indios<br />
geschriebene Werk Las Casas hat in der Zeit von<br />
Jahrhunderten, teilweise mit manipulierten Übersetzungen,<br />
dazu beigetragen, die Mär von der besonderen<br />
Grausamkeit der Spanier in die Köpfe von Millionen von<br />
Menschen einzupflanzen. Las Casas gab mit seiner<br />
Selbstkritik den Feinden Spaniens eine Waffe in die Hand,<br />
die diese für höchst effiziente <strong>Pro</strong>paganda verwendeten.<br />
In England wurde das Verhalten gegenüber der indigenen<br />
Bevölkerung kaum reflektiert, weswegen sich das Land<br />
auch nicht so stark angreifbar machte wie Spanien.<br />
Wie in der Einleitung des vorliegenden Artikels gezeigt, wird<br />
diese Anklageschrift noch heute in österreichischen<br />
Lehrbüchern als historische Quelle zitiert. In diesem<br />
Lehrbuch ist aber nicht davon die Rede, dass die<br />
Engländer in ihren Kolonien wegen ihrer Schwerter unter<br />
den Indianern als „Messermänner“ gefürchtet waren und<br />
dass in Neuengland und South Carolina sogar Skalppreise<br />
eingeführt wurden, wobei man für einen „Rothaut-Skalp“<br />
bis zu acht Pfund bezahlt bekam. 33 Auch hört man nichts<br />
davon, dass es in den USA heute fast keine Indianer mehr<br />
gibt.<br />
Folgender Gedanke von Iris Engstrand, Historikerin in<br />
Southern California, ist in diesem Zusammenhang<br />
interessant. Sie macht darauf aufmerksam, dass<br />
Engländer, Portugiesen und Franzosen aus genau den<br />
gleichen Motiven, und mit der gleichen Gewalt die<br />
Kolonisierung in den von ihnen eroberten Gebieten<br />
vorangetrieben haben, aber nicht als Eroberer bezeichnet<br />
werden. Während die Engländer als settler und die<br />
Holländer als „Händler“ in das kollektive Gedächtnis<br />
eingegangen sind, scheint die Betitelung „Eroberer“ für<br />
Spanien reserviert zu sein. 34 Engstrand schreibt weiter:<br />
The cruelest deeds of individual Spaniards have become<br />
emblematic of a people and have been described in<br />
detail in various monographs, given ample space in<br />
general textbooks, and popularized in movies and<br />
television for American audiences stretching from Cape<br />
Horn to the Bering Strait. 35<br />
Engstrand bringt die Sache auf den Punkt. Während die<br />
grausamen Taten einzelner Spanier immer wieder als<br />
Beweise für die Niederträchtigkeit des spanischen Volkes<br />
ins Feld geführt werden, verschweigt man oft die intensiven<br />
Bemühungen der spanischen Krone, für den Schutz der<br />
Indios zu sorgen. Andere kolonisierende Völker haben zwar<br />
die gleichen Grausamkeiten begangen, ihnen ist es aber<br />
gelungen, sich besser darzustellen und so hat sich im Laufe<br />
der Jahrhunderte ein anderes Bild durchgesetzt. Engstrand<br />
spricht davon, dass der Darstellung der Brutalität der<br />
Spanier viel Platz in den allgemeinen Lehrbüchern gewährt<br />
wird. Auch dies wurde in der vorliegenden Arbeit anhand<br />
Zeitbilder 6, 2000 schon gezeigt. Eine Analyse der Begriffe,
die in diesem Lehrbuch verwendet werden, um den<br />
gesamten europäischen Kolonisierungsprozess<br />
darzustellen, lässt Beachtenswertes zum Vorschein treten.<br />
Während die spanische Kolonisierung mit den Begriffen<br />
auf der linken Seite der nachfolgenden Tabelle<br />
beschrieben wird, werden die Begriffe der rechten Spalte<br />
im Zusammenhang mit der englischen, französischen, und<br />
holländischen Kolonisierung verwendet: 36<br />
Beschreibung spanischer Kolonisierung<br />
zerstören, töten 5x<br />
erobern 3x<br />
grausam 2x<br />
ausrotten 2x<br />
Gier 1x<br />
Sklaven 3x<br />
Beschreibung englischer, französischer, holländischer<br />
Kolonisierung<br />
festsetzen<br />
landen<br />
errichten Reich<br />
entdecken<br />
gründen<br />
Kaperungen, Überfälle<br />
Von „grausam“, „zerstören“ oder „töten“ ist nur im<br />
Zusammenhang mit den Spaniern die Rede. Mit „Reich<br />
errichten“, „gründen“ und „landen“ hingegen wird die<br />
Kolonisierung der Nicht-Spanier beschrieben. In diesem<br />
Vergleich lässt sich eine deutliche Tendenz erkennen,<br />
durch die das Einfließen der „Schwarzen Legende“ in<br />
dieses Schulbuch aufgezeigt wird.<br />
3.3 Die mestizisierte Bevölkerung in Hispanoamerika<br />
Hier muss nun auf die Tatsache hingewiesen werden, dass<br />
die spanischen Kolonisatoren auf schon vorhandenen<br />
Strukturen von Hochkulturen in Lateinamerika gestoßen<br />
sind und auf jene aufgebaut haben. Auf diese Weise kam<br />
es zu einer echten Vermischung mehrerer Kulturen, in der<br />
die indigene Bevölkerung eine aktive Rolle spielte, 37 und<br />
in der neue Identitäten entstanden. In Nordamerika ist es<br />
zu einer solchen Kulturbegegnung nicht gekommen, wie<br />
an den Hautfarben der dort lebenden Bevölkerung leicht<br />
zu erkennen ist. Die Indianer Nordamerikas sind von der<br />
Bildfläche verschwunden, es gibt sie fast nicht mehr, denn<br />
sie sind wirklich ausgerottet worden. Die im vorigen Punkt<br />
angeführte Tabelle wirkt angesichts dieser Tatsache noch<br />
erstaunlicher, denn das Verb „ausrotten“ wird nur im<br />
Zusammenhang mit der spanischen Kolonisierung<br />
verwendet, und dort gleich zwei Mal.<br />
In Spanisch-Amerika wurden Schulen und Universitäten vor<br />
allem aus Missionsgründen bald für die autochthone Elite<br />
geöffnet. Im Jahr 1538 kam es zur Gründung einer<br />
Universität, in der Indios zugelassen waren. Spanische<br />
Mönche unterrichteten sie, nachdem sie ihre Sprache<br />
erlernt hatten. Die ethnischen Gruppen vermischten sich<br />
und die Kolonialgesellschaft wurde von der indigenen<br />
Bevölkerung wesentlich mitgeprägt und kulturell<br />
beeinflusst. Beispielsweise wurden als Gewohnheitsrecht<br />
zahlreiche Rechtsbräuche der Indianer, sofern sie nicht<br />
den christlichen Moralvorstellungen entgegenstanden, in<br />
die spanische Rechtsordnung aufgenommen. 38 Der<br />
Historiker und Spezialist für lateinamerikanische Geschichte<br />
Horst Pietschmann hält fest, dass es wichtig sei,<br />
anzuerkennen, „dass sich jenseits der grundlegend von<br />
Fremdherrschaft und auch Gewalt bestimmten<br />
Beziehungsverhältnisse vielfältige Formen von Interaktion,<br />
Kollaboration, wechselseitigen Reaktionen auf die neuen<br />
Verhältnisse und selbst Anpassung entwickelten, die in den<br />
einzelnen Kolonien den weiteren Gang der historischen<br />
<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />
Antihispanismus gestern und heute<br />
105<br />
Entwicklung entscheidend bestimmten.“ 39<br />
Pietschmann konstatiert, dass es nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg und im Zuge der Dekolonisation in Afrika, Asien<br />
und der Karibik, sowie der Ausbreitung des Marxismus und<br />
eines verstärkten Nationalismus in den jungen Staaten<br />
Lateinamerikas zu einem Paradigmenwechsel in der<br />
Historiographie über Lateinamerika gekommen sei. Die<br />
Beurteilungen der iberischen Expansion waren im 20.<br />
Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg eher positiv, wobei<br />
in den conquistadores vor allem Helden und Sendboten<br />
einer weit überlegenen Zivilisation gesehen wurden. Dies<br />
änderte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.<br />
Nun dominierten vor allem negative Sichtweisen, in denen<br />
die Eingeborenen überwiegend als unschuldige Opfer<br />
von brutalen Eroberern hingestellt und nur als Objekte<br />
von Ausbeutung und Unterdrückung gesehen wurden.<br />
„Beide Sichtweisen sind nicht nur eurozentrisch, sondern<br />
auch historisch falsch“ wie man aufgrund einer „Flut von<br />
neu erschlossenen Quellen aus europäischen und<br />
lateinamerikanischen Archiven inzwischen aufdecken<br />
konnte.“ 40 In beiden Sichtweisen wird die indigene<br />
Bevölkerung abgewertet und ihr eine passive Rolle<br />
zugewiesen, die historisch nicht haltbar ist.<br />
1984 hat die mexikanische Regierung nach Beratung von<br />
Seiten einer nationalen Historiker-Kommission eine<br />
Erklärung herausgegeben, in der sie sich gegen eine<br />
eurozentristischen Auffassung der Geschichte<br />
Lateinamerikas wandten und die Revision einiger Begriffe<br />
vorschlug. Bezeichnungen wie „Entdeckung“ und<br />
„Eroberung Amerikas“, „europäische Landnahme“ etc.<br />
seien historisch einseitig, da sie nur Europa, Spanien oder<br />
Portugal als historisch Handelnde herausstreichen und die<br />
amerikanische Urbevölkerung als lediglich passiv die<br />
Geschichte erleidend darstellen. Statt „Entdeckung<br />
Amerikas“ sollte vielmehr von einem „encuentro de<br />
culturas“ (Zusammenprall aber auch Begegnung von<br />
Kulturen) gesprochen werden, was der historischen<br />
Realität besser entsprechen würde. In Lateinamerika<br />
wurde diese Begrifflichkeit sofort gut aufgenommen, allein<br />
Fidel Castros Kuba polemisierte heftig dagegen. 41 Bei<br />
einer Versammlung der nationalen Kommissionen für das<br />
500. Jubiläum der „Entdeckung Amerikas“ im Jahr 1984<br />
sagte der mexikanische Delegierte in diesem<br />
Zusammenhang: „Begreifen wir, dass trotz anfänglicher<br />
Konflikte, der Kämpfe und der Eroberungen, am Ende die<br />
Annäherung und die Verschmelzung der Völker Bestand<br />
hatte!“ 42<br />
Für Mexiko lassen sich in gesellschaftspolitischer Hinsicht<br />
folgende gesicherte Aussagen über die<br />
Kolonialgesellschaft machen, die in diesem<br />
Zusammenhang erwähnenswert sind: 43<br />
1) Der indigene Adel erhielt generell den Status spanischer<br />
Hidalgos (Edelleute) und wurde in seinen Rechten<br />
anerkannt. Er war von Tributleistungen befreit und ihm<br />
wurde Einfluss auf die nach spanischem Stadtrecht<br />
verfassten indigenen Dorf- und Stadtgemeinden<br />
garantiert.<br />
2) Dem indigenen Stadtregiment wurde die niedere<br />
Rechtssprechung unter Aufsicht eines spanischen<br />
Beamten überlassen.<br />
3) Das Tribut- und Dienstleistungssystem der Krone in der<br />
Neuen Welt orientierte sich an vorspanischen<br />
Gegebenheiten.<br />
4) Neue indigene Gruppen konnten sozial und in<br />
Führungsrollen in den indigenen Dorf- und<br />
Stadtgemeinden aufsteigen.<br />
5) Europäische Bildung wurde dem indigenen Adel
geöffnet.<br />
6) Vielen Fällen von ungerechter Bedrückung und<br />
Ausbeutung von indianischen Dorfgemeinschaften<br />
stehen zahlreiche Fälle erfolgreicher Nutzung des Rechts<br />
und von politischen Druckmitteln durch indigene<br />
Gemeinden zur Behauptung ihrer Rechte gegenüber.<br />
7) Diese Fakten werden in einer Geschichtsauffassung,<br />
die von der leyenda negra geprägt ist, außer Acht<br />
gelassen. Die „Schwarze Legende“ konstruiert einen<br />
reinen Antagonismus zwischen der spanischen und der<br />
indigenen Kultur, wobei erstere die zweitere völlig zerstört<br />
habe.<br />
4. Fazit<br />
Die „Schwarze Legende“ und, aus ihr hervorgehend, der<br />
Antihispanismus prägen eine große Zeitspanne. In der<br />
frühen Neuzeit aufkommend, wurde sie im Laufe der<br />
Geschichte immer wieder neu aufgewärmt, um<br />
schließlich sogar in ein österreichisches<br />
Geschichtelehrbuch des 21. Jahrhunderts, Zeitbilder 6,<br />
2000, einzugehen. Mit dem Begriff „Schwarze Legende“<br />
wird in der Geschichtswissenschaft eine<br />
Geschichtsschreibung über den spanischen<br />
Kolonisationsprozess bezeichnet, welche eine beispiellose<br />
Brutalität der Spanier mit besonderem Nachdruck<br />
unterstreicht. Die Existenz einer solchen Legende gilt als<br />
unbestritten. Trotzdem könnte die Beschäftigung mit der<br />
„Schwarzen Legende“ könnte den Anschein erwecken,<br />
die Gräueltaten der conquistadores verharmlosen oder<br />
sogar rechtfertigen zu wollen. In einem solchen Falle<br />
würde einer so genannten „Weißen Legende“ das Wort<br />
gesprochen werden, die darin besteht, den spanischen<br />
Kolonisationsprozess unkritisch positiv zu bewerten. Die<br />
Gräueltaten der Spanier während der Eroberung der<br />
Neuen Welt, müssen aus moralischer Sicht verurteilt<br />
werden. Trotzdem ist es wichtig festzuhalten, dass diese<br />
sich nicht von dem Vorgehen anderer Völker in einer<br />
ziemlich blutrünstigen frühen Neuzeit unterscheiden und<br />
jede moralische Monoevaluation fehl am Platz ist.<br />
In dieser Arbeit wurde ein simplifizierendes Bild, das<br />
Spanien als im Gegensatz zu anderen Ländern als<br />
besonders brutal hinstellt, kritisiert, und versucht einige<br />
Graustufen sichtbar werden zu lassen. Wie der Historiker<br />
Pietschmann, auf den ich mich in diesem Beitrag öfter<br />
bezogen habe, in Bezug auf die spanische Kolonisierung<br />
gesagt hat: „Insgesamt ist somit das Panorama äußerst<br />
komplex“. 44 Diese Komplexität wird von der „Schwarzen<br />
Legende“ nicht berücksichtigt und viele Facetten des<br />
<strong>Pro</strong>zesses werden ausgeklammert. Die Beschuldigung,<br />
den ungeheuren Bevölkerungsverlust in den Kolonien und<br />
das Sterben von Millionen von Indianern durch Gewalt<br />
bewusst herbeigeführt zu haben, basiert auf falschen<br />
Behauptungen. Das Sterben der Indios ist in erster Linie<br />
auf Epidemien zurückzuführen und von spanischer Seite<br />
wurde massiv versucht, diesem entgegen zu wirken.<br />
Ausgeblendet wird durch die „Schwarze Legende“, dass<br />
sich die spanische Krone und die Kirche bemüht haben,<br />
den Indios nach den damals gültigen Grundsätzen Recht<br />
widerfahren zu lassen. Durch die Bemühungen der Schule<br />
von Salamanca, und anderer spanischer Gelehrter ist in<br />
diesem Zusammenhang sogar der Grundstein für das<br />
Völkerrecht gelegt worden. Die Brevísima Relacion des<br />
Bischofs Las Casas, ein vorerst innerspanischer<br />
Diskussionsbeitrag, durch den der Kaiser aufgerüttelt<br />
werden sollte, verwandelte sich in den Händen der Feinde<br />
Spaniens zur antihispanistischen Kampfschrift schlechthin<br />
und ist untrennbar mit der leyenda negra verbunden. Die<br />
anschaulichen Schilderungen der Grausamkeiten der<br />
spanischen conquistadores wurden des öfteren als<br />
moralische Rechtfertigung gesehen, die hegemoniale<br />
<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />
Weltmacht Spanien im 16. und 17. Jahrhundert auf Basis<br />
von Moralität anzugreifen, weswegen das Werk in vielen<br />
Sprachen zahlreiche Neuauflagen erfuhr. Dadurch<br />
prägten sich Bilder ins kollektive Bewusstsein vieler<br />
Menschen ein, die mit der historischen Realität wenig zu<br />
tun haben. Heute noch wird die Brevísima Relacion in<br />
Geschichtelehrbüchern zitiert.<br />
Die indigene Bevölkerung hat die Kolonialgesellschaft stark<br />
geprägt und spielte somit eine aktive Rolle. Das heißt nicht,<br />
dass sie nicht unterdrückt und ausgebeutet wurde, ähnlich<br />
wie es auch im Europa der Zeit mit anderen<br />
Bevölkerungsgruppen der Fall war. Nach einem<br />
Zusammenprall der beiden Kulturen kam es aber zu einer<br />
mehr oder minder konfliktreichen Verschmelzung<br />
derselben und zu neuen historischen Identitäten, die heute<br />
Lateinamerika prägen. Das Aufrechterhalten der Bilder der<br />
„Schwarzen Legende“, die von der historischen<br />
Wissenschaft längst revidiert sind, bergen für die derzeitige<br />
Gesellschaft Lateinamerikas ein Konfliktpotential. Sie<br />
können aufgrund ihrer simplifizierenden Art, die Welt in gut<br />
und böse einzuteilen, von lateinamerikanischen Diktatoren<br />
in populistischer Weise für die Rechtfertigung ihrer Regime<br />
ausgeschlachtet werden, was bisweilen auch passiert. Die<br />
antihispanistische Ideologie scheint ziemlich zeitbeständig<br />
zu sein, und immer wieder neue Möglichkeiten der<br />
politischen Instrumentalisierung anzubieten.<br />
5. Bibliographie<br />
Antihispanismus gestern und heute<br />
106<br />
Castillo y Caballero, Javier Sáenz: La leyenda negra<br />
hispanoamericana. In: Revista Americana Francisco de Vitoria.<br />
URL: http://213.229.161.87/web/default.asp?id_pagina=767. (am<br />
10.07.2008).<br />
Cerio, Gregory: Were the Spaniards That Cruel? In: Newsweek,<br />
Special Issue, Herbst/Winter 1991,<br />
S. 48-51.<br />
Delgado, Mariano: Gott in Lateinamerika: Texte aus fünf<br />
Jahrhunderten. Ein Lesebuch zur<br />
Geschichte. Düsseldorf 1991.<br />
Edelmayer, Friedrich: Die spanische Monarchie der Katholischen<br />
Könige und die Habsburger<br />
(1474-1700). In: Peer Schmidt: Kleine Geschichte Spaniens. Stuttgart<br />
2004.<br />
Ertler, Klaus-Dieter: Kleine Geschichte des lateinamerikanischen<br />
Romans. Strömungen–Autoren–<br />
Werke. Tübingen: 2002.<br />
Franzbach, Martin: Geschichte der spanischen Literatur im<br />
Überblick. Stuttgart 2002.<br />
Henrichs, Hendrik: Un holandés „distinto“: Johan Brouwer y la<br />
historia de España. In: Revista de Occidente. 304, September 2006.<br />
URL: http://www.revistasculturales.com/articulos/97/revista-deoccidente/608/1/un-holandes-distinto-johan-brouwer-y-lahistoria-de-espana.html.<br />
(am 02.07.2007).<br />
Hernández Cuevas, Juan Carlos: La Brevísima Relación de la<br />
Destrucción de las Indias y la leyenda negra americana. In:<br />
Espéculo. Revista de estudios literarios. Madrid 2006.<br />
URL: http://www.ucm.es/info/especulo/numero34/fraybar.html.<br />
(am 10.07.2007).<br />
Juderías, Julian: La Leyenda Negra. Estudios acerca del concepto<br />
de España en el Extranjero. Barcelona 1943.<br />
Kahle, Günter: Lateinamerika in der Politik der europäischen<br />
Mächte: 1492-1810. Köln-Weimar-<br />
Wien 1993.<br />
Kelly, Louis: Translators, chocolate and war. In: Bastin, Georges:<br />
HISTAL - Historia de la Traducción en América Latina. Montreal<br />
2004. URL: http://www.histal.umontreal.ca/pdfs/<br />
Translators%20chocolate%20and%20war.pdf. (am 25.05.2007).<br />
Kohut, Karl (Hg.): Der eroberte Kontinent. Historische Realität,<br />
Rechtfertigung und literarische Darstellung der Kolonisation<br />
Amerikas. Frankfurt am Main: Vervuert 1991.
Moyano, Beatriz Elisa/Casas Gragea, Ángel María: Los discursos<br />
del encuentro y del desencuentro surgidos desde el primer<br />
contacto entre Europa y América. In: Anduli, Revista Andaluza<br />
de Ciencias Sociales, 3, 2003, S. 67-81.<br />
Muldoon, James: John Marshall and the Rights of Indians. In: Pieper<br />
Renate/Schmidt Peer (Hg.): Latin America and the Atlantic World.<br />
Essays in honor of Horst Pietschmann.<br />
Köln/Weimar/Wien 2005, (=Lateinamerikanische Forschungen 33),<br />
S. 67-82.<br />
Perreault, Melanie, „To Fear and to Love Us“: Intercultural Violence<br />
in the English Atlantic. In: Journal of World History. 17.1, 2006, S. 71-<br />
93.<br />
Pieper, Renate: Hispanoamerika. Die demographische<br />
Entwicklung. In: Pietschman, Horst (Hg.): Handbuch der<br />
Geschichte Lateinamerikas. Bd.1: Mittel-Südamerika und die<br />
Karibik bis 1760. Stuttgart 1994, S 313-328.<br />
Pieper, Renate/Luetjens, Iris: Die Entwicklung der<br />
Indianergemeinden. In: Pietschman, Horst (Hg.): Handbuch der<br />
Geschichte Lateinamerikas. Bd.1: Mittel-Südamerika und die<br />
Karibik bis 1760. Stuttgart 1994, S. 575-596.<br />
Pietschmann, Horst: Die Eroberung des Aztekenreiches durch<br />
Hernán Cortés oder besiegte Sieger und siegreiche Besiegte. In:<br />
Otto Kraus (Hg.): Vae victis! Über den Umgang mit Besiegten.<br />
Göttingen 1998 (Veröffentlichungen der Joachim Jungius-<br />
Gesellschaft der Wissenschaften, 86).<br />
Pietschmann, Horst: Die iberische Expansion im Atlantik und die<br />
kastilisch-spanische Entdeckung und Eroberung Amerikas. In:<br />
Walter Bernecker u.a (Hg.): Handbuch der Geschichte<br />
Lateinamerikas. Bd. 1. Stuttgart 1997.<br />
Pietschmann, Horst: Sprache, Mission und Kolonisation oder die<br />
Entstehung neuer kultureller Identität: das Beispiel Mexiko. In:<br />
Internationale Schulbuchforschung. Zeitschrift des Georg Eckert<br />
Instituts 15, 1993, 4, S. 435-449.<br />
Pietschmann, Horst: Amerika 1992. Zeitgeist und politische<br />
Instrumentalisierung eines Zeitenwende-Jubiläums. In: Hermann<br />
Joseph Hiery u.a. (Hg.): Der Zeitgeist und die Historie (Bayreuther<br />
Historische Kolloquien 15), Dettelbach 2001.<br />
Pietschmann, Horst: Dokument zum Thema. In: Periplus. Jahrbuch<br />
für außereuropäische Geschichte Bd. 9, 1999.<br />
Raeithel, Gert: Geschichte der nordamerikanischen Kultur. Bd. 1<br />
Vom Puritanismus zum Bürgerkrieg. Weinheim-Berlin 1987.<br />
Rech, Bruno: Las Casas und das Alte Testament. In: Günter Kahle/<br />
Hermann Kellenbenz u.a (Hg.): Jahrbuch für Geschichte von Staat,<br />
Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas. Bd. 18.<br />
Köln/Wien 1981. S. 1-24.<br />
Sandberg, Brian: Beyond Encounters: Religion, Ethnicity and<br />
Violence in the Early Modern Atlantic World, 1492-1700. In: Journal<br />
of World History. 17, 1, 2006, S. 1-25.<br />
Scheipl, Josef/Scheucher, Alois/Wald, Anton u.a.: Zeitbilder 6, Vom<br />
Hochmittelalter bis zum Wiener Kongress.Wien 2 2000.<br />
Schmidt, Peer: Spanische Universalmonarchie oder „teutsche<br />
Libertet”. Das spanische Imperium in der <strong>Pro</strong>paganda des<br />
Dreißigjährigen Krieges. Stuttgart 2001.<br />
The <strong>Pro</strong>tector’s Speech at opening of Parliament (17th September<br />
1656). In: Guibon Goddard’s Journal: Diary of Thomas Burton esq,<br />
volume 1: July 1653 - April 1657 (1828), S. CXLVIII-CLXXIV. URL: http:/<br />
/www.british-history.ac.uk/report.asp?compid=36734. (am<br />
30.05.2007).<br />
Todorov, Tzvetan: La Conquista de América. El problema del otro.<br />
México 1995.<br />
Troncoso García, Jesús: Enfatemática del antiespañolismo en los<br />
textos de historia en países europeos y americanos. In: ÁMBITOS.<br />
6. 1, 2001, S. 143-169.<br />
Zeeden, Ernst Walter: Frühe Neuzeit. In: Reinhard Elze/Konrad<br />
Repgen (Hg.): Studienbuch Geschichte. Eine Europäische<br />
Weltgeschichte. Bd. 2: Frühe Neuzeit 19. und 20. Jahrhundert.<br />
Stuttgart 2003, S. 1-323.<br />
<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />
Fußnoten:<br />
1 Josef Scheipl/Alois Scheucher/Anton Wald (u.a.): Zeitbilder 6, Vom<br />
Hochmittelalter bis zum Wiener Kongress. Wien 2 2000, S. 72f.<br />
2 Ebd, S. 73.<br />
3 Javier Sáenz del Castillo y Caballero: La leyenda negra hispanoamericana.<br />
In: Revista Americana<br />
Francisco de Vitoria. URL: http://213.229.161.87/web/<br />
default.asp?id_pagina=767. (am 10.06.2008).<br />
4 Julian Juderías: La Leyenda Negra. Estudios acerca del concepto de<br />
España en el Extranjero. Barcelona<br />
1943, S. 15f (alle spanischen Zitate dieses Beitrags wurden von mir ins<br />
Deutsche übersetzt).<br />
5 Tzvetan Todorov: La Conquista de América. El problema del otro. México<br />
1995, S. 143.<br />
6 Vgl. Renate Pieper: Hispanoamerika. Die demographische Entwicklung.<br />
In: Horst Pietschman (Hg.):<br />
Handbuch der Geschichte Lateinamerikas. Bd.1: Mittel-Südamerika und die<br />
Karibik bis 1760. Stuttgart<br />
1994, S 318.<br />
7 Vgl. Ebd.<br />
8 Todorov: Conquista, S. 159.<br />
9 Vgl. Hendrik Henrichs: Un holandés „distinto“: Johan Brouwer y la historia<br />
de España. In: Revista de Occidente, 304, September 2006. URL: http://<br />
www.revistasculturales.com/articulos/97/revista-de-occidente/608/1/unholandes-distinto-johan-brouwer-y-la-historia-de-espana.html.<br />
(am<br />
02.07.2008).<br />
10 Peer Schmidt: Spanische Universalmonarchie oder „teutsche Libertet”.<br />
Das spanische Imperium in der <strong>Pro</strong>paganda des Dreißigjährigen Krieges.<br />
Stuttgart 2001.<br />
11 Vgl. Friedrich Edelmayer: Die spanische Monarchie der Katholischen<br />
Könige und die Habsburger (1474-1700). In: Peer Schmidt: Kleine Geschichte<br />
Spaniens. Stuttgart 2004, S. 125.<br />
12 Vgl. Martin Franzbach: Geschichte der spanischen Literatur im Überblick.<br />
Stuttgart 2002, S. 72.<br />
13 Klaus-Dieter Ertler: Kleine Geschichte des lateinamerikanischen Romans.<br />
Strömungen– Autoren – Werke. Tübingen: 2002, S. 56.<br />
14 Hanns J. Prem: Geschichte Altamerikas. Oldenbourg/München 2007<br />
(Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 23), S. 258.<br />
15 Jesús Troncoso García: Enfatemática del antiespañolismo en los textos<br />
de historia en países europeos y americanos. In: ÁMBITOS. 6. 1, 2001, S. 144.<br />
16 Vgl. Melanie Perreault: „To Fear and to Love Us“: Intercultural Violence in<br />
the English Atlantic. In: Journal of World History. 17.1, 2006, S. 71-93.<br />
17 Vgl. Renate Pieper/Iris Luetjens: Die Entwicklung der Indianergemeinden.<br />
In: Horst Pietschman (Hg.): Handbuch der Geschichte Lateinamerikas. Bd.1:<br />
Mittel-Südamerika und die Karibik bis 1760. Stuttgart<br />
1994, S. 585f.<br />
18 Horst Pietschmann: Die Eroberung des Aztekenreiches durch Hernán Cortés<br />
oder besiegte Sieger und siegreiche Besiegte. In: Otto Kraus (Hg.): Vae victis!<br />
Über den Umgang mit Besiegten. Göttingen 1998. (Veröffentlichungen der<br />
Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften, 86), S. 16.<br />
19 Vgl. James Muldoon: John Marshall and the Rights of Indians. In: Renate<br />
Pieper/Peer Schmidt (Hg.): Latin America and the Atlantic World. Essays in<br />
honor of Horst Pietschmann. Köln/Weimar/Wien 2005, (=Lateinamerikanische<br />
Forschungen 33), S. 67f.<br />
20 Vgl. Bruno Rech: Las Casas und das Alte Testament. In: Günter Kahle/<br />
Hermann Kellenbenz u.a (Hg.): Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft<br />
und Gesellschaft Lateinamerikas. Bd. 18. Köln/Wien 1981, S. 3.<br />
21 Papst Paul III: Sublimis Deus. Zitiert nach: Mariano Delgado: Gott in<br />
Lateinamerika: Texte aus fünf<br />
Jahrhunderten. Ein Lesebuch zur Geschichte. Düsseldorf 1991, S. 68-71.<br />
22 Vgl. Ernst Walter Zeeden: Frühe Neuzeit. In: Reinhard Elze/Konrad Repgen<br />
(Hg.): Studienbuch Geschichte. Eine Europäische Weltgeschichte. Bd. 2:<br />
Frühe Neuzeit 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 2003, S. 41.<br />
23 Vgl. Rech: Las Casas, S. 4.<br />
Antihispanismus gestern und heute<br />
107<br />
24 Vgl. Karl Kohut (Hg.): Der eroberte Kontinent. Historische Realität,<br />
Rechtfertigung und literarische Darstellung der Kolonisation Amerikas.<br />
Frankfurt am Main: Vervuert 1991, S 191.<br />
25 Juan Carlos Hernández Cuevas: La Brevísima Relación de la Destrucción<br />
de las Indias y la leyenda negra americana. In: Espéculo. Revista de estudios<br />
literarios. Madrid 2006. URL: http://www.ucm.es/info/<br />
especulo/numero34/fraybar.html. (am 10.07.2007).<br />
26 Vgl. Brian Sandberg: Beyond Encounters: Religion, Ethnicity and Violence<br />
in the Early Modern Atlantic World, 1492-1700. In: Journal of World History
17.1, 2006, S. 1-25.<br />
27 Cromwells „Western Design“ sah vor zuerst die Großen Antillen zu erobern,<br />
die dann Ausgangspunkt für<br />
weitere Vorstöße sein sollten. Vgl. Günter Kahle: Lateinamerika in der Politik<br />
der europäischen Mächte:<br />
1492-1810. Köln-Weimar-Wien 1993, S. 47.<br />
28 Vgl. Louis Kelly: Translators, chocolate and war. In: Bastin Georges: HISTAL<br />
- Historia de la Traducción en América Latina. Montreal 2004, S. 6. URL:<br />
http://www.histal.umontreal.ca/pdfs/<br />
Translators%20chocolate%20and%20war.pdf (am 25.05.2007)<br />
29 Vgl. Schmidt: Spanische Universalmonarchie, S. 294.<br />
30 The <strong>Pro</strong>tector´s Speech at opening of Parliament (17th September 1656).<br />
In: Guibon Goddard´s Journal:<br />
Diary of Thomas Burton esq, volume 1: July 1653 - April 1657 (1828), S. CXLVIII-<br />
CLXXIV. URL:<br />
http://www.british-history.ac.uk/report.asp?compid=36734. (30. Mai 2007).<br />
31 Vgl. Melanie Perreault: Intercultural Violenc, S. 71-93.<br />
32 Vgl. dazu: Gregory Cerio: Were the Spaniards That Cruel? In: Newsweek,<br />
Special Issue, Herbst/Winter 1991, S. 48-51.<br />
33 Vgl. Gert Raeithel: Geschichte der nordamerikanischen Kultur. Bd. 1 Vom<br />
Puritanismus zum<br />
Bürgerkrieg. Weinheim-Berlin 1987, S 69.<br />
34 Iris Engstrand: How Cruel Were the Spaniards? In: OAH Magazine of History.<br />
14, 2000.<br />
<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />
URL: http://www.oah.org/pubs/magazine/spanishfrontier/engstrand.html.<br />
(am 25.04.2008).<br />
35 Ebd.<br />
36 Scheipl/Scheucher/Wald: Zeitbilder 6, S. 72f.<br />
37 Vgl. Horst Pietschmann: Die iberische Expansion im Atlantik und die kastilischspanische<br />
Entdeckung und Eroberung Amerikas. In: Walter Bernecker u.a.<br />
(Hg.): Handbuch der Geschichte Lateinamerikas. Bd. 1. Stuttgart 1997, S. 207.<br />
38 Vgl. Horst Pietschmann: Sprache, Mission und Kolonisation oder die<br />
Entstehung neuer kultureller Identität: das Beispiel Mexiko. In: Internationale<br />
Schulbuchforschung. Zeitschrift des Georg Eckert Instituts 15, 1993, 4, S. 444.<br />
39 Pietschmann: Entstehung neuer kultureller Identität, S. 448.<br />
40 Pietschmann: Iberische Expansion, S. 207.<br />
41 Vgl. Horst Pietschmann: Amerika 1992. Zeitgeist und politische<br />
Instrumentalisierung eines Zeitenwende-Jubiläums. In: Hermann Joseph Hiery<br />
u.a. (Hg.): Der Zeitgeist und die Historie (Bayreuther Historische Kolloquien<br />
15), Dettelbach 2001, S. 195.<br />
42 Horst Pietschmann: Dokument zum Thema. In: Periplus. Jahrbuch für<br />
außereuropäische Geschichte Bd. 9, 1999, S. 88.<br />
43 Die folgenden sechs Punkte sind entnommen aus: Pietschmann: Eroberung<br />
des Aztekenreiches S. 26f.<br />
44 Pietschmann: Eroberung des Aztekenreiches, S. 29.<br />
Roland BERNHARD, geb. 1980, studiert Theologie, Geschichte und Lehramt Spanisch an der Karl-Franzens Universität<br />
Graz. Er ist hier seit 2006 Studienassistent am Institut für Romanistik und arbeitet seit 2007 am Institut für Wirtschafts- und<br />
Sozialgeschichte. Sein Interesse gilt in besonderem Maße der Wirtschafts- und Sozialgeschichte und der<br />
spanischsprachigen Welt. Er wird seit 2008 durch PRO SCIENTIA gefördert.<br />
Antihispanismus gestern und heute<br />
108
VORBEMERKUNG<br />
Der Titel dieser Arbeit ist zugleich deren These, welche ein<br />
populäres Vorurteil dem Islam gegenüber verneint: Das<br />
Fundament des politischen Islam 1 ist nicht unbedingt in<br />
dessen Wesen begründet, sondern bildet sich in der<br />
Auseinandersetzung der muslimischen Intellektualität mit<br />
einem hegemonialen Abendland in der Kolonialzeit.<br />
Dieser Gedanke mag zwar einleuchten, doch ist eine<br />
wissenschaftliche Ausarbeitung dieser Tatsache aufgrund<br />
der Unzahl an kursierenden Vorurteilen, die dem Islam ein<br />
gewisses Gewaltpotential zuschreiben, unumgänglich, da<br />
jene darlegen kann, dass eine Ideologie wie beispielsweise<br />
jene von Osama bin Laden, welche mit Waffengewalt<br />
darauf drängt, islamische Staaten nach den Prinzipien<br />
islamischer Orthodoxie einzurichten, weder dessen<br />
Erfindung, noch die seines Mentors Aiman al-Zawahiri sind,<br />
noch dem Koran entstammen. Nichtsdestotrotz liegt ein<br />
Körnchen Wahrheit in der Behauptung, dass einer<br />
islamischen Orthodoxie eine gewisse Dynamik immanent<br />
sei, welche darauf drängt, Politik zu strukturieren. Um dem<br />
nachzugehen, müssen die Fundamente des islamischen<br />
Glaubens, also Koran, Sunna und Recht, nach ihrem<br />
Zusammenhang mit etwaigen politischen Vorgaben bzw.<br />
politischen Modellen untersucht werden.<br />
GRÜNDE<br />
Nach islamischem Glauben stellt der Koran das<br />
ungeschaffene Wort Gottes dar, wie es dem Kaufmann<br />
Muhammad ab dem Jahre 610 n. Chr. offenbart wurde.<br />
Um den Wundercharakter der von Muhammad realisierten<br />
Verschriftlichung des Korans zu unterstreichen, wurde<br />
dabei immer wieder die Schreibunkundigkeit des<br />
<strong>Pro</strong>pheten unterstrichen. Folglich haftet dem Koran und<br />
dessen exaktem Wortlaut der Glaube an, den<br />
unverfälschten Willen Gottes zu verkörpern.<br />
Zusammengenommen bedeutet das, dass dem Koran als<br />
heiliger Schrift, eine Tendenz zu dessen<br />
fundamentalistischer Lesart innewohnt. Angaben über<br />
Ausrichtungen von Politik finden sich jedoch keine im Koran<br />
2 .<br />
Die zweite autoritative Quelle für Muslime ist die Sunna<br />
des <strong>Pro</strong>pheten. Die Sunna, das Verhalten des <strong>Pro</strong>pheten,<br />
ist in so genannten Hadith-Sammlungen aufgezeichnet.<br />
Der normative Charakter des Verhaltens Muhammads<br />
begründet sich aus der Sichtweise, er stehe als<br />
herausragender <strong>Pro</strong>phet Gottes in einem besonderen<br />
Nahverhältnis zu Allah. Zwar existieren sehr viele als<br />
autoritativ anerkannte Hadithe, welche jedoch allesamt<br />
sehr der Konkretheit verhaftet sind und von denen sich<br />
erstaunlich wenige Prinzipien für Politik gewinnen lassen. 3<br />
Um nun dennoch aus konkreten Sachverhalten auf der<br />
Basis normativer Quellen allgemeine Gesetze<br />
herauszudestillieren, wurde zu Beginn des 9. Jhdts die<br />
Scharia als Methode der Rechtsfindung entwickelt, welche<br />
neben dem Koran und der Sunna, auch die Analogie und<br />
der Konsens als deren Wurzel anerkennt. Dabei solle bei<br />
jeder Urteilsfindung auf die Erkennung und Durchsetzung<br />
rechtmäßiger, schützenswerter Interessen und das<br />
Allgemeinwohl geachtet werden. Nun ist nicht nur<br />
uneindeutig, welche Interessen etwa schützenswert sind<br />
oder wie Allgemeinwohl zu definieren ist, sondern auch<br />
auf welchem Gebiet und über welchen Zeitraum ein<br />
neues Gesetz oder Urteil den Konsens der<br />
Rechtsgelehrsamkeit erfordert. Zur Heterogenität der<br />
Kalküle von Scharia kommt weiters das Faktum der Existenz<br />
<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />
Maximilian Lakitsch<br />
Die Kolonialzeit als zentrale Achse des politischen Islam<br />
von vier verschiedenen Rechtsschulen hinzu, welche sich<br />
zwar gegenseitig anerkennen, jedoch ihre je eigenen<br />
zusätzlichen Prinzipien zur Rechtsfindung haben. Daraus<br />
folgt, dass es die Scharia nicht gibt und daher auch nicht<br />
ein politisches Modell, das jene vorgeben könnte. Diese<br />
Flexibilität von Scharia als Strukturprinzip des islamischen<br />
Weltreichs ermöglichte es jenem, in seiner Größe über<br />
eine derart lange Periode zu bestehen. Andererseits muss<br />
aber auch gesagt werden, dass aufgrund der<br />
Heterogenität, der mithilfe der Scharia ableitbaren<br />
Rechtsgrundsätze, die Dogmatizität des Rechts der<br />
historischen und politischen Pragmatik nur nachgeordnet<br />
sein kann. 4<br />
Islamische Fundamentalisten erkennen größtenteils<br />
ausschließlich die Umma als politisches<br />
Strukturierungsprinzip an, da jener Gedanke in einer Schrift<br />
ihre Grundlage hat, welche auf Muhammad<br />
zurückgehen soll. Doch wie schon in den bereits<br />
geschilderten Fällen der normativen Quellen des Islam,<br />
enthält die Umma außer der Erwähnung einer obersten<br />
Autorität, die Muhammad ist und die Aufforderung zur<br />
Achtung der Juden, weder vermehrt konkrete<br />
Informationen über Politik, noch allgemeine Leitprinzipien<br />
eines orthodoxen Gemeinwesens. 5<br />
Der Islam gebietet es dem Muslim, in allen Lebenslagen<br />
gemäß dem Wort Gottes, sowie nach dem Vorbild des<br />
<strong>Pro</strong>pheten zu handeln. Zu diesem totalen Charakter von<br />
religiöser Orthopraxie kommt durch das Selbstverständnis<br />
des Korans ein konservatives Moment hinzu, da jener als<br />
verschriftlichter Wille Gottes eine gewisse Tendenz zur<br />
Ahistorisierung und Dekontextualisierung von Schrift-,<br />
Glaubens- und Rechtsverständnis erzeugt. Von genau hier<br />
aus begründet sich die Meinung, der Islam sei eine<br />
politische Religion, dessen politische Prinzipien in seinem<br />
Wesen festgeschrieben seien. Jedoch können all diese<br />
Vorgaben sich nicht auf das Feld der Politik ausbreiten,<br />
geschweige denn einen Kalkül generieren, da sich aus<br />
den normativen Quellen des Islam keine Informationen<br />
zur Politik und schon gar nicht ein islamisches Modell zur<br />
Einrichtung eines Gemeinwesens gewinnen lassen. Das<br />
bedeutet, auch wenn der Islam von seinem<br />
Selbstverständnis ausgehend, Politik nach ahistorischen<br />
Grundsätzen bestimmen muss, so kann er das nicht.<br />
Folglich kann die Politisierung des islamischen Glaubens<br />
auch nicht dem islamischen Recht oder etwaigen<br />
Glaubensprinzipien gefolgt sein, welche stets nur eine<br />
sekundäre Rolle spielen können. Somit wird ersichtlich,<br />
weshalb die Gründe für die Art und Weise des politischen<br />
Islam, mit dem die Welt sich heutzutage konfrontiert sieht,<br />
in den historischen Umständen liegen müssen.<br />
GESCHICHTLICHER ABRISS<br />
In nur 400 Jahren eroberte der Islam ein gewaltiges<br />
Territorium, das sich von Spanien bis nach Zentralasien<br />
erstreckt. Das politische und religiöse Symbol dieser Einheit<br />
ist das Kalifat, welches beide Aspekte in einem göttlich<br />
legitimierten Souverän vereint. Mit ein Grund für die<br />
rasante Expansion mag in der Toleranz der Eroberer<br />
anderen Völkern und Religionen gegenüber gelegen<br />
haben, welche mitunter als religiös indifferent gesehen<br />
wurden. Als Kronzeuge hierfür sei ein koptischer Christ aus<br />
Ägypten zitiert, welcher die neue Unabhängigkeit vom<br />
Oströmischen Reich folgendermaßen begrüßt: “Es war für<br />
uns nicht nur ein kleiner Vorteil, von der Grausamkeit der<br />
Byzantiner befreit zu werden, von ihrer Bösartigkeit, ihrer<br />
Wut, ihrem grausamen Eifern gegen uns, und endlich<br />
Die Kolonialzeit als zentrale Achse des politischen Islam<br />
109
Ruhe zu haben.” 6<br />
Die wirtschaftlichen und kulturellen Folgen dieser<br />
weitreichenden territorialen Vernetzung waren enorm,<br />
denn mit der Vereinigung eines großen Teils des römischbyzantischen<br />
Gebiets und des parthisch-sassanidischen<br />
Territoriums wurde aus zwei, seit der Antike getrennten<br />
wirtschaftlichen Großräumen, ein gewaltig florierender<br />
Wirtschaftsraum, dem der Okzident nichts Vergleichbares<br />
entgegen zu setzen hatte: “Die Antriebszentren des<br />
wirtschaftlichen und kulturellen Lebens liegen jetzt im<br />
islamischen Orient; das Abendland ist eine Öde, die auf<br />
Wiederbelebung wartet, nachdem sich das kommerzielle<br />
und intellektuelle Leben seit dem Niedergang Roms und<br />
den Einfällen der Barbaren aus diesem Raum<br />
zurückgezogen haben.” 7<br />
Als Ausdruck dieser neuen explosiven Dynamik sei das<br />
Wachstums Bagdads erwähnt, das zur Zeit seiner<br />
Gründung als Hauptstadt der Abbasidendynastie 1000<br />
Einwohner beherbergte und nur 40 Jahre später einen<br />
stolzen Einwohnerzuwachs von mindestens 1,5 Mio.<br />
verzeichnen konnte. 8 Der wirtschaftlichen Blüte folgte die<br />
kulturelle, welche durch Übersetzung und kreativer<br />
Rezeption des antiken griechischen Wissens zu<br />
großartigen Leistungen in Philosophie, Architektur,<br />
Astronomie, Medizin, Literatur und Theologie führte. 9<br />
Als der Theologe Al-Ghazali im 12. Jhdt. mit seiner Kritik<br />
an der gottlosen Philosophie große Rezeption fand, erfuhr<br />
jegliche wissenschaftliche Kreativität, mit Ausnahme der<br />
Schriften von Averroes und dem Geschichtsphilosophen<br />
Ibn Khaldun im 15. Jhdt., ein jähes Ende. Diese kulturelle<br />
Stagnation fällt in die Zeit der Mongoleneinfälle, mit der<br />
das islamische Reich schwer zu kämpfen hatte. Man war<br />
wohl eher damit beschäftigt, die Reichseinheit durch<br />
Stärkung der Orthodoxie mittels des Rechts zu festigen,<br />
denn den fruchtbaren wissenschaftlichen Disputen den<br />
nötigen intellektuellen Freiraum zu gewähren. In jener Zeit<br />
findet durch die lateinische Eroberung des muslimischen<br />
Spaniens und von Sizilien der Eingang des Wissens aus<br />
dem Orient in den westlichen Kulturkreis statt, wodurch<br />
dem Okzident die Mittel in die Hand gegeben werden,<br />
mit der islamischen Welt auf kulturellen Gebiet<br />
gleichzuziehen. Zwar hat der Islam trotz der Mongolen<br />
sein eigenständiges Bild bewahren können, die Einheit<br />
des islamischen Großreichs wurde jedoch auf Dauer<br />
zerbrochen, denn in jener Zeit der Unsicherheit erkämpfte<br />
sich nicht nur Marokko und Ägypten einen quasi<br />
unabhängigen Status, sondern es wird auch die Dynastie<br />
der Osmanen ab dem 13. Jhdt. immer stärker. Durch diese<br />
Fragmentierung findet zwar nicht gerade eine Stagnation<br />
im islamischen Reich statt, jedoch hat das<br />
wirtschaftliche Wachstum ein Ende und erlaubt es dem<br />
Westen, im Verlauf des 15. Jhdt. mit dem Orient gleich zu<br />
ziehen. Die Renaissance und schließlich die industrielle<br />
Revolution katapultieren die westliche Welt in die Rolle<br />
des kulturellen und wirtschaftlichen Hegemons.<br />
Symptomatisch für diese rasante Umordnung des<br />
Kräfteverhältnisses ist ein Beispiel, welches der Orientalist<br />
Albert Hourani anführt: Trug die feine Gesellschaft<br />
Englands zu Beginn des 18. Jhdts noch Kleidung aus Wolle,<br />
welche wohl hauptsächlich noch von syrischen Beduinen<br />
auf den alten Karawanenstraßen transportiert worden<br />
war, so trugen etwa 50 Jahre später ebenjene syrischen<br />
Beduinen Kleidung aus Lancashire Wolle aus London. 10<br />
Der Beginn der Kolonialzeit im islamischen Raum kann,<br />
wenn man will, mit dem Mai 1798 symbolisch markiert<br />
werden. Zu jener Zeit kommt Napoleon mit einer<br />
Expeditionstruppe nach Ägypten. Das Frappierende<br />
daran ist der Schock, der sich ob der militärischen,<br />
technischen und kulturellen Überlegenheit der Franzosen<br />
wie ein Lauffeuer im Großteil der islamischen Welt<br />
ausbreitet. Die Reaktion fällt deshalb so überraschend<br />
<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />
aus, weil man sich der westlichen Welt gegenüber als<br />
überlegen empfunden hatte. Der letzte größere Austausch<br />
zwischen Okzident und Orient fand während der Zeit der<br />
Kreuzzüge statt, in welcher man die westliche Kultur als<br />
barbarisch und unterentwickelt empfunden hatte. Seit<br />
jener Zeit bestand trotz des durchaus stattfindenden<br />
diplomatischen Kontakts des osmanischen Kalifats mit den<br />
westlichen Mächten geringes Interesse an Neuerungen<br />
im Westen. Ein ägyptischer Gelehrte schreibt nun unter<br />
dem Eindruck des “Besuchs” der Franzosen: “Die Fremden<br />
haben Geräte und Techniken, für die unser Verstand<br />
einfach zu klein ist.” 11 Die Erschütterung ging durch das<br />
gesamte islamische Reich, da man sich trotz der<br />
unzähligen Machtkämpfe und regionalen Unterschiede<br />
so etwas wie ein Einheitsbewusstsein durch die im Großen<br />
und Ganzen homogene Kultur bewahrt hatte. Hatte der<br />
Islam die kulturelle Erschütterung durch die Horden der<br />
Mongolen überstanden, so war dessen Welt seit jenem<br />
Zeitpunkt auf der Suche nach einem neuen<br />
Selbstverständnis.<br />
Dem kulturellen Schock folgte bald der politische, als man<br />
am Balkan Österreich-Ungarn und Russland weichen<br />
musste und in Indien den Briten. Der Sultan von Marokko<br />
musste zuerst noch hilflos mit ansehen, wie sein<br />
Nachbarland Algerien unter französische Herrschaft fiel,<br />
bis mit Marokko und Tunesien das Gleiche geschah.<br />
Obwohl Ägypten und in etwas geringerem Ausmaß die<br />
Türken, zumindest auf türkischem Territorium, umgehend<br />
weitreichende Reformen in die Wege leiteten und eine<br />
gewisse Zeit damit erfolgreich waren, musste man sich im<br />
gleichen Zug in so hohem Ausmaß bei britischen Banken<br />
verschulden, dass man einen guten Teil der politischen<br />
Souveränität an die Briten abtreten musste. 12<br />
Es ist genau diese Zeit, in etwa von 1800 bis 1950, in der<br />
die muslimische Welt nach einem neuen Selbstverständnis<br />
sucht, zahlreiche Reformen initiiert werden, teilweise<br />
erfolgreich, aber selbst nach der Befreiung von den<br />
Kolonialmächten den Rückstand den westlichen Mächten<br />
gegenüber nicht aufholen kann und islamische Reformer<br />
auf den Plan treten.<br />
MUSLIMISCHE REFORMER<br />
Die muslimischen Reformer berufen sich zu einem großen<br />
Teil auf zwei Rechtsgelehrte, zum einen auf den<br />
Damaszener Ibn Taimiyya aus dem 14. Jhdt, dessen<br />
Standpunkt im Großen und Ganzen als Ablehnung<br />
jedweder religiöser und kultureller Entwicklung<br />
charakterisiert werden kann, zum anderen auf<br />
Muhammad ibn Abd al-Wahhab, der im 18. Jhdt. seinen<br />
intellektuellen Kampf gegen die Mystik und den Volksislam<br />
ausfocht und das einzig legitime Verständnis von Islam auf<br />
die Zeit der vier rechtgeleiteten Kalifen eingegrenzt sieht.<br />
Die in seinem Denken gründende Ideologie des<br />
Wahhabismus gelangt durch Banu Saud, den Begründer<br />
der Saud-Dynastie, zu weitreichendem Einfluss. 13<br />
Zwei frühere innerislamische Reformer, deren Wirken eine<br />
breite Strahlkraft erreichen konnte, sind der wahrscheinlich<br />
aus dem Iran stammende Rechtsgelehrte Jamal al-Din Al-<br />
Afghani (1839-1897) und sein Schüler Muhammad Abduh<br />
(1849-1905). Sie seien hier gemeinsam genannt, da ihre<br />
Positionen als liberal und einigermaßen progressiv gelten<br />
können, jedoch vor allem bei Al-Afghani schon eine<br />
Richtung einschlagen wird, in welcher ihm bald mit<br />
radikaleren Gedanken gefolgt werden soll. Al-Afghani war<br />
erschüttert über die Situation der Muslime Indiens, die von<br />
den christlichen Briten beherrscht und nach nichtislamischem<br />
Recht gerichtet wurden. Seiner Meinung nach<br />
sei diese Situation entweder darauf zurück zu führen, dass<br />
das Christentum die wahre Religion sei, was er aber sofort<br />
verwirft, oder aber der Grund liege im sündigen Verhalten<br />
der Muslime, da jenes sich, sowohl religiös als auch<br />
Die Kolonialzeit als zentrale Achse des politischen Islam<br />
110
politisch, von den Geboten Gottes entfernt habe.<br />
Mitschuld daran trage die Art der Beschäftigung der<br />
Gelehrten mit der göttlichen Offenbarung, die verfälscht<br />
worden und zu einem Selbstzweck verkommen sei. Seine<br />
progressive Aufforderung lautet, den Koran unter dem<br />
Eindruck der modernen westlichen Technologien neu zu<br />
lesen, um kreative Veränderungen auf Basis des Koran<br />
initiieren zu können. Ein weiteres Übel sei die Spaltung der<br />
muslimischen Umma in Sunna und Schia, welche aber<br />
durch Vereinigung von Religion und Politik wieder<br />
behoben werden könne. Muhammad Abduh war etwas<br />
direkter mit seinen progressiven Gedanken, wenn er den<br />
Islam sowohl auf Glaube, als auf Vernunft gestützt sieht,<br />
und von dem her kein Hindernis für den Islam sieht, sich<br />
der Moderne zu öffnen.<br />
Eine ungeheure ideologische Strahlkraft hatte die<br />
Gründung der Muslimbruderschaft in Ägypten unter<br />
Hassan al-Banna im Jahre 1928. Al-Bannas Bestreben war<br />
die strikte Trennung von Islam und Moderne. Seiner<br />
Meinung nach stelle der Islam ein vollkommenes<br />
Orientierungssystem für alle Lebenssituationen aller<br />
Menschen dar und sei für alle Zeiten und an jedem Ort<br />
gültig. Europa sei dekadent und gewinnsüchtig,<br />
materialistisch und militant. Seine Forderung war, dass der<br />
Islam alle Bereiche menschlichen Lebens beherrschen<br />
müsse, vor allem die Politik.<br />
Die ideologische Leitfigur des politischen Islam ist der<br />
Muslimbruder Sayyid Qutb (1906-1966). Seinen Schriften<br />
nach müsse die Seele im Einklang mit ihrer wahren Natur<br />
sein, damit ein menschenwürdiges Leben möglich sei.<br />
Dieses sei nun in der westlichen Zivilisation nicht möglich,<br />
weil jene nicht nach religiösen Prinzipien strukturiert ist.<br />
Folglich ist der westliche Mensch entfremdet, schizophren<br />
und in einem pathologisch-krankhaften Zustand. Echte<br />
Freiheit besteht erst im Zustand der Unterwerfung unter den<br />
Willen Gotte, was im islamischen Raum aber von den<br />
degenerierten religiösen und politischen Institutionen<br />
verhindert werde, da jene die Botschaft Gottes nicht wie<br />
in der Zeit der vier rechtgeleiteten Kalifen rezipiert haben<br />
und weitergeben.<br />
Der Inder Abu l-Ala al Maududi (1903-1979) kämpfte Zeit<br />
seines Lebens theoretisch und agitatorisch für die<br />
Errichtung einer Theokratie oder eines demokratischen<br />
Kalifats, welches den islamischen Idealstaat errichten solle.<br />
Der Weg um jenes Ziel zu erreichen sei der Dschihad. Im<br />
neu gegründeten Staat Pakistan fanden Maududis<br />
Schriften großen Anklang und wurden mit anderen<br />
radikalen Theoretikern in den so genannten Deobandi<br />
gelehrt. Die Deobandi sind religiöse Schulen, in welchen<br />
eine rigorose Sicht von Islam gelehrt wird und die<br />
kämpferische Lehre von Dschihad 14 verbreitet wird. Da sich<br />
jene Schulen an der afghanischen Grenze befanden<br />
rekrutierten sich viele Schüler aus paschtunischen<br />
Stämmen. So gewannen diese Institutionen einen<br />
enormen Einfluss auf die Taliban des ersten<br />
Afghanistankrieges. 15<br />
Dieses reformistische Gedankengut wurde zwar bereits<br />
nach dessen Aufkommen rezipiert, jedoch noch nicht in<br />
einer ausreichend bedeutenden Breite. Wichtiger ist an<br />
diesem Punkt zu erwähnen, dass diese, noch sehr<br />
heterogenen radikalen Gedanken, eine zentrale Achse<br />
an Antworten auf das Ressentiment der westlichen Welt<br />
gegenüber bilden, das sich in dieser Phase der<br />
Unterordnung und Verwirrung angesichts der westlichen<br />
Dominanz bildet. Genau dieses Gedankengut wird es sein,<br />
dem die großflächige Islamisierung des islamischen Raums<br />
zu verdanken ist, welche jene Gedanken des politischen<br />
Islam, von dem man erst ab hier sprechen kann, in den<br />
Alltagsjargon eindringen lassen. Dieses Gedankengut stellt<br />
den Nährboden des politischen Islam dar, der aufgrund<br />
seines im Ressentiment liegenden Ursprungs, bei jeder<br />
<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />
politischen Irritation, welche die islamische Welt erfährt,<br />
eine Dynamik entfalten kann, die sich in der<br />
Popularisierung der Lehre des politischen Islam<br />
manifestiert.<br />
POLITISCHE WEGMARKEN ZUM POLITISCHEN ISLAM<br />
Eine erste kollektive politische Irritation stellt die Gründung<br />
des Staates Israel dar. Für viele Muslime gilt Israel als<br />
jüdischer Staat, nicht als Staat der Juden. Dieser Akt<br />
wurde als Affront allen Muslimen gegenüber<br />
wahrgenommen, weil diese Staatengründung innerhalb<br />
des dar al-islam, eines Gebietes, welches seit über<br />
tausend Jahren unter muslimischer Herrschaft stand, unter<br />
religiöser Legitimation geschah. Das nächste<br />
weitreichende Ereignis war die Niederlage einer<br />
verbündeten islamischen Streitmacht gegen israelische<br />
Kampfverbände im 6-Tage-Krieg von 1967. Anstatt<br />
wirtschaftliche und politische Gründe als Ursache diese<br />
Niederlage zu sehen, fand in weiten Teilen der islamischen<br />
Welt die in der Kolonialzeit entstandene Deutung des<br />
Abfalls von einem authentischen Islam als Erklärung für<br />
die Niederlage breite Rezeption. Eine entscheidende<br />
Wegmarke der Islamisierung bildet der erste<br />
Afghanistankrieg der Mudschaheddin gegen die<br />
Weltmacht Sowjetunion. Erstmals kamen Muslime aus<br />
sämtlichen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens<br />
zusammen, um im Zeichen des Dschihad die Großmacht<br />
Sowjetunion mit Unterstützung der USA zu Fall zu bringen.<br />
So wurde jene Krisenregion zum ideologischen<br />
Kristallisationspunkt des Islamismus und des<br />
Dschihadismus. Das bis dato inhomogene Gedankengut<br />
über den Dschihad als Pflicht aller Muslime zur<br />
Durchsetzung einer islamischen Ordnung der Politik<br />
konnte unter dem Einfluss von Osama bin Laden, einem<br />
aus äußerst wohlhabender Familie aus Saudi Arabien<br />
stammenden Muslim, und seinem ideologischen Mentor<br />
Aiman al-Zawahiri zu einer einheitlichen Ideologie, als<br />
Dschihad-Pflicht für jeden männlichen Muslim,<br />
vereinheitlicht werden. So wurde aus dem zunächst noch<br />
heterogenen Gedankengut der innerislamischen Reformer<br />
eine einheitliche Ideologie, deren<br />
Wahrheitskriterium durch den Sieg über die Sowjetunion<br />
erfüllt wurde. In jene Zeit fällt die Islamisierung des zuvor<br />
noch säkular motivierten palästinensischen<br />
Befreiungskampfs in Israel.<br />
Aus Sicht vieler Muslime werden die Anschläge der Al-<br />
Quaida vom 11. September 2001 in New York und Washington<br />
ebenso als Sieg des Islam über den dekadenten<br />
Westen verbucht. Die symbolische Kraft die 9/11<br />
innewohnt und Osama bin Ladens Terrororganisation im<br />
Zeichen der islamischen Durchsetzung politischer Ziele<br />
anhaftet war enorm und wuchs mit dem zweiten Krieg in<br />
Afghanistan und dem Bürgerkrieg im Irak. Vor allem im<br />
Gefolge der Gotteskrieger von Al-Quaida, deren Kampf<br />
als wirksamer Widerstand gegen die westlichen Besatzer<br />
gesehen wird, da die Wirkung in Form von globalem<br />
Chaos und menschenrechtlich fragwürdige<br />
Sicherheitsgesetzgebungen um sich greift, erlangen die<br />
Gedanken der muslimischen Reformer aus der Kolonialzeit<br />
große Bedeutung und Breitenwirkung.<br />
Der politische Islam ist gegenwärtig weit verbreitet. Das<br />
so genannte”State buildung” 16 in Afghanistan und die<br />
militärische Präsenz westlicher Militärs halten eine antiwestlich<br />
Dynamik in Gang, die radikale islamische<br />
Gedanken selbst bis in aufgeklärte muslimische Kreise<br />
hineintragen. 17<br />
Es wurde ausgeführt, dass die Entwicklung des politischen<br />
Islam nicht einer unbedingten Entwicklung aus dem<br />
Wesen des Islam heraus geschehen ist und ebenso wenig<br />
dort seine Wurzel hat, wo Denker eines politischen Islam<br />
jenen begründet sehen. Zugleich muss gesagt werden,<br />
Die Kolonialzeit als zentrale Achse des politischen Islam<br />
111
dass diese radikale Deutung des Islam nicht unbedingt<br />
unorthodox ist und durchaus Scharia-konforme Urteile<br />
erlassen werden können, welche sowohl ein islamisches<br />
Paradigma von Regierungsausübung erlaubt, als auch<br />
dessen gewaltvolle Durchsetzung mittels<br />
Selbstmordanschlägen gegen Zivilisten. Um dieser<br />
definitiv vorhandenen Bedrohung durch die Islamisierung<br />
Herr zu werden, wäre viel gewonnen, würde man explizit<br />
herausstreichen, dass diese gewalttätige Fratze des Islam<br />
aus dem Ressentiment entstanden ist und von jenem<br />
genährt wird.<br />
Fußnoten:<br />
1 Der Terminus “politischer Islam” meint jene Lesart von Islam,<br />
nach welcher jener ein Paradigma von Politik und der<br />
Einrichtung eines Gemeinwesens vorgebe. Es gibt eine ganze<br />
Bandbreite von konkreten Ausformungen an Ideologien des<br />
politischen Islam, die seine Art der Durchsetzung betreffen.<br />
2 Vgl. Heine, Peter: Der Islam, Düsseldorf: Patmos 2007, 45-60;<br />
Antes, Peter: Ethik und Politik im Islam, Stuttgart: Kohlhammer<br />
1982, 40-43.<br />
3 Vgl. Watt, W. Montgomery: Der Islam, Stuttgart: Kohlhammer<br />
1980 (= Die Religionen der Menschheit 25,1), 235-239.<br />
4 Vgl. Dilger, Konrad: Das Rechtsverständnis im Islam und seine<br />
politische Dimension, in: Schwarz, Jürgen (Hg.): Der politische<br />
Islam. Intentionen und Wirkungen, Paderborn: Ferdinand<br />
Schöningh 1993 (= Politik- und kommunikationswissenschaftliche<br />
Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft 8), 55-60; Heine, Der<br />
Islam, 185-194.<br />
5 Vgl. Antes, Politik und Ethik im Islam, 29-31.<br />
6 Lombard, Maurice: Blütezeit des Islam. Eine Wirtschafts- und<br />
Kulturgeschichte 8.-11. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Fischer 1991<br />
(= Fischer Geschichte 10773), 37.<br />
7 Ebd. 19<br />
8 Vgl. Ebd. 19-49.<br />
9 Vgl. Grabner-Haider, Anton/Prenner, Karl (Hg.): Religionen und<br />
<strong>ZEIT</strong> Geschichte<br />
Kulturen der Erde. Ein Handbuch, Darmstadt: Wissenschaftlich<br />
Buchgesellschaft 2004, 126-131.<br />
10 Vgl. Hourani, Albert: A History oft the Arab People, London: Faber<br />
and Faber 2005, 267; Miquel, André: Der Islam. Von Mohammed<br />
bis Nasser, Essen: Magnus 1975, 86-450.<br />
11 Heine, Der Islam, 333.<br />
12 Vgl. Ebd. 327-335<br />
13 Vgl. Ebd. 328<br />
14 Die kämpferische Sicht von Dschihad, als Verbreitung des Islam<br />
mit Waffengewalt, ist eine mehrerer im Laufe der Geschichte<br />
entstandener legitimer Deutungen von Dschihad. Eine weitere<br />
Deutung entstand im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als sich der<br />
Kontakt mit dem Abendland intensivierte und gerade das Konzept<br />
von Dschihad große Kritik seitens westlicher Intellektueller als aggressive<br />
Ausformung von religiöser Orthopraxie erfuhr. Darauf<br />
antwortete die islamische Rechtsgelehrsamkeit mit der Zweiteilung<br />
des Dschihad. Die defensive Variante des bewaffneten Glaubens,<br />
zur Verteidigung von Muslimen gegen äußere Aggressoren<br />
bezeichnete man als “kleinen dschihad”, und die persönliche<br />
innere Anstrengung als den “großen dschihad”, wobei dessen<br />
Anwendungsbereich vom Lernen eines Studenten bis hin zur<br />
existenziellen Anstrengung reichen kann. Vgl. Khoury, Adel<br />
Theodor: Was sagt der Koran zum Heiligen Krieg?, Gütersloh:<br />
Güterloher Verlagshaus Mohn 1991 (= GTB 789), 13-27<br />
15 Vgl. Heine, Peter: Terror in Allahs Namen. Extremistische Kräfte<br />
im Islam, Freiburg i.Br.: Herder 2001 (= Herder Spektrum 5240), 86-<br />
116.<br />
16 Das “State building” ist ein wichtiges Moment der<br />
neokonservativen Doktrin internationaler Politik, wie sie in diesem<br />
Fall von Fukuyama expliziert wurde und in der US-Regierung unter<br />
George W. Bush in Afghanistan und im Irak zum Zwecke der<br />
Stärkung der Infrastruktur dieser “failed States” in der Praxis erprobt<br />
wurde. Dabei muss klar sein, dass eine derartige Bevormundung<br />
seitens der Hegemoniemacht USA im arabischen Raum jegliche<br />
Ressentiments dem Westen gegenüber wiederbelebt und<br />
verbreitet. Vgl. Fukuyama, Francis: Staaten bauen. Die neue<br />
Herausforderung internationaler Politik, Berlin: Ullstein 2006.<br />
17 Vgl. Musharbash, Yassin: Die neue Al-Quaida. Innenansichten<br />
eines lernenden Terrornetzwerks, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006,<br />
31-45.<br />
Mag. Maximilian Lakitsch, geboren 1982 in Linz, studiert Fachtheologie und Philosophie an der Universität Graz. In seiner<br />
philosophischen Diplomarbeit entwarf er unter unter dem Titel “Gefahr und Sicherheit” eine “philosophische Kritik der Politik<br />
im Zeichen des 11. September 2001 nach Mchel Foucault”, seine theologische Diplomarbeit widmet sich dem “Politischen<br />
Islam”. Er ist seit 2007 in der Grazer Gruppe von PRO SCIENTIA engagiert.<br />
Die Kolonialzeit als zentrale Achse des politischen Islam<br />
112
Wenn einer es weiß,<br />
weiß es keiner.<br />
Ludwig Wittgenstein<br />
office@proscientia.at<br />
www.proscientia.at